Die weissen Blatter
Eine Monatsschrift
Leipzig 1916
Reprinted by permission of the original publisher
KRAUS REPRINT
A Division of
KRAUS- THOMSON ORGANIZATION LIMITED
Nendo In/ Liechtenstein
1969
Printed in Germany
DIE WEISSEN BLATTER
EINE MONATSSCHRIPT
DRITTER JAHRGANG 1916
ERSTES QUARTAL
JANUAR/MARZ
VERLAG DER WEISSEN BQCHER
LEIPZIG 1916
INHALTSVERZEICHNIS
I.
AUFSATZE
Heft Sdtc
Eduard Bernstein, Volker xu Hause: Erinnerungen II (Vor drei Jahr-
zehnten in und um Lugano) II 166
„ Volker xu Hause: Erinnerungen III <Ein bdser
Winter in Castagnola) Ill 372
Theodor DSubler, Simultanitit I 108
Emil Lucka, Die Psydiologie Napoleons II 139
R. Seligmano, Einsamkeit und Gemdnsamkeit II 221
II.
GEDICHTE
Johannes R. Better, VerbrGderung/ Neue Gedidjte:
Der Entfcrnte <Georg Trak!)
S5hnc
Beilis. Den Juden
Sang den Frauen
Durdihellung .......
Melodien a us Utopia .
Gottfiricd Benn, Karyatide
Albert Ehrenstdn, Die Gotter
Ferdinand Hardekopf, Spat
Else Lasker-rSdiOler, Verinnerlidit
Mecbtild Lidmowsky, AuBensteher . . . .
„ Der Brautigam .
Berthold Viertel, Die Sddadit
„ Bauernstube
Alfred Wolfenstein, Die GleicbgQltigkeit .
Augenblidc
IV
Infiaftsvtruidttis
in.
DRAMATISCHES
Heft Sdtc
Heinrich Lautensack, Das GelQbde. Schauspie! in vier AufzOgen HI 263
Rend Sdbickele, Hans im Sdinakenlodi. Schauspiel in vier AufzOgen I 1
IV.
EP1SCHES
Pan! Beyer, M£dchengeschichte II 232
Kasimir Edschmid, Der Gott. Novclle II 188
Albert Ehrenstein, Begribnis Ill 352
Heinrich Mann, Der Bruder. Novelle II 158
V.
GLOSSEN
Paul Adler, Das erste Volk Europas II 253
Adolf Behne, Berliner Freie Secession .Ill 388
Otokar Bfezina <Deutsdi von Otto Pick) Der Sinn des Kampfes , II 246
Rudolf Fudts, Das Gcwittcr I 132
Annette Kolb, Die drei letzten Briefc an einen Toten I 122
Rudolf Leonhard, Die Landschaft des Malers Franz Marc ... II 246
Karl Loewenberg, Lazarett Ill 386
Otto Pick. Sichc Otokar Bfezina.
Ludwig Rubiner, »Ihr seid Mens then « Ill 389
R. S., Bemerkungen des Herausgebers I 134
Theodor Tagger, Brief an einen Juden II 250
Robert Walser, Predigt Ill 385
VI.
ZEICHNUNGEN
Fritz Huf, PortrSt von Theodor Daubler
Moritz Melzer, FOnf Zcichnungen
.... II 137
III 261/2, 351, 369, 371
RENE SCHICKELE:
HANS IM SCHNAKENLOCH
SCHAUSPIEL
IN VIER AUFZQGEN
( GescBrieBert O&toBer 1914)
NARZISS IN WAFFEN
Willst du erlernen die Kunst der Kraft,
darfst da me an dir verzagen,
eines kannst du ganz nur sein,
dieses eine mulit du wagen.
Bist das Bi!d, das didh erschafft,
unter vielen dieses eine,
und das mufl die anderen zersdilagen.
Nodi bist aftes du:
dies und jenes, der und du,
alle diese und ihr Schein.
Ganz kannst du eins nur sein,
der oder du.
Wahle und greif zu.
Wo der steht, da willst du fallen
oder stehen, wo der fallt,
ist's nidit Haft, dann sei's ein Wille,
der die harte Waffe halt.
Was du willst, das tu.
Sieh didi an in dieser Stille:
Der oder du?
Blick' hin, hoi' aus, sdilag zu.
DIE GESTALTEN DES SCHAUSPIELS:
Mutter Boulanger
Hans Boulanger, ihr a Itercr,
Balthasar Boulanges, ihr jtingerer Sohn
Kl2r, Hansens Frau
Leutnant StarkfuB
Oberfchrer Dlmpfel
Abb£ Schmitt
Cavrel i
Simon > Mitglleder der franz6sl$chen Abgeordnetenkam
Mflllcr j
Louise Cavrel
Frau MG Her
Grafin Sulz
Kaufmann, ein alter franz6sischer General
Hop la, Pferdeknecht
Hopsa, Viehknccht
Der Teufel, ein Gensdarm
SchambediB, Diener l _ „ n .
} bei der Grskfin Sulz
No<h ein Diener *
Ein franzosischer Korporal
Ein franzosisdier Offizier
Eine Amme. Deutsche und franzdsische Soldaten,
Schaupfatz: das Elsafi. Der erste und zweite Aufzug spielen im FrQhjahr 1914 auf dem
Gut Schnakenloch, dann auf der Vogesenhohe und bei der Grafin Sulz in der Nihe von
StraBburg. Der dritte und vierte Aufzug im Sommer desselbcn )ahres im Schnakenloch.
I
DIE WEISE VOM »HANS IM SCHNAKENLOCH «
Sdma - ken - kxfc
hat al ~ les was
^ \ c ^ i c b fr-iiii
will, und was er will/ das hat er nidit/ and
Sdina - ken - loch hat al - \t%, was er will.
BEMERKUNGEN FOR DEN SPIELLEITER
Mit Anweisungen far den Spiel lciter und die Schauspieler ist der Verfasser sehr
sparsam gewesen. Dcshalb sei ihm erlaubt, hier einiges vorauszusdjidcen. Wo n6tig,
ist die Spradie in Satzbau und Redeweise dialektisdi gefarbt. Dies genflgt. Der Schau-
spider widerstehe der Versuchung, seinen eigenen heimatlidien Dialekt zu verwerten.
Hans und Balthasar sind »keine feindlichen BrQder«, wie Hans einmal sagt. Der
Verfasser glaubt das eigentQmlich vertraute Verhiltnis der beiden Brtider aud> auBer-
haib des Spieles betonen zu mfissen, aus Furdit, deren Darsteller modhten vom
ersten Auftreten an allzudeutlid) einen »Karnpf aufnehmenc oder gar einander bos-
artig begegnen. Die Plankeleien zwisdien den beiden haben mit den Jahrcn etwas
von einer freundlidben Gewohnheit angenommen — wit Qberhaupt die iiebens*
wQrdige Lebensart dicser Menschen keineswegs unter der Dcutlidikeit ihrer Rede leidet.
Erboste Gesiditer und rollende Augen sind selbst im letzten Aufzug nicht am Platze.
Die Franzosen im zweiten Akt: keine Zerrbilder. Sie lieben nur cine gewisse
losgeldste Art des Ausdrucks, selbst zum Schaden ihrer Wfirde.
Der letzte Aufzug spielt wahrend dnerSdilacht. Der Verfasser bittet, den Sdiladiten-
l3rm hinter der BQhne eher gar nicht, ais zu !aut mitspielen zu lassen.
5
Rene Scfiidiefe • Hans im S<£nafienfo<6
ERSTER AUFZUG
Die gute Stube im Sdmakenlodr Alte Mobel mit neuen Bildern. Aber auch ein
neuer Sdireibtisch und ein Klavier. Vor dem breiten Sofa ein grofter Eichentisch
ohne Dedte. »Grofivaterstuhl.€ Fruhlingsabend. Die Fenster stehen auf. In der Feme
der blaue Hohenzug der Vogesen.
ERSTER AUFTRITT
Hans auf dem Sofa, eine Decke uber den Fuflen, Balthasar und Klar auf der
Bank vor dem offenen Klavier, Rudten gegen das Instrument. Mutter Boulanger
strxekt auf einem erhohten Tritt am Fenster. Hop la und Hops a. Der Teufel.
Hopsa: Ich kann nur immer wieder sagen: ich weiB nichts von
der ganzen Geschichte.
Ho pi a: Du hast dem Herrn Hans das Genick bredien wollen,
du Kanaill.
Der Teufel: Kanaille ist verboten. Das ist eine Beleidigung.
Hop la: Ich mochte wissen, was hierzulande nicht verboten ist. Zu
meiner Zeit hieB man einen Melkeimer einen Melkeimer und eine
Kanaill eine Kanaill.
Der Teufel: Moglidi, daB Kanaille franzosisch keine Beleidigung
ist. Im Deutsdien ist es eine, und danach haben Sie sich zu riditen.
V erstanden ?
Hopla: Ich bin nicht taub. Aber schreien kdnnen wir gerade so
gut wie Ihr.
Mutter: Genier' dich nicht, Hopla. Schrei noch ein biBchen lauter.
Hopla: Bitt' um Verzeihung, Madam Boulanger. Die Pidcelhaube
macht mich zipfelsinnig. Sie hat keinen Verstand vorn und keinen
Verstand hinten.
Der Teufel: >Pickelhaube« und >kein Verstand vorn und kein
Verstand hinten« sind verboten.
Hopla: Seht Ihr, Madam Boulanger, man kann mit dem Mann
nicht reden. Wo man hintritt, ist es verboten.
Mutter: Gib dem Herrn Gensdarm Antwort auf das, was er
dich firagt, und behalt das ubrige fur dich. Der Herr Gensdarm steht
nicht da, um den Narren mit dir zu machen.
Der Teufel: Danke schon. Madam Boulanger. DreiBig Jahre bin
ich im Dorf, und die ganzen dreiBig Jahre hat der Hopla jeden Tag
6 Ren/ ScBic&eCe • Hans im SSnatenfoS
Widerstand gegen die Staatsgewalt geGbt — natflrlich abgesehen von
den Tagen, wo id) im Urlaub war,
Hopla: Wart Ihr drflben geblieben, wo Ihr hergekommen seid.
Wir haben Eu<b nidit gerufen.
Hans: Hopla! Wenn ich ni<bt ein lahmes Bein hatre, wQrde id)
didi Jetzt zum Fenster hinausschmeiBen.
Der Teufel: Wenn der Herr Hans erlauben, so will idi's ffir
ihn besorgen.
Hopla: Wer schmeiBt hier hinaus? Erst der Herr Hans, dann
der Herr Balthasar, und dann komm id). Ihr konnt hier nur hinaus*
geschmissen wer den.
Hans <auffahr«id> : Mutter, mad)' Platz. Der Kerl muB ins Blumen-
rondell.
Hopla: Geh schon. Teufel, wir reden nod) ein Wort miteinander.
Gute Nacht, Madam Boulanger. Gute Nad)t, Madam Klar. Gute
Nacht, die Herren. Und was der Hopsa sagt, das sind alles so auf-
gesdinappte Redensarten vom Teufel. Kaisers Rock und so. <ZuHop*a>:
Man kann im Rode vom Kaiser stedeen und dodi ein Seil uber die
StraBe spannen, damit der Herr einen wfitigen Purzelbaum vom
Gaul schlagt.
Der Teufel: Nein, das kann man nicht. Qberhaupt ist das eine
Majestatsbeleidigung.
Mutter: Hopla, es ist eine Sdband', was du deinem Kameraden
alles anhangst. Scham' did). Wenn das der selige Herr an dir er*
lebt hatte.
Hopla: Der mein Kamerad? Eine lebendige Scbikane hab id) mlr
an dem aufgepappelt
Mutter: Nachher sitzt ihr ja doth wieder druben im Stall und
trinkt zu dritt euern Liter WeiBen. Nicht wahr, Herr Teufel?
Der Teufel <breit ladiemi): Das konnt schon sein. Aber wenn Sie
erlauben. Madam Boulanger: Id) bin nur der Teufel, ich heiBe nicht so.
Mutter <«r«d)rodcen> : Das erste Wort, das ich hore! Das ist ein
Spitzname? So eine Schande! In meinem Haus! Kinder, warum habt
ihr mir das nie gesagt?
Der Teufel: Ich bitte Sie, Madam Boulanger! Wie ich vor dreiBig
Jahren herkam, haben sie mid) so getauft, weil ihnen nod) nie ein
Ren/ SSidmh • Hans bn S<£naten6x6
7
rater Bart vorgekommen war, hah a, und dann ist es dabei geblieben.
Ich glaube sogar, der Hopia hat's aufgebracht
Hopla: Natflrlich wieder der Hopia. Wenn die Kobe dnes Tages
anfingen, Vive fa ‘France zu schreien, dann wSr's auch der Hopia.
I<h hdb au<b nidit Hopia — hdrst?
Der Teufel: Hierzulande heiftt keiner, wie er hribt. Und Qber-
haupt haben wir abgemacht, dab nur auberdienstlich geduzt wird.
Hopia <Jfft ihn ruxh): »Das Duzen im Dienst 1st verboten . . .« Da-
bei hat sein Bauch bd uns mehr Weinstein angesetzt, alt das ilteste
Fa6 im Keller.
Mutter <die Hlnde hcheod): Hopia, was du alles sagstl Neben
deinem Mundwerk ist unsre Dresch mas chine cine Spieluhr. Hopsa,
hast du ein Seil gespannt oder nicht?
Hopsa: Nie im Leben, Madam. War auch gar kein Sed da.
Der Schimmel ist geknidtt. Traurig, dab der Pferdeknecht seine Gaule
nkht besser kennt, als Venn's Ochsen wiren, kann aber nichts dafQr.
Hopia: Nein, gelt, um sich in den Gaulen auszukennen, mflfit
man seine Photographic in des Kaisers Rock an der Wand hSngen
haben und beim Melken »Heil dir im Siegerkranz* sin gen.
Hopsa: Ich sing' beim Melken nicht »Heil dir im Siegerkranzc.
Du bist ein alter Narr.
Hans: Macht die Sache bei einem Krflgel Wein untereinander ab.
Hopia: Na gut
Hopsa: Ich meine auch, es ist Zeit
Teufel: Sonst kann der Hopia nicht schlafen. Guten Abend, die
Herrschafi.
Hopia. Hopsa: Gute Nacht beisammen.
Teufel: Vorwsbts. Raus, ihr Wadies.
Hopia: Seht Ihr, Madam Boulanger, der Schwab fangt schon
wieder an zu kommandieren. <Ab.)
ZWEITER AUFTRITT
Matter Boulanger. Hans. Balthasar. Klflr.
Mutter: Ihr wibt, ich hab' nichts gegen die Deutschen. Gelt nicht,
Klir? Aber manchmal kommt's mir so vor, ads ob mehr geachriea
wflrde, seitdem sie im Land sind.
Rene' S&idiefe • Hans im 5<£naken(o<£
Klar: Den Rebwurm nicht zu vergessen, den wir euch mit-
gebracht haben.
Hans: Und den Bismardthering.
Mutter: Gibt's den wirklidi, den Bismarckhering?
Klar: Ja, aber er ist nicht so gefahrlidi wie der Rebwurm.
Mutter: Was tut er denn?
Klar: Aber Mutter, es ist ein marinierter Bering, zum Essen,
wie alle Heringe.
Mutter: Warum hast du uns nie Bismarckhering gemadit?
Klar: Weil Hans behauptet, Heringe aflen hierzulande nur hohere
Regierungsbeamte. I<h hab' ihn nicht davon abbringen konnen.
Mutter: Unser Schangel hat halt einen dicken Schadel.
Balthasar (vom Sdireibtisdi her, wo er in einer Mappe blatlert): I<h glaub’,
den haben wir alle.
Mutter: Da hast du recht. Neuigkeiten gehen sdiwer hinein...
Euer Vater starb im Glauben, wir seien eigentlich noth immer franzosisch.
Balthasar: Und die Deutsdien wollten's nur nidit wahr haben.
Mutter: So ist es, Balthasar. Dabei haben dich die Preufien zum
Leutnant gematht. — Ihr versteht so etwas leithter, ihr seid audi
keine Bauern mehr.
Hans: Ich bin ein Bauer.
Mutter: Ein Bauer, der in StraRburg und in Mundien studiert
hat, ist kein rediter Bauer mehr.
Hans: Heutzutage studieren die Bauern.
Mutter: Schangele, sie sind auch danadi.
Hans: Meinetwegen.
Klar <setzt sich zu Hans) : Du bist ein sehr tudhtiger Bauer, Hans.
Hans: Du muRt es wissen.
Klar: WeiR ich auch. <Aufzahlen<l.> Das Gut ist dreimal so grofi
geworden —
Mutter: Aber unsere schonen, sichern Papiere sind fort.
Hans: Hatten wir alle miteinander, wie wir hier sind, unser
Leben lang auf der elenden dreiprozentigen Rente sitzen sollen?
Der Boden tragt gerade so viel, und man hat wenigstens etwas
davon.
Mutter: Dein Vater und ich haben gut darauf gesessen, und der
Rene 5<£i<£efe • Hans im S<6na6enC<x£
*
9
m
•*
Boden trug mehr als drei Prozcnt. Schangele, du bist kcin Bauer,
aber es macht ja nichts.
Hans: Dann sind halt die Zeiten schlechter geworden.
Klar: So ist es, mein Hans. Alles ist teucrer und schlechter ge-
worden, und was dein Vater in den Strumpf stedcte, damit kaufst
du schone Bucher, unternimmst interessante kleine Reisen, mit deiner
Frau und ohne sie. Dafur leben wir auch wie im Himmel.
Mutter: Du hast ihm gerade noch gefehlt, dem Stride.
Klar: Dachtest du, ich hatte ihn geheiratet, urn ihn bei der Arbeit
zu beaufsichtigen?
Mutter: Ach, Klar, ohne dich ware er schon lange nicht mehr
da. Ich danke jeden Tag seinem Schutzengel, dafi er euch in Miinchen
an einer Strafienedce hat zusammenstofien lassen. Ich bitte dich, halte
ihn nur fest.
Klar: Ich gebe mir alleMuhe. Aber er ist ein Ausreifier vonGeburt.
Balthasar: Es ist ihm halt nie recht schlecht gegangen.
Hans: Aber dir, mein Junge, wie?
Balthasar: Meine Erlebnisse sind nicht Gemeingut der Familie.
Hans <ohnc Bosheit): Du bist ein guter Maulwurf. Du hast auch
die Weltanschauung eines Maulwurfs. Du bist stolz, ein Maul-
wurf zu sein.
Mutter: Unser Balthasar ist der bravste Junge der Welt, und
du sollst ihn in Frieden lassen.
Hans: In England — als ich in meinem ersten Semester nach
England fuhr, da habe ich acht Wochen gelebt, wie einer, der ge-
rade aus dem Zuchthaus entlassen worden ware. Es gelang mir
nicht einmal, eine Anstellung als Strafienfeger zu bekommen. Und
im Jahr darauf —
Mutter: Aber wie du vom Vater Geld geschickt bekamst, bist
du erster Klasse nach Strafiburg gefahren.
Hans: Nein, Mutter, in der letzten Station vor Strafiburg bin
ich in einen gewohnlichen Zug umgestiegen. Aus Vorsicht. Am Ende,
dachte ich, pafit der Vater im Bahnhof auf.
Mutter: Ohne Koffer kam er an. Die hatte er in England ver-
setzt. So eine Schande. Und nachher waren sie verfallen. Die schonen
Koffer mit denen der Vater und ich die Hochzeitsreise gemacht haben.
a
Ren/ 5<6tdUfe • Hans bn Sc6na£en/odl
10
Dafflr nahm er unterwegs anderes sdiweres Gepack auf. Ich will
gar nicht daran denken.
Klar: Ich weifl, Mutter. Ein gelbhaariges Fraulein. Auf die Weise
hat er in zwei Wochen mehr Englisdi gelemt, als die ganze Zeit
vorher in London. Man muft auch die gute Seite sehen.
Mutter: Denke nur, hier hat er sie versteckt, droben in der
grofien Mansarde, bis derVater sie erwischte, wie sie gerade dabei
war — rate einmal! — Aprikosen einzumadien. Kein Deutsch ver-
stand sie und kein Franzdsisdi. DerVater dadite sdion, es sei eine
Wilde. Wenn ich an das Geschrei denke an dem Tag! Der Bal~
thasar lief ins Dorf zum Teufel und brullte auf dem ganzen Weg:
»Der Vater und der Schangele bringen sich um.« Es war nicht mehr
sdion. Wie's dunkel geworden war, haben der Hopla und der Teufel
sie in der Kalesche nadi Strafiburg gefahren. Und der Hopla muBte
jhr ein Biliett erster Klasse kaufen. Und rat' mal, wohin? Nadi San
Sebastian! Das soli in Spanien sein. Der Sdiangete, wie ihm der
Vater die Sadie mit dem Biliett erster Klasse hinter die Ohren
setzte, sdirie: »Da siehst du, dafi sie eine Dame ist«, und davon
wurde der Vater so bdse, dafl der Hopla gerannt kam —
Hans: und mir das Leben rettete.
Balthasar: Daran erinnere ich mich. Es war schreddich.
Klar: Ihr seid ein gefahrliches Gesdiledit
Mutter: Ja, die Boulangers haben das Feuer nah am Strohdach.
Sieht aber arger a us, als es ist . . Klar, wollt Ihr nicht noch ein bifl-
chen Musik madien? Es lasst sich so sdion denken dabei.
Hans: Ich bitte euch, laBt jetzt die Musik. Sie wirkt auf midi wie
auf ein Kavalleriepferd, ich werde wild, oder sie madit mich butterweich.
Balthasar: Ein Beweis, dafi du unmusikalisch bist.
Hans <l5cheind>: Freue dich, daB du's darin besser hast. Es mud
eine ungemeine Wohltat sein, in der Musik sein eigenes Gleich*
gewidit sdiweben zu fQhlen — und ein grofter Trost, es so klingend
wiederzufinden.
Mutter <Iegt das Stridueug fort): Euer Vater ging immer mit den
Huhnem ins Bett und stand mit den Huhnern auf, und ich muBte
naturlich mithalten. Wie sdiwer war's, mich daran zu gewohnen!
Jetzt kann ich es mir nicht mehr abgewohnen.
Rene SSicAefe • Hans im S<£na6tnfo<£
11
Klar: Siehst du den Jungen?
Mutter <ruft zum Fenster hinaus): Charles! Da kommt er mit der
halben Dorfjugend , . (Zurudt ins Zimmer. Vor einem Bild): Nein, dieses
Frauenzimmer! Vor lauter Sonne sieht man ja nicht viel von ihr,
aber was man sieht, ist gerade das, was sie iieber nidit zeigen sollte.
Wenn eine Frau zu meiner Zeit mit so einer Taille bestraft war.
Und ich hab einen Sohn, der so etwas kauft!
Hans: Ja, Mutter.
Mutter: Darf idi fragen, ob das Bild auch bezahlt ist?
Hans: Lieber ware mir, du unterdrucktest die Frage.
Mutter: Armer Junge.
(Drauflen Kinderchor:
»Der Hans im Schnakenloch
hat alles, was er will,
und was er will, das hat er nicht . . .<>
Hans (auffahrend, ruft>: Karl!
<»und was er hat, das will er nicht,
der Hans im Schnakenloch
hat alles, was er will.c)
Hans (richtet si<h auf, lauter): Karl!
Mutter (hinauslaufend) : Jesus Maria, tu dem Jungen nidits!
DRITTER AUFTRITT
Hans. Balthasar. Klar.
Klar: Wie kannst du didi von dem dummen Lied so aufbringen
(assen !
Hans: Im ganzen Land singen sie den Blddsinn, den der Werner-
jockel zusammengesdiustert hat.
Klar: Siehst du, das hat man vom Ehrgeiz. Du wolltest Biirger-
meister werden. Du bist Burgermeister geworden, du hast es durdi-
gesetzt gegen das ganze Dorf, gegen den Wernerjockel, der mehr
ist, als das ganze Dorf, und gegen die Regierung. Du bist einen
Monat lang heiser gewesen, und als du wieder spredien konntest,
hast du das Amt an den Nagel gehangt. Nur der Ruhm ist dir
geblieben.
Hans: Idi muflte Burgermeister werden, um die Elektrizitat ins
Haus zu bekommen. Traurig genug. Da ist nichts zu ladien. Um
2 voi, m/i
12 Rene SSit&ete • Hans An 5<£natienfo&
durdizusetzen, daft wir die Eisenbahn herbekommen, hatte icfa kom-
mandierender General werden mfissen.
Klar: Und kommandierender General konntest du nlcbt werden.
Hans: Hatte ids im Getneindehaus Fliegen fangen sollen?
Klar: Alle grofien Manner, die zu den Stemen fuhren, sind unter-
wegs hangen geblieben, Du hast der Elektrizitat ihren Platz im
Sdinakenlods erkampft. Das genugt.
Hans: Als Dank erhebt mein Volk die bloden Verse vom Werner-
jockel zur Nationalhymne.
Klar: Wie sagt der Teufel: »HierzuIande heiftt keiner, wie er
heiftt.e Hierzulande erkennt man die gr often Manner daran, daft alle
fiber sie (adien.
VIERTER AUFTRITT
Diesefbcn. Mutter.
Mutter <*n der TQr>: Sdsangele, dein Sohn lafit dir sagen, er habe
dir nur ein Standdien bringen wollen. Er glaubte, du wfirdest ans
Fenster treten und eine Rede halten. Darf ids ihm die Antwort
bringen, daft du nidit bose auf ihn bist?
Hans: Mutter, die Hfihner sdslafen schon mindestens eine haibe
Stunde.
Klar: Sag' dem Jungen: die Mutter bringt die Antwort.
Mutter: Gute Nadst denn. Kinder, gelt? es vergifit keines von
eudh zu beten, bevor's einschlaft. Man weift nie, ob man wieder
aufwadst. <Ab.>
FQNFTER AUFTRITT
Dieielben ohne Mutter Boulanger.
Hans: Balthasar, dreh' dodh bitte das Lidst an. (Lid>t.> Danke.
<Klar madit das Klavler zu, legt die Noten fort.)
Hans <sd)iagt um sidi): Da sind sie sdson!
Klar: Wer?
Hans: Die Sdsnaken!
Balthasar: Jedes Jahr wunderst du dids aufe neue, daft es im
Sdinakenlods Sdinaken gibt.
Hans: Wenn du mir eine tiefsinnlge Bemerkung erlaubst: es gibt
Rene S<£ic£efe * Hans im S<6na&enfodb
13
Dinge, an die sich der Mensch trotz aller Vertrautheit nidit ge-
wohnt . . . Darunter ist das gewiditigste der Tod. <Kiar hat das Fenster
geschlossen and setzt si<fc Haas gegenflber in den GroBvaterstuhl. Pause.) Dem
Tod gegenuber, glaube ich, war nodi kemer blasiert. Balthasar, was
meinst du? Dem Tod gegenuber muB man einen Standpunkt ein-
nehmen. Vom Leben kann man sich treiben lassen. Man kann
mit ihm paktieren. Der Tod ist ein StraBenrauber, der einem mit
vorgehaltener Pistole den Weg vertritt: die Borse und das Leben!
Daraufhin muB man notwendigerweise in ein drittes flucfiten, von
dem man annimmt, daB es der Kugel widersteht. Nidit wahr, Klar?
Klar: Kluge Eltern bereiten sdion die Kinder auf den bosen
Augenblick vor, wo ihnen der Tod zum erstenmal begegnet.
Hans: Mit dem schwarzen Mann?
Klar: Und dem Vaterunser. Und trotzdem ersdirickt jeder immer
wieder.
Hans: So einfadi sind diese komplizierten Dinge... So, mein
Balthasar, wundere idt mich immer wieder uber die erste Schnake.
Balthasar: Du lebst auf Luftbrucken, die das Sdinakenlodi mit
den entferntesten Teilen der Sdiopfung verbinden.
Hans: Da alles in derselben Luft steht —
Balthasar: Philosophierst du, oder ziehst du midi auf?
Hans: Ich langweile mich.
Balthasar: Gute Nacht, Klar. Kommen heute die Burschen?
Hans: Idi hoffe.
Balthasar: Dann, bitte, larmt nidit zuviel. Ich muB um vier auf-
stehn und mochte jetzt sdilafen.
Hans: Komm her. Gib mir die Hand. Schlaf gut Wir werden
still sein.
Balthasar: Gute Nadit, Klar.
SECHSTER AUFTRITT
Hans. Klar,
Hans: Jetzt, jetzt, Klar, kann ich mit dir reden, Mit dir reden,
das ist fur midi dasselbe, wie fur dicfi das Musizieren. Mir wird
sdion leicht und sdiwer davon. Wenn es nur schon Sommer ware,
damit ich zu tun bekame.
14
Rene 5<6ic6efe ♦ Hans im SSnaSenfoS
****************************************** ***************************************************************************************************
Klar: Ich denke, jetzt gabe es auch genug zu tun.
Hans: Sdhon. Aber jetzt habe idb keine Lust. Winter, Fruhling,
Herbst — da mu ft ich immer an die nordischen Gottersagen denken,
an Nebelriesen, feuchte Zwerge und melancholische Helden, die ihren
Gram in Meth ersaufen und dabei von der Sonne schwarmen, die
nie recht zu ihnen kommt. Klar, wenn es nur schon Sommer ware.
Klar: Wir haben ja scbon Fruhling.
Hans: Ich weift, den liebst du. Wenn ich an meine Jugend und
meine Kindheit denke, seh' ich nur immer Sommer. Da waren auch
die Ferien. Die Ernte, das ist eine wundervolle Zeit, ein Stuck gol-
denes Zeitalter. Im Grunde lebe ich nur fur die Spanne von Juli
bis Oktober. Man steht bis an die Huften in Fruchtbarkeit, ein
Himmel biaut, der viel schoner ist als in Afrika, hat fast nichts am
Leib und rafft, in leichtem Schweift, tief atmend, zusammen, und
alles ist von der Sonne durdihellt. Fruhling und Spatherbst, die ver»
undeutlichen mir — mich und die Welt. Alles liegt dann wie hinter
dem Schleier eines Rausches, aber keineswegs heiter und lustig, wie
bei einem wirklidien Rausch, sondern in klotziger Unordnung, wie
bei einem Katzenjammer.
Klar: Du solltest Balthasar besser behandeln. Er nimmt dir alle
unangenehme Arbeit ab, ist immer auf dem Posten . . .
Hans: Sei ruhig. Ich werde mich gern, lebendigen Leibes, von
ihm beerben lassen. Glaube bitre nicht, daft es gegen meinen Willen
geschieht, wenn ein Stuck meines Lebens nach dem andern — von
mir an ihn ubergeht. Ich liquidiere mich zu seinen Gunsten. Er ist
heute schon der Herr im Schnakenloch. Ich habe ihn sehr lieb.
Klar: Hans — !
Hans: Was ist?
Klar: Nichts. Manchmal meine ich, du seist ein schlechter Mensch
und gabst dir alle erdenkliche Muhe, die andern ebenso schlecht zu
machen,
Hans: Ich verstehe den Zusammenhang nicht . .
Klar: Du sollst dich nicht zugrunde richten. Ich hab dich lieb.
Hans: Im Gegenteil, Klar, ich tue, was ich kann, um mich zu
behaupten.
Klar: Du lafit alles gehen, . . . dich . . . und mich —
Rene’ Scbidefe • Hans im St£nakenfo<£
15
Hans: Du irrst, Klar/ diA niAt!
Klar: IA bin niAts ohnc diA. Wenn du miA verlieBest, so odcr
so, iA wuftte niAt, wo iA hinsollte. IA wiiBte niAt einmal, was
iA bis dahin gewesen bin.
Hans: Komm.
Klar: Nein, denn sonst muD iA am Ende weinen, und dann
sagst du wieder, iA sei sentimental, und die Tranen maAten miA
haftliA.
Hans: Du, das mit den Tranen, das stimmt.
Klar: IA weine auA niAt. IA strenge miA an, miA zu bessern.
IA habe bereits eingesehen, daB iA dir unter gar keinen Umstanden
zumuten darf, uber mein haBiiAes GesiAt hinweg und auf das Leid
zu sehn, das iA dir zur Beruhigung in die Hande geben moAte . . .
Ein Geliebter muB manAmal auA Mutter sein. Wie oft hast du
naAts den Jungen herumgesAleppt, wenn er sArie. HaflliAer, wie
er war, bin iA auA niAt, wenn iA weine.
Hans: Klar, komm her.
Klar: I A moAte gem, aber es geht niAt.
Hans: Warum geht es niAt?
Klar: SAimpf' miA sAnell ein biBAen, damit iA bose werde,
sonst kommen die elenden Tranen. SAnell, so sag' doA irgendeine
Gemeinheit.
Hans: IA finde keine.
Klar: Sag', i A sei eine Gans mit einem Band aus veil Aenblauer Seide
Hans: Ja, also du bist —
Klar: Sag', Madame Cavrel sei im kleinen Finger mehr Frau als iA —
Hans: So etwas habe iA nie gesagt.
Klar: Du lugst, du hast es erst gestern gesagt.
Hans: Gestern?
Klar: Gestern.
Hans: I A erinnere miA wirkliA niAt.
Klar: Du erinnerst diA nie. Glaubst du, daB iA dir deine Nieder-
traAtigkeiten sonst so sAnell verziehe?
Hans: Wenn iA das von Frau Cavrel wirkliA gesagt habe, so
war es eine NiedertraAtigkeit, erstens, und zweitens eine Luge.
Klar: Willst du no A, daB iA zu dir komme?
.aa'
Rene' S<£i<&eft • Hans im ScSnafenfoS
Hans (stredst ihr die Hande entgegen und zieht sie neben sicb aufs Sofa):
Hand aufs Herz: der kleine Finger von Frau Cavrel, der da eben
so unerwartet zum Vorscbein kam —
Klar: Ja, ja, es juckte ihn schon lange.
Hans: Aha!
Klar: Ich habe noth etwas auf dem Herzen.
Hans: Nun, da wir schon dabei sind —
Klar: Heute sind es zehn Jahre, daB wir geheiratet haben-
Hans: <tief erstaunt): Zehn Jahre? Woher weifit du das?
Klar: Hans, seit zehn Jahren bist du mit ein und derselben Frau
verheiratet.
Hans: Wenn idi alles redit Qberlege, bin ich nidit sdilecht dabei
gefahren.
Klar: Nach mir fragst du nidit?
Hans: Du? Unsere Verwandten, unsere Bekannten, die Dienst-
boten, alle sind sidi einig, daB ich eine soldie Frau nicht ver»
diene. Ich stimme ihnen vollkommen bei. Aber idi habe die Frau
und behalte sie. Vorlaufig einmal fur die nachsten zehn Jahre.
Klar: Danke schon. (Pause.) Mandimal . . . wenn . . . sieh, bit re zur
Seite, ich modite etwas sagen , . . Wenn mir mandimal deine Treu-
losigkeiten einfallen, werde idi ganz verwirrt und liebe didi nur um
so mehr. Aber idi glaube, es gibt eine Art Verrat, einen wirklidien
Verrat, dessen Sdirecken alle Liebe totet.
Hans: Weldier Art ware dieser Verrat?
Klar: Das weifi idi selbst nidit. Gib adit auf midi.
Hans: Idi bin dir nie untreu gewesen.
Klar: Du vergifit und meinst dann, es sei nie gewesen.
Hans: Im Innersten bin ich dir sicher nie —
Klar: Gott, im Innersten!.. . Du brauchst dich nidit zu verteidigen.
Solang idi didi liebe, glaube idi dir jedes Wort, bevor du es aus-
gesprodien hast, und finde zu deinen Grunden nodi hundert andre,
die didi freisprechen. Aber idi muB gestehen, es ist mir jammerlich
zumute dabei ... Ich erinnere midi, wie idi einmal nach einer solchen
traurigen Entdedcung allem aus der Stadt nach Hause fuhr. Beim
Festungswall, vor der Stadt, wo die StraBe steil hinaufgeht, las ich
auf einer Tafel die Insdirift: »Schonet die Tierec. Idi wurde von
Rene SSidiefe • Hans an SSnafenfoS
17
Ruhrung, von Dankbarkeit uberschwemmt. Ich hatte die Inschrift auf
midi bezogen.
Hans: Ich bitte didi, hor' auf!
Klar: Aber, mein Hans, das 1st eine sdidne Erinnerung. Es tut
mandimal so gut, Mitleid mit sidi selbst zu haben. Man ist schon
halb getrSstet und liebt doppelt. Ohne diese schmerzhaften Zwischen-
falle ware meine Liebe zu dir, zu unsem Kindem, zu Gott und der
Welt nie so stark geworden. Wenn ich dich nur behalte!
Hans: Ja, Klar, ja — <Es klopfi an . . . sdirrit) : Was gibt's?
SIEBENTER AUFTRITT
Hans. Kl3r. Die Amme.
Amme: Madam, der Charles will nidit schlafen. Er sagt, die Ma-
dam wurd' ihm noch eine Antwort vom Herrn bringen,
Klar: Das arme Kerldien.
Hans: Idi komme mit. <Erhebt sicb. Da er son krankes Brin vorsicbtig aufsetzt) :
Klar: Tut weh?
Hans: Kaum. (Alle drei ab.) Die Bflhne bleibt einen Augenblidc leer.
ACHTER AUFTRITT
Starkfufl. Dimpfel. Abb£ Schmitt. Hintcrdrrin Hopla mit groBem Weinkrug,
den er auf den Tisdi stellt. Gldch darauf bringt die Amme ein Tablett mit Gflsern,
Eigarrenkiste , Pfeifen und einer brennenden Kerze, das sie auf den Tisdi steilt
und abriumt.
Starkfufl: Scheint, es kann wieder losgehn.
Schmitt: Der Kerl hat gute Knodien.
Starkfufl: Setz' didi da hin, Nachteule. Ich modite heute einmai
liegen.
Schmitt: Als ob du nidit immer lagst!
Dimpfel <zu Hopla): Euer Patron hinkt, dafl es eine Pracht ist.
Starkfufl: Ich bin audi der einzige von eudi, o Mensdienseele,
der das Redit hat, abends mude zu sein.
Hopla: Ja, er madit's gut, (Amme ab.)
Rene SSidiefe • Hans im SSnafenfodi
NEUNTER AUFTRITT
Dieselben ohne die Amine.
Dlmpfel: Was ist das fur eine Mamsell, die kenn ich nidit.
Hopia: Die gibt die Milch fur den Kieinsten.
Dimpfel: Recht so.
Starkfufi: Die Dynastie Sthnakenloch festigt si<h zusehends.
Hopia: Was meint der Herr Leutnant?
Starkfufi: Die Familie gedeiht.
Hopia: Ho! Daran fehlt's nidit <Abgehend> G'sundheit, die Herren!
Alle: G'sundheit
ZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Ohne Hopia.
Starkfufi: Komisdie Franzosen sind hier eingetroffen.
Dimpfel: Es sind halt Welsdie.
Starkfufi: Wohnen sie hier?
Schmitt: Druben bei der Grafin Sulz.
Starkfufi: Pariser?
Schmitt: Alle Franzosen, die du im Ausland triffst, sind Pariser.
Dimpfel: Wichtige Leute! Einer war zweimal Minister, die andern
werden's nodi.
ELFTER AUFTRITT
Dieselben. Hans.
Hans <ist unterdessen eingetreten): Dimpfel, dafi ich's nidit vergesse,
dort liegt ein Stofi illustrierter Zeitschriften far deine Pennaler.
Dimpfel: Recht so.
Starkfufi: Was madist du mit den Bilderchen?
Dimpfel: Ich sdineide sie aus, stecke sie in einen Wediselrahmen
und hange sie an die Tafel.
Starkfufi (begreift nicbt).
Dimpfel: Ei, du Simpel, ich illustriere halt die Schmoker, in denen
ich mit den armen Jungens Holzwurm spiele. »Es war ein schoner
Sommerabend,« da hang idi ihnen einen scfaonen Sommerabend hin.
*Thalatta! Thalattalc Ein Meerbildchen,
Starkfufi: Lustige Sadie.
Rene SSidiefe • Hans im S<£na£enfo<6 19
ft****************************************************************************************************™**************************************
Dimpfel: Darauf kommt's an. <Sdiweigen.>
Hans: Da sitzen wir wieder.
Starkfufi: Ich habe es erlebt.
Hans: Nein?
Schmitt: Gerade wollte ich davon anfangen.
Starkfufi: Du?
Schmitt: Erzahlt nur.
Starkfufi: Heute in aller Herrgottsfruh kommt eincr von der
Wache und bringt mir eine Visitenkarte ans Bett. Wart mal <ho!t
die Karte heraus) Madame Andree Muller, nee Avril.
Hans: Diesseits bekannt, wie unser Kreisdirektor schreibt. Meine
eigene Tante.
Starkfufi: Wie sie aussahe, fragte ich. Der Musko: so grofie
Augen! »Scheen, Herr Leitnant. Aber sie kann schlecht Deitsch.*
Der Herr Leutnant sei dienstlich verhindert, was sie denn wiinsche?
Der Musko lauft hin und her, schliefilich stellt sich heraus, sie sei
die Schwagerin der Madame Boulanger, ihr Herr Gemahl sei der
Abgeordnete Muller, und sie wolle sich einmal ein deutschesFort ansehn.
Dimpfel: Gut, gut.
Hans: Daran bin ich schuld. Wie ich neulich mit ihr an deiner
Hohle vorbei kam, schielte sie wie verhext auf die Kaminchen und
meinte: eine deutsche Festungskanone miisse etwas Furditbares sein.
Ich gab ihr den Rat, sich an den Lieutenant Commandant Starkfufi
zu wenden.
Starkfufi: Du hattest Starkfufi sagen k5nnen, aber Lieutenant
Commandant klingt gut.
Hans: 1st auch ein militarisdier Grad, den ich dir zu Ehren er»
funden habe. Und was hast du mit der Dame gemacht?
Starkfufi: Was ich mit ihr gemacht habe? Wie der alte Musko
so hin und her lief, war sie ihm immer ein bifichen nachgeriidct, ganz
sachte am Posten vorbei, der ihren grofien Federhut bewunderte,
und auf einmal kam der Musko und sagte grinsend: »Herr Leit-
nant, sie steht schon vor der Tiir«. Darauf habe ich die Wache
antreten und das Seitengewehr aufpflanzen lassen. Die Madam
wurde in die Mitte genommen und hier beim Bfirgermeister ab-
geliefert. <Dimpfei stofit ein Lachen aus, das an das Krahen eines Hahnes erinnert.)
20
Ren/ SSickefe • Hans im S Snake nfcxk
Schmitt: Von dort kam sie zu mir und kreischte, die Deutschen
hatten sie toten wollen.
StarkfuB: Ich hoffe, du hast ihr den geistlichen Beistand nicht
versagt?
Hans: Das gibt einen politischen Zwischenfall.
Dimpfel: Was! »Politischer Zwischenfall. c Krieg gibt's!
StarkfuB: Im Gegenteil. Am Nachmittag bekam ich von der
Grafin Snlz eine Einladung zu elnem »intimen Fest«.
Dimpfel: Da gehn wir alle hin.
StarkfuB: Der Mann Gottes auch?
Schmitt: Als SchioBkapIan — ■?
StarkfuB: Richtig, er ist SchioBkapIan. Was es hier alfes gibt!
Hans: Gelt, das flattest du dir in deiner pommersdien Jugend
nicht traumen (assen, dafi du noch einmal beim franzosischen Uradel
zu Gast warst?
Dimpfel: Trink, du Schwab. Der Uradel soli leben!
Hans: Dabei will er immer in die Kolonien, weil es ihm hier
zu langweilig ist.
StarkfuB: Ihr habt gut reden. Ihr habt nicht nur einen Beruf,
ihr fibt ihn auch aus. Was wfirdet ihr sagen, wenn, nach ewigen
Vorbereitungen: du nie eine Messe lesen, du nie auf deiner Mah-
maschine sitzen, du nie einem armen Jungen die unregelmaBigen
Verben einblauen durftest? Ich hab Kriegmachen gelernt und vertrodle
die besten Jahre damit, Rekruten zu drillen. — Wenn's hoch geht,
verteidige ich die Festung StraBburg gegen einen verrudct gewordenen
Federhut. Ist das ein Leben?
Hans: Deine Vergleiche sind falsch. Wir machen alle nicht Ernst.
Der bereitet die Menschen auf den Himmel, der auf das Examen,
und du bereitest sie auf den Krieg vor.
StarkfuB: Und was machst du?
Hans: Ich sorge dafur, daB ihr zu essen kriegt und hoffe, daB
ihr mir dafur nicht die Scheune anztindet und die Felder zertrampelL
Der Krieg und der Bauer, die vertragen sich nicht,
StarkfuB: Tauscfa' du mal mit mir. Setz' du dich in mein Lehm»
loch, und ich lasse mi<h hier nieder. <Es klopft.)
Hans: Ja. — Wie ist's? Wir reiten also in die Stadt?
R»hJ SS/JwCt • Hans im St£naH*n(<x6
StarkfuB: Gott sei Dank. let wagte nidit zu fragen, wegen deines
kranken Knochens.
Hans: Ich hatte dir doch gesagt, Samstag reiten wir wieder.
ZWOLFTER AUFTRITT
Dieselben. Hopla.
<Hopla ko
Hill
t herein, sieht in den Krug.)
Hopla: Idi glaub', die Diskussion ist heute nidit gerade hitzig.
<Sd>enkt den Rest ein.)
Hans <zu Hopla): Mach' die Gaule fertig. Lauft der Sdiimtnel
wieder?
Hopla: Naturlich lauft er . . . Soil idi jetzt nodi einen bringen?
Dimpfel: Hopla, Ihr werdet alt. Seit wann fragt Ihr, ob Ihr
nodi einen bringen sollt?
Hans: Muskateller vom kl einen Fa6.
StarkfuB: Ah!
Hans: Pfeif, wenn du fertig bist.
Hopla: Verstanden. <Ab.)
DREIZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Ohnc Hopla.
Sdimitt: Konnten wir nidit fahren, statt zu reiten?
Hans: Du hast wohl Angst fur deine Soutane? Idi sag' dir sdion
immer, reit' im Damensattel.
StarkfuB: Der Mann Gottes gehort uberhaupt nidit auf ein
streitbares RoB.
Sdimitt: Wir haben auf streitbaren Rossen gesessen, als deine
Erzvater noch am Boden herumkroefaen — wenn idi so sagen darf.
Du verwediselst midi leider mit den sanlten Mannem, die alle Sonn*
tage ihre Sdimalzruten auslegen. Weder vertreibe idi Traktatdien,
nodi wende idi midi mit Volksreden an den lieben Gott, Idi bin
kein Pfaff, sondern ein Gottesstreiter. Und wenn nicht im Rekruten-
drillen, so konnte ich es doch im Kampfen jederzeit mit dir auf*
nehmen.
StarkfuB <sdilagt auf den Tisch): Bum.
Sdimitt <ebenso) : Bum.
22 Rent S&i&tft • Hans (m St£naienfo(£
Dimpfei: Redit so.
Schmitt: Wir haben euch aus dem Dreck gezogen und zu dem
gemacht, was ihr seid. Das Kreuz war ein Schwert, und wir ver-
standen, das Schwert zu fuhren.
StarkfuB: Dann, als der Herr Lehrer zu fell geworden war,
liefen die unartigen Kinder ihm davon. Seitdem ist viel Wasser
den Rhein hinabgewirbelt, du Romiing.
Dimpfei: Was ihr da treibt, heifit bei uns in der Schule kon-
fessionelle Verhetzung.
Hans: Was die da treiben, Dimpfei, ist ein Kampf auf Tod und
Leben.
Dimpfei: Vorher haben sie schon national gekampft, jetzt fehlt
noch eine soziale Rempelei, und die heilige Dreifaltigkeit des mo*
dernen Kriegsgottes ist fertig.
Schmitt: Nidit so (aut. Der Olzweig fallt dir aus dem Schnabel.
Dimpfei: Die Jungens mussen Soldaten spielen. Der eine sdiwingt
den Sabel, der andre den Weihwedel und der dritte den Arbeits*
vertrag, und alle stampfen mit den FuBen und schreien: »Krieg!
Krieg ! « Zugleich bestreitet jeder dem andern das Redit, mit seiner
Waffe zu kampfen.
StarkfuB: Wenn aber Ernst gemacht wird —
Hans: scheint es nur im ersten Augenblick, als ob ihr die Star'
keren waret. In Wirklichkeit behaltet ihr nie das letzte Wort
VIERZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Hopla.
<Hopla ist her cingckommcn , nachdem cr vergeblidi geklopft hat, stcllt den Krug
hin und geht wieder.)
Hopla: Jetzt aber dampft's.
FQNFZEHNTER AUFTRITT
Dieselben ohne Hopla.
Dimpfei: Kommt mir nidit mit Beispielen aus der Weltgesdiidite.
Sonst nenne idi fur jedes, das ihr anfuhrt, ein anderes, so das
Gegenteil beweist.
Hans: Dimpfei, trink und halt den Mund.
Rene S <£/<£* fe * Hans im S<6na6enfo<6 23
Dimpfel <einscbenkend> : Verschont mich mit euren Problemen. Kin-
derballone, die man mit einem Nadelsticb entleeren kann. Und wenn
ihr mir sagt, dafi neunundneunzig Prozent der Mensdien damit
durdis Leben spaziert, so antworte icb, daB die Mensdiheit eben
die Kinderschuhe nodi nicbt abgetreten hat. Idi will meine Ruhe,
damit idi merke, daB ich auf der Erde bin. So etwas Schones, wie
die Erde ist, hat sidi nodi keiner von euch VierfoBem ausgedadit.
Und wenn's ans Sterben geht, sag' ich brav »Danke sdi5n< und
nehme midi, so gut es geht, zusammen, bis es vorbei ist. — So,
jetzt konnt ihr weiter reden. Idi sage kein Wort mehr.
Sdimitt: Du bist ein anstandiger Heide. Mit deinem »Danke
sdionc fahrst du in den Himmel. (Ablehnende Bcwegung Dimpfels.)
Starkfufi: Jeder fahrt in seinen Himmel.
Sdimitt: Nicht wahr, du Pharisaer? Fur didh ist die Religion
nidit einmal die Angelegenheit eines korrekten Kaufmannes — wie
bei den Besten von euch — sondern nur eine Frage der innem
und aufiern Bequemlidikeit.
StarkfuB: Wir sind Abendlander. Ihr seid orientalisdie Kolo-
nisten in Europa.
Sdimitt: Dieses Europa haben wir gesdiaffen, aus den Trum-
mem des romisdien Reidis aufgebaut. Stuck urn Stuck, wir haben
es ein dutzendmal vor dem orientalisdien Ansturm gerettet/ solange
wir herrscbten, gab es ein Europa und seitdem nidit mehr.
StarkfuB: Zugegeben, wir haben es zerrissen. Jede Befireiung
zerreiBt alte Bande. Wir sind frei, ihr aber wollt nidit aufhoren zu
herrsdien.
Sdimitt: Wir durfen nicht, solange wir an uns glauben.
StarkfuB: Und wir leiden's nicht, solange einer von uns atmet.
Hans: Wann wird dieser Kampf entschieden sein!
StarkfuB: Wenn die Welt den Germanen gehort. <Man hort einen
PfifF. Sic brechen auf.)
Schmitt: Wenn der Papst wieder auf den Felsen steigt und zum
Meere spridit.
Hans: Los! Geht voran. Aber macht leise.
Dimpfel: Ich mochte gern wissen, warum der Mann Gottes nidit
reiten wollte.
24 Ren/ S<£/dteft • Hans im SSnafenfoS
SAmitt: Weil der BisAof miA hat fragen lassen, was ich naAts
durA die Dorfer zu galoppieren hatte. Und was iA in der Stadt
suAte.
StarkfuB: Siehst du! Gib aAt, es dauert niAt lange, da sind
wir eine Teufelslegende ge worden.
Hans: SAnell. — - IA steAe Geld ein und IdsAe das LiAt.
MaAt (eise.
<Dimpfel, Schmitt, StarkfuB ab.>
SECHZEHNTER AUFTRITT
Hans. K13r.
(Die BOhne bieibt einen Augenblick leer, wahrend Hans die Sdireibtiscbsdmblade
offinet.)
Klar (in dnem weiBen SAlafrock): Verzeih, Hans, iA habe dir ver-
spreAen mussen, diA heute niAt fortzulassen.
Hans: MaA', bitte, wenigstens Ae Ture zu. Das Kleinste sAreit
wieder wie besessen. (K!3r scblieBt die Tar.>
Klar: Du willst niAt mehr, dafi iA diA zuruAhalte?
Hans: Hast du noA niAt gesAlafen?
Klar: I A habe im Bett aufgesessen und gewartet, bis iA ein-
greifen konnte, wie du sagtest.
Hans: I A habe dir niAt gesagt, daB du waAen solltest.
Klar: Im SAlaf hatte iA diA niAt gut aufhalten konnen.
Hans: Du hast SAlaf notig, Klar, du muBt viel mehr sAlafen.
IA maAe mir Sorgen urn deine Gesundheit.
Klar: Sehr fireundliA — du bleibst niAt?
Hans: Wo?
Klar: Bei mir?
Hans: UnmogliA, Ae andern erwarten mi A.
Klar: Ware dein Fufl*niAt ein Vorwand —
Hans: Klar, du weiBt do A, daB es verabredet war.
Klar: Du hast ReAt . . . Was maAt ihr in der Stadt?
Hans: Zum zehntenmal: Dimpfel und iA gehn ins Theater,
StarkfuB in sein Kasino und der Abb6 zu seiner Mama. Das heiBt,
da morgen Sonntag ist, wird er wohl gleiA zuriickreiten. Dem kommt
es nur auf die Bewegung an.
Rene Sc6idufe • Hans im SSnakenfoS
25
Klar: Wei6t du, was im Theater gespielt wird?
Hans: Wenn idi's wufite, ging kh wahrscheinlich nicht hin.
Klar: Ich weifi es. Aida
Hans: Wie kannst du das wissen?
Klar: Aus der Zeitung.
Hans: Es wird ein Druckfehler sein. Aufierdem kommen wir
nidit vor dem letzten Akt hin. Gute Nacht, mein Herz, schlaf gut
und schlaf lang.
Klar: Hans, bleih hei mir!
Hans: Sei vemunftig. Ich habe es StarkfuB versprodien. (Kafit
der Reglosen die Stim.) Ich wurde midi lacherlich machen, wenn ich jetzt
plotzlich — (Offnet die Tflr. Kindergesdirei.) Hor nur! <Ab.>
KJir lojcht das Lidit and tritt zum offenen Fenster. Pferdegetrampel. Vorhang.
26 Rene 5 St die fe • Hans im SSna/tenfoS
r r r: /f; r • r ; ^ ^ , p r - ; tJ • ; ; \\ . . 4 . i ; ; . . ' . 4 /
ZWEITER AUFZUG
Abhang auf der VogesenhShe. Mittags. Nadi einem Picknick.
ERSTER AUFTRITT
Cavrel. Simon. Mfilier. Kaufmann, ein alter franzdsbeber General. GrSfin
Sulz. Hans. Louise.
Simon <sidi umdrehend): Wo steckt denn unser bester Muller?
(Keine Antwort. Endlidi eine Stimme) : »Er fischt Forellen, Herr Minister.*
<Nidits rflhrt skh. Pause.)
Grafin Sulz <sidi in ihrem Feldsessel aufriditend, erst (eise, dann tauter):
SdiambediB ! SdiambediB! (Was Jean-Baptiste bedeutet.)
Eine Stimme: Pst! (Grafin legt sidi acbselzucfcend zuruck.)
Hans (vom): Scblafen Sie?
Louise: Nein.
Hans: Die Grafin hat es befohlen.
Louise: Sie aber wadit daruber, dal) das Program m eingehalten
wird. Erst haben wir die Landschaft genossen, dann den kalten
Braten und die Ganseleberpastete, und jetzt haben wir den ge-
sunden Mittagssdilaf auf der Vogesenhohe. Heute abend folgt das
Fest im SdiloB. Sie nennt das: *Das ganze ElsaB an einem Tag*.
Hans: Die Grafin hat von Cook gelernt.
Louise: Brauchte sie nidit. Sie ist am Hof aufgewadisen.
Hans: So daB Cooks Verdienst nur darin bestande, burgerlidie
Rentner auf einen furstlichen LebensfuB zu stellen.
Louise: Audi die Reisebureaus sind eine Folge der Revolution.
Hans: Wollen Sie midi nidit mit Ihrer Hand spielen lassen?
Louise: Ich braudie sie, um daruber nadizudenken, warum Sie
Ihre Frau nidit mitgenommen haben.
Hans: Meine Frau hat ihren eigenen Willen.
Louise: Abgesehen da von?
Hans: Es ist ihr zu kalt bei Ihnen. Sie spridit naturlidi nidit so
gut franzosisdi wie die andem Herrsdiaften.
Louise: Sie spridit ausgezeidinet fur eine Auslanderin.
Hans: Aber niemand von Ihnen ist taktvoll genug, ihr die »Aus*
landerin* abzunehmen und deutsdi zu spredien. Idi kann ihr nur
Rene 5 <£ idle ft • Hans im 5<£nakenfo<£ 27
w
recfat geben, wenn sie unter solchen Umstanden vorzieht, zu Hause
zu bleiben,
Louise: Wir spredien gar nicbt oder schlecht deutsch.
Hans: Aber Sie wissen alle, dafi ein audi nur fremd gefarbtes
Franzosisch in Ihren Augen entstellt, wahrend Ihr unbeholfenes
Deutsch Ihren Reiz in den Augen eines jeden Deutschen erhdht.
Louise: Ja, das liegt wohl an der Sprache.
Hans: An der Sprache und an der wahrhaften GroBmut des
Deutschen, der gern ein Auge zudruckt, wenn er sich mit dem
andem an eurer funkelnden Eitelkeit entziicken kann.
Louise: Da wir nie so schon sind, wie wenn wir tanzen, spielt
ihr uns moglichst oft mit Kruppschen Kanonen auf.
Hans: *Ihr«?
Louise: Verzeihen Sie, Hans, Sie wissen, ich bin alles eher, als
patriotisch. Aber ich kann diese Redensarten vom gutmutigen, wohl-
gesinnten Baren und dem Hahn mit dem etwas wackeligen, aber
V
hubschen Kamm nicht vertragen, Ich kenne sie bis zum GberdruB
von unsern deutsdien Freunden in Paris. Deutsche Liebenswurdig-
keiten enden immer mit einer Kanonade.
Hans: Der Schein spricht fur Sie.
Louise: Nur der Schein?
Hans <gequalt>: Ich weiB nicht.
Grafin: Meine Damen und Herrn, da hier doch gesprochen wird,
bitte ich um die Erlaubnis, meinen Diener zu rufen. Schambedifi!
General <auffahrend> : Ja?
Grafin: Verzeihen Sie vielmals, Herr General, daB ich Sie ge-
stort habe, einen Augenblidc, und wir kdnnen fortfahren. (SchambediS
ist ersdiienen) : Schambedifi, fuhren Sie bitte die Pferde auf die andere
Seite. Sie sollten von selbst merken, woher der Wind kommt.
Schambedifi: Jawohl, Frau Grafin.
Grafin (kokette Verbeugung): Mein verehrter Herr General —
General <versdb!afen>: Danke, Madame. <Legt sidi hin.)
Hans: Sagten Sie nicht soeben, dafi Sie mich liebten?
Louise: Nein.
Hans: Sind Sie sicher?
Louise: Ganz sicher. Denn ich bin eine Frau.
3 voi. m/i
28 Rett/ S&ic&efe • Hans im SdnatenfoS
Hans: Wenn ich daran zweifelte —
Louise: Eine Frau ist wie das Echo, das nur antwortet, wenn
gerufen wird,
Hans: Dieses Spiel hat mich nie gereizt.
Louise: Sie sind keck, aber ich sage trotzdem: »Schade«.
Hans: Sie geben zu, dad Sie sich bei Formalitaten aufhalten.
Louise: Ich gebe zu, dad ich seit vierzehn Tagen auf Ihre Liebes-
erklarung warte.
Hans: Id) warte scfaon etwas 1 anger auf die Gelegenheit, die eine
solcbe Besudisanzeige uberflussig machen wurde.
Louise: Habe id) auf Sie den Elndruck gemacht, als ob id) mid)
fiberrumpeln liede — Sie Barbar?
Hans: Id) steige nie auf ein Pferd, ohne mich vorher flberzeugt
zu haben, dad das Sattelzeug in Ordnung ist.
Louise: Was sind das fdr Vergleiche? Sind Sie Kavalierist?
Hans: Id) (iebe Sie.
Louise: Bitte, nod> einmal.
Hans: Id) Hebe Sie. —
Louise: Der Ton gefallt mir nicht.
Hans: Louise, Sie sind eine Frau, aber Sie midbrauchen Ihren
Vorteil. Das verrat keinen guten Geschmack.
Louise: Der Bengel spricht von Geschmack!
Hans: Sie machen sich eine Oberlegenheit vor, die Sie nicht oder
nicht mehr besitzen.
Louise <raft>: Herr General, Sie schnarchen wie ein Morser.
Hans: Sie mussen noth einmal um Hilfe rufen ! <Al(gemdnes ErwaAen.)
Louise (wahrend sie aufsteht, auf den Knien): Mein Freund, vielleicht
gelingt es Ihnen, mid) zu nehmen. Aber wenn Sie mich haben, dann
behalte id) Sie.
Hans: Welch eine Drohung!
Louise: Jetzt gehn Sie vielleicht einmal dorthin. — Id) mochte
namlich, dad mein Mann und Sie einander ein wenig kennten . . Sie
meinen doch auch: wir wollen mit offenen Karten spielen?
Hans: Zu zweit.
Louise: Solange wir beiden allein spielen — <Sie steigen die Bflhne
hinauf, der eine reAts, der andere links, Louise steht vor Ihrem Mann.) Cavrel,
29
Rene SdSidlefe • Hans im S<£nafienfo&
Herr Hans Boulanger modite sich mit dir uber die letzten Dinge
unterhalten.
Cavrel (massiv, afxr gepflegt) : Gem, gem, mein Herr. Rucken wir
zusammen. Womit wollen wir beginnen?
Graf in: Die ewigen Dinge drehen sidi alle um das Elsafl.
Cavrel (mit natflrlidber Beredsamkeit, wahrer Empfindung): Selbstver»
standlich. Das wunderbare Land. Ein Garten — bis an den Rhein!
Wie deutlich das Munster sich vom Himmel abhebt!
Grafin: Habe ich Ihnen scfaon gesagt? Dies ist die historisdie
Stelle, wo Ludwig XIV. ausrief: *Der schone Garten !«
Cavrel: Ein uberwaltigender Anblidc: die tausend und tausend
Ackerfurchen nebeneinander, die weiten Flachen jungen Griins, wie
treibende Inseln auf dem leicht bewegten Meer —
Simon <s<hlank, mit Absidit na<h(assig>: Warum sollen die Inseln
treiben? tlbrigens ruhrt sidi das Meer aud» nicht.
Hans: Der Sumpf unserer lieben Frau. Es geht uns gut.
Grafin: Herr Minister, man sprkbt von Sumpf. Damit kann nur
Ihre Republik gemeint sein. Verteidigen sie sich !
Simon: Wenn Sie erlauben, Frau Grafin, das nadiste Mai.
Cavrel: Durfte ich Sie bitten, mein Herr, Ihren interessanten
Gedanken auszufuhren?
Hans: Wir stedten alle bis an den Hals in Wohlleben. Wir sind
das komfortable Wirtshaus an der Volkerstrafie, die von Italien
zum Nordmeer fuhrt. Teils lassen wir drei gerade sein und den
Teufel in der Kirdie predigen, teils plagen uns Fiebertraume,
von denen wir uns dann auch in wadien Stunden nidit trennen
wollen.
General: Wie sagten Sie, ein Sumpf? Das glorreidiste Schladit-
feld der Welt!
Hans: Hoffentlidi nie wieder. Die dieses Sthlachtfeld bewohnen,
den ken anders daruber.
Cavrel: Ich habe mir oft gesagt: Wir begehen ein Verbrechen,
da8 wir die Elsasser nidit zur Ruhe kommen lassen. Nun werden
sie sdion weifl Gott wie lang hin- und hergezerrt und miissen sich
jeden Tag von neuem fragen, wohin sie gehoren —
General: Die wahren Elsasser wissen, daft sie ihre Zukunft zu
Rene SS/dtefe • Hans im 5c6na£enfoa6
30
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suchen haben, wo ihre Vergangenheit war: dort. Wir werden ihnen
helfen, wenn die Stunde schlagt.
Hans: Dann bin ich kein wahrer Els§sser.
Louise: Herr Genera!, finden Sie nicht seibst, daR die Hilfe, die
Sie Ihren Landsleuten brachten, fur sie vielleicht etwas spat kame?
Cavrel: Verzeihen Sie uns, mein Herr, wir sind keine eitlen
Toren, wenn wir auf Ihre Anhanglichkeit so vie! Wert legen. Sie
mussen verstehen. Mit diesem Land hat Frankreich sein Gleichge-
widit verloren. Der Suden regiert uns, und der Suden verdirbt uns.
Er zieht uns zu tief hinunter zwischen Spanien und Italien. Bei
gleichen Chancen konnte Italien eines Tages vor uns durchs Ziel
gehn. Ich weiR es. Ich stamme aus dem Suden. Wir braudien den
Norden, um zu bestehn —
Hans: Spannen Sie einen Menschen mit Armen und Beinen
zwischen zwei Pferde, jagen Sie die Pferde in entgegengesetzter Rich-
tung davon, und Sie haben genau das erhabene Schauspiei der
eisassischen Treue.
General: Mein Herr, wir Elsasser —
Hans: Sagen Sie doch bitte nicht: wir Elsasser . . Sie haben auf-
gehort, ein Elsasser zu sein, als Sie das Land verlieRen. Ihre Kinder
wissen vom Elsafi nicht viel mehr, als von der Schweiz. Ihre Lieb-
habereien machen uns das Leben schwer. Horen Sie endlich auf, in
unsem geheimsten Empfindungen zu wfihlen, wie ein Sammler in
schonen alten Stoffen. Denn wir lieben Frankreich, horen Sie?, wir
lieben Frankreich.
Cavrel: Ihre Anhanglichkeit —
Hans: 1st dumm — unverzeihlich dumm. Aber sie besteht. Seien
Sie zufrieden, daR wir sie Ihnen umsonst geben. Denn Sie, Sie
holen uns nie zuruck.
Simon: Wenn wir fortfahren, Kulissen zu schieben, statt unser
Haus fur Angriff und Verteidigung auszubauen. — Wir konnen
uns aber andem.
Cavrel: Ich vertraue auf die Gerechtigkeit. Deutschland wird uns
eines Tages Elsafi-Lothringen zurudcgeben. Fur den Preis, den es
wert ist. Unter uns: wir wurden jeden Preis bezahlen.
Hans: Deutschland ElsaR-Lothringen umtauschen? Nie. Siemufiten
Rene SSi<£efe • Hans an S<£na6enfocb
31
es schon zurudcerobem . Kommt aber dieser Krieg, was Gotr ver-
huten moge, so erleben Sie eine Katastrophe, mit der verglichen
Sedan eine unglucklidse Manoverubung war. Glauben Sie mir dodi,
bitte, ich kenne Deutschland, und ich kenne Frankreich: dieses Volk
von hier bis an die russische Grenze, Kopf an Kopf, Hand in Hand
ist eine einzige Kriegsmaschine, die nur mit einem Hebeldruck in
Gang gesetzt zu werden braucht. Sie ist fertig, nicht ein Schraub-
dien, das da fehlt, vollkommen bemannt und jeden Augenblick be-
reit, die Arbeit zu beginnen.
Cavrel: Ich bewundere dieses Volk! Ja, ich kann sagen, dafl ich
es liebe.
Grafin: Herr Abgeordneter !
Cavrel: Die Deutschen sind ein groBes Volk, und ich verehre
die GroBe, wo ich sie finde. Wir konnten stolz sein, ihre Freunde
zu heifien. Und wir konnten sie braudien.
Simon <immer ironisdi): Ihre Verehrung fur die Grofie ist ein Tribut,
den Sie sich selbst zollen.
Hans: Die Eigenschaften, die Sie an Napoleon ruhmen, die hat
gewifi kein lebender Deutscher, aber Deutschland als Gesamtheit
vereinigt sie alle in sich. Das klingt Ihnen vielleicht lacherlich, aber
in der Zeit der Massenbewegungen ist auch das Genie vielleicht ein
Kollektivbegriff geworden und bedeutet ganz einfach den Gipfel der
Massenorganisation.
Simon: Mag sein. Aber, nicht wahr, auch Napoleon wurde nieder-
gerungen.
Hans: Weil er ein einzelner Mensch war. Ware das ganze Frank*
reich ein Napoleon gewesen, so hatte es kein Waterloo erlebt und
hatte erst recht nicht auf eine einsame Insel geworfen werden konnen.
Cavrel: Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht. Aber ich glaube auch
an das Massengewissen. Die Volker werden sich mit ihren wirt-
schaftlichen und geistigen Interessen so durchdringen, werden sich so
sehr an die Zusammenarbeit ihrer verschiedenartigen Krafte gewohnen,
dafi sich mit der Zeit auch das Verstandnis fur die gegenseitigen
Lebensbedingungen und eine Nachgiebigkeit einstellen muB, wie sie
in jeder Familie zu finden sind — ■
Simon: Lieber Freund, darf ich Sie unterbrechen?
32
Rene S<£idefe • Hans im S<£na6enf<x£
Cavrel: Bitte schon, lieber Kollege.
Louise: Ganz wie in der Kammer!
Simon: Gotl bewahre uns vor dem grauen Ungeheuer eines
Massengenies.
Hans: Das mag Ihre Sorge sein.
Grafin: Es bekummert sich zwar niemand um mid), aber id) er»
klare ungefragt, dal) id) aud) nidit an das Massengenie glaube.
Louise: Id) aud) nicht. (Der General zuckt nur verSditiidi die Adiseln.)
Hans: Und id) — sehr ungern. Aber es scheint halt doth, als
ob die Weltgeschichte sid) um dies Phanomen bereichern wollte.
Simon: Es lohnte sid) nid)t mehr zu leben.
Grafin: Nid)t wahr, Herr Minister? Wo blieben die Manner,
die sid) aus Federkielen eine Krone drehn?
Cavrel: Die braven Burger verloren einfad) die Ideale. Wen
sollten sie verehren, wenn sie plotzlich alle mit zum Genie gehorten?
Simon: Sind Sie fertig? Sie spred)en namlidh immer, als ob Sie
eine Rede anfingen — wenn Sie nicht bereits mitten drin sind. Wissen
Sie, was Ihr Massengenie ist? Der Einfall eines Kirchenvaters.
Grafin: Sie Freidenker!
Hans: Wie, wenn der Krieg uberhaupt eine ungeniale Angelegen-
heit ware, eine Mischung von Transportgesthalt und Indianerspiel,
und wir die Bedeutung der wirklid) groBen Feldherrn, die wir als
solche verehren, ganz anderswo suchen muBten, als auf ihren
Schlachtfeldern ?
Louise: Id) bitte Sie, der Genera! ist einem Schlaganfall nahe.
Hans: Es sollte nur eine Anregung sein, Herr General, id) be-
haupte nitht, daB dem so sei.
Simon: Id) habe es nicht anders aufgefaBt.
Cavrel: Gibt es etwas, verehrter Herr Minister, was Sie nicht
nur als eine Anregung auffaBten?
Simon: Ja, wenn Sie zum Beispiel jetzt vorschliigen, mir hierher
ein Landhaus zu bauen, damit id) bis zu meinem Lebensende von
der ideaien Rauberei unseres Berufes ausruhte. Mehr verlange id) nicht.
Louise: Sie vergessen die ewige Geliebte.
Cavrel: Er vergiBt vor allem, daB er keineswegs ein Landhau?
brauchte, um Frankreich mit diesem Piratenfirieden zu begludcen
Rene SSidiefe • Hans im Sc£na6enf<x£
Grafin: Darf icfi um eine Photographie der Dame bitten?
Simon: Da Sie mir vielleicht behilflich sein konnen, sie zu finden,
gem. Anstandige Frau —
Grafin: Das hatfen Sie aus verschiedenen Grunden nicht zu sagen
brauchen, unter andem, weil wir Ihre Verderbtheit kennen.
Cavrel: Mein Freund, Sie konnen ja keine Frau lieben. Sie
lieben die Politik, vie wir andem nicht wagen wurden, unsere
Frauen zu lieben.
Simon: Nein, mein Freund, mehr und weniger.
Grafin: Wenn Sie nicht unterwegs das Genidc brechen, werden
Sie weit kommen. Sie verdienten's,
Simon: Frau Grafin, ich bin Ifinen fur Ihre Vorurteilslosigkeit
sehr dankbar.
Frau Muller: AHe Welt in Frankreich wartet auf den Diktator.
Louise: Herr Boulanger, da gerade von Vorurteilslosigkeit die
Rede ist: wie fuhlen Sie sich in der Gesellschaft?
Hans: Ich varte darauf, dafi wir, die wir vorlaufig noch hier
sitzen, plotzlich in die Luft gehn und -—fit — fort sind, Ich fuhle
mich sehr wohl.
Grafin: Richtig, Hans Boulanger stammt Ja aus dem Schnaken-
loch und ist nicht einmal Advokat. Sie konnen versichert sein, mein
junger Freund wenn ich Sie nicht von Kindsbeinen gekannt hatfe,
so wie wir Sie unter uns sehen, wurde ich Sie gewifi fur einen
unserer jungen Franzosen halten.
Cavrel: Was Sie dem Herm sagen, Grafin, wird er kaum als
eine Schmeichelei empfinden. Ich an seiner Stelle tate es nicht. Unsere
Art, in die Luft zu gehn, wie der Herr sagte, —
Simon: Die allgemein bekannte Tatsache, dafi Sie sehr schwer
hochgehn, enthebt Sie jeder weiteren Entschuldigung.
Cavrel: Danke schon. Sie haben recht. Ich bin keine Seifenblase.
Simon: Der Meister findet sich wieder einmal nicht in seinen
Bildem zurecht. Feuerwerk ist naturlich keine Seifenblase.
Hans: Konnen Sie wissen, Herr Minister, ob ich nicht an das In-
die-Luft-Gehn einer Seifenblase gedacht habe?
34 Ren/ Sdiditfe • Hans bn Sdbna&enfod
ZWEITER AUFTRITT
Dieselben. Mailer.
<M Oiler tritt auf. Angefnetz mit Foreiien.)
Simon: Dann hatten Sie sich falsch ausgedrftckt. Eine Seifenblase
macht nicht »fft«.
Cavrcl (gut mfl tig zu Hans): Aufpassen tut er.
M Oiler: Geschickt ist er, unser Minister, so geschickt man nur
sein kann. (GroSend.) Meine Damen! Meine Wolfe!
Simon: Mein bester Moller, warst du nidit, ich vergafie, daB es
nodi Muller in Frankreidi gibt, und ich ware verzweifelt. Wenn idi
meinen Freund Muller einige Wodien nidit gesehen habe, fuhle ich
midi sdiaudernd auf der sdiiefen Ebene.
Muller: Das glaube idi dir aufs Wort.
Simon: Was hast du denn da?
Muller: Foreiien, Exzellenz.
Simon: Die ersten lebendigen Foreiien, die idi sehe. Die roten
Punkte — entzudcend. Und wie sdilank das ist. Wie fangt man sie?
Muller: Mit einer Fliege. So... (Tinzelnde Bewcgung mit der Hand.)
Darnadi sdinappen sie. Sie sdiieOen wie ein Torpedo. Dann stehn
sie wieder regungslos gegen die Stromung. Eigentlich haben sie
deinen Charakter.
Grafin: Ein ausgezeidineter Einfall! Wir haben nodi eine halbe
Stunde Zeit, gehn wir zusehn, wie man Foreiien fangt.
Cavrel: Sehr gem.
Muller: Hoffentlidi habe idi Gluck!
Simon: Du hast immer Gluck!
Louise: Ich weifi, wie man Foreiien fangt. Idi warte hier.
Hans: Dann leiste idi Ihnen Gesellschaft.
Muller: Aber still sein, wenn ich bitten darf, bilte, still sein. Sie
durfen sich nicht ruhren. Die Foreiien
<Alle ab bis auf Hans und Louise.)
DRITTER AUFTRITT
Hans. Louise.
Hans: Ist Simon wirklidi der Halunke, fdr den er sich in Qber-
einstimmung mit seinen Freunden ausgibt? Kommen Sie, setzen wir
uns. <Sie setzen sich nebeneinander auf ihren alten Platz.)
35
Rene SSidefe • Hans im Sc6nafienfo<£
Louise: Ja, aber er madit keinen Gebraudi davon. Er ist heute
nodi so arm, wie er vor zwanzig Jahren war, und nur seine Tra-
banten sind Millionaire geworden. Vielleicht ist seine Verderbtheit
audi nur die Folge seines zu weitgehenden Verstandnisses fur die
Sdiwadien seiner Freunde. Dieser Ansidit ist mein Mann , . . Seine
Freunde lieben ihn leidensdiaftlidi. Wahrsdieinlidi ausdemselbenGrund.
Hans: Lind die Frauen audi.
Louise: Natiirlidi. Die guten und die schlediten/ die ihn kennen,
und die ihn nidit kennen. Audi von seinen Gegnern wuflte idi
keinen, der ihn wirklidi halite.
Hans: Ich finde es sdion, dafi politisdie Gegner einander bis aufs
Messer bekampfen, ohne an ihrem mensdilidien Verhaltnis Sdiaden
zu nehmen.
Louise: Es ist wohl mehr ein gesellsdiaftlidies Obereinkommen.
Und hat audi den Naditeil, dafi es allerhand Zweideutigkeiten die
Ture offnet. Keiner hafit Simon, aber alle fiirditen ihn. Idi habe oft
den Eindruck, als warteten sie darauf, dafi er plotzlidi die Maske
fallen liefie und ihnen den FuB auf den Natken setzte. Dafur halte
idi ihn aber fur zu bequem. <Da Hans sick umsieht) Wir sind allein.
Hans: Danke... Sollten Sie wirklidi keinen Ehrgeiz haben in
dieser Gesellsdiaft, die mit gestreckten Halsen im Rennen liegt?
Louise: Oh, idi war sehr ehrgeizig. Das sind wir Madels der
republikanisdien Gesellsdiaft immer, Die meisten vergessen dann das
Elysee uber ihren Kindern. Idi habe keine Kinder . . . Aber Cavrel
ist kein Politiker, er ist ein Prophet. In den zahllosen Arbeiterver*
sammlungen, in die idi mit ihm ging, und als idi immer wieder die
Tausende von ernsten, offenen Mensdiengesiditem zu ihm wie zu
einer milden Sonne gewandt sah, und wie die Lippen der Manner
und Frauen leise mit seinen Worten bebten/ und wie alle, alle,
immer wieder fortgerissen in die Bahn dieses lebendigen Traumes,
ganz einfadi, ganz sdion wurden — ja, idi bin wahrhafter geworden
durdi ihn, idi habe eine neue Welt gesehn <1eise> in der idi
midi niemals heimisdi fuhlen werde . . . <La<keind> Sdion die Propheten
des Alten Testaments waren mir unheimlich . . . Und als mein Ehr-
geiz fort war und idi midi umsah, da merkte idi, dafi idi audi meinen
Mann verloren hatte . . . Er weifl heute nodi nidit, dafi idi irgendwo
Rtne ■ Hans im ScBnaktnfoS
weit hinten auf seinem Weg liegcn geblieben bin . . . Sie werden
sagen, dafl meine Gesdiichte banal sei, aber idi habe keine andere
Gesdiichte.
Hans: Auf einmal sprechen Sie vie eine Geige.
Louise: Ich weifi, Sie werden midi gleich kussen. Mir ist so
feierlidi zumute wie einer Sterbenden.
Lassen Sie midi mein
Testament beendigen . . . Idi habe nie einen Liebhaber gehabt, ich
konnte es nidit ertragen, aufierhalb der Gesellsdiaft zu stehn, idi
bin eine kleine hochmutige Bauersfirau. Meinetwegen verlange ich,
dab Sie midi heiraten. Idi verlange es audi wegen meines Mannes.
Denn idi habe ihn so geliebt, wie idi Sie wahrsdieinlich lieben werde.
Idi muB ihm weh tun, aber idi will ihn nidit beleidigen. Hans, ich
versuche ein zweites Mai mein Gluck. Sagen Sie sidi, bitte, dafi ich's
ein drittes Mai nicht konnte. Dazu wtirde es wirklidi mit dem besten
Willen nicht reichen. Und jetzt <gibt ihm die Hande>: idi liebe Sie.
(Umanmiiig.)
Louise: Mein sufier Freund! (Dann, auftaumelnd.) Wir sind, wir
(Sieht sidi inn.)
Hans: Horen Sie, Louise. Idi kann — ich kann Ihnen nidits ver-
spredien. Nichts. Nidits. — Ich habe Sie so lieb.
Louise: Idi habe Ihnen alles gesagt. Nun konnen Sie mit mir
madien, was Sie wollen. Sie werden nie, nie eine Mahnung oder
einen Vorwurf von mir zu horen bekommen. — Sind wir einig?
Hans: Liebe, idi komme mir sehr hinterhaltig vor. AJs ob ich
Sie mit falsdien Versprech ungen uberlistet hatte. Sagen Sie, daB es
nidit wahr ist?
Louise: Armer, was hat Ihnen ein so sdiledites Gewissen gemadit?
Hans: Gib deinen Mund!
<Umar
I 9
un g, stehend.)
VIERTER AUFTRITT
Hans, Louise. Sdiambedifi.
<SdiambediB
Louise: Da. Nein, lieber gleich den Skandal!
Mann etwas.
dem
Ren/ Sekitkefe • Hans im ScBnakenfcxk 37
FQNFTER AUFTRITT
Dieselbcn. Simon. Cavrel, Mailer. Die Grafin. Frau Mailer.
Hans <laut>: Da kommen sic.
Muller (hoch oben zwisdien Cavrel und Simon): Ein Lowe, ein Wolf
und das Schaf,
Louise: Die ganze Politik!
<V orhang.)
VERWANDLUNG
Bel der Grafin Sulz. Gartenterrasse, von alten Latemen erleucbtet. Recfcts offene FlOgel-
tOre in einem elektrisch erleuditeten Saal. Manner und Frauen im Gesellsdiaftskldd.
ERSTER AUFTRITT
Balthasar Boulanger. Louise Cavrel.
Louise: War das nidit Ihr Bruder, der eben an derTur vorbeiging?
Balthasar: Das Sdilofi wimmelt von Gespenstern.
Louise: Ihr Bruder wollte heute abend kommen.
Balthasar: Vielleicht wollte er.
Louise: Er ist vemarrt in die alte Grafin. Er kann ihr stunden-
lang zuhoren, wenn sie von ihrem alten Paris erzahlt — was mir,
offen gestanden, sehr sdiwer fiele.
Balthasar: Sollten Sie eifersuchtig sein?
Louise: Oder Sie?
Balthasar: Idi bin immer eifersuchtig auf meinen Bruder ge»
wesen. Kein Wunder, als ich nodh in der Wiege lag, war er be-
reits ein Held.
Louise: Ein Gestandnis ist das andere wert. Eine Frau ist immer
auf alle Frauen eifersuchtig. Mit einer Ausnahme.
Balthasar: Mit Ausnahme der Frau, auf die sie wirklich eifer-
suditig ist.
Louise: Sie sind viel —
Balthaser: gesdieiter
Louise: erfahrener, als man nach Ihrem Alter glauben sollte.
Balthasar: Ich bin immerhin Hansens Bruder.
Louise: Ist es nicht unheimlich, dafi die einzige Eugenie und die
unsterblidie Pauline, die unsere Grafin bei einem Ball in den Tui»
38 Rene S&idiefe • Hans im S<6na6en(o<6
lerien beiseite nahmen und ihr zuflusterten: — daB die tatsachlich
nodi leben? Wie sie heute wohl aussehn, die armen Frauen?
Balthasar: Sie traumen. Und alle, die sie damals gekannt haben,
tun sidi und ihnen den Gefallen, mitzutraumen. So gQtig 1st das
Leben. Selbst die, die weit uber ihre Zeit hinaus vereinsamen,
bleiben nie ganz allein. Sie sind ihr letzter Freund, und der wenigstens
lafit sie nidit im Stidh. Welch ein Trost fur die Frauen!
Louise: Es ist wirklidi ein gespenstisdies Haus.
Balthasar: Ja, ein Mausoleum, mit Offenbachsdier Musik. Haben
Sie einmal die Grafin die »Schone Helena* singen horen?
Louise: Ja, dann fahrt der Teufel in sie und macht sie jung.
AuBerdem ist ihr GebiB vorzuglidi gearbeitet.
Balthasar: Vorzuglidi.
Louise: Und der alte General Kaufimann sdieint wirklidi —
Balthasar: Man kann kaum daran zweifeln. Ist denn nun sein
rediter Arm wirklich und wahrhaftig aus Gold?
Louise: Idi behaupte, aus dem Erz eroberter Kanonen.
Balthasar: Gab es 1870 eroberte Kanonen?
Louise: Kann idi Ihnen nidit sagen. Aber es werden wohl nodi
einige aus der Zeit des ersten Napoleon vorhanden gewesen sein.
Balthasar: Sie sind nidit sehr patriotisch.
Louise: Unser Patriotismus vergnugt sich in der Rumpelkammer.
Idi kann altes Zeug nidit ausstehn, Es liegt vielleicht daran, daB
mein Vater begeisterter Sammler war.
ZWEITER AUFTRITT
Louise. Balthasar. Hans.
Hans: <kommt von links die Treppe heraufgestQrmt. Vor Louise stchen bleibend):
Uff!
Louise: Uff!
Balthasar: Guten Abend.
Hans: Guten Abend, Madame! Hatte idi nidit gewuBt, daB man
hier nie zu spat kommt —
Lo uise: So wiren Sie vermutlidi punktlich gewesen.
Balthasar: Deine Frau findest du im Wintergarten,
Hans: Danke dir.
Ren/ S&i&efe * Hans im ScBnakenfoS
39
Balthasar: Sie hat mich fortgeschidct, veil ich ihr auf die Nerven
ging, und ich ging ihr auf die Nerven, weil ich mir alle Miihe gab,
sie zu storen.
Louise: Sie sehen, es gelingt doth nicht immer,
Balthasar: Sie in der verzweifelt tiefsinnigen Betrachtung des
Turausschnitts zu storen, in dem du ersdieinen solltest.
Hans: Danke. <Nach dner Weile.) Bist du fertig?
Louise: Werden Sie nie aufhoren, Ihren Bruder wie einen Schul-
buben zu behandeln?
Hans: Sobald er nicht mehr in mir den Lehrer sieht, der um
jeden Preis geargert werden muB.
Louise: DaB Sie einander nodi nicht totgeschlagen haben!
Hans <IaAcnd>: Friiher liebte er es, mich anzufallen, mit der
Schleuder, mit dem KnQppel, mit dem Messer. Ich habe ihn nie an-
geruhrt, es sei denn gewesen, um ihm sein Mordwerkzeug abzu-
nehmen, Ich weiB nicht, warum Sie jede Gelegenheit benutzen, uns
in hochnotpeinficher Weise zu konfrontieren.
Louise: Weil Sie beide gut aufeinander eingespielt sind.
Hans: Das kleine Madcfaen kann nie genug bekommen mit Spielen —
gelt? Wir sind keine feindlichen Bruder, Balthasar?
Balthasar: Nein. Trotzdem gehe ich jetzt nicht, bevor du midi bittest.
Hans: Wer sagt dir denn, daB du gehn sollst?
Balthasar <zu Louise): Sie nicht?
Louise <greift ihm in die Haare): Kindskopf.
Balthasar <verwirrt>: Dann bleibe ich.
Hans: Ja, also, dann will ich der Grafin meine Aufwartung machen
Louise: DiegutePauline. Als bei einem landlidien Fest in St. Cloud
ein Feuerwerk abgebrannt wurde, sagte sie seufzend: »Woran
einen dieses Puff, Puff alles erinnertU
Hans: Ich werde der Grafin dieses unveroffentlichte Bonmot in
Ihrem Auftrag schenken.
Louise: Sie wollen wohl vor die Tur gesetzt werden?
Hans: Nein, denn, um wieder herein zu kommen, muBte ich ent-
weder durch ihr Schlafzimmer oder durch die Kapelle, und beides
ware mir zu beschwerlich. Also — <summt abgehend) »Ich bin der Konig
Menelausc.
40 Rene SSidte/e • Hans im SdnahnfoS
DRITTER AUFTRITT
Louise. Balthasar.
Balthasar: Mein Bruder und Sie uberbieten einander an Ver-
leumdungen.
Louise: Ich bitre Sie! Wir wissen doth alle, dab die Grafin sich
zwar gern mit Ninon vergleichen labt, aber, von der Aussiditslosig-
keit des Unternehmens durcbdrungen, niemals zu bewegen ware,
eine Ninon zu sein. Sie liebt den Abb£ Sdhmitt viel zu sehr, als
dab sie sich das Gluck verscherzte, ihn im Himmel wiederzusehn.
Balthasar: Sie fahren hurtig fort.
Louise: Balthasar, Sie sind bose.
Balthasar: Vielleidit.
Louise: Deshalb konnen Sie keinen Spott vertragen, weder uber
sidh, nodi fiber andere ... War das nidit Hans?
Balthasar: Ja. — Haben Sie midi nie spotten horen?
Louise: Sie spotten nicht. Sie klagen an und verurteilen. Sie sind
ein Scharfrichter . . . Klar und Sie waren ein gutes Paar. Sie passen
zueinander.
Balthasar: Haben Sie das auch schon bemerkt? (Pause. Balthasar
hebt den Kopf, ihr ins Gesicht.) Nein!
Louise: (streitbar aufgeriditet, nadi einem Sdiweigen): Glauben Sie?
Balthasar: Sie bekommen ihn nidit. Er gehort Klar. Sie braudit ihn.
Louise: Und wenn —
Balthasar: Idi werde Klar verteidigen, bis zum letzten.
Louise: Und wenn — ?
VIERTER AUFTRITT
Louise. Balthasar. Simon. General Kaufmann.
Louise: Hierher, meine Herren! Herr Boulanger ist gerade im
BegrifF, midi zu verlassen, und ich modite nicht gem auf dieser
groben Terrasse verloren gehn.
Simon: Bitte, Madame, halten Sie sich an mir fest.
Louise: Ich weib nicht? <Vorstellend> Herr Balthasar Boulanger,
Ihr berfihmter Landsmann, der General Kaufmann, Herr Abgeord-
neter Simon, der zukfinftige Prasident der Republik.
Simon: Nath Ihrem Gatten, Madame, vielleidit. Nadi dem zweiten
Rene Sdbidiefe * Hans sm 5<6na£enfo<6
41
Septennat Ihres Gatten — vielleicht, wenn ich dann noch lebe . . .
und niemand anders da ist.
General: Was fur prachtige Menschen, was fur brave, prachtige
Menschen !
Simon: Mein Herr, Sie sollen so gludrfich sein —
Louise: Wen meinen Sie?
General: Die Strafiburger Feuerwehrleute.
Simon: Eine entzudcende Frau — eine Deutsche.
Louise: Schwagerin.
Simon: Verzeihen Sie: Schwagerin. Durfte ich Sie bitten, mich
der Dame vorzustellen ?
Balthasar: Bitte, gern. <Ab.)
FQNFTER AUFTRITT
Louise. General.
General: Sie bereiten sich auf den Facfcelzug vor. Nein, was
fur prachtige Mensdien.
Louise: Sie sprechen nodi immer von der StraBburger Feuer-
wehr?
General: Krieger, richtige Krieger. Vom alten Schrot und Korn.
Wie Frankreich leider keine mehr hervorbringt.
Louise: Wie war's. General, wenn Sie sich setzten, um mir von
diesen Kriegern zu erzahlen.
General: Sie werden sie gleidi sehen.
SECHSTER AUFTRITT
Dieselben. Scbambedifi und ein anderer Diener bringen einen Sessel herein,
erblidcen den General, setzen den Sessel ab, grQften mifitarisch, —
General: Danke, mein Sohn, danke —
und stellen den Sessel an die Rampe der Terrasse. Bleiben dahinter stehn.
SIEBENTER AUFTRITT
Dieselben.
Louise: Der Fackelzug?
General: Sofort, Madame. Denken Sie, ich ging hinunter, um
die tapfern Leute zu begruflen, und als sie mich erblickten, da standen
sie stramm, ihr Kapitan trat vor und sagte: Herr General, ich habe
42
Rene SSidiefe • Hans im ScBnakenfoS
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die Ehre, Sie im Namen der StraBburger Feuerwehr zu begruBen.
Wie er das sagte! Sie konnen sich keinen Begriff macben, wie er
das sagte.
Louise: Doch, doth!
General: Als ob er mir, dem Vertreter Frankreichs, das ElsaB
zuruckgabe.
Louise: Genau so.
General: Durch meine Tranen hindurch sah ich, wie den tapfern
Leuten die Augen naB wurden. Ich mufite scbnell Kehrt macben,
um die Fassung nicht zu verlieren.
Louise: Wenn die Leute Sie aber erst in Ihrer Uniform ge-
seben hatten!
General: Es ist nicht abzusehn, was da geschehn ware.
Louise: Freuen Sie sich, daB Sie die Leute nicht ins Ungludc
gestiirzt haben. Sie wissen, die Deutschen verstehn darin keinen SpaB.
General: Um so mehr, als wir eine deutsche Dame unter uns
haben.
Louise: Ich bitte Sie, das ist die Frau meines Freundes Bou-
langer.
General: Und einen preuBischen Leutnant.
Louise: Ich bitte Sie, das ist der Freund meines Freundes Bou-
langer.
General: In preufiischer Uniform.
Louise: Die Uniform ist sein Gesellschaftskleid.
General: Mit einem preuBischen Orden!
Louise: Schreddich. Hier mitten in Frankreich.
General: Nun, wenn die da gleich vorbeimarschieren, werden
Sie glauben, die alte Garde sei auferstanden.
Louise: Und ginge einen Kaminbrand loschen.
General: Zum Gluck weiB ich, daB ich mit einer Pariserin spreche,
die den Ernst immer von der heiteren Seite nimmt.
Louise: Sagen Sie, General, die Leute werden doch nicht die
Marseillaise spielen?
General: Um Gottes willen! Die Marseillaise spielen, das kommt
hier gleich nach dem Totschlag. Sie spielen die Sambre-et-Meuse,
die heimliche Marseillaise der Elsasser. Obrigens ist dieser Revo-
43
Rene SSidefe * Hans im SSnatenfodi
lutionsmarsA eine Konzession der Grafin an die elsassisAen Ge-
fuhle.
Louise: RiAtig, die Grafin ist eine Anhangerin des Konigtums.
Obwohl — Grafin Sulz, das klingt sehr naA napoleonisAem Adel,
und da Sulz meines Wissens kein SAlaAtort ist, durfte man auf
den dritten Napoleon sAlieBen. Dann hatte sie allerdings Grand,
Royalist zu sein.
General: Napoleon ILL ist einer der verkanntesten Manner der
WeltgesAiAte.
Louise: Er teilt das Schick sal mit seinen Generalen.
General: IA weiB, ich weifi . . . Besiegte Volker haben immer
die Rancune von Sklaven.
Louise: Wie emsthaft! Verzeihung, Kommen Sie, General,
kussen Sie FrankreiA die Hand.
General: Oh, Madame. <K08t tfir <lie Hand.)
ACHTER AUFTRITT
Dieselben. Klar. Mailer. Cavrel. Simon. Frau Mailer.
Klar: Die Herren sind wirkliA alle Aei Abgeordnete?
Muller: Liebe NiAte, iA bin es nur zum SpaB. Um einen guten
Platz zu haben, wenn die Menagerie musiziert und Ae Herren
Tierbandiger auftreten. IA selbst reAne miA zu den Amphibien,
die man in Paris mit einer MisAung von Bedauern und Bewunde-
rang den » unverbesserli Aen Provinzlere nennt.
Klar: Sie haben mir nie verraten, zu welAer Partei Sie gehoren.
Muller: Zur gemaBigten, mein Kind, zu den FortsArittlem. IA
habe miA im Leben immer in der Mitte gehalten,
Klar: Die ja wohl auA niAt umsonst die goldne heiBt.
Cavrel: Was das Gold anlangt, so befindet es siA bei uns eher
etwas links von der Mitte, bei den wohlgenahrten Herren, die siA
sAredchafter Weise die Radikalen nennen. Unsere Regierungspartei !
Muller, so wie Sie ihn vor siA sehen, ist ein Mann der Opposition.
Klar: I A verstehe. Wenn die Radikalen regieren, mussen die
FortsArittler naturliA in der Opposition sein.
Cavrel: Sie nennen siA mit ebensoviel Grund fortsArittliA,
wie Ae andem siA radikal nennen.
4 voi. mA
t 4
44 Rene S<£idiefe • Hans im S&na6enfoc6
****jr*M**W0***0M***JW**M**t**M***+**0+t***MS**MM++9***m*Sm0*99***** t* * tAA JM| WWWjMMWWM
Klar: Einen Augenblick. Mir geht es wie Ihren Fortsdirittlem.
Idi komme nidit mit. Idi mufi Ihnen gestehn, dafi die Politik fiir mich
immer ein grofies Geheimnis war.
Simon: Madame, die Sadie ist sehr einfadi. Unser bester Muller
ist Fortsdirittler, weil er findet, dafi die Mitglieder dieser Partei das
beste Familienleben fiihren.
Klar: Und Sie, Herr Minister, gehoren naturlidi 2ur Regierungs-
partei.
Muller: Das ist das Einzigartige an diesem Mann: er, er gehort
zu keiner Partei. Er ist ein Albino.
Cavrel: Wir haben eine Anzahl frQherer Sozialisten, die aus der
Partei ausgetreten sind, wie eine hubsdie, aber wenig tugendhafte
Frau, die auf Irrwege gerat, ihrem Mann davonlauft und sidh eine-
eigene Wohnung einrichtet.
Simon: Bitte, lieber Freund, fuhren Sie Ihren Vergleidi nidit
welter aus.
Cavrel: Die braven Kerle sind dann zu schlau, um sidi etwa
neue Ehefesseln anzulegen, und wie die erwahnte Dame dann wohl
einen Salon eroffnet, wo Leute aller moglidien Gesellsdiaftskreise
verkehren, so operieren unsere Sozialisten mit alien moglidien Par-
teien, ohne sidi auf eine festzulegen.
Muller: Was Sie sagen, spridit nidit gegen die alte Erfahrung,
dafi die fruheren Wilddiebe die besten Jagdhiiter abgeben, Aber
unser Simon iiberragt die Bruder — alles was redit ist. Nennen
wir ihn den Konig der Wilddiebe.
Klar: Sie lieben ja den Herm Minister.
Muller: Lieben? Idi verehre ihn. Ein tolles Studt Mensdi, an
dem idi mich nie sail sehe.
Frau Muller <leise>: Allerdings bezahlen Sie auch das Vergnugen.
Muller: Meine liebe Frau! Bezahlen? Madame, wie oft habe
ich Ihnen sdion vorgeredinet, dafi Simon unser Vermdgen verdrei*
fadit hat. Ich bin Kaufmann und verdiene gut. Einen Teil lege ich
zurudc, damit idi midi heut oder morgen, wenn es mir gefallt, von
den Gesdiaften zuriidcziehen kann. Warum soil idi mir nicht fur
das Oberfltissige das Riesenvergniigen gonnen, einen Mann wie
Simon fiir mich arbeiten zu lassen?
45
Rene SSidtefe • Hans im SSnatenfoS
Frau Muller: Herr Muller wirft sein Geld lacbelnd fort und
sieht mlt offenem Munde zu, ob es unterwegs anschwiilt oder ab-
nimmt.
Muller: Eigentlich erwarte ich immer, daB sich piotzlich <mit einem
Blkk auf Simon) — eine Hand vorstreckt und alles wegzaubert. (ladit)
Klar: Die Katze spielt mit der Maus, und es ist die Maus, die
das Vergnugen hat.
Muller <no<h immer ladiend): Genau wie Sie sagen, meine Liebe.
Genau so.
Cavrel: An diesem braven Mann, Madame, konnen Sie sehen,
welche Verheerungen die Atmosphare eines Spielers anrichtet.
Klar: Idi mul) gestehn, wenn ich Franzosin ware, fande ich das
alles recht ungemutlich.
Simon: Fruher regierte ein Staatsmann mit dem Herrsdier und
einem kleinen Hofklungel. Heute regiert er mit 300 Wahlmannern,
1000 Abgeordneten und ebenso vielen Joumalisten. Die Frauen
lasse ich dabei ganz beiseite. Dazu gehort eine Spannkraft, ein
HeiBhunger, eine so vielfaltige Klugheit, ein so sidierer Instinkt,
daB ein Talleyrand erschrake, wenn er sich piotzlich mitten in die
losgelassene Meute versetzt sahe. Und von all dieser Energie, die
einen Helden ausmacht —
Cavrel: Verzeihung, einen Abenteurer —
Simon: Ein Held ist ein Abenteurer, der sidi der Gesellschaft
aufgedrangt hat — von all dieser Energie, sage idi, geben wir in
einem Jahr mehr aus, als gewaltige Staatsmanner der Vergangen-
heit in ihrem ganzen Leben verbrauchen konnten.
Muller: Um wirklich GroBes zu leisten, fehlt Euch doch wohl
die sittliche Personlichkeit.
Simon: Du willst sagen: die Gelegenheit.
Cavrel: Armes Frankreich! Nicht wahr, Madame?
Klar: Wer von den beiden Herren wird nun Frankreich retten?
Muller: Wenn man es einmal retten soil, dann wird es wohl
einer von den beiden hier versuchen mussen.
Cavrel <Simon ansehend): Einer von uns beiden . . .
Muller: Simon kann einen Aufstand unterdrucken, aber idi glaube
nicht, daB er einem Volk den Glauben an die Sterne einblasen
46 Rene S Sidle fe • Hans im SSnaienfoS
r . . . . . / . . . . . . . . ' / . . . .V " . y
konnte, der es, in einer ungeheuren Anstrengung, uber siA selbst
hinaushobe. Cavrel ist der einzige, der einen Krieg noA im (etzten
Augenblidt verhindern, aber auA der einzige, der aus einem ange>
griffenen und vielleiAt bereits gesAlagenen FrankreiA das fetzte an
Kraft, Begeisterung und Opferwilligkeit herausholen konnte.
Cavrel: Glauben Sie wirkliA, MQlIer, dafi jemand Casar sein
konnte, naAdetn er alles aufgeboten hatte, um Brutus zu sein?
Muller: Wenn der Feind im Land stande? Sind Sie Franzose
oder sind Sie es niAt? Was sagst du dazu, Simon?
Simon: Dann wurden Cavrel und iA ja wohl unsern letzten
Gang auszufeAten haben.
Klar: Vor dem Feind?
Simon: Mit dem Feind, Madame, hatte si A in erster Linie unser
Generalstab zu befassen.
Cavrel: Madame, es ist eine unserer sAlimmsten EigensAaften,
dafi wir am liebsten uberelnander herfallen, wenn der Feind vor
den Toren steht.
Simon <*<finell>: Wir mQssen uns fur unsere Niederlagen raAen,
und w3re es an uns selbst, das zeigt, dafi wir keine Sklaven sind,
Klar <zu Louise): Sagen Sie, Madame, sind Ae Herren wirkliA
Wilde, oder haben sie si A nur fQr den heutigen Abend verkleidet,
um mi A mit ihrem KriegssAmuA zu blenden?
Louise: IA weifi niAt, Madame.
<Pl&tzlidi bridit die Sambre*et»Meusc los, erst femer, dann niher.)
NEUNTER AUFTRITT
Dieselben. Die GrSfin. Hans und Balthasar. Dimpfel. StarbfuB.
<Starkfu0 und Dimpfel setzen sich vom hin, RQcken zu den andern, die vor
der Rampe der Terrasse stehn.)
Grafin (die sith in ihrem Sessel niederlifit): Ein mar Aenhafter A nbli A,
niAt wahr, meine Herren?
General (zu den Parisern): Die Alten in den ersten Reihen haben
bei Solferino und Magenta mitgekampfit, es ist sogar noA einer da
mit der Mexikomedaille. Die Mitkampfer von 1870 reiAen bis ins
zehnte Glied.
Simon: SAdne Barte!
47
Rene' Sc6icfiefe • Hans im Sc6na£enfo<£
Louise: Und wo die Barte aufhoren, beginnen die Reihen —
General: wurdiger Sohne —
Louise: und preufiisdier Rcservisten.
General (ruft): Ehre den Helden! Hodi! <Sic rufen. Die Musik
nahert sitb.)
Cavrel <zu Simon): Mir ist zumut, als ob unser schledites Ge»
wissen mit Fackeln und Trompeten voruberzoge.
Simon: Vielleicfat haben wir einmal Gluck . . .
Cavrel: *Vielleidit haben wir einmal Gliick* — das ist seit
dreifiig Jahren unsere beste Politik.
Grafin <mit dem Tasdientudi winkend): Das ElsaB soil leben, hodi!
<AIIe rufen. Die Musik ist ganz nahe. Fackeisdiein failt herauf. Zieht vorbei.)
Grafin <erhebt sidi. Die Diener nehmen den Sessel und tragen ihn links die
Treppe hinab): Die guten Elsasser! Ein Fest ohne diesen Fackelzug
schiene mir mifigluckt Jetzt kommt ein besonders ruhrender Moment:
Die Bedankung und Bewirtung der wadtem Feuerwehr. Sie sollen
sehn, wie sie uns lieben. <AlIe hinter der Grafin langsam nadi links ab.
W ahrenddessen :)
Simon: Naturlidi mussen die Elsasser Frankreidi lieben, wer
denn sonst?
Cavrel: Denn wir, nicht wahr?, wir haben Besseres zu tun.
StarkfuB <vorn); Weifit du, ich bin ein gutmiitiges Stuck Vieh.
Dimpfel <nidct.)
StarkfuB: Sonst hatte ich midi nicht hierher sdileppen lassen.
Dimpfel <nickt.)
StarkfuB (ungeduldig) : Was?
Dimpfel: Idi sag: Ja.
StarkfuB: Warum bist du denn hergekommen?
Dimpfel: Ei, idi wollte mir einmal die Bagasdi betraditen.
Frau Muller <am Arme Cavrels): Ich muB gestehn, dieser Fadtel-
zug hat midi aufgeregt. Er war schoner als die Parade des H- Juli
in Longchamps. Der Marsdi, die Barte, die funkelnden Blicke der
Jungen —
Cavrel: Die Haltung.
Frau Muller: Ach ja. Die Haltung! Wenn idi an unsere armen
Pioupious denke. (Ab.)
Rene SSidefe • Hans im S<£na6enfo<£
48
ZEHNTER AUFTRITT
StarkfuB. Dimpfel. Hans.
Hans <hinzutretend> : Was maAt ihr denn da?
Dimpfel: Wir trotzen.
Hans: Mit wem trotzt ihr?
Dimpfel: Mit den WelsAen dahinten.
Hans: Haben sie euA was getan?
Dimpfel: Sie sAwatzen, daB einem vom Zuhoren die Zunge
aus dem Hals hangt.
StarkfuB: Lauter Gespenster. Komiker mit alten BlutfleAen.
Hans: Vorhin hat mir jemand ungefahr dasselbe gesagt. Eine
Franzosin.
StarkfuB: Es mufi auA gesunde Leute unter ihnen geben.
Hans: Sie sind erhaben und dumm wie die gestimte NaAt. Aber
die Feuerwerke, die sie abbrennen, finde iA entziiAend. Und die
Frauen darin —
StarkfuB: Also, was die Frauen anlangt, so kam die Madame
Muller auf miA losgewatsAelt, befuhlte mit einem ehrfurAtigen
SAauder meine Uniform, und als das Ergebnis der UntersuAung
sie befriedigt zu haben sAien, fragte sie, ob sie mir niAt nutzen
konnte. (Dimpfe! kraht sein Ladien.) Die GesellsAaft ist wahnsinnig.
Hans: Sie halten diA fur einen Elsasser. Da, der General ist
bereits bis zu seiner AnspraAe vorgedrungen. Damit geht das Fest
zu Ende.
Dimpfel: Was kollert er denn, der alte Hahn?
Hans: I A weiB es auswendig. »So!daten des ElsaB! FranzosisAe
Gaste der groBmiitigen Grafin und heldenhaften Elsasserin haben die
Ehre gehabt, EuA waAere Sohne des heiligen Landes . . .« NamliA,
die Mutter der Grafin war eine OsterreiAerin und ihr Vater ein
Englander, und die kriegerisAe Gesinnung der Familie ruhrt daher, daB
sie vom Burgerkonig Louis=Philippe, der bekanntliA statt eines Degens
einen RegensAirm trug, in den Adelstand erhoben wurde. (Dimpfel kraht.
StarkfuB hebt langsam die Athseln.) Gelt, nun fiihlst du bis ins KnoAen*
mark die Notwendigkeit, daB diese Lugenbrut ausgerottet werde?
StarkfuB: Die geht von selbst ein.
Hans: I A weiB, du gehorst zu den liberalen Mitgliedem des
Ren/ 5 St die ft • Hans im SSnafenfoS 49
deutschen Weltgericfats. Einigen wir uns: cin Volk, gezeugt von einem
katholischen Teufel mit Pallas Athene.
Dimpfel (bolt Notizbudi heraus and schreibt) : Nicht schlecht. Da
werden meine Primaner was zu lachen haben.
ELFTER AUFTRITT
Dieselben. Louise.
Louise <von red»ts> : Wollen wir jetzt unsem Spaziergang durch
den Park madien?
Hans: Gern.
Louise: Nicht wahr, meine Herren, eine wunderbare Frfihlings-
nacht!
Dimpfel <zum Himmel): Sogar Vollmond.
Louise: Sogar das. Sogar Nachtigallen.
Hans: Dort druben, am Rhein, toben sie. Der Park reicht bis
an den Flub, und wenn man in solchen Nachten dort auf der kleinen
weiBen Terrasse sitzt, muff man gewaltsam an sich halten, um nicht
mit ihr wie ein Luftballon aufzusteigen oder sonstwie den Verstand
zu verlieren.
Louise: Also dorthin wollen wir.
Hans <gleich zurflckkehrend) : Dimpfel, zeige bitte der Madam einige
Sterne. Ich komme nach, (Zu StarkfuB.) Du, durfte ich dich um einen
groBen Gefallen bitten?
ZWOLFTER AUFTRITT
otarkfuB. Ha*ns.
StarkfuB: Darfet.
Hans: Bringe bitte meine Frau nach Hause. Mir war, als ob
Balthasar sich drucken wollte.
StarkfuB: Soli geschehen. Noch was?
Hans: Ja (setzt sicfa did»t neben ihn, ohne ihn aazusehen) ich bin los, —
verstehst du? ich spur's, daB ich in die Strdmung geraten bin und —
(Brregung.)
StarkfuB: Wieder einmal . . . Wie lange, glaubst du, wird deine
Frau den Neufundlander spielen?
Hans: Du verstehst nicht.
50
Rene Sdbidiefc * Hans im SSnafenfoS
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Starkfufi: Dodi, ich begreife sdion: du meinst, du kamst nidit
wieder, und ich flrage did), wie oft du dieses Spiel, wozu die Kinder
Kuckuck rufen, zu wiederholen gedenkst — vielmehr, ob du glaubst,
daft deine Frau . . ,
Hans: Willst du zu mir halten, ja oder nein?
Starkfufi: Du kennst deine Frau sdiledit, wenn du annimmst,
dafi sie jemand braucbt, der zu ihr halt, aufier dir.
Hans: Hs wurde midi aber beruhigen
DREIZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Dimpfcl.
Dimpfel: Die Madam will keine Sterne, sie will didi sehn.
Hans: Himmlisdier Vater!
Starkfufi: »Der Hans im Schnakenloch
hat alles, was er will,
und was er hat, das will er nicht . . .«
Hans: Bin Herz von einem Freund!
Dimpfel: »Und was er will, das hat er nidit . . .* (Hans ab>
VIERZEHNTER AUFTRITT
StarkfuB. Dimpfel.
Dimpfel (sdireit zum Haus): He!
Starkfufi: Weiflt du, wo Balthasar steckt?
Dimpfel (lauter): He!
FQNFZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. SchambediB.
Dimpfel: Wir mochten zu trinken haben, wenn's gefallig ist.
(SdiambediB ab.)
SECHZEHNTER AUFTRITT
StarkfuB. Dimpfel.
Dimpfel (setzt sidi): Jetzt kriegt man endlich Ruh. Die Feuerwehr
ist weg, und nun machen die andem audi, dafi sie nach Haus kommen.
Man hort wieder sein eigen Wort. <Vertrau!id>.> Es ist namlidi wirk»
lich eine wundervolle Nadit. (Sie haben Zigarren angesteckt. Man hort
Rene S&ic&cfe • Hans im Sc6na6enfo<6
51
betlen/ uadi ciner Wdk>: Schone Hunde hat die Alte. (Pause.) Neulich
habe ich gelesen, der Metsdhnikoff in Paris hat ein Mittel entdeckt,
das Leben kunstlich zu verlangem. (Pause.) Auf einmal stirbt uber-
haupt kein Mensch mehr. (Pause.) Dann wirst du nie Hauptmann.
(Pause.) Wer ist denn eigentiich zuerst auf den Gedanken gekommen
ZU rauchen? (Da StarkfuB die A duel zuckt, nadj einer Pause): Sdilaukopf!
(Pause.) O je, da kommt schon wieder eine Madam.
SIEBZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Kl3r.
Klar: Verzeihen Sie, Starkfufi, haben Sie Hans gesehn?
Dimpfel: Dodi, er ist im Park.
Klar: Danke s<hdn.
StarkfuB (si<t erhebend) : Das heiBt . . .
Klar: Nein, danke, idi gehe lieber allein. (Ab.)
ACHTZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. SAambedib (mit Tablett).
Dimpfel: Aha!
StarkfuB: Dich kann man brauchen!
Dimpfel (ahnungslos) : Naturlidi kann man midi brauchen.
StarkfuB: Schrei nicht so.
Dimpfel: Schrei ich?
StarkfuB: Flusterst du vielleicht?
Dimpfel (auf Scbambedi8 zeigend): Ich red' mit dem.
StarkfuB (zu SdiambediB): Die Frau Grafin hat sich wohl schon
zurudcgezogen? (SAambediB sieht Dimpfel fragend an.)
Dimpfel: Er firagt, ob die Alte schon ins Nest ist?
SdiambediB: Ja, ja.
Dimpfel: Der Schwab kann nicht deutsch reden, gelt?
SdiambediB: Man versteht die Herren nicht immer. Sie spredien
halt hochdeutsch.
StarkfuB: Ist das schwerer als franzosisdi?
SdiambediB: Man hat's halt nicht gelernt.
StarkfuB: Es wird aber jetzt im ganzen Land hochdeutsch ge»
sprodien.
52 Rent J '<£idwf* • Hans im SSnaftnfoS
SchambediB (ablehnend): Ich hab's gehdrt.
StarkfuB: Selt 40 Jahren.
SchambediB: Kann sdion sein.
Dimpfel: Na, G'sundheit! (Wihrend sie die Glaser heben.>
NEUNZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Klar.
Klar: Wo ist Balthasar? Ich will nacb Hause . . . I<b kann nidit
auf meinen Mann warten. I<b finde ihn nidit. Ich fuhle midi auch
nidit wohl.
StarkfuB: Frau Klar, wenn ich Sie begleiten darf? Ich wollte
sowieso gerade aufbredien.
Klar: Ich bioe Sie darum.
StarkfuB: Gute Nadit, Dimpfel.
Klar: Gute Nadit, Herr Doktor.
ZWANZIGSTER AUFTRITT
Dimpfel. SdiambediR.
Dimpfel: Ja da! Jetzt soil ich allein hier sitzen? Kommt her, setzt
Eudi zu mir.
SchambediB (ers dirodcen) : Jesses Maria!
Dimpfel: LaBt die Heiligen beiseite und setzt Eudi her, sag' idi.
Die Alte sdinarcht sdion.
SchambediB: Dann modit ich aber audi den andern holen.
Dimpfel: Holt den andern. Aber schnell. Es ist eine wunder-
bare Nadit. <Sdhambedi8 ab.>
EINUNDZWANZIGSTER AUFTRITT
Dimpfel. SchambediB. Diener.
(SchambediB kommt gteich mit dem andern Diener zurQdc. Sie screen sich. Dimpfel
schenkt ein.)
Dimpfel: Vollmond. — G'sundheit.
ZWBIUNDZWANZIGSTER AUFTRITT
Dieselben. Balthasar.
Dimpfel: Hierher, Mann. <Zu den Dienem.) Das ist einer von den
Unsern.
53
Rene Sdickefa • Hans im 5c£na6ert(oc£
Balthasar: Herzensdimpfel. Wie sdion, dafl idi didi heute noch
treffe. Wo hast du denn gesteckt?
Dimpfel: Unter einem Wasserfall von Welschen. Aher jetzt sind
wir unter uns. G'sundheit.
Balthasar: G'sundheit, Dimpfel,
Dimpfel: Woruber hast du denn mit der Grafin gesdiwatzt?
Balthasar: Ich habe gehort, wie unser Abb£ ihr auseinander
setzte, dafi du keineswegs ein Barbar, sondern ein Kulturtrager seist.
Dimpfel: Sdiad' um den Bursch, dafi er PfafiF geworden ist,
Balthasar: Was hatte er denn werden sollen?
Dimpfel: Hi, zum Beispiel Oberlehrer, <Man hort unterdrOckt
»Scbambedifi« rufen.)
Diener: Pierre ruft. <Sdianil>edi6 versAwindet.)
DREIUNDZWANZIGSTER AUFTRITT
Dieselben. Ohne SchambediB.
Dimpfel: Was madit der Pierre?
Diener: Der Pierre macht den Portier.
Dimpfel: Wie seid ihr denn auf die alte Kommode gekommen?
Diener: Wir haben sdion immer darauf gestanden.
Dimpfel: Aha.
VIERUNDZWANZIGSTER AUFTRITT
Dieselben, Sdiambedifk
SdiambediB (zxirflck): Der Pierre sagt, es seien sdion alle Leute
fort. Die Fremdenzimmer seien fertig, Ob er das Tor zumachen durfte.
Dimpfel: Fremdenzimmer? Wir wollen nidit hier schlafen. Ich
muli morgen um 8 in der Sdiule sein. Setzt eudi, setzt euch. Der
Pierre soil's Tor zumachen oder ofifen lassen, wir kommen schon
hinaus.
Balthasar: Wieso sind alle Leute fort?
Dimpfel <mit den Dienem anstoBend): G'sundheit.
*Der Hans im Sdinakenloch
hat alles, was er will . . .«
(Die Diener wiederholen mit Dimpfel zusammen.)
Rent? St£id*f* • Hans im 5<6rtaktH(cx£
54
Balthasar: I<h habe noch eben Klar gctroffen , wie sie ihren
Mann suchte.
Diener: Der Herr Hans ist schon fort, idh hab's der Madam
Boulanger gesagt.
Dimpfel: Ja, ja. Unser Soldat hat sie nach Haus gebracht. (Da
der andere stutrt) Ei, der Starkfufl. »Und was er will, das hat er nidit...«
Balthasar (bridit in Sddudizen ant).
Dimpfel: Was ist denn?! — (Sdienkt ein.) Gebt dem Mann zu
Dimpfel: Was ist denn?!
trinken!
Vorhang.
Rene S<6i<£efe • Hans im Sc6na£enfo<£ 55
M*M*Mmm**m*****0**********jm*************************^*********************^*******^***^***********0**********^*^^****^M****m*********m***
DRITTER AUFZUG
Zimmer wie im ersten Aufzug.
Nachmittags im Hodisommer.
ERSTER AUFTRITT
Klar. Balthasar.
<Sie sitzen vieder nebeneinander auf der Klavierbank, RGcfcen zum Instrument.)
Balthasar: Du spielst nidht mehr so gut.
Klar: Ich will lieber nicht so gut spielen und dafiir meinen Mann
im Haus haben.
Balthasar: Bist du bose, wenn i<h dir sage, daft die drei Monate,
die fur dich so traurig waren, fur midh eine schone Zeit —
Klar: Ja, mein Junge, du warst sehr gut zu mir.
Balthasar: Davon spreche ich nicht.
Klar: Unser Musizieren hat mir viel geholfen . . , Dodi manch-
mal, wenn wir so recht im Zug waren, bekam ich plotzlich Angst,
ich wurde wahnsinnig. Ich bekam Angst vor mir selbst.
Balthasar: So wild wurde die sanfte blonde Frau,
Klar: So verzweifelt. Und dazu in einer Art, die mich irgendwie
bosartig entzudete.
Balthasar: Ich fuhlte es wohl. Ich muB dir gestehn, daB es mir,
wenn ich so neben dir sail, kalt den Rudten hinunterlief.
Klar: Weifit du was, Junge? Ich glaube, daB ich in solchen
Augenblidcen dem Wesen meines Mannes nahe kam, wie nie zuvor.
Balthasar <lachelnd>: Weil du bose warst?
Klar: Leidenschaftlich bose — und mich dabei irgendwie schon
fuhlte. Ich kann mir denken, daB man so, wie auf einer Rutschbahn,
in den Tod fahrt, ohne jede andere Ergriffenheit, als einen won*
nigen Schwindel.
Balthasar: Aus der Gegend kam schon viel starke Musik.
Klar: Wo die Seele durch den sthmalen Streifen gleitet zwischen
Tag und Nacht. Wo wir aufwachen und sterben. Sicher wachsen
dort die starksten Gefuhle. Wenn ich denke, wieviel Musik ich schon
gehort und selbst tapfer mitgemacht habe, und daB ich dabei, bis
vor einigen Wochen, von ihrer eigentlichen Kraft vollkommen un*
beruhrt geblieben war —
Pen/ Sc6iditf* * Hans im Sc6nafenf<x£
56
MWM— — <WWWP«MMW»#*
Balthasar: Was 1st dann?
Klar: Was dann ist? Dafi idi Hans viel abbitren muB.
Balthasar: Du — ihm?
Klar: I<h ihm. Ich wuBte nidit, was Menschen sind. Wie sie maB»
los leiden, und wie maBios sic begchren konnen. Ich dachte immer,
idi sel in einen Taugenidits verliebt, in einen »TrompetenstoB in
einer Laternec, wie ihr hierzulande sagt, der zwisdien den Glas*
wanden herumfahrt und bei allem UngestGm nidit heraus kann —
eben: in den »Hans im Sdinakenlodic. Glaube mir, der hatte es
beim Durdibrennen schwerer, als idi beim Sitzenbleiben,
Balthasar: Du deutsdie Frau.
Kl§r: Fangst du jetzt auch an? Was hat das mit deutsch zu tun?
Balthasar: Mancherlei, Klar. Einmal, daB du deinen Weg lang»
sam machst, aber dafur mit sdiwerstem Herzen • — um nidit zu sagen
grfindlidier. Dann — ja, das kann idi nidit sagen.
Klar: Warum nidit?
Balthasar: Es ist wie mit der deutsdien Musik. Die wildesten
Studce haben die bravsten Mensdien gesdirieben. Dieses zweite Ge-
sidit eines deutsdien Kleinburgers ist geradezu unheimlidi. Einer hat
das Wort dafur gefunden: Innerlidikeit. Es ist eine damonisdie
Eigensdiaft.
Klar: Und was habe idi damit zu schaffen?
Balthasar: Von dieser Art ist deine Treue.
Klar: Was weiflt du von meiner Treue?
Balthasar: Mehr, als du vielleicht ahnst.
Klar: Warum funkelst du midi dabei so an?... Junge, du muflt
mir die Wahrheit sagen: liebst du midi?
Balthasar: Das fragst du midi jetzt, wo —
Klar: Wo?
Balthasar: Wo Hans wieder im Hause ist.
Klar: Ich habe vorher nie daran gedacht.
Balthasar: Bist du sicher?
Klar (stodct, dann sdiOttelt sie den Kopf): Ja, denn sonst —
Balthasar: Was, Klar?
Klar: Sonst, Balthasar, hatte idi didi nidit zu meinem Ver-
trauten gemadit.
Rent SSicftf* • Hans im SSnaHtnfocB
57
Balthasar: Zu deinem Vertrauten? Du hast die ganze Zeit, wo
Hans fort war, mit mir nidit einmal fiber ihn gesprothen, noth mir
sonst etwas anvertraut . . . Um so mehr, seitdem er zurudt 1st.
Klar: Ich weifi nicht, Balthasar, willst du midi kranken? Willst
du midi beschamen? Habe ich dir Unrecht getan? Ich tiebe Hans, das
weifit du dodi, Ich liebe ihn und nur ihn und will und kann keinen
andern lieben, ich liebe Hans, das weifit du dodi. Ich habe gem mit
dir musiziert, wie frfiher audi, wie schon immer.
Balthasar: Ware ich Hauslehrer oder ein gemieteter Klavier-
spieler gewesen, ich hatte nicht besser behandelt werden konnen.
Das ist wahr.
Klar: Balthasar, warum tust du das? Warum fiberfallst du midi,
wenn ich gerade Hand in Hand mit dir sitze? Wie kannst du meine
Vertraulichkeit annehmen, wenn du —
Balthasar: Blidc' dodi einmal, nur eine Sekunde, von Hans auf
midi. Die Welt ist doch nicht nur ein Abglanz von ihm. Ich habe
mich von kleinauf gewohnt, midi ihm unterzuordnen, an ihm zu ver-
sdiwinden, wie die Uhr, die er gelegentlidi aus der Tasdie zieht.
Zum Teil bin ich ein Geschopf von ihm. Er ist in vielem und sdieint
in allem starker, als ich. Ich gonne es ihm, wenn ich audi manchmal
ungeduldig, sogar neidisdi bin, ich gonne ihm didi. Obwohl ich weifi,
wie es endet. Aber ich mochte dodi einen Menschen haben, der in
mir nicht nur den kleinen, braven Bruder des grofien, tollen Hans
sieht — vielleicht ist meine Bravheit eine Starke und meine Klein-
heit grofi durdi das viele, was ich unterlasse, um eine Sadie ganz
zu madien.
Klar: Wie was endet?
Balthasar: Das ist das einzige, was du aus meiner ganzen
langen Rede herausgehort hast.
Klar: Balthasar, wie was endet?
Balthasar: So wie er in seiner ruhigen Zeit mit seinen Adju-
tanten zwischen hier und der Stadt hin und her hetzen mufi, um
bei seiner Arbeit aushalten zu konnen, so rast er mit seiner ganzen
Existenz dem Abgrund zu, um fiberhaupt leben zu konnen. Er wirt-
sdiaftet das Gut herunter, indem er es zu sthnell in die Hohe
bringen will. Er ladt sich eine Riesenarbeit auf, die er schledit macht.
Rtnt SeBiditfe • Hans im 5c£na6tnfo<£
weil sie viel zu grofi ist, als daB er sie gut madhen konnte, — aber
was cr tut, genugt, urn seine Gesundheit zu ruinieren. Statt das
Gut rentieren zu lassen, zwingt er es, Sdiuiden zu madien, immer
mehr, je mehr es herausgibt.
Klar: MuBt du alles Hans sagen. Was geht es midi an?
Balthasar: Es geht did) an, und es geht deine Kinder an.
Klar: Meine Kinder werden ni<ht hungern.
Balthasar: Dieser Boden ist auch mein Boden! Dieses Haus ist
auch mein Haus. Das alles ist mein Leben. Wenn er nicht weiB,
was er von seinem Vater bekommen hat, damit er es erhalt und an
seine Kinder weiter gibt, so soil er es doth um Gottes willen stehn
und liegen lassen. Id) habe ihm vorgeschlagen , die Mutter hat ihm
vorgeschlagen, er solle alles Geld nehmen und davon leben oder
irgend etwas anderes anfangen, ich wollte ihm auBerdem die Halfte
des jahrlichen Ertrags abgeben, du bist vermogend — er kdnnte der
glucklichste, sorgenloseste Mensch sein, aber nein, er mufi uns zu-
grunde richten. Eher gibt er keine Ruhe.
Klar: Warum erzahlst du mir das?
Balthasar: Oft meine Id), er ist der leibhaftige Satan. Er kann
nicht ertragen, daB etwas gedeiht. Eines Nachts, wenn er aus der
Stadt kommt und nicht gleich einschlafen kann, geht er auf den Boden
und stedet sein eigenes Haus an.
Klar: Hor' auf!
Balthasar: Ich sag' dir, er tut's. Und wenn du ihn nach dem
Grund fragst, antwortet er dir: die Budike sei sowieso baufallig ge-
wesen, und uber den Erker mit den von GroBvater geschnitzten
Herzen habe er sid) schon immer geargert.
Klar: Sprich did) mit ihm aus. Ich weiB, er hat did) lieb. Mich
muBt du damit verschonen.
Balthasar: Er hat alle Welt lieb, wenn er nicht zufollig gerade
alle Welt hafit. Ich war schon oft im Begriff, mit ihm uber die Dinge
zu sprechen. Auf das erste, was ich ihm sage, gibt er mir eine so
verblGflend torichte Antwort, daB idi unmoglidi fortfahren kann. So
geht es mir, so geht es der Mutter, so geht es dir. Gegen soviel
Unschuld kommt keine Predigt an. Die Mutter hat den Abb£ Schmitt
auf ihn losgelassen, den er doch ganz besonders lieb hat Der Abb£
ft
Rene SSiSefe • Hans im Sc6nakenfo<6 59
t*******"*******************************************************************************************************************
war verzweifelt, als die Mutter ihm unsere Lage sdiilderte. Richtig
hat auth der Abbe eine ganze Nacht aufgesessen und mit Hans ge»
sprodien. Als idi einmal zu ihnen hineinging, weil idi dadite, nun
set die Bresthe geschlagen, hielt Hans dem Abbe einen Vortrag, in-
wiefem Mohammed als der Luther des Orients zu gelten habe, und
der Abbe war siditlidi hingerissen. Andern Tags versidierte er der
Mutter, sie musse sidi geirrt haben, Hans sei, davon habe ihn die
stattgefundene, sehr ernste Unterredung iiberzeugt, ein hervorragender
Landwirt.
Klar: Wenn du wuBtest, wie du jetzt an Hans erinnerst.
Balthasar: Ich weiB es ja. Idi hab es ja von ihm gelernt. Leider
bin ich nicht nur in der Ausdrucksweise eine wandelnde Hypothek
von ihm. Es genugt mir sdion, daB idi der einzige 1 :er bin, der sidi
nidit einfadi von ihm hat sdiludcen lassen.
Klar: Was mich anlangt, Balthasar, so fiihle idi midi sehr wohl
dabei.
ZWEITER AUFTRITT
Dieselben. Hans.
Balthasar: Da kommt er. Da steht er. Und nun hat sidi die
Welt hier um ihn zu drehn.
Hans: Aber sie tut's nidit, mein Junge. Im Gegenteil. Ich habe
midi soeben vergeblich um einen auskneifenden Planeten bemiiht.
Der Hopla hat gekiindigt und packt sein Bundel.
Klar: Was ist denn Schreckliches gesdhehn?
Hans: Idi habe ihm eine heruntergehauen. An seiner Stelle bliebe
idi audi keine Stunde langer im Haus. Eine Gemeinheit, den alten
Knedit seines Vaters zu schlagen, der nur nodi fiinf wackelige Zahne
im Mund hat, von denen jeder eine Sehenswiirdigkeit ist. Wir
werden ihm eine anstandige Rente aussetzen mussen.
Balthasar: Er war wohl rabiat?
Hans: Ja, er iibte wieder in hervorragendem MaBe Widerstand
gegen die Staatsgewalt. Der Teufel sdiidcte nadh mir: wenn idi nidit
gleidi kame, gabe es ein Ungludt. Den Teufel sollten sie zum Statt-
halter madien. Das ist ein ausgezeichneter Politiker.
Balthasar: Du muBt didi halt entsdiuldigen.
5 vol myi
60 Ren/ SSidlef* - Hans im ScBnafttnfoS
y r rr r r r
Hans: Hatte ich's nur nidit getan ! Die Ohrfeige steckte er ganz
brav ein. Als ich midi aber nachher entschuldigte, da wurde er so
geriihrt, dal) er sdinell auf sein Zimmer ging und sein Bundel padcte.
Eben ist er zum Tor hinaus.
Balthasar: Ich hoi' ihn zurudk.
Hans: Der ganze Hof ist hinter ihm her. Je dicker die Tranen
werden , die ihm die Backen hinunterlaufen, desto grofiere Schritte
macht er. Du mufit dich eilen. Ich warte nur darauf, dal) sie driiben
im Dorf die Sturmglodce lauten. Der Hopla geht fort. Da droht ein
Volksaufstand.
Balthasar: Ach was. Weiter wie bis zum »Goldenen Ldwen*
kommt er nicht.
Hans: Du verstehst dich nicht auf die wunderbaren Gefuhle eines
Martyrers. Aufierdem sind sie fur Hopla neu. Er wird sie aus-
kosten wollen. Aufierdem ist er vollkommen betrunken.
Balthasar <an der Tflr>: Also.
Hans: Sei nett mit ihm, horst du? Er hat sidi heute geplagt fur
vier, und es war ein heifier Tag. Wenn du schon bis zum Dorf
gehst, so bringe bitte unsre Gottesgeifiel mit. Audi ein Packchen
Zigaretten kannst du unterwegs mitnehmen.
Balthasar: Halt. Genug. Auf Wiedersehn, Klar. Bis nachher.
DRITTER AUFTRITT
Hans. Klar.
Hans <der ihm nachsieht) : Wenn er so aus dem Zimmer geht, habeich
das GefOhl, als sei soeben bei mir eine Haussuchung abgehalten worden,
Klar: Sollte das nicht dein schlechtes Gewissen sein?
Hans: Ich bitte dich, sdiicke mir nicht das schledite Gewissen auf
den Hals. Dank meinem Jugendaufenthalt in Beichtstuhlen lasse ich
mir so etwas nur zu leicht einreden.
Klar: Mir kannst du's sagen, Hans, denn es tate mir nicht sonder*
lich weh: haben wir Schulden?
Hans: Ja, warum sollten wir denn keine Schulden haben? Jeder
tuchtige Mann hat Schulden. Je mehr einer verdient, desto mehr
Schulden macht er. Genau wie deine Kinder mehr essen, je starker
sie werden.
Rene Sdidefe • Hans im S&na6enfo<£ 61
Klar: Verstehe nidit.
Hans: Stell' dir vor, du willst morgen ein Geschaft eroffnen, sagen
wir eine Musikalienhandlung. Da braudist du Geld. Du nimmst also
erst dein eigenes, wenn du weldies hast. Das Gesdiaft geht. Die
Kundsdiaft sturmt dir den Laden, und du bemerkst, daft sogar die
Leute im Dorf, obwohl dort sdion eine Musikbude besteht, lieber
bei dir kaufen, als bei der vertrottelten Mamsell dort Du entsdiliefit
diet, um es den Leuten bequemer zu machen — die Kauflust steigt
naturlidi mit der Leiditigkeit zu kaufen, uberall — du entsdilieflt
dich also, druben im Dorf eine Filiale zu erdffnen. Da braudist du
wieder Geld. Dein eigenes ist aber bereits hier im Mutterhaus angelegt.
Was tust du? Du pumpst dir das Geld. Da es sicb mit 5 Prozent
verzinst, dein Gesdiaft aber mit 10 Prozent Verdienst arbeitet, so
bringt dir das fremde Geld noch immer 5 Prozent ein. Und so weiter!
Klar: Ist es denn aber sidier, dafi die Filiale im Dorf 10 Prozent
abwirft?
Hans: Sonst bist du halt hineingefallen.
Klar: Hans, verzeih die Frage: Haben wir Filialen?
Hans: Unser Fall liegt anders. Wir sind in der Lage des Mannes,
der von seinem Vater ein solides Unternehmen geerbt hat, das aber
den heutigen Anforderungen nidit mehr entspridu, weil sich heute
nur der Grofibetrieb halten kann/ so geht es zahllosen Industriellen.
Dafur gibt es einen guten Ausweg: die Aktiengesellsdiaft. Idi habe
sozusagen aus dem Sdhnakenloch eine Aktiengesellsdiaft gemadit.
Idi behalte die meisten Akticn und bleibe der Herr im Haus. So ver-
binde idi den Vorzug des alten Systems mit dem der modernen
Kreditwirtsdiaft . . . Natiirlidi bringt diese Grofizugigkeit auch Nadi-
teile mit sidi. Man weifi nidit immer genau, was man besitzt.
Klar: Wenn du's nur weiftt!
Hans: Irre idi midi, Klar? Mir kommt es so vor, als ob wir seit
einigen Tagen leise melandiolisch wiirden.
Klar: Da hatte unser neuer Honigmond nur drei Wodien ge»
dauert? Schade.
Hans: Meine Ansiditen uber die Ehe haben sidi vollkommen
geandert. Darf idi sie dir mitteilen?
Klar: Seit wann?
62
Pen/ S&tcHfCr • Hans im SdnakenfoS
Hans: Scit einigen Tagen, das heifit, in diesen Tagen 1st mir
die Veran derung zum BewuBtsein gekommen.
Klar: Id) soil nidit mehr im Herrensattel mit dir reiten? Du warst
so entzuckt von meiner Reitkunst — als ob du sie jetzt erst ent-
deckt hattest
Hans: War id) nid)t von allem an dir entzfidit, als ob id) es
jetzt erst entdeckt hatte? Ginen goldigeren Jungen, als did) in den
Reithosen hat es nie gegeben, — und nie war eine Frau von so
sfl]
II -f
Reife.
Klar: Vorbei?
Hans: Nidit so, wie du meinst. Nur, wenn kb daran denke, was
wir in den drei Wodhen angestellt haben — ja, dann sdieint mir,
daB man von Redits wegen mit seiner Frau nidit so leben darf.
Audi war alle Welt fiber unser Betragen entsetzt. Der Abbd auBerte,
es ginge nidit, daB id) im eigenen Hause eine Geliebte aushielte,
selbst nidit, wenn es die eigene Frau sei. Im Dorf fande man did)
bereits extravagant
Klar: Erstaunlidie Freunde hast du! Mischen sicfa sogar in
deine Ehe.
Hans: Das kommt daher, daB id) mid) in alle ihre Angelegen-
heiten einmische. Lauter Folgen der Langeweile hier. Du muBt dem
Mann zugute halten, daB er seit Jahren mit viel Mfihe und erfolg-
reidi ffir das Ansehn des Hauses Boulanger kampft. Ohne ihn wSre
es langst ein beliebtes Sonntagsvergnugen der Witzbolde geworden,
mir die Reben durdizuschneiden und die Hunde durdi meine Spargel-
felder
zu jagen
Klar: Es kfimmert mich auch nidit, ob seine Gemeinde midi ex-
travagant findet oder nidit. Wenn du ofter mit mir durdibrenntcst,
so brauditest du keine andre Dame zu bemfihen — was immer
Unheil anrichten kann. Vor allem brenne idi audi gem durdi.
Hans: Als ob id) jedes Jahr durdibrennte, wie andre ihre Kur
in Vidiy oder Baden-Baden machen. Seit wir verheiratet sind, habe
idi ein einziges Mai den Kopf verloren
Klar: Abgemadit. Idi bin audi fur alle andem Abarten des Liebes-
spiels, die ihre Reize haben, ohne daB man dabei gleidi den Kopf
zu verlieren braudite.
Rent 5 Side ft • Hans im SSnafenfoS 63
Hans: Wenn das deine Kinder hdrten!
Klar: So wurden sie nur undeutlich erkennen, wovon die Rede
ist. Aber idi verspreche dir, daB unsere Kinder midi niemals mit
ihrer Gouvemante verwechseln werden.
Hans: Jetzt sehe ich erst, wie idi didi verdorben habe. Die Ehe
ist dcxh etwas and eres —
Klar: Was 1st sie?
Hans: Mehr und weniger, als ein Abenteuer der Sinne.
Klar: Du sdiridtst vor keiner Heudielei zurOdc. Jetzt spridist du
vie ein Missionsprediger. Wenn du vor Entzudtung den Kopf ver-
lierst, so ist das ein Abenteuer der Sinne. Wenn idi diet redit
verstehe, etwas Minderwertiges. Langweilst du didi, so ist es eine
Ehe und erhaben. Nun brauche idi mir aber nidit erst die Haare
Schwarz farben zu lassen, um audi Sinne zu haben —
Hans: Ferner?
Klar: Ferner habe ich mich seit der Katechismusstunde nicht
mehr gefragt, was die Ehe sei, und will es audi gar nidit wissen.
— Ich habe sie erlebt, das genugt mir.
Hans <hat sidi auf das Sofa ausgestredet, nadi eintm kurzen Schweigen) :
Als ich Frau Cavrel auf ihren Wunsch in ihr Haus zurudcbradite,
sagte mir ihr Mann: »Idi weiB, daB man eine Frau wie Louise
nicht verfiihrt. Sie braudien also keine Vorwurfe zu erwarten. In-
dem wir — franzdsisch laBt sidi so etwas angenehm sagen — in-
dem wir gegenseitig unsere Gefuhle schonen, ehren wir uns selbst.
Da wir einander fortan nidit mehr kennen, brauchen wir uns nicht
der peinlichen Prozedur zu unterziehn, fur bestimmte Falle bestimmte
VerhaltungsmaBregeln zu verabreden. Wir kehren einfiach in unser
altes Leben zuruck, und keiner von uns hat den W unsch, den andern
wieder herauszulodcen. Madame Cavrel laBt sidi entschuldigen. Sie
leidet an Migrane.«
Klar: Ein bedeutender Redner. Was willst du damit sagen?
Hans: Ich? Nichts . . . Es sei denn, daB die Franzosen besser,
praziser zu leben verstehn, als wir.
Klar: Denk, wenn idi didi mit einerahnlichen Rede empfangen hatte !
Hans: Ich hatte eine vorbereitet. Naturlidi war sie meiner Lage
angepaBt.
Rene SSidieft • Hans im S<£naHenfo<£
Klar: Und warst enttauscht, als das Wiedersehn eine Wendung
nahm, die sich nicht mit der franzosischen Satzkonstruktion vertrug?
Hans: Im ersten Augenblick, glaube ich, war id) wirklid) aus
dem Konzept gebracht.
Klar: Jetzt aber sdieint dir der Augenblick gekommen, zu deinem
Konzept zuruckzukehren?
Hans: Hs ist unmoglich, emsthaft mit dir zu sprechen.
Klar: Id) spredie die ganze Zeit emsthaft. H5re, du. Hast du
schon einmal daran gedacht, dafi id) mid) einem andern Mann geben
konnte?
Hans: Es gibt nichts Schmerzhaftes im Bereid) meines Lebens,
woran id) nod) nid)t gedacht hatte.
Klar: Id) meine, nid)t nur so an die Mdglichkeit gedacht, son-
dern — gesehn.
Hans: Ja.
Klar: Dann muflt du die Hdlle kennen, in die du mich nie, nie
wieder stQrzen darfst. Id) bin glucklich, daft id) das Schlimmste er-
fahren habe, ohne fur did) verunstaltet zu sein. Nicht wahr? Du
hattest mid) nicht mehr geliebt, wenn id) dir untreu geworden ware.
Ich weifi, dal) du selbst gegen deinen Egoismus nichts vermochtest.
Und id), ich ware dir untreu geworden, wenn id) einen andern ge-
liebt hatte. Nicht studcweise, nicht auf Urlaub, nein, ganz, mit mir
und meinen Kindern. (Hans ridjtet sich auf.> Sei froh, dafl du mid) die
Liebe, die ganze Liebe gelehrt hast, du adein. Forsche nicht, was
die Ehe ist, oder wie sie sein soil. Sieh mich an. Hier hast du eine
Geliebte, reif und nicht verdorben, erfahren, aber nicht im gering-
sten resigniert, bestrafe sie nicht, weil du sie geheiratet hast, dafur
werden ihre Kinder nicht auf der Strafle mit Steinen geworfen, ver-
wohne sie ein bifichen, und wenn sie did) ein Leben lang geliebt
hat, so wird das dann eine Ehe gewesen sein.
Hans: Ja.
Klar: Und da du gern Frauen im Herrensattel siehst, so reiten
wir morgen durd) die Felder, bis an die Berge. Wir essen auf der
Terrasse des Hotels zu Abend und sehn die Nacht am Schwarz-
wald herabsteigen.
Hans: Ja.
Rene 5<£idtefe • Hans im SdmakenfoS
Klar: Wenn wir Lust haben, konnen wir audi dort ubernachten.
(Hans nickt.) Im Herbst fahren wir nach Paris. Einkaufen. (Hans nidct.)
Und wenn mir dabei ich weifi nidit was geschieht — idi halte den
Tanz durch. Den Tanz der Bajadere vor Hans im Sdinakenlodh.
Hans: Ausgezeidmet. — Genau das Gegenteil von dem, was
ich dir mitteilen woilte!
Klar <<ia Hans ihr unter die Augen sieht>: Nein. Geheult wird nidit
mehr. Und was das Kindergeschrei angeht, so sdilaft das Kind be-
reits mit der Amme im alten Flugel. Icb habe GroBvaters Zimmer
herriditen lassen. Es ist schoner, als das hier war, und der jungste
Boulanger kann sidi im Krakehlen uben, ohne dabei die zu storen,
die es in dieser ihrem Volk eigentfimlidien Kunst bereits zur Voll-
endung gebracht haben.
Hans: Soil idi nun weinen oder ladien?
Klar: Wozu du didi audi entsdiliefit — icb ladie.
Hans: Man merkt dir das Reiten im Herrensattel an. Idi modite
aber dodi lieber weinen. Idi modite midi viel lieber trosten, als
lieben lassen. — Wir haben vielleidit unsre Rollen vertausdit. Gelt?
Das ist auch eine Neuigkeit?
Klar: Die Neuigkeit madie idi nidit mit.
Hans: Du willst mir nidit helfen?
Klar: Dodi, auf jede Weise, nur nicht so, daB idi midi, und
audi nodi durth didi, vor Bilder, Erinnerungen und Vorstellungen
schleppen lasse, damit sie midi nodi einmal martem.
Hans: Idi sdiwore dir, du hast nicht den geringsten Grund zur
Eifersudit.
Klar: Idi glaube es zu wissen. Aber bedenke, bitte, du hast es
mit einer Rekonvaleszentin zu tun. Als ich dir fruher einmal vor-
hielt, du solltest doch den Mut haben, mir in jedem Fall die Wahr-
heit zu sagen, antwortetest du, idi verwediselte Mut mit Grausamkeit.
Bitte, verwedisle audi du sie nicht. Was idi wissen muBte, weiB
idi/ idi habe es durdigemadit und will unter gar keinen Umstanden
weiter Fetzen davon mit mir herumschleppen. Idi will auch nicht,
daB du didi damit schmuckst, ob das Band nun rosa oder lila sei
— die Farbe der feinen Trauer.
Hans: Du laBt midi fur alte Sunden buBen. — Ich werde die
7VMIMM
Rene Sdidiefe . Hans im S&na&enfo<£
66
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Frau nicht los. Auf einmal ist sie wieder da. I A kampfe fast korper-
liA mit Ihr. Sie verfolgt miA aus der dunkeln Edte ihres Boudoirs
heraus, wo sie den haiben Tag sitzt und ihre Gedanken auf miA
riAtet — aJie ihre heftigen, zahen Gedanken. IA bin eine Festung,
Ae der Feind unter immerwahrenden Sturm gesetzt hat, wie unter
eine Brandung Waffen. I A wehre miA und wehre miA, sie bleibt
da. Sie weiAt niAt. O, iA sehe sie sitzen, den haiben Tag, und
ihre grunen Augen herhalten. — Mit Frauen, die griine Augen
haben, sollte man si A nie einlassen. Man wird sie niAt mehr los.
Klar: Du kannst weiterspreAen, Hans.
Hans: Was will sie von mir? IA frage AA, was kann sie von
mir wollen? I A habe ihr nie VerspreAungen gemaAt, aber wahrend
wir reisten, gewohnten wir uns in so furAtbarer Weise aneinander,
dab wir uns sAliebliA lieber miBhandelten, als uns zu trennen. IA
habe ausgehalten bis zum letzten. IA habe miA sAinden lassen, in
jeder denkbaren Weise, iA habe sie naA Hause gebraAt, vor ihren
Mann, der wie ein Offizier der Heilsarmee mit mir spraA, naA-
dem er sie mit der Freude eines ausgehungerten Baren umarmt
hatte, • — auf diesem Gipfel der Demutigung mufite sie miA sehn.
IA habe brav still gehalten, damit sie den Anblick genieben konnte.
Als iA wieder auf die Strafie trat und den Kopf hob, war Sonntag
in der ganzen Welt. Eine unbandige Heiterkeit sprang mir in die
Glieder, iA lief zwei Straiten weit aus lauter Freude am Springen.
So oft iA sAon in Paris war, der Gedanke, den Eifelturm zu be-
steigen, war mir nie gekommen, Jetzt sAwebte iA auf den Eifel-
turm hinauf. Als einziger BesuAer. So hoA es ging. Es war herr-
liA. (Legt sich aufs Sofa zurGck.) Klar?
Klar: Ja.
Hans: Es war herrliA. Aber naturliA t5riAt, niAt daran zu
denken, dab sie siA raAen werde. Erinnerst du diA eigentliA an
ihre Augen? Klar?
Klar: Kaum.
Hans: Seltsam. <Erhebt sith.) IA daAte, jeder, der sie einmal ge»
sehn habe, konnte sie niAt wieder vergessen. <Beginnt im Zimmer auf
und ab zu gehn.) Es freut miA, dab es dir niAt so gegangen ist.
Wird also niAt so sAlimm damit sein ... Wie der Abend am
67
Rene 5c£ic6eCe • Hans im Sc£nakenfoc£
Sdiwarzwald herabsteigt. Ja, das wollen wir uns morgen betrachten.
Wenn du nodi willst.
Klar: Idi will nodi.
Hans: Dir, Klar, werde idi audi nie das unsagbar Gute ver-
gelten konnen, das du an mir getan hast. Du bist von einer Ge-
duld, die einen fast heiligt. Wenn idi didi nidit getroffen hatte,
wuflte tefa nidit, was Liebe ist. Ich bin ein Stuck Menschenkrampf . . .
und fliege darauf, wenn idi die Krankheit bei andern entdedee. Du
aber liebst aus dem Ganzen, du liebst majestatiseb. Idi fuhl's, die
Zeit kommt, wo idi's von dir gelemt haben werde.
Klar: Ich danke dir.
Hans: Hab nur nodi ein wenig Geduld. Das wollte idi dir nam*
lidi von der Ehe sagen. Idi wollte dir sagen, dafl idi ein guter
Gatte und Vater sein will
Klar: Und das, meintest du, ginge nur, wenn man sidi mit dem
notigen Ernst dahintersetzte.
Hans: Dumm, nidit? ... Idi habe midi aber fest entsdilossen,
die Scbeuklappen anzulegen, mit denen allein man ins Himmelreidi
gelangt.
Klar: Warum Scbeuklappen?
Hans: Icb nenne es nur so. Um eine gewisse philosophisdie
Haltung bei dem Rudczug zu bewahren. Zuerst bringe ich das Gut
auf den Stand zuruck, in dem es bei Vaters Tod war. Icb mache
niebts mehr ohne Balthasar. Wir sind B ruder und mussen zusam-
menhalten. Die Bilder hier — die zwei sebonsten behalte icb, die
andern gehn zur Auktion. Das Geld wird angelegt. In ldeinen so-
liden Papiercben, wie die Mutter sie liebt. Von den Jungen bekommt
jeder ein Sparkassenbuch.
Klar: Ein Sparkassenbudi ! Denk mail
Hans: Docb, das gewohnt sie fruh ans Sparen. Und statt Bal-
thasars kummere icb mich um den Altesten. Er mufi deutsdi werden,
ganz deutscb, nur deutsdi . . . Er wird mein bester Kamerad — gib
adit. Das ist docb nodi etwas. Kinder — was icb an meinem Kinde
tue, das ist warmes, saftiges Leben, wacbst und wirkt selber Leben,
wer weiB wie weit. So ein Haus ist, riebtig gesehn, mehr Welt,
als icb auf alien m einen bidden Fahrten zusammengekratzt habe.
68 Rene Sdidefe • Hans im Sdna&enfod
Audi alt werden 1st sdion, nicfat nur bel an der n. Und der gleidi-
bleibende Wechsel der Jahreszeiten, am selben Ort, bereidiert einen
Immer mehr, man wadist und schmifzt in die Ewigkeit hinein.
Klar: Hans, komm her. <Sie feo6t iha heftig.) Verzeih die Unter-
brediung. <Sie kofit ihn noA dnmal.) Du mufit mir aber schworen, daB
dein Programm nidit ein Kniff ist, um deine Langeweile, die du
bisher wie ein Janitschar bekampft hast, nunmehr in einen Gottes»
dienst zu verwandeln. Wir behalten nur unsem Leichtsinn fur
uns, ja?
Hans: left denke, es geht. Nur . . . idi hatte gedadit . . . weifit
du, die Angriffe, denen idi ausgesetzt bin, die sind bestimmt —
bis zu einem gewissen Grad — bfirgerlicher Art Idi hatte gedadit,
wenn idi ihnen eine bOrgerliche Ordnung entgegensetze — man muB
den Feind mit seinen eigenen WafFen sdilagen.
Klar: Ich beginne zu fQrditen, daB du das nadiste Mai in ein
Kloster durdibrennst.
Hans: Ja, ja! >Die wir haben, die halten wir fest,« sagt Schmitt.
Die Tonsur ist nodi keinem zugewadisen. Wir sind die besseren
Rebellen, weil wir die besseren Herren haben. Ihr seid ein mehr
oder minder irdhlidier Haufen Christenmensdien. Wir haben nodi
immer die alte romisdie Disziplin in der Seele — nidit nur die Ge-
weihten, alle, die durdi den Beiditstuhl und die Mysterien gegangen
sind. Aber du muBt zugeben, dafi zum Beispiel der Abb^ ein braver,
ein ausgezeichneter Mensch ist. <Man hort Rufe: »He! Hc!*>
Klar: Er hatte sich mir gegenuber nidit taktvoller benehmen konnen.
Hans: Der Dimpfel . . . (Am Fenster.) Was ist, Dimpfel? <DimpfeI*
Stimme): »Es gibt Krieg.c
Hans (leichten Tons): Ei, dann komm herauf — und bring eins
zu trinken mit. — Klar, ich hab dich sehr, sehr lieb, und um so
lieber, je frohlicher du bist. Ich bitte dich, bleib, wie du bist, wenn
ich midi audi nodi so anstrenge, es dir zu verleiden.
Klar <kreuzt die Arme auf der Brest): Die Bajadere gruBt den ge»
strengen Herrn und empfiehlt sich seinem Dienst.
Hans: Sela. Dein Herr hofft mit deiner Hilfe gluddidi in der
Mitte zwisdien der Wasserheilanstalt und dem Kloster hindurdhzu-
kommen.
Rene ScBidefe • Hans im ScBnaHenfoS 69
Klar: Id) werde tanzen , daB Sonne und Mond stdistehn und
die Sterne sid) zur Brde n eigen. — Und es audi als Gattin und
Mutter nid)t am notigen Ernst fehlen lassen. Sela.
VIERTER AUPTRITT
Hans. Kl£r. Dimpfel.
Dimpfel: Madam! Salu! Ihr macht Theater? Ich sag7, es gibt
Krieg.
Klar: Euere Kriegsgespradie kenne id). Auf Wledersehn. <Ab.>
FQNFTER AUPTRITT
Hans. Dimpfel <mit Weinkrug und zwe i GlSsern, die er auf den Tisdi stel(t).
Hans: Warum denn, Dimpfel?
Dimpfel: Du ladist. Gerade wird's im Dorf ausgetrommelt.
(GekrSnkt) Die Leute wollen nie glauben, daB es Krieg gibt.
Hans: Was wird ausgetrommelt?
Dimpfel: Kriegszustand. Idi hab nur immer gehort: — >wird
mit dem Tode bestraftc — *vird mit dem Tode bestraftc — Die
Bauern sind ganz vertattert. Wie id) den Pfeifescbang anspredien
vollte, hob er die Hande zum Himmel und rief: »Nlx/ nix, wir
durfen uns nidit zusammenrotten . « Strenge Zeiten.
Hans: Kriegszustand ist noth nidit Krieg. Dummheiten. Wegen
der Serben.
Dimpfel: Ja, weswegen — . Ha be id) heute morgen audi gefragt,
als ein Junge, der Sohn eines Majors, den Finger hob und sagte:
»Herr Doktor, morgen geht der Spektakel los.e Warum, habe ich
gefragt. >Damit es endlidi einmal Ruhe gibt,« hat er gesagt. Jetzt
weiBt du's. Liest du denn keine Zeitungen?
Hans: In den Zeitungen hat es schon oft Krieg gegeben in den
letzten Jahren. Aufierdem lese ich im Sommer fast nie eine Zeitung.
Dimpfel: Ei, die Leute tun audi nichts anders, als drauf zu
varten, dafi es endlidi losgeht.
Hans: Wer wartet drauf? Wir nicht.
Dimpfel: Das glaub ich, Wenn es losgeht, dann erst einmal auf
unserm Bucket. Es ist gar nicht auszudenken, was unser armer
Budcel schon ausgehalten hat. Er liegt halt schlecht. Wenn wenig-
70 Rene S<6i<£ete • Hans im 5c£na6enfo<£
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stens die Franzosen nicht mitmaditen. Sdieint, sie hatten nicht ge-
braucht, wenn sie nicht gewollt hatten.
Hans: ^Revanche! Revanche!* Sie kriegen sie ausgeprugelt, daB
sie weiB Gott wie lange braudien, um wieder ordentlich gehn zu
lemen. — Dummheiten. Es gibt keinen Krieg.
Dimpfel: Bis vor ein paar Jahren hatten sie noth alle Angst vor
dem Krieg, weil die neuen Mordmaschinen nodi nicht recht aus-
probiert waren. Seitdem die Balkanvolker es ihnen aber so in der
Nahe vorgemacht haben, konnen sie sich kaum halten vor Ungeduid
loszubollern. Wenn es schon einmal kommen muf), dann mdglichst
schnell, damit wir die Sadie hinter uns haben. Ich denke, sie ver-
sohlen einander so, dab sie nachher alle miteinander froh sind, wenn
sie etwas Gbrig behalten, um in Frieden darauf zu sitzen.
Hans: Mufitest du mit?
Dimpfel: Gott sei Dank, nein. Meine Leber bewahrt mich davor,
uberschnappen zu mussen, um nicht selbst von Qbergeschnappten
umgebracht zu werden. Du?
Hans: Nein.
Dimpfel: Was fehlt dir denn?
Hans: Eigentlich nichts. Bel der Musterung hatte ich ein sch wadies
Herz.
Dimpfel: Ein Studentenherz. Freu' didi.
Hans: Ich wurde midi gar nicht freuen.
Dimpfel: DaB du ein Raufbold bist, weiB ich. Aber — uberleg'
es dir einmal.
Hans: Wenn die Franzosen wirklich Krieg madien, so haben sie
nichts anderes verdient, als daB die deutsdie Dampfwalze uber sie
geht. Ich wurde mir die Liebe zu ihnen aus dem Leibe reiflen, und
wenn ich dabei verbluten sollte. Es muBte ein Ende haben. Diese
Zebranation, — deren eine Halfte als gute Weltburger an der Spitze
der Menschheit marsdiieren will, indes die andere nodi immer bei
Napoleon dem Ersten halt.
Dimpfel: Pass' auf, sie geben eine groBartige Absdiiedsvorstellung.
Hans: Wer?
Dimpfel: Die Welsdien — der Welt. Wenn sie friedlich sind,
schwatzen sie sich jeden Tag ein biBchen hoher in den Himmel.
71
Rene Sc6tc6efe • Hans rm Sdbnaftenfocfi
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Abcr wenn sie wild werden, fahren sie wortlos zur HoIIe und
nehmen unterwegs mit, was sie erwischen konnen. Da legen sie stch
nidit so einfadi unter die Dampfwalze.
Hans: Wer imstand sein will, Krieg zu fuhren, muB sidh darauf
vorbereiten. Deutschland ist eine einzige Kriegsmasdiine. Frankreich
hat im besten Fall eine halbe Million guter Soldaten, die mit vier
Zielsdieiben am Leib, zwei roten Hosenbeinen, einem blauen Rode
und einem blauen Kappi, gegen ein Riesenfeld anlaufen, das wie
eine Erdwelle hinter einem Sturm von Feuer und Eisen wandert.
Wenn die Franzosen jetzt Krieg fuhren, obwohl sie nidit bereit
sind, so — so —
Dimpfel: Ich als Altphilologe weiB, wie es zugehr. Ich sage dir,
es wird groBartig. Alle beruhmten Endkampfe, vom Kampf in den
Thermopylen bis zu Waterloo, werden in der Gesdiidite zu harm-
losen Sdilagereien herabsinken.
Hans: Dimpfel, — auch das ware ja nur ein Feuerwerk.
Dimpfel: Aber eins, das fur immer in der Nadit der Welt-
geschidite hangen bliebe.
Hans: Ober einem riesenhaften Massengrab.
Dimpfel: Ha, idi denke, soviel wie von Griedhenland wird von
Frankreich immer nodi ubrigbleiben.
Hans: Du spridist von morgen, als ob es sdhon zweitausend
Jahre her ware.
Dimpfel: Die Alten waren zu ihrer Zeit gerade so lebendig wie
heute wir. Zeus steigt halt sdieint's nodi immer von Zeit zu Zeit
in seine Weinberge und erntet — und aus den Pressen fliefit Blut,
Der Anblidc wirkt immer wieder hinreifiend. Aber weder die Menge,
nodi die Kostbarkeit des Stoffes konnen midi verleiten, an der all-
gemeinen Orgie teilzunehmen. Idi bleib still und denke mir mein'
Sadi'. G'sundheit.
SECHSTER AUFTR1TT
Dieselben. Abbe Scbmitt.
Sdimitt (auf Hans zu): Hans, was machen wir? Es gibt Krieg.
Hans <ihn ansebreiend): Wieso gibt es Krieg? Kriegszustand ist
nodi nidit Krieg.
72 Rene' Se£idUHe • Hans im S<6na6enfo&
Schmitt: Doch. StarkfuB sagt —
Hans: Was du macfaen sollst? Wozu du da bist. Beten. Beten,
daB es vorubergeht ... Es ist ja — nicht — wahr, daB es Krieg gibt.
Schmitt: Icfa kann nicht beten.
Hans: Wo ist StarkfuB?
Schmitt: Mit Balthasar bei deiner Frau.
Hans: Was haben sie bei meiner Frau zu suchen?
Schmitt <zudct die Adiseln).
Dimpfel: Sie werden ihr erzahlen, was los ist.
Hans <rei6t die Tflr auf>: Klar! Klar! — Was sagt StarkfuB?
Schmitt: DaB heute Nacht mobilisiert wird.
Hans: Diese Nacht? <Sd»mitt nickt.) StarkfuB ist naturlich begeistert?
Schmitt: Wie ein Raubtier im Kafig kurz vor der Futterung.
Hans: Er hat recht.
Schmitt: Ja, das hat er.
Dimpfel <mit vorgestredctera Finger): Ihr geht noch alle mit. Ihr wiBt
nur noch nicht, mit wem.
SIEBENTER AUFTRITT
Dieselben. StarkfuS.
StarkfuB: Heil! <Legt den Sabel auf den Tisdi.) Deine Frau kommt
glelch, soil ich dir sagen. (Schcnkt si6 ein.)
Hans (nad» einem Scfcweigen): Recht hast du, hab ich gesagt.
StarkfuB: Worauf? Auf Krieg und Sieg! <Da Hans das Gias
zdgernd nimmt):
Dimpfel (sdmeli): Komm her, Soldat, ich stoB mit dir an. Man
darf ihn jetzt nicht reizen.
Hans: Du, ist es ganz sicher?
StarkfuB: Bomben- und granatensicher.
Hans: Heute Nacht?
StarkfuB: Heute Nacht. <Sdiweigen.) Kinder, tut mir das nicht an.
Ich fuhle mich ganz beklommen. Der Pfafif stiert midi an, der
Dimpfel ist so idiotisch wie immer, und du, Hans —
Hans: Was ist mit mir?
StarkfuB: Du machst ein Gesicht wie Allerseelen.
Schmitt: Es sind nur drei Monate bis dahin.
Rent 5c6iditf? • Hans im Scbnaitn loS 73
StarkfuB: Danke schon. Audi werde idh wahrsdieinlidi nidit unter
denen sein, die die Graber besuchen, nodi uber das dankbare Thema
predigen. Wo kb liege, wird sogar kaum eins der hubschen Wachs-
liditer brennen, die ihr euern Toten an dem Tag anzundet. Was
weiter? Wollt ihr, daB Deutsdiland in Stucke gerissen wird und
vie Teile eines gesdilachteten Ochsen in franzosischen, russisdien
und wer weiB in welchen Sdiaufenstern hangt?
Hans: Blddsinn. Deutsdiland wird nidit in Stucke gerissen. Ein
Volk wie das deutsche kann nidit vemichtet werden.
StarkfuB: Dafur laB uns sorgen. Immerhin haben die, die uber
uns her fallen, den brennenden Wunsdi, es zu versudien.
Hans: Du hast Recht, — Was sagt meine Frau?
StarkfuB: Deine Frau ist eine Deutsche. Und dein Junge spielt
bereits Deutsche und Franzosen.
Hans: Er halt es naturlidi mit den Starkeren. — Aber wer hat
den Mut, die Franzosen zu spielen?
StarkfuB: Die Jungens brauchen keine. Es wird angenommen,
daB die Franzosen immer davonlaufen.
Dimpfel: In seinem Innersten hofit das naturlidi jeder von euch.
Die Kriege waren unmoglich, wenn nidit der Selbsterhaltungstrieb
den Menschen noch in der Todbereitschaft glauben liefie, daB er, er
vielleicht allein am Leben bleibt.
Hans: Seine Vettem jenseits der Grenze spielen jetzt wohl das-
selbe Spiel, und morgen sdilagen ihre erwachsenen Bruder einander
im Ernste tot . . .
StarkfuB: Um solche personlichen Familienangelegenheiten kum-
mert sich die Weltgeschichte nidit. Was heute ein rechter Deutsdier
ist, den reiBt es mit einem Ruck hodi. Der fragt nidit lange, wieso
und warum. Ihm genugt zu wissen: es gilt far uns, ein StGck weiter
in der Welt zu kommen. Wir mussen unsem Weg macfaen, geht es
nidit friedlidi, dann mit Gewait.
Hans: Uns haltst du also nidit fur rechte Deutsche?
StarkfuB: Den Hopsa, ja Alle j ungen Bauern, die wir gedrillt
haben, ja. Dich und die meisten andern sogenannten Familiensohne
nicht. Balthasar ist eine Ausnahme.
Hans: Sei ruhig. Die meisten werden es jetzt, wenn audi nur
74
Rene S <£idiefe • Hans im SSna/tenfoS
aus Verzwei flung. In den nadisten Tagen siehst du manchen, der
so S dull ter an Schulter mit eudi zu sterben sdieint und in Wirk-
lichkelt Selbstmord begeht.
StarkfuB: Wir werden sie nidit lange fragen.
Hans: Es sind nidit die scbleditesten.
StarkfuB: Krieg ist Krieg.
Hans: Damit wird jetzt alles niedergeschrien , was bisher der
Mensdiheit am wertesten war. Aller Glaube, das Werk von Mil-
lionen Leben, alle Liebe, alles personlidie Sdiicksal. Sieh zum Fenster
hinaus. Die sdi5nen Felder, die Garten, die Hauser, von denen
jedes einem harmlosen Bauern gehort, der eucb nur immer das
Brot aus der Erde geholt hat — was wird ubermorgen, in einer
Wothe, davon ubrigsein? Ich habe so oft davor gebangt, so viel
davon getraumt, von Kindesbeinen an, so viel Schreddiches vom
letzten Krieg erzahlen horen, dafi mir gerade so ist, als ob ich ihn
sdion erlebt hatte.
%
StarkfuB: Kerle, gewohnt eudi moglichst sdinell an den Ge-
danken: Es ist Krieg. Denn: Krieg ist Krieg.
Hans: Du weiBt gar nidit, wie sehr du bereits verroht bist, und
es hat noch nidit einmal angefangen.
Dimpfel: Guter Jagdhund. Er wittert das Wild und zittert.
StarkfuB: Jawohl, Schulmeister. Die Leidensthaften sind los-
gekoppelt. Die Meute fliegt. Weh dem, der nidit mitrennt . . .
<Zu Hans> Wenn du audi kein rediter Deutsdier bist, so bleibst du
dodi mein Freund, Komm her, Hans, stofl an, auf unsere Freund-
sdiaft. Sdiade, daB unser Herz jetzt nidit zusammensdilagt.
Hans: Ja. Ich beneide dich, wenn du wOBtest, wie. Bis zum Ver-
langen, ganz und gar zu eudi zu gehdren, einer von eudi, von
eurem Fleisch und Blut zu sein, in dieser grausigen Stunde.
StarkfuB: Sieh midi an, bin ich ein reiBendes Tier?
Hans: Nein, aber du sehnst dich danadi, eins zu werden.
StarkfuB: Der deutsche Soldat ist kein Kannibale.
Hans: Der deutsche Soldat muB kampfen, und er will siegen.
Soviel ich weiB, sdiieBt ihr nicht mit Platzpatronen und tragt keine
Gummisabel. Wenn die Engel seiber herabstiegen , um Krieg zu
fuhren, so wurden vor ihnen her die Stadte und Dorfer brennen
Rene S<£ic6efe • Hans im S<6na6enfo<6
75
und hinter ihnen Unsdiuldige in den Trummem verkohlen. Haufen
zerrissener Leiber sanken in die Erde, und die Verstummelten
wurden in den Hospitalern zu den weiflen Wanden scbreien. Die
an der Spitze horen nidit. Sie siegen . . .
StarkfuB (strahlcnd) : Sie siegen!
Dimpfel: Ihr geht noth alle mit.
Hans: Icb nidit. Idi weidie nidit von der Stelle, und wenn sie
das Haus bis auf die Grundmauem uber mir zusammensdiieBen.
Sdimitt: Idi bleibe in meiner Kirdie.
StarkfuB: Die Weiber werden didi audi notig haben. Du wirst
sie damit trosten mussen, du Romerknecht, daB ihre Manner und
Sohne fur meinen Gott, fur mein Vaterland sterben.
Sdimitt: Idi werde sie trosten, und sidier gehort dazu fur midi
mehr Tapferkeit und jedenfalls mehr GroBmut, ais du fur deine
Arbeit braudist. Liebe ist sdiwerer als HaB. Idi ritte viel lieber in
die Kugeln.
StarkfuB: Mit den Franzosen?
Sdimitt: Wie es meine Pflidit ware: mit deutsdien Katholiken
oder selbst als einziger katholisdier Gedanke in einem Haufen
Andersglaubiger. Du siehst die Dinge zu militarisdi. Mein Gott ist
kein Feldwebel im Bekleidungsamt.
StarkfuB: Was ist aus den Kampfen geworden, die uber uns
in den Luften ausgefoditen werden, hier, an der Glaubenssdheide?
Sdimitt: Idi wiederhole: es ist leiditer gut zu sdiieBen, als gut
zu denken. Das Schiefien ist an der Reihe. Sprechen wir weiter,
wenn die Tage des Denkens wiederkommen.
StarkfuB: Audi die Gedanken werden mit dem Sabel ausgefoditen.
Sdimitt: Manthmal. Aber sie lassen sicfa nie totsdilagen. Dagegen
hat der Weltgedanke der Ersdilagenen sdion oft die Sieger besiegt.
Dimpfel: Ob ihr mir glaubt, oder nidit. Ihr seid alle drei Rauf-
bolde. Und der Soldat triumphiert, weil er sidi am ungeniertesten
betatigen kann.
StarkfuB: Hurra. Der Dimpfel soli leben.
Hans: Und weil er der Starkere ist. Wie hieB es: »wird mit
dem Tode bestraft... wird mit dem Tode bestraft...c Er gehort
zu denen, die bestrafen, wir bestenfalls zu denen, die bestraft werden.
5 Voi. m/i
76 Ren/ SSidiefe • Hans im Sc6na6enfoc6
StarkfuB <crh«bt sich): Hans, venn ich dir sage: von jetzt an bis
zum Ende dieses Krieges, der wahrschelnlich das furchtbarste Wag-
nis ist, das je ein Volk auf sich genommen hat, kennen wir ein-
ander nicht mehr, so kundige ich dir nicht die Freundschaft, sondern
spreche nur aus, was du sicher auch schon gefuhlt hast Wir stehn
einander im Weg. Der Gang heute zu dir fiel mir so schwer, wie
noth keiner. Trotzdem mufite ich her, um — ja, du wirst lachen, ich
dachte, ich konnte dir irgendwie fiber die erste Stunde weghelfen.
Du hast gesehn, es ging nicht. Und ich halte es auch nicht linger
aus. Let/ wohl, Dimpfel, leb wohl, dunkler Kamerad. Pass’ auf deine
Kirch e auf und gib acht, dafi kein Franzose hinaufsteigt, um zum
Fort hinuberzublinzeln, denn sonst hast du sie gesehn. — Geht ihr
beide mal hinaus, ich habe dem Mann noth etwas zu sagen.
Dimpfel: Dann bleiben wir auch gleich drauBen, gelt? Viel Glide,
Soldat. Ich denke, Weihnachten trinken wir hier unsern Gluhwein
zusammen. Da wirst du etwas zu erzahlen haben.
StarkfuB: Ist recht, Dimpfel.
Schmitt: Du, ich bete fir dich, als ob du mein leiblicher Bruder
warst — und nur, dab du am Leben bleibst, weiter nichts. Wenn
ich dich verlore, wflrde ich um vieles armer.
Starkfufi: Gottesmann, das schreib ich meiner Mutter. Da0 so-
gar ein katholischer Pfarrer fur ihren Sohn betet. Sie wird es nicht
fir moglich halten. Ich gfaube, sie hat noch keinen aus der Nahe
gesehn. Bei uns muB man drei Stunden mit der Eisenbahn fahren,
um auf einen Katholiken zu stoBen.
Dimpfel: Salu!
StarkfuB: Sali, Dimpfel.
Schmitt: Eine gesegnete Medallle wirdest du von mir nicht an-
nehmen?
StarkfuB: Nein, aber dein Gebet.
Schmitt: Du hast recht. Komm wieder.
ACHTER AUFTRITT
StarkfuB. Hans.
StarkfuB: Jetzt kommt das Schwerste.
Hans: Mach's schnell. Leb' wohL
77
Rene SSicftfe * Hans im SSnatenfoS
StarkfuB: Nicht nur der Abschied . . . Ihr habt nodi keine Zei-
tung bekommen?
Hans: Nein.
StarkfuB: Da steht namlidi drin — In Paris haben sie fur und
gegen den Krieg manifestiert, du weiflt ja, wie sie's da madien, mlt
Llmzugen in den StraBen. Dabei 1st eln Zug, den Cavrel fuhrte,
Arbeiter, gegen den Krieg, auf einen Haufen Pobel gestoBen —
verzeih, so steht in der Zeitung — , sie kamen in eine Sdilagerei,
Cavrel fiel, es wurde auf ihm weiter gerauft, seine Freunde wurden
geworfen, und als der ganze nachstfirmende Haufen endlldi uber
Cavrel hinweggerannt war, erkannte man ihn erst nldit, so hatten
sie ihn zerstampft. Sie sdiafften ihn nadi Hause. Aber er kam tot
an. Wie bei den Dominosteinen . . .
NEUNTER AUFTRITT
Dicsclbcn. Kl5r.
Klar: Hans, idi konnte nidit firfiher kommen. Idi mufite die Mutter
auf das Schreckliche vorbereiten. Sie ist wie gelahmt. (Da Hans auf-
•pringt.) Bleib nur. Balthasar und der Abb^ sind bei ihr, Du wurdest
sie eher aufregen.
Hans: Sie mufl fort. Sie kann nidit hierbleiben, mitten auf dem
Sdilachtfeld. Du muBt mit ihr und den Kindern in die Sdiweiz.
StarkfuB: Wie bei den Dominosteinen. Wenn du den ersten
umstoBt, reiBt er alle andern mit. Jetzt gibt es in Frankreidi wahr-
sdieinlidi keinen Freund des Friedens und keinen Freund Deutsch-
lands mehr. Sie werden mit dem tiefsten HaB und der letzten Ver-
zweiflung kampfen. Sie sind eine tapfere und freie Nation. Idi ginge
lieber gegen die Russen . . . Aber wir haben nidit die Wahl. Sag'
bitte — spater — deiner Mutter, idi hatte sie herzlidi gruBen lassen,
als idi ihr Haus verlieB. Leben Sie wohl, Klar. Hfiten Sie ihn.
(Sdmell a b.)
Hans: StarkfuB!
StarkfuB: Ja?
Hans: Weiter stand nidits in der Zeitung?
StarkfuB: Nein.
Han®' Danke dir. (StarkfuB ab.)
f f
Ren/ ScBicReft • Hans an S<£naienfo<6
ZEHNTER AUFTRITT
K!2r. Hans.
Hans: Klar, wenn du gut sein willst, so laBt du midi jetzt ein
klein wenig allein.
ELFTER AUFTRITT
Dieseiben. Balthasar.
Balthasar: Du muilt zur Mutter. Sie will unbedingt, dafi du zu
ihr kommst. Idi bitte didi, rede ihr zu, daft sie in die Schweiz geht.
Am besten ware, du brachtest sie mit Klar und den Kindem hin
und bliebst bei ihnen.
Hans: Idi?
Balthasar: Ihr muBt nodi heute Nacht fahren. Morgen ist die
Grenze gesperrt.
Hans: Ich, meinst du?
Balthasar: Ja , schon weil Klar sonst auch bleiben will.
Hans: Klar kann nicht bleiben.
Klar: Doch, Hans, idi bleibe.
Hans: Du muBt die Kinder bringen.
Balthasar: Dann kommt sie nidit so sdinell fiber die Grenze
zurudc. Ich kann nidits fur euch tun, idi muB sofort einrudcen.
Hans: Sieh mich an: bist du einig mit dir?
Balthasar: Vollkommen. Fur mich ist es wie eine Befreiung. Ich
mdchte am liebsten mit gehobenen Handen laufen und Hurra rufen . . .
Hans: Befreiung . . . Nidit auch etwas wie — eine Rache?
Balthasar: Vielleidit auch das.
ZWOLFTER AUFTRITT
Dieseiben. Mutter.
Mutter: Sdiangel, was sagst du dazu, sie wollen mich nidit zu
dir (assen!
Hans: Du bist ja schon da. Mutter. So. <Er setzt sie neben sidb und
nimmt sie in den Arm.)
Mutter: WeiBt du, Schangele, man tut am besten, wenn man's
nicht glaubt. Setzt euch zu mir, daB ich meine Kinder um mich habe.
<Zu Hans.) MuB der Balthasar wirklich und wahrhaftig mit? Kann
man nichts dagegen machen?
VM
Rene S&idiefe • Hans im SSnaienfoS
79
Ok
Balthasar: Nichts, Mutter.
Mutter: In Gottes Namen.
Hans: Du muBt vernunftig sein. Du kannst ni<ht hier blelben.
Du mufit mit Klar und den Kindem in die Schweiz.
Mutter: Du brauchst dir keine Muhe zu geben. Ich gehe nicht
von hier fort. Ich tu doch sonst, was du willst Drum sage ich dir
gleich: ich bleibe zu Hause.
Klar: Ich auch.
Mutter: Da hast du recht, Klar.
Hans: Es wird doch vielleicht alles hier zusammengeschossen.
Mutter: Dann gehn wir in den Keller. Gelt, Klar? Der Balthasar
ware froh, wenn er hier bleiben konnte? Gelt, mein Junge? Was
werden unsre Pariser jetzt machen? Ob die Jungens mit mussen?
So sagt doth etwas!
Hans: Dann bleiben wir halt alle hier.
Balthasar: Sie mussen beide mit.
Mutter: Das arme Frankreich! Wegen der schmutzigen Russen,
sagt der Abbi. Du lieber Gott im Himmel, mach' mit den Russen,
was du willst, aber erlaube nicht, daB es Frankreich schlecht ergeht . . .
Sei mir nicht bos, Klar. Ich bin eine alte Frau, die kann nicht mehr
umlemen, — ich habe Frankreich lieb. Schon der Name 1st so sufi . . .
Gelt, Klar, du mochtest auch nicht —
Klar: Was, Mutter?
Mutter <zu Hans): Glaubst du, ich darf sie fragen?
Klar: Frag', Mutter.
Mutter: Es muB doch nicht sein, daB Frankreich ganz und gar
zugrunde geht?
Klar: Wenn ich Frankreich so Schlimmes wunscfaen konnte, hatte
ich dich nicht lieb.
Mutter: Ich habe doch gute Kinder ... Ich meine immer, ich hore
schon Kanonen,
Balthasar: Das kommt von den letzten Manovem.
Mutter: Oder von Siebzig. Da safien wir auch so da, der Vater
und ich und der GroBvater und die GroBmutter und warteten ... —
Ja, und dann ist es auch richtig gekommen . . . <SAweig«n.)
Vorhang.
Rene ScBickefe * Hans im SSnafenfoS
VIERTER AUFZUG
Die gutc Stubc im Sdmakenlocfi vie im vorigen Aufzug. Sommerabend. Zum Sdsluf
dunkelt c a dann. Keiae andre Beleuditung, als die brcnnende Sdieune.
ERSTER AUFTRITT
Hans. Klar. (Am Sdireibtisdi.)
Hans: Hier liegen al(e die Papiere, die mir das Leben so oft
sdiwer maditen, als es noch leidit zu tragen war. Vers idi eru ngen ,
Hypotheken, Steuern, Vertrage. Immer war irgend etwas fallig, immer
muBte man etwas kundigen oder wurde einem etwas gekflndigt. . . <Wi« «■
zu K12r neben sich aufblickt: auf ein Lodi in der Wand d cut end.) Sdion ge-
sehn? Eine Granate. Und dort 1st sie hinausgeflogen. Wann, meinst
du, hat sie hier durdigesdilagen ?
Klar: Heute, gestem, vorgestem — weifi ich?
Hans: Nein, gleidi am ersten Tag. Ich kam gerade vom Keller
herauf. Unterwegs flatten nur immer die Mause gepfiffen, wie idi
aber hier ins Zimmer trat, fiihr heulend ein Hund dazwisdien —
die Tierdien sdiwiegen , wie erschrocken . . . Dann war der grofie
Hund vorbei, und sie (ingen wieder an, um die Wette zu pfeifen.
— Ein Grufi von StarkfuB.
Klar: Oder eine Wamung.
Hans: Wovor?
Klar: Den Keller zu verlassen.
Hans: Idi kann nidit bei den Kartoffeln leben. Ihr seid alle gelb
geworden da unten. Dieser Schlussel —
Klar: Und du bist weiB geworden auf deinen ewigen Rundgangen
durchs Haus bei Tag und Nacht.
Hans: Du ubertreibst. Nachts habe ich meistens auf dem Familien-
sofa geschlafen und selten sdilecht. — Dieser Schlussel 6 fine t den
Sdiatz der Familie Boulanger. Hier liegt auth unser Briefwedisel.
Es ist also ein kostbarer Schlussel. Verwahre ihn gut.
Klar: So madist du midi mOrbe. Dreimal bist du mit dem SdilOssel
und einem finstem Gesicht hinunter gekommen. Ich wollte ihn nidit
haben. Jetzt, wo ich im Tageslidit neben dir stehe und du frohlidi
bist, bin idi fast stolz auf die Ehre . . .
Rene Sctiidiefe • Hans im SSnaHenfocB
81
Hans: Keine Madit der Welt bradite mich nodi einmal in den
Keller. Man konnte nidit atmen, man sah nicht hell. Der Kleine
klingelte und ladite. Der andre sdioB mit seiner Kanone immer auf
dieselbe Stelle an der Wand. Die Mutter widcelte ihren Rosenkranz
ab, und du sahst ihr mit so sinnloser Aufmerksamkeit zu, daB idi
wiederum kein Auge von dir wenden konnte, bis wir alle in dem
Lodi auf und ab zu sdiweben sdiienen. Ich muflte die ganze Zeit
gegen das Verlangen ankampfen, midi hinter der groBen Butte auf-
zustellen und mit Kartoffeln nadi Eudi zu werfen . . .
Klar: Du groBer Kindskopf!
Hans: WeiBt du, wofiir die Mutter betet?
Klar: Fur Balthasar und fur Frankreidi.
Hans: Armes Frankreidi. Nun brennt es in seiner ganzen Breite
von den Vogesen bis fast ans Meer, und hinter diesem Wall seiner
raudienden, zusammengestiirzten Dorfer, seiner todlich verstummten
Stadte und schon zahlloser Leidien reckt es sich und hebt sein finster
verzweifeltes Gesicht in den Feuersdiein und bereitet sich zum letzten
Waffengang. — Die Mutter hat getraumt, die Jungfrau von Orleans
sei wiedergekommen und marschiere mit ihren Heerscharen unter
brennenden Riesenfahnen durch eine lange Nadit gegen Reims . . ,
Sogar unsere Gebete bekampfen einander.
Klar: Hans, wer von uns hatte vor einem Monat gedadit, daB
das Leben uns diese furdhtbare Priifung auferlegen werde? Wir
mussen Geduld haben. Tapfer sein. Alle sind jetzt tapfer. LaB es
uns auf unsre Art sein. Wenn wir durchhalten, sind wir von allem
Sdimerz der Erde gesegnet, wir beide, Bitte, laB das alles nidit ver-
gebens sein.
Hans: Sehr schon, was du da sagst, Klar. Und wahr, wahr.
Betest du audi?
Klar: Ich wage es nidit. Obwohl ich mandimal Starkung braudite,
so allein unter euch.
Hans: Idi kann es mir denken . . .
Klar: In den schlimmsten Stunden halt mich etwas, was du oft
den Fetisdi der Deutsdien genannt und verhohnt hast: die Pflicht.
Hans: Idi kann nichts dafur. Schlechte Komodianten bringen es
fertig, daB man das sdionste Trauerspiel beladit. Bei dem Wort Pflicht
Rene Scbicfofe • Hans im Sd&nafenfoS
82
IWM
zum Beispiei fallt mir immer gleich ein Universitatsfreund ein, der
das Dienstmaddien seiner Wirtsleute heiraten muBte, das ihn ver-
fGhrt hatte.
Klar: Idi bitte did), werde endlid) ernst.
Hans: Siehst du, der Keller! Der Anblick der Kartoffeln, aus
denen dicke grune Wfirmer wadisen, hat dir deine Heiterkeit ge-
nommen.
Klar: Findest du das hier lustig?
Hans: Hier ist es frisdi, hell, und idi habe zu tun. Spaziere nur
einmal durdi das Haus. Die Turen stehn auf oder, wenn du Gluck
hast, sind sie sogar zerschlagen. Dazu larmt es ununterbrochen,
wenn du audi nidit genau weiBt, wo. Blickst du aus dem Fenster,
so bewegen sidi kreuz und quer viele Reihen von Kommata, mit
Ausrufungszeidien und Gedankenstrichen dazwisdien, und wenn sie
sidi verhaddern, so kannst du dir sagen: Dies ist eine Staatsaktion,
von deren Ausgang, das eine zum andern Mai gerechnet, schlieB-
lidh das Schicksal der Volker abhangt. Es mag dumm sein, dafi so-
viel vom Ausgang einer Rauferei abhangt, aber idi kann es nicht
andern. Von Zeit zu Zeit schidten sie mir eine Abordnung ins Haus.
Ein Haufen Soldaten sturzt herein und wieder hinaus. Etwas zer-
schlagen sie immer, und idi bliebe vielleidht nidit so ungesdioren,
wenn idi nidit gleidi meine Vorkehrungen getrofiFen hatte. An der
Tiir der Schreinerei uberm Hof kannst du von meiner Hand lesen:
»Hier gibt es zu essen und zu trinken, so lange der Vorrat reidit.c
Und am Tor zum Weinkeller im alten Flugel steht groB und deut-
lidi: »Eingang zum Weinkeller*. Daneben eine Weinkarte mit Be-
zeichnung der Fasser, die idi sorglaltig in Ordnung halte. Die In-
schriften sind zweispradiig. Der Hopla paBt am Dadifenster auf, was
fur Hosen sidi dem Sdinakenlodi nahern, und je nadidem, ob sie rot
oder grau sind, hangt er die franzosisdie oder die deutsdie Insdirift
aus. Nadits stellen wir einfadi eine Lamp>e vor die Kantine und
den Keller und offnen weit die Turen.
Klar: Sdion wieder die Kanonen.
Hans: Ersdirick nidit, mein Liebling. Sie bellen, aber sie beiBen
nidit. Wenigstens nidit uns. Die weiBe Fahne sdiGtzt dieVerwun-
deten und uns.
Rene Schidiefe * Hans im S<£na6enfoS
83
Klar: Sind es deutsdie oder franzosisdie?
Hans: Beides. Die dunkleren sind die deutsdien, und die hellen
die franzdsisdien . . . Seltsam, nidit wahr? . . . Bing. Bu. Bu. Bing . . .
Mir tut ihr Gesang unendlich wohl. Ich gehe damit herum, ich schlafe
darin ein. Ich weiB nidit, ist es eine Klage, oder ist es Zorn . . .
Im Grunde, furdite ich, singen sie ein Wiegenlied, bei dem man
leidit zu heftig traumL
Klar: Ja, Hans, es ist wie eine Wolke, in der du mir langsam
entscfawebst. Du bist ja schon so weit fort. Warum muBte ich die
ganze Zeit im Keller bleiben? (Hans ist aufgestanden und tritt ans Fenster.)
Hans: Arme Jungen, da liegen sie wahrhaftig in Reih und Glied.
Und die Franzosen davor hingesdileudert wie Pfeile, die ihr Ziel
nidit ganz erreiditen. Schau, die einen sind so still, die andern
strecken krampfhafte Hande aus, als wollten sie nodi im Tode wiirgen.
Klar: Warum erlaubt der Abbe nicht, daB ich ihm helfe?
Hans: Wie er sie umdreht und jedem ins Gesidit sieht . , ,
Klar: Warum darf ich nidit helfen? Warum haltet ihr midi ein-
gesperrt?
Hans: Der Abbe will alles allein tun. Er fahrt sie auch allein
hinaus und begrabt sie allein. Er sagt, er habe etwas erlebt, was
er sidi nie wieder nehmen lieBe: die Demut, die grofie Demut sei
uber ihn gekommen. Man solle ihn um der Barmherzigkeit willen
nicht storen. Ich finde, er hat sich audi sehr verandert. Er ist schon
geworden . . . (Plotzlicb.) Midi hat die Wildheit dieser Toten ange-
steckt. So will ich audi liegen. Hingesdileudert und mit krampfhaften
Handen, die ihr Ziel nidit erreiditen. So und nidit anders will ich
sterben. So.
Klar: Hab Geduld. Es geht voriiber. LaB mich dein heftiges
Herz so lang halten. Bitte. Ich hab nidits anderes zu tun. Alle
store ich. Nicht einmal mein Junge will mit mir spielen. Ich bin voll-
kommen uberfliissig. LaB midi wenigstens dein Herz so halten und
mich damit ducken, bis der Sturm voriiber ist.
Hans: Ja, mandimal, wenn die Kanonen gar so inbrunstig ein-
ander zusingen, meine idi audi, ich miiBte midi an irgend etwas
festklammern, um nidit fortzufliegen.
84 Rene' ScBicOefe • Hans rm SSnakenfoS
ZWEITER AUFTRITT
Dieselben. Hopla.
Hopla (herdnstflrztod links): Jetzt sind es wieder die Franzosen.
Haufenweise. (Redits ab.)
DRITTER AUFTRITT
Hans. Klar.
Hans: Sdhnell in den Keller. Lai) die Mutter mit ihnen reden,
wenn sie hinunterkommen.
Klar: Ja.
Hans: Worauf wartest du?
Klar: Id) sollte did) von der Mutter kitten, hinunterzukommen.
Id) sollte dir sagen, sie hake dick seit vorgestern nicht gesehn.
Hans: GuL Sokald die Franzosen untergekrad)t sind. (Klir ab
links.)
VIERTER AUFTRITT
Hans. Hopla. Ein franzosiscber Korporal.
Hopla <voc rechts) : Hierher, Herr Korporal. Der Herr Korporal
mufi die gute Stuke haken. Ein Landsmann.
Hans: Belfort?
Korporal: Jawohl.
Hans: General Vautier?
Korporal: Jawohl.
Hans: Guten Appetit. Leider gikt es nur nod) Reste.
Korporal: Wenn es nur den Magen fullt. <Hans ab.)
FQNFTER AUFTRITT
Hopla. Korporal.
Hopla: So ist's reckt. Setzt Eudi. Das war unser Herr. <Nimnit
ihm das Gewehr ab.) Id) meine immer, unser Chassepot sei leichter ge»
wesen . . . Schmeckt's?
Korporal <auf ein Lodi in der Wand deutend): War die von uns?
Hopla: Von den Preufien. Ich denke, da driiken im Fort haken
sie sid) gesagt, im Sdinakenlod) miissen sie's schwul haken, wir
wollen ihnen ein bifidien Luftzug madien, Saukere Arkeit, alles was
redit ist.
Rene SSidefe • Hans im S<£na£enfo<£
85
Mi
Korporal: Kase heiBt Ihr das? Idi bin kein Zahnathlct. Schafft
was anders her.
Ho pi a: Es ist das letzte, was wir im Hause haben.
Korporal; Da konnte idi gerade so gut meine Munition fressen.
Ho pi a: Ei da freBt halt Eure Munition und schieBt mit dem
Kase.
Korporal (bequemt sidi, weiter zu essen): Krieg ist Krieg.
Hopla: Geht sdion herum. Ihr meint doth audi, dafi wir wieder
franzdsisdi werden?
Korporal: Was denn sonst?
Hopla: Unser Herr meint, die Franzosen, die scherzen gern mit
den Maddien, aber sie heiraten sie nidit. Er meint, ihr madit uns
ein paar Visiten und bleibt dann fort.
Korporal: Er irrt sidi, Euer Herr.
Hopla: Was aber der Hopsa ist, der Pferdeknedit, der sagt,
wenn die PreuBen verlieren, werden wir russisch. Russisch! Ich hab
gesagt: Hopsa, du bist immer ein Narr gewesen, es ware ein Wun-
der, wenn du jetzt auf einmal gescheit wiirdest, wo sogar brave
Leute den Verstand verlieren.
Korporal <sAiebt dea Teller fort. Stedrt eine Zigarette an): Ihr kdnnt
euch freuen.
Hopla: Ha, ich hab lang genug gewartet, daB die roten Hosen
uber die Vogesen kommen.
Korporal: Aber daB wir so schnell da waren, |habt Ihr doth
nidit gedacht?
Hopla: Ich hatte gedacht, die PreuBen wehren sidi besser.
Korporal: Ja, die!
Hopla: Sind viele Landsleute unter euch?
Korporal: Ihr wiBr, wir waren immer gutes Kanonenfutter. Aber
idi lasse midi tausendmal lieber fur die Franzosen totschieBen, als
fur die PreuBen. Es ist halt so. (Sdiufl.)
Hopla: Habt Ihr gehort?
Korporal: Es geht immer mal eine Flinte los, Solange sie nidit
mit Kanonen sdiieBen, bleibe idi ruhig sitzen und rauche meine
Zigarette.
O
Rtn/ Sdbiditft • Hans im SSnafenfoS
SECHSTER AUFTRITT
Dieselben. Kl§r.
Hop! a <erfaebt sirfi): Madam?
Klar: Hopla, gibt cs gar nidus zu essen?
Ho pi a: Nidus, Madam, nidus. Was ncdi da ist, wollen nidit
einmal die Soldaten.
Korporal: Ah, die Madam. Wollt Ihr Eudi nidit setzen, Madam?
Klar: Gehn Sie dodi hinunter und sagen Sie's ihnen. Sie werfen
den Keller durdieinander, weil sie glauben, dab wir Lebensmittel
versteckt halten . . .
Korporal: So ist's recbt. Madit, daft Ihr hinaushomtnt. Die
Madam und ich werden schon allein miteinander fertig.
Hopla: Gem, Madam.
Klar: Seien Sie vorsiditig, Hopla. Idi fQrdite, dab es H§ndel gibt
Hopla: Ist der Herr Hans unten?
Klar: Eben deshalb. Er will sie aus dem Keller vertreiben.
Korporal: Bei mir. Madam, seid Ihr in Sidherheit. Idi bin Kor-
poral. Idi weib stfaon gar nidit mehr, was eine Frau ist. <Sdma®tlnd>:
Idi mufi sagen, Ihr riedit nidit sdiledit.
Hopla: Leise, Mann, leise. Ihr brennt ja, als ob Ihr laufig wart
Klar: Kommen Sie, Hopla, idi gehe mit Ihnen.
Korporal: Dageblieben! Ihr meint, idi brenne? Dann heifit's
sdinell iosdien. Sonst sdilagt der Brand ins Haus. Verstanden, du
ausgesdilenkerter Dresdifiegel ? Idi madhe der Madam nidus, aber
dableiben soil sie.
Klar: Hopla, rufen Sie meinen Mann.
Korporal: Ihr Mann, Madam, bleibt besser, wo er ist. Denn
wenn er hier hereinkommt, ist es nidit sicher, ob seine Beine nodi
stark genug sind, um ihn wieder hinauszutragen. Ware es nidit
besser, idi w2rmte ihm den Platz bei Ihnen, als dab er . . .
Hopla: Schamt Eudi. Ein franzosisdier Soldat Ist Eure Republik
ein Hurenhaus?
Korporal <zu Kl3r>: Dageblieben, sag idi. <zu Hopla): Wenn du
dein dummes Maul gehalten hattest, ware kein boses Wort gefallen.
Idi hab mit der Madam nur reden wollen. Madam gefallt mir . . .
Halt's — ! <Holt aus) : W enn einer nur nodi einen Zahn hat, so sollte
Ren/ Scbi&efe • Hans im S<£na6enfocB 87
er ihn besser hGten, besonders in Zeiten, wo es Gemuse regnet,
von den Bohnen bis zu Kurbissen.
Hopla: PaB auf, es gehn wieder Flinten los. Diesmal aber sind
es ein biBchen viel auf einmal.
sage ich ... (Signal.) (Zu KI3r>:
Dageblieben. (Tritt zum Fcnster.) Warte nur! Idi komme wieder! (Ein
Bdn a us dem Fcnster.)
SIEBENTER AUFTRITT
Dieselben. Hans. DerTeufel. Deutsche Soldaten.
Klar (verzweifelt) : Hans!
Soldaten (auf den Franzosen anlegend): Halt!
Klar: Hans —
Der Teufel (packt den Franzosen am Kragen und zieht ihn herein): Hab
idi dich, elender Wackes!
Hans: Sie erdrosseln ihn ja! (Klar schnell ah.)
ACHTER AUFTRITT
Dieselben, ohne Klar.
Der Teufel: Das ware viel zu sdsade fur den Kerl. Hier kuss'l
(Hilt ihm das Handgelenk bin,)
Der Korporal: Nidit urns Verrecken.
Hans: Idi bitte Sie! Seit wann werden Gefangene gefoltert?
Der Teufel (breit lachend): Das mussen Sie den Citoyen hier
fragen. Hast du midi sdion versdinuren lassen, he? Wie eine Brat-
gans, wie? Und mich ins Heu gelegt? Wann sollte denn Feuer
gemacht werden — wie? Kerle, pafit mir auf den auf! (StoBt ihn den
Soldaten zu, die ihn abfflhren.)
Ein Soldat: Jawohl, Herr Waditmeister.
Der Teufel: Er kommt in die Scheune, genau dorthin, wo ihr
mich gefunden habt Fest anziehn, beim Binden! (Auf den Franzosen
zustQrzend): Kuss', du Halunke, oder —
Hans: Lassen Sie's gut sein . . . (Hinter den Soldaten ah.)
NEUNTER AUFTRITT
Hopla. Der Teufel.
Hopla (mount das Gewehr des Franzosen, hantiert damit herum): Ja da!
(Streidielt es und legt es wieder sorgsam auf den Tisch.) Ich hab gedacht, sie
Korporal: Solange keine Kanonen,
Rtrte SSidUfr • Hans im SSnaStnfoS
88
erwisdien Eudi in Euerm FaB. Aber nein, Ihr wart so besoffen,
daB Ihr nidit einmal mehr hineingcfundcn habt. Ihr vertragt den
Weingeruch nidit, he? Seitdem idi Eudi in dem FaB einquartiert
hab, geht Ihr jedesmal, wenn Ihr an die Luft kommt, im Kreis
herutn.
Der Teufel: Hopla, Mann, die Rothosen laufen.
Ho pi a: Kommt darauf an, in weldier Richtung.
Der Teufel: In der richtigen.
Hopla: Dann ist das eben so ihre Art zu kampfen. Paflt auf, Teufel,
sie kommen wieder. Einer hat sein Gewehr gleich hier geiassen.
Es dauert keine zwei Stunden, und Ihr leckt wieder am W^einstein.
Gebt nur adit, daB Ihr diesmal rechtzeitig hineinkommt.
Der Teufel: Der Herr Balthasar ist unten, der sagt, es sei bald
zu Ende mit den Johanniskafem. Von Straflburg hierher, vom Rhein
bis an die Berge wusselts von deutsdien Heuschrecken.
Hopla: Heusdirecken — da habt Ihr redit. Wo Ihr durdige-
gangen seid, da ist nidits mehr zu holen.
T e u f e 1 : Ruhe, alter Franktireur ! W ir regieren jetzt wieder. Still-
gestanden !
Hopla: Wenn idi Eudi nidit ins FaB gesteckt hatte, wie die
Franzosen das erste Mai kamen, da wart Ihr jetzt sdion im Himmel.
ZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Hopsa <sd>mutzig, verstfirt).
Teufel: Junge, wo kommst du her? Idi denk die ganze Zeit, du
hupst da drauBen zwischen den Stoppeln herum.
Hopsa (zu Hopla): Sag' dem Herrn Waditmeister, wo ith her-
komme.
Hopla: Ei, idi denk, aus dem Kanindienstall.
Der Teufel (larfiend): Haha! Idi sitz im FaB, und der Junge im
Kanindienstall. Wer wohnt denn im Misthaufen?
Hopsa (zu Hopla): Vieileicht der Teufel. Und dort gehorst auch
du hin, du Hund. <Zum Teufel): Nidits zu ladien.
Hopla: Komm her, Knirps.
Hopsa: Eingesperrt hat er midi, wie die Mobilmadiung kam.
Dem Herrn Balthasar, der midi mitnehmen wollte, hat er gesagt.
89
Rent S<£ic£efe ■ Hans im S<£na6enfo<£
ich sei schon fort. Einen Deserteur hat er aus mir machen wollen.
Dcr Franzosenkopf!
Hopla: Sei still. Hast immer dein gutes Essen und Trinken ge-
kriegt. Besser, du sitzt im Kaninchenstall, als dali du Franzosen
schieflt.
Der Teufel (lachend): Was hat er?
Hopsa: Der Verstand ist mir aus den Augen geschossen vor
all dem Bumpem und dem Geschrei draufien. Da, schau her, blutig
gehauen hab ich mich an der Tur, wie's drauBen losging: >Kar-
toffelsupp, Kartoffelsupp, den ganzen Tag Kartoffelsupp . , . (gegen
Hopla eindringend) Supp-Supp-Supp!«
Der Teufel: Hopsa, wir wollen ihn verhafien.
Hopsa: Ich bin schon dabei. (Er hebt die Faust. Hopla greift nach dem
Gewehr auf dem Tisdi, im Handgemenge rcifit Hopsa das Gewehr an sidi> . . .
Hopla (taumelnd): Komm her . . .
Hopsa: Da! (und sdilagt Hopla nieder).
Hopla: Knirps.
Hopsa (nodi einmal zuschlagend) : Da.
Der Teufel (vollig ernaditert): Junge . . . Junge . . . das ist ver-
boten.
Hopsa: Im Hof liegt ein toter Dreiundneunziger, dem seine Uni-
form ziehe ich an und dann los! > Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, den
ganzen Tag Kartoffelsupp*. (Ab.>
ELFTER AUFTRITT
Der Teufel.
Der Teufel (geht einige Male um Hopla herum, wlscbt sidi den SdiweiB
von der Stirn. Dann hebt er erst das Gewehr auf und schicbt es unter den
Schrank. Dann ans Fenster): Herr Abbe! Herr Abbe!
ZWOLFTER AUFTRITT
Der Teufel. Abb£ Schmitt.
Der Teufel (legt den Finger auf den Mund): Pst! Spater . . . Wir
wollen ihn aus dem Zimmer schaffen . . . Dafi die Herrschaft ihn
nicht sieht.
Schmitt: Wer — ?
90 Ren/ 5<£icfefe • Hans im 5<£na/enf<x£
Der Teufel: Spater. — Vielleicht am besten durdis Fenster.
Fassen Sie an, Herr Abb£. So. <Sle lassen den toten Hopla am dem
Fenster gleiten.) Idi will mir scbnell die Hande wasdien. <Verwisdit BIut»
spuren am Boden mit dem Stiefel.) So. Lind jetzt fort!
Sdimitt: Wenn Sie wollen, helfen Sie mir ein wenig den Wagen
wasdien.
Der Teufel: Idi will lieber einmal ins Dorf, nadh dem Recbten sehn.
Sdimitt: Da gibt es nur nodi wenig zu sehn.
Bride ab. In der Tflr Begegnung mit Balthasar. Teufel steht stramm, bevor er
writergeht.)
DREIZEHNTER AUFTRITT
Balthasar in Leutnantsuniform. Klar. Der Teufel.
Balthasar <no<h in der Tor>: Es geht, Herr — es geht famos.
Teufel: Zu Befehl, Herr Leutnant. (Ab.>
VIERZEHNTER AUFTRITT
Balthasar. Kl3r.
Balthasar: Klar, wenn du nidit gewesen warst, hatte idi lceinen
FuB uber die Sdiwelle gesetzt.
Klar: Sind das deine Leute im Hof?
Balthasar: Ja, aber sie sind aus dem Gefedit gezogen. Sie
sollen sidi im Spargelfeld ausruhen, bevor es weitergeht.
Klar: Du bist wenigstens nidit trubsinnig.
Balthasar: Die Franzosenzeit zu Ende. Wenn nidit sdion jetzt,
so doch bis zum Abend. Die Armee ist beisammen und hat den
Aufmarsdi begonnen. Wir an der Spitze! Bitte, gib mir einen KuB:
idi bin so zufrieden mit mir und der ganzen Welt.
Klar: Im Ausnutzen von Gelegenheiten warst du sdion immer stark.
Balthasar: Nur: die Gelegenheiten waren ebenso selten wie un-
zulanglich. Einen KuB — auf die Backe.
Klar: Wenn du fortgehst, zum Abschied.
Balthasar: Dafur aber auf den Mund?
Klar: Ja, hast du didi nidit sdion mit Hans gestritten?
Balthasar: Im Gegenteil.
Klar: Urn so besser. Erzahle!
Balthasar: Ein Komodiant. Er gehort wirkltdi zu den Franzosen.
Rene Sdidefe • Hans im SdnaHenfod
91
Als idi mein Bedauern ausspradi, daB gerade urn das Sdinakenlodi
herum so bos gekampft werde — es liegt eben auf unserer Vor-
postenlinie — weiBt du, was er da antwortete? Er braudite nidit
die Toten und Verwundeten zu sehn, um zu wissen, daB er in
einem furditbaren Handgemenge stehe. Sdilug sich auf die Brust:
Hier sei das Edio, wo alle Schreie und Verwunsdiungen zusammen-
trafen . . . Mitten auf dem Hof! Mein Hauptmann sah midi groB an.
Klar: Sei still. — Erzahle.
Balthasar: Natiirlidi. Die gefallenen Engel mit dem Heimweh
nadi dem Paradies haben ihren Eindruck auf die Frauen nodi nie
verfehlt. Die Engel, die droben blieben, waren aber nicht dummer,
sie hatien nur mehr Charakter,
Klar: Theologie zwischen Bomben und Granaten.
Balthasar: Charakter ist Treue, Treue kann allerdings kaum mit
den melandiolisdien Reizen eines Seiltanzers aufwarten. Qbrigens
sind wir drauf und dran, den ganzen Sdiwindel in Fetzen zu hauen.
Gib adit. Mode werden jetzt die braven untersetzten Kerle wie ich.
Ihr geht ja dodi immer mit der Mode.
Klar: Ja, ja, du hast hundertmal redit, wenn du mir jetzt nur
erzahlst, was du erlebt hast.
Balthasar: Was idi erlebt habe? Erstens die Losung der elsaB-
lothringisdien Frage, in zwolf Stunden. Die Sturmglocken lauteten,
das war fur die, so Blut statt Gespenster im Kopf haben/ fur die
anderen geniigte die Verkiindung des groBen Belagerungszustandes.
*Sdhwab« und »Wackes«: fort im Glockengelaut. Blitzblank ist das
Land geworden, und als wir ausmarsdiierten, da sangen wir, Sadisen,
PreuBen und Elsasser:
*Idi hatt' einen Kameraden,
einen bessern findst du nit...c
Du, das ist ein herrliches Lied!
Klar: Nidit wahr!
Balthasar: Zweitens habe idi eine Entdeckung gemadit. Selbst
wenn es wahr ware — was sidi ja zeigen wird — , daB die deut-
sdien Soldaten Masdiinen seien, so will mir nodi viel mehr sdieinen,
daB die deutschen Masdiinen ausgezeichnete Soldaten sind. Die Mobil-
madhung gesdiah wie ein millionenfadi abgestufter, aber einziger Griff.
7 VoL ni/i
92 Ren/ 5 Side ft • Hans im SSnaienfoS
Aus den weithin, weither funkelnden Gelenken der Riesenmaschine
loste sid) etwas wie eine Seele, eine Kraft ohnegle ichen , beruhrte
jeden und machte ihn froh: die grofie Sicherheit, die Zuversicht.
Klar: Kerldien, du bist zum Kussen.
Balthasar: Sofort. — Drittens ein Wunder. Unter einem klarsten
Sommerhimmel, in den durchsonntesten Tagen, die id) je gesehn habe,
zogen tausend undtausendSoldaten ernst und hochzeitlich geputzt an uns
voruber. Wir winkten einander zu, als waren wir alle ein Liebhaber
und hatten dieselbe Braut. So, Madchen, war der Auszug der Bar-
baren. Id) habe ihn mit diesen meinen Augen gesehn, davon bin ich
fast fromm geworden. Seitdem sind dreiftig Tage vergangen. Wir
haben die Franzosen aus Lothringen hinausgeworfen, und jetzt
werfen wir sie aus dem Elsaft. Unsere Heere stehn an der Maas,
an der Marne, an der Aisne, in einem groften Halbkreis vor Paris. Kufi!
Klar: Bist du aud) ganz sicher, daft wir siegen?
Balthasar: Si<faer hat nie ein Volk freudiger gekampft, keines
war besser fur den Kampf gerustet, und secbzig Millionen Mensdten,
die bis auf jedes Kind nur den einen Wunsth kennen, ihre ganze
Kraft einzusetzen, alles herzugeben, urn zu siegen — besiegt konnen
die nitht werden.
Klar: Hans fifirchtet —
Balthasar: daft wir alien Freiheitsbaumen an Stelle der phry-
gischen Mutze die stachlige Pickelhaube aufsetzen, und die Welt in
einen Kasernenhof verwandeln.
Klar: Er behauptet, in den Zeitungen sei derVorstblag gemacht
worden, Kant, Beethoven und Goethe — ihre Denkmaler versteht
sid) — in Landsturmuniformen einzukleiden , damit unser Volk sie
nicht ganz aus den Augen verliere.
Balthasar: Mit Witzen macht man keine Weltgeschichte. Unsere
groften Manner gehoren gerade so gut den Englandern, wie sie uns
die ihrigen nid)t vorenthalten konnen/ aber ihre Kolonien, die be-
halten sie fur sid) allein, und die Franzosen bezahlen fur den ganzen
Goethe nicht mehr, als den Ladenpreis. Geschwatz! Zugegeben, die
Franzosen und die Englander seien kultiviertere Volker als die
Deutschen, so hat ihre Kultur sie doch nicht gehindert, Kriege zu
fuhren, wenn sie sich Vorteile davon versprachen. Nicht wahr?
Rets/ S<£i<£ef* • Hans im 5c£naftenfoc£ 93
Klar: O, Junge, ich glaube dir gern.
Balthasar: Als Kant, Goethe, Schiller lebten, war Preufien so
groB wie Serbien, und das Herzogtum Sachsen-Weimar unbedeu-
tender, als Montenegro. Ein Narr, der glaubt, dafi dieses Deutsch-
land, wenn es erst ein Weltreich geworden sei, statt philosophischer
Systeme nur noch Kriegervereine und statt Dichter un<! Musiker nur
mehr Feld webel und Versicherungsagenten hervorbringen werde. Das
alles habe ich naturlich meinetn grofien Bruder wieder nicht sagen konnen.
Klar: Warum nicht?
Balthasar: Weil er mich sofort mit seinen eigenen Angelegen-
heiten vollpadcte . . . Klar, sag' mir: glaubst du, dafi du mich lieben
konntest, oder, nein, dafi du midi hattest lieben konnen, wenn du
mich etwa vor Hans getroffen hattest? Oder wenn es ear keinen
Hans, sondem nur einen Balthasar gabe?
Klar: Du willst sagen, wenn Hans nur in der Ausgabe Balthasar
vorhanden ware?
Balthasar: Meinetwegen.
Klar: Du vergiBt —
Balthasar: Denke doch: in einer Stunde kann ich tot sein.
Klar: Ich bleibe nie mehr allein mit dir.
Balthasar: Sprich zu mir, als ob ich in einer Stunde nicht mehr
ware. Sag' mir die Wahrheit. Konntest du mich lieben? Ich frage ja
nicht, ob du mich liebst. Ich weifi, daft du Hans gehorst. Idi mufi
klar sehn. Glaube mir, ich frage nicht aus Eigensinn oder um einer
eitlen Hoffnung willen. Ich frage nicht, ob du mich jetzt liebst. Ich
frage: konntest du mich lieben —
Klar: Deine Frage ist sinnlos. Wie kann ich wissen —
Balthasar: Wenn Hans dich verliefie? (Heftig.) Er verlafit dich.
Er will didi nodi heute verlassen. Er hat es mir eben gesagt.
Heimlich will er dich verlassen. Er fahrt mit dem Abb£ fort, um
Essen zu holen und sdileicht sich durch die Vogesen zu den Franzosen.
Klar <langsam>: Ich kann ihm ja spater folgen.
Balthasar: Nein! Er will fort. Versteh doch. Ganz fort.
Klar: Er konnte doch nur verwundet werden.
Balthasar: Er schwor, dafi er dann — nachhulfe.
Klar: Warum?
94 R*n/ SduAeft • Hans im S<£naktnfo<6
Balthasar: Warum!
Klar: Und warum sagt er es nkht mir?
Balthasar: Idi denke, du soilst ihn in guter Erlnnerung behalten.
Klar: Dcshalb? Um hier zu sitzcn und ewig zu warten —
Balthasar: Diese Luge dulde idi nicht. Br soil didi nidht nodi
im Tode betrugen...
Klar: Bine sotcfae Folter konnte nur er sidi ausdenken.
Balthasar: Ich iiebe did). Idi setze audi mein Leben aufs Spiel.
Idi will etwas zu gewinnen haben. Nur eine feme Moglidikeit, nicht
mehr. — Audi du darfst in dieser sdiredriidien Zeit nicht ohne alle
Hoffnung sein. Idi stQrme in ein neues Leben, das herrlich klar sein
wird, starker und stiller, als es je war. Komm mit mir in deinen
Gedanken! Sag' mir —
FQNFZEHNTER AUFTRITT
Dieselben. Hans.
(Sdinell herein.)
Hans: Balthasar — laufi (Offnet die Tare links, siSflt ihn hinatis und
stellt sidi davor.)
SECHZEHNTER AUFTRITT
K(3r. Hans. Franzdsisdber Offizier.
(Herein.)
Hans: Einen Augenblick, Herr Offizier. Klar, Ia6 uns allein.
(Kilr ab.)
SIEBZEHNTER AUFTRITT
Hans. Der Offizier.
Hans: Es war mein B ruder.
Offizier: Im Krieg kennen wir nur Uniformen.
Hans: Idi bezahle fur ihn. Idi trete sofort in das firanzosisdie Heer ein.
Offizier: Ihr Wort?
Hans: Mein Wort. Heute Nadbt gehe ich uber die Vogesen.
Offizier: Dann auf Wiedersehn in Belfort. <Ab.)
Hans <l3<fcelnd) : Auf Wiedersehn.
Rene SStdSefe • Hans im ScSnafenfodj
95
e*
«
ACHTZEHNTER AUFTRITT
Hans.
Hans (rum Fenster): Gottesmann, wlflst du einen Augenblick her
aufkommen? (Sieht Hopla.)
NEUNZEHNTER AUFTRITT
Hans. Abbl Scbmitt.
Hans: Wer sdireit denn so?
Schmitt: Was fragst du? Ein Verwundeter.
Hans: Es sind jetzt Arzte da.
Schmitt: Ja, endlich. Wenn die Franzosen sie nicht mitgenommen
haben.
Hans: Hast du gesehn? Der Hopla —
Schmitt: Ich wollte ihn gerade begraben.
Hans: Wer hat es getan?
Schmitt: Ich weifi nicht. Es ist ja audi gleichgultig.
Hans: Vielleicht die Franzosen, weil sie den Keller leer fanden,
vielleicht die Deutschen, weil er nicht sdmell genug aus dem Weg
ging. Im ubrigen wird niemand ihn vermissen.
Schmitt: Was wolltest du?
Hans: In der neuen Zeit, die jetzt anbricht, war kein Platz fur
ihn. Ebenso wenig wie fur midi.
Schmitt: Verzeih, Bruder, ich habe keine Zeit, deine Reden an-
zuhdren.
Hans: Darf idi unserm Hopla nicht einen kleinen Nadiruf halten?
Die Mutter hat er zur Hodizeit gefahren und mich und den Balt-
hasar uber die Taufe gehalten, wir alle, audi du, haben an seiner
Hose gehen gelernt, den Hopsa hat er sogar mit der Mifdiflasche
aufgezogen und dabei, solang er lebte, auf der Spreu bei den Gaulen
geschlafen. Er war ein braver Mann . . . Wer hat die Sdieune an-
gezundet?
Schmitt: Ich will es gar nicht wissen. Sie brennt.
Hans: Sie wird abbrennen, bis auf den Grundstein. Aber es
sdiadet nidits. Das Heu ist fort und das Feuer kann nicht heruber.
Schmitt: Vom Dorf steht nidit mehr ein Haus. Seit vorgestern
irren die Bewohner, die nidit von den einsdilagenden Granaten ge-
Rene Sc£idefe • Hans im SdBnatenfocB
96
totet worden sind, auf den Feldern. Heute Nacht haben sie zwischen
den feindlidien Vorposten geschlafen.
Hans: Und heute 1st uber ihnen gekampft worden.
Schmitt: Die meisten habe ich aus dem Feuer herausgeholt und
in der Kirche eingesperrt — auf der Galerie.
Hans: Von dort konnen sie zuschauen, vie unten die Vemin*
deten weiterkampfen.
Schmitt: Das alles ist nur eine einzige Trane in Gottes Auge,
und der ganze Himmel spiegelt sich darin.
Hans: Ja —
Schmitt: In solchen Schredcen naht die Botschaft vom Heil. Es
gibt keine Feinde mehr, nur Menschen, die leiden, und alle Leiden
fiiihren zum selben Ziel.
Hans: Und dieses ware?
Schmitt: Die Gute aller gegen alle. Der Frieden.
Hans: Nach mir!
Schmitt: Hunderte von Kriegen sind uber dieses Land gegangen.
Es hat sidi immer sdinell erholt. Was blieb, das war der Geist
jener Kampfe. So wird es auch diesmal sein.
Hans: Wenn man didi predigen laflt, haltst du noch immer schon
still. Du hast nur das Thema gewechselt.
Schmitt: Ich finde, Bosheit ist jetzt ein miserabler Zeitvertreib.
Hans: Du wirst didi nach dem Krieg mit StarkfuB gut verstehn.
Schmitt: Wahrscheinlich. Wir erleben beide dasselbe.
Hans: Wir wollen nach den Bergen fahren und zu essen holen.
Schmitt: Das ist sehr notig, Aber idi furchte, wir werden weit
fahren mussen.
Hans: Hinten im Tal ist noch nicht gekampft: worden.
Schmitt: Ware es nicht sicherer, in die Stadt zu fahren?
Hans: Wer weifi, ob wir hineinkamen. Aufierdem muB ich dort
hiniiber . . .
Schmitt: So will ich anspannen.
Hans: Du kehrst allein zurudt. Morgen fuhrst du die Frauen
und die Kinder in die Stadt. Die Mutter bringst du im Stilt unter.
Dort findet sie Frauen aus ihrem Jahrgang. . . Um Klar brauchst du
didi weiter nicht zu kummern/ die hilft sich allein.
Ren/ ScBicttf* • Hans im SSnaienRxB
Schmitt: Was soli ich deiner Mutter sagen?
Hans: Ihr? Die Wahrheit. Aber sie soil sie far sich behalten . . .
Hier hast du Geld fur eine Kerze am Muttergottesaltar. Wenn sie
herabgebrannt ist, kannst du eine Seelenmesse fur midi lesen. Langer
wird es wohl nicht dauem. (Unterdessen ist Klar elngetreten.)
ZWANZIGSTER AUFTRITT
Hans. Abbd Sdimitt. Klir.
Hans: Mir ist, als hatte idi genau das vor langer Zeit einmal
getraumt: wie der Abb4 dasteht und du so langsam hereinkommst.
<Nimmt KlSr am die Sdiultern und tritt mit ihr ans Fenster.) So weit du siehst:
Sieg. Unser letzter Besuch durfte nidit weit gekommen sein. Ein
Dorf nach dem andem flammt auf. Bis an die Berge. So weisen die
Geschfltze der Infanterie den Weg. Sogar unser Hotel brennt mit
der schdnen Terrasse, von der wir zusdiauten, wie die Nacht am
Schwarzwafd hinunterstieg . . . <Zu Sdimitt:) Ja, Herr Abb£ — ja.
(Sdimitt ab.)
EINUNDZWANZIGSTER AUFTRITT
Hans. KiSr.
Hans: Wie sangst du manchmal : *Dies ist die Stunde, die wir
liebenc? — Die Nacht am Schwarzwald hinuntersteigt . . . Jetzt sieht
das rehaugige Maddten in iangen, braunen Haaren aus wie ein
schwangeres Weib. Aber wir hier an der Grenze wissen Besdieid.
Die Madam ist nur so dick von allerhand Zeug, das sie schmuggelt.
Wenigstens eine halbe Million Bajonette. Unter dem Saum ihres
Kleides springen die Kanonen wie Mause, die den Speck riechen,
<Summt> »Dies ist die Stunde, die wir lieben.c <Kiar hat sich von ihm
losgd6st.> Ah, jetzt wei0 ich, was da vorhin so jammerlidi schrie, Der
Korporal in der Scheune! Der Teufel ist fortgegangen und hat ihn
vergessen . . , Was ist denn, Klar?
Klar: So hole ihn doth heraus.
Hans: Wozu? Er sdireit nicht mehr.
Klar: Idt denke, du fahrst gleich fort — Essen holen.
Hans: Woher weiflt du das?
Klar: Nicht von dir.
Hans: Ich wollte es dir gerade sagen.
98
Rene S<£t<£efe • Hans im S<£na6enfo<£
Klar: Von Balthasar.
Hans: Was weifit du von Balthasar?
Klar: DaB du uns verlassen willst — heimlidi — wie der Dieb,
der du bist.
Hans: Dieb?
Klar: Du hast dein Leben lang Gluck gestohlen, wo du es finden
konntest, und nidits dafur gegeben. Nichts, nichts, als Zweifel und
Enttausdiung.
Hans: Wie leidit die Frauen umsdilagen.
Klar: Wenn man sie verrat.
Hans: Wenn man sie verrat.
Klar: Hattest du wenigstens den Mut gefunden, mir ins Gesidit
zu sagen: der Hafi gegen dein Volk hat die Liebe zu dir getdtet.
Idh hatte es verstanden, i<h habe audi manchen Kampf gehabt in
diesen Tagen.
Hans: Klar, so ist es nidit, idi liebe dich sehr.
Klar: Du offnest den Mund nur, um zu lugen.
Hans: Weifi Gotf, idi luge nicht.
Klar: Idi klage midi an, daB idi bereit war, alles fur didi zu
opfern, meine Vergangenheit, meine Familie, mein Volk, ja, idi hatte
schon alles geopfert, und wahrenddessen bereitetest du dich darauf
vor, midi heimlidi zu verlassen, wie ein Grandseigneur ein Madel
mit zwei Kindem sitzen laBt — indem er seinem minder glanzenden
Bruder aufs Herz bindet, sie nidit verhungern zu lassen.
Hans: Du bist zum erstenmal bose und ungeredit.
Klar: Du hast Balthasar ein Messer in die Hand gedruckt und
gesagt: »Geh, bringe sie um, mir fehlt der Mut.«
Hans: Den Mut hat er gehabt, das Messer war von mir, aber
idi habe ihn nidit gesdiickt.
Klar: Er wollte nidit, daB du bis zum Ende logst.
Hans: Idi zweifle nicht daran: er folgte nur edlen Trieben. Aber
ich hatte gedadit, er wurde nidit mit einem Messer kommen, sondern
nadiher, als Sieger, mit einem BlumenstrauB. — Krieg ist Krieg.
Klar: Es ist nidit unedel, daB er midi mehr liebt, als didi.
Hans: Du horst nidit mehr, was ich sage,
Klar: Nein, idi will nidit horen.
Rene SSidiefe • Hans im SSnakenfoS 99
Hans: Warum spreAen wir dann no A?
Klar: I A wane, daft du gehst.
Hans: Einen kleinen Augenblkk! <Blickt sich sudiend um.) IA mo Ate
gem die MeersAaumpfeife mitnehmen. — Der gluAliAe Junge ge-
hort zu den Siegem. Wie jeder Sieg sAon entsAieden ist, bevor
noA die S Ala At begonnen hat . . . Das wirst du eines Tages ein-
sehn, Klar.
Klar: Du glaubst naturliA, die Franzosen wurden siegen.
Hans: Wenn iA niAt so vom Gegenteil uberzeugt ware, ginge
iA ja niAt zu ihnen.
Klar: Du bist noA feiger, als iA geglaubt hatte.
Hans: Hast du niAt die Flugel an Balthasars SAultem bemerkt?
Sie werden waAsen. Jeder Mann in DeutsAland hat jetzt Engelflugel .
Klar: Das ist auA wahr.
Hans: Gewifl doA. Und als der Junge voreilig seinen letzten
Trumpf gegen miA, einen Toten, ausspielte, da fuhlte er siAer deut-
liA, wie das ganze gefliigelte DeutsAland ihm beifallig fiber die
AAsel sah.
Klar: Es war seine PfliAt —
Hans: Begreife doA: auA iA gehorAe der PfliAt. <L3dielnd>: Denn
niAt wahr, seiner PfliAt gehorAen, das heifit doA, selbst mit Wider-
streben, vielleiAt sogar gegen si A selbst, das tun, was man fur
reAt halt . . . MeinesgleiAen fahrt jetzt zur Holle. Da mull iA dabei
sein. Die Wage der WeltgesAiAte sAwebt. IA mul) durA mein
GewiAt helfen, euere SAale in den Himmel zu treiben. Je sAwerer
wir fallen, desto hoher steigt ihr empor.
Klar: So geh doA!
Hans: Trotzdem, iA beneide euA niAt. Euere Generate konnen
die sAonsten SAlaAten gewinnen, euere Genies ein Wunderwerk
aufs andere turmen — aus alledem maAen euere SAulmeister eine
Fibel fur die reifere Jugend. Sie werden euA beweisen, dafl ihr
siegtet, niAt weil ihr die bessere Ausrustung, die besseren Kanonen,
die klugeren Fuhrer hattet, nein, wei! ihr die Bravsten wart und
deshalb den Sieg verdientet. Fur die DeutsAen ist die SAopfung
eine SAule und der liebe Gott der Herr Lehrer, der gute und sAleAte
Noten verteilt.
Pert/ SSidtU • Hans fm S<£na6tn(<x6
Klar: Du schwatzt, wie du Immer geschwatzt hast — und wenn
du did) endlich zu einer Tat aufrajfst, so laufst du zu denen, die
untergehn. Du furditest didi vor den Starken.
Hans: Was kann id) dafur, daB mein Herz hell durd) die Welt
bellt? Hell! Hell, wie die Stimme der franzosisdien GeschOtze. —
Es gibt ein Bild, da stQrmt eine Frau mit flattemder Trikolore auf
eine Barrikade, und ruft alle, die fur die Freiheit sterben wollen.
Jetzt bilden Gebirge die Barrikade, und das Feuer ist ein Welt-
brand. Die Frau sd)reit. Und dodi hat ihre klaffende Sdiamlosigkeit
mehr Anmut, als das sdionste Ladieln euerer Tugendhaftigkeit her-
vorzaubern kann.
Klar: Id) kenne euere Freiheit. Die Freiheit von Wilddieben,
GlOdtsspielern und —
Hans: Was kGmmert mid) die Freiheit, die du kennst. Mid)
rufen die Toten! Sie und id), wir sind frei! . . . Klar, wenn du
wuBtest, wie firoh, wie frei id) bin. Id) mochte did) umarmen.
Klar: Geh endlich fort.
Hans: Sieh mid) nidit so an! — Id) werde hafllich sein im Tod.
Hingesdileudert, alle Viere ausgestreckt, und mit krampfhaften Han-
den, die nodi im Tode wurgen.
Klar: Idi sehe dich.
Hans: Gut. — Sollte didi einmal Mitleid befallen, denn du hast
ein gutes Herz, so sage dir, daB diese Hande vielleidbt au<h nach
der Kehle deiner Kinder zielten.
Klar: Bist du nodi nidit fertig?
Hans: Stehst du noth immer da?
Klar: Id) muB da sein, wenn du gehst Ida konnte es sonst viel-
leidht nidit glauben —
Hans: Wie oft habe id) gewGnsdit, daB du mid) haBtest —
Klar: Um von mir loszukommen.
Hans: Um dich von mir zu befreien.
Klar: Und jetzt tut es dir doch weh.
Hans: Ja. Aber was bedeutet unser beider Herzen Klopfen in
dem Sturm!
Klar: Ich bitte didi: geh.
Hans: Der Abb£ bringt den Wagen zuruck. Bis zum Morgen
habt ihr zu essen. <Ab.)
Vorhang.
Affrtd Woffenftein * Die GfeiSgiftigHeit, AugenBfid
Affred Woffertjiein:
DIE GLEICHGILTIGKEIT
Wie leidit er war, wie langc wehte klar sein Lauf —
Doch ihre stumme Ebene bringt ihn brausend auf,
Bewolkter Ricse dringt er schreiend auf sie ein —
Du Auge, Stirn, Empfangnis denk, empfange, wdn'!
Sieh seine Freude, seine Trauer —
O, well du blind bist, biiebe, bliebe er alfein!
Dcxb seine Sdiam, und sein gespanntes Herz und Gluck
Und sein zerstdrter Aufiruhr kann nicht mehr zurudc —
Er packt mit Korper Korper —
Adi Haus und Himmel, der ihn ruhig uberbaut!
Sonne, die sein entbldHtes Spruhen uberschaut!
Adi tief versdileudert Rausdien im Gerausdi der Stadt!
Und Weib, — durdisdiaumt von ihm und nadi ihm wieder glattl
AUGENBLICK
Auf dem Platze zwisdien unbekannten Hausern
Steh idi stille, ruhig halt der Raum —
Glasig hartet sich der Sonnensdiaum
In den steilen zimmers diwarzen Fenstem,
Auf dem Pflaster steht vergangner Tritte Flaum —
Idi v erg esse meinen langen wildbewufiten Strafiengang,
Mich durdigeht, umgeht nur bleibendes Gerank
Meines Atems, Fufie fQhlen in die Steine,
Zwisdien Bergen wie ein Baum —
102
Else Las Her* S <6 tiler • VerinnerfiSt
Efse L as&er-ScBufer:
VERINNERLICHT
(Job. HauBrida gtwidmet)
IA denke immer ans Sterben,
MiA hat niemand lieb.
IA wollt, iA war still Heiligenbild
Und alles in mir ausgelosAt.
TraumcrisA farbte Abendrot
Meine Augen wundverweint.
WeiB niAt, wo iA hin soil
Wie Gberall zu dir.
Bist meine heimliAe Heimat
Und will niAts leiseres mehr.
Wie bluhte iA gern suB empor
An deinem Herzen himmelblau.
La u ter weiAe Wege
Legte iA um dein poAend Haus.
Af&trt ESnenftein • Die G5tt§r 103
AfBert EBrenJieitt:
DIE GOITER.
Ein gebeugtes Hungertier,
Bettler vor den Tisdien,
im Krampf der ewig hohlen Hande
ersehnt' idi Madcbenlende.
Mude dann badistelzenden Trippelgangs
einer leicht Fertigen,
Sdilammstatue auftaucbend aus Schlaf,
fleht' ich zu Reinen.
Aber die Gottinnen,
lichtumgossen, duftbeseelt,
Blurnen, die den Nadittau trinken,
die 'Herzverehrten
geseiien sidi lieber den Zwirbelbarten.
Kein Segel bluht mir im Winde.
Und Sturm ward. Meine Freunde,
die Haare versdinitten, die Fufie vereist,
dem Werk entritten, leibverloteter Geist,
stallwacbend berlechen RoBapfel zur nacbtlicben Stunde.
Oder verstummt in Verstummelung,
die entwandelte Hand vom trauernden Mantelarmel umlodert,
kruckten sie sich die Wand entlang,
bis sie die Erde versditang.
Klagend liefi ich auch sie/
niemand liebt mich auf Erden,
so lechze idi nicht, mein Blut zu vergieflen,
niemand freut sicb der Spende.
Albert Ebrettfitin • Die Gdtter
Schmerzgebild aus Grauen und Gram
nidit mehr trostete midi die Wiese,
der Heimat zartlicher Halm,
im Traume floh idi ins Dsdiungel.
Nidit da, nidit dort!
Bin Kdnigstiger auf Java,
stark und sein eigener Gott,
— zerkrfimmt verging idi unter seinen Pranken.
Letzter Atem entsank.
Die Seele stieg. Nicht hoch.
Hinsirrend fiber fahle Moore,
im sdiwarzen Scbwarm der Schatten,
fern den herrlidien
Gestaden Gottes,
sdiaute sie nur die Gdtter.
Naher stob idi dem flirrenden Reigen,
hob midi betend hinan meinen Gott:
»Phoibos Apollon, neunfach umtanzt Didi der Tag mit rosigen Musen,
was klirrt Deine sdiidcsalbehangene Sdiulter?
Niemand verletzte den Chryses.
Deine vergoldeten Priester beleidigen Didi?
Verseudhten Halbdiditer den Vers, Zeithunde die Zeitung,
schone das sdiuldlose Volk,
gnadig umwandle Dein Reich,
erstick' uns nicht in Pest und gelber Verwesung!*
Antwortend umdrang midi unfriedlicher Berggesang/
»Ihr redet gem vom Glfidte,
und lebet lustzerschabt,
dodi hat eudi viel geliebt, gelabt,
war es der Weiber Lfidte.
Eudi Zwerge wirbeln die Winde,
bis ihr am Felsen zersdiellt,
ihr torkelt, trunkene Blinde,
von Asche zur Asdie gefallt.
Albert Ebrenftrin • Die GStter 105
fiber dem Schiffbruch irdisdier Gewatten
wehen wir Gotter selig dahin.
Eudi frommt nacb Feldgraueln brandsdiwarzes Erkalten,
Wir sind die Freude, Wir sind der Sinn.«
Da blidcte icb alies versteinert.
Der greise Zeus verfolgt nodi das Kuhweib/
sah Mohammed, ferne dem Gipfei des Sieges,
wegmfide zum Berg, der stets welter zurudkweicht.
Jesus Christus htitet das Holz,
starr genagelt ans Kreuz.
Vergebens war das Gebet der drelBig Gerechten.
Aus Mordnadhten des Nordens
sdioll unendliche Klage,
Jammer zerhackte mein Herz,
Israel winselt im Winter,
der Ewige
besdineidet sein Volk.
Gegen den unerbitdidien Dombusch warf sidi die Seele,
ob sie dem Zorn sich als Opfer empfehle:
>In den MarmorbrOchen von Carrara
dQnkte sicb dein Volk geboren,
Eckstein ward es dann den Hunden,
auserkoren! auserkoren!
Du hast es gesendet,
unter die Fufie der Kampfelephanten deines Grimmes!
In dir ist es beendet,
Wer hat dich geboren ?«
Nicht nahm er midi an,
aus unerforsdilidiem Nebel-Nirwana
Qberkam mich im Grauen der Gru0 des Suddhodana:
106 Albert Efirenftein • Die G otter
+ If im*llfinrr
»Die ihr herrsAet: lebt, ihr kennt miA niAt.
Was da iAt, sieht se in GesiAt.
Sterbet bis ins warmste Seelcnhcrz!
SAmutz 1st Leben, Erde SAmerz.
Raum, du Trubsal,
Wahn die Zeit,
im Weltwirrsal
sci dcr Tod gebenedeit.«
SpraA der Teufel traumessAlau:
*Or wie leiAt verweht selbst dieses Blau!
Im Wunder seid ihr Gotter niAt bewandert.
Keiner ist Meister des Baus,
Da immer das Heiligtum hinwelkt.
Auf den Hauptern des Asketen paaren siA Insekten!
Ist euA VortnensAen das Ewige unerreiAbar,
knirsAt niAt vor Gottern um irdisAe Hilfe.
Die zeitliAe Losung keimt auA in euerem Hirn.
Im Hahnenkampf der Volker
ansAwillt manA Vaterland.
Tiefere SAmerzen pflanzt in Heldenzahne der Geist.
NiAt jung mit den verbrauAten SAatten
hinwandern uber die Wiese!
Erst wenn euA Vergehenden der Tod niAt mehr gilt,
atmet, Assassinen, die Amok-Luft
in wahren Kampfen mit Barbarenzaren,
aller Welt Geldfiirsten.
Erdherrn, die naA QbermaAt dursten.
mufi man die Glut
losAen mit ihrem Blut.«
Und rettete steil iA mi A aus dem Traum hervor,
iA, auA iA, iA habe gemordet!
Bitteres essen die MensAen.
Ttrdinand Hardtiopf • Spdt
‘Ferdinand Hardeftopf:
SPAT
Der Mittag 1st so karg erhellt.
Ein sAwarzer See sinkt in sein Grab.
Dies ist das letzte Li At der Welt,
Das bleiAste Glimmen, das es gab.
Aus Sumpfen sAwankt Gestrupp und Baum.
Die Birken-Nerven asteln weh.
Die Zeit erblaBt, es krankt der Raum.
Tot steht das SAilf im toten See.
Die Luft stromt grau ins Mundungs-AIl.
Der Rabe sAreit, Der Wald sAIaft ein.
Mi A trennt ein rasAer Tranenfall
Vom Ende und der Flammenpein.
s Voi. m/i
T fie odor DduBfer • Simuftanitdt
**S*M**0**S+*****A *********
r
Mi
TBeocfor Dau6fer:
SIMULTANIT AT
STIL 1st Schidcsal: wir konnen unscren Stil nicht selber wahlen.
Frfiher zeichneten die Baumcister ihre Plane mit freier Hand,
heute regiert das Lineal und das ReiBbrett: daher wird eine groB*
zGgige Einfachheit den Stil, der kommt, bestimmen mOssen! Wagner
in Wien, Loos in Wien, Peter Behrens, Martens in Berlin, Poelzig
in Breslau, Franklin Wright in Chicago sind bereits moderne Archi-
tekten. Wo ist da unser Stil? Wo ist bei ihnen das Gemeinsame?
Im Sauberlichen , in detn, was sie weglassen, in der gemauerten
Selbstkritik, die sie uns bringen. Obrigens will ich von Simultanitat,
noth nicht von Stil sprechen!
Die GrOnderjahre sind der Ausdruck der burgerlich-unsittlichen
Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert. Jeder angestiefelte Empor-
kommling konnte seiner Frau zu Weihnathten eine Gotenburg sthen-
ken, jeder Streber als Baumeister hatte auf der Kunststhule das
Recht, Neigung zur Renaissance zu ftihlen, oder sith Rokoko zu
wQnsdhen/ der Protzenbauer durfte sein Dorf durdi ein Stadtgebaude
verschandeln : anstatt sich zu Hause zu verkriechen, erridhtete er sith
eine Wohnstatte, die zugleich ein Wahrzeichen offentlithen Arger*
nisses, seines sthlediten Beispieles wurde. Versidherungsgesellschalten
ersetzten bald die himmlische Vorsehung und schaflten das warm-
nestige, hergebrathte Strohdadi ab/ so bedauerlidh das ist, so konnen
wir uns doth nkht dagegen auflehnen, hier spridit ein ordnendes,
modernes Prinzip mit, dem Schidtsal wollen wir uns nicht entgegen*
stemmen. Freilith gibt es impragniertes Stroh, nur ist man etwas
spat darauf gekommen!
Unsere alten Stadte brauchte man aber nicht zu brandschatzen,
das Neue hatte weniger erbarmlidi ausfallen mussen, zumal die
Udeodor DduBftr ■ Simu&anitdt
109
Monumentalarchitektur : der Ring in Wien ist cine TriumphstraBe
akademischer Plumphcit! Vom prunkvollen Berlin ist besser uberhaupt
nicht zu spreeben.
Die Akademie im vergangenen Jahrhundert war ein arges Ver-
brechen: die Kunstbeflissenen haben die Tradition erdrosselt und
unreine Gespenster beschworen: die historischen Stile. Was erreichen
die staatlichen Kunstschulen anderes, als daB ein unberufener, unbe-
gabter, unbemittelter Knabe ein Sdiadling in der Kunst auf Lebens-
dauer wird. Das Ergebnis des Pontifikates aller Mittelmafiigen : unser
herrliches, groBes Deutschland hat durch die Grunderjahre mehr ge»
litten, als im Dreifligjahrigen Krieg. Wir mochten die Heimat keinem
Gebildeten mehr zeigen, weil sie die vorige Generation geschandet
hat, wir selber konnen es zu Hause kaum mehr aushalten, so ent*
setzlich sieht es zwischen Mosel und Memel aus. Wir bevolkern ein
haBliches Land.
Der eigentlidhe Grund zu diesem schreddidien Elend liegt somit in
der Erwurgung der Oberlieferung. Anstatt also den damals herr-
schenden international klassizistisch entwickelten und doch in j edem
Land lokal gepragten Stil — bei uns war's der biedermeierische —
falls notig, durch alte, fruher fallen gelassene Erfahrungen jung zu
beleben und dadurch sdiopferisch einzusetzen, gab man das Schone,
das Lebendige auf und baute von damals an nach Stilvorlagen, Bau-
rezepten aus alien Zeiten und Landern, unbeholfen, unfahig, Ver-
gangenes aufzunehmen, stumperhaft, dumm und dreist weiter. Oft*
mals ward das, was mit Griechisdiem zu tun hatte, nicht mehr als
heimisch befunden, uberdies gab es in Frankreich etwas Ahnliches
wie das, was bei uns gut und erprobt war, den Stil Louis Philippes,
folglich sollte unsere Tradition untergehen, denn man wollte heimat*
lich bauen, das heifit: mindestens wie vor dem DreiBigjahrigen Krieg,
womoglich wie vor der Reformation, und dabei entstand als Heimats-
gebilde der Kitsch, der entsetzlichste Wechselbalg auf Erden. Hatte
man aber einmal Altnurnberg verballhornt, an alien Edcen des deut*
schen Landes emporgiebeln, mit Kinkerlitzen die sdionen Stadte ver*
unstalten gesehen, so konnte man ja auch zum italienischen Palazzo
greifen/ das war aber das allerunanstandigste, landschaftfeindiichste:
kurz, Deutschland sollte verdorben werden. Funfzig Jahre erbarmlicher
110
Theodor DduBfer • Simuftanit&t
HaBliAkeit: romanisAe ErinnerungskirAen, alexandrinisAe Parian
mentsgebaude, Mietkasemen in der Manier von Versailles, Konigs-
sAlosser im HoAstaplergesAmaA wuAerten, krampften siA aus dcm
sAliAtestcn, gottcrgcbcnsten Boden cmpor. Ein Jammer ohne Ende,
ein nie zu dlgendes VerbreAen gegen die eriauAten Vorfahren. Und
heute? Sind Ac Grfinderjahre, die vorgrOnderjahrige historisierende
GerQmpelbauerei uberstanden? tlberwunden bestimmt, aber fiber*
stan den no A lange niAt!
Die WiederbelebungsversuAe der Gotik zur Zeit der Romantiker
waren zuerst reAt gesAiAt angepaAt oder ziemliA harmlos/ erst
die Bewegung far den Aufbau alter Munster, die sie in die Wege
leiteten, wurde sAwer bedenkliA. SAlieBliA setzte man die Voll-
endung des Kolner Dorns durA: welAes Verhangnis! So geht es
aber immer, wenn DiAter si A mit bildender Kunst befassen, sie
verstehen niAts und verderben, was sie anfassen!
Es 1st hier niAt der Platz, um die tragisAe Ruine des steinemen
Hohelieds am Rhein zu klagen. Der Kolner Dom war unvergleiA*
liA, er ist aber auA heute ein bewunderungswfirdiger Baa Er kann
niAt immer freigelegt bleiben, die Zuge werden vielleiAt noA reAt*
zeitig elektrifiziert werden, hoffen wir, daB des Bahnhofs NaAbar-
sAaft ihr Zersetzungswerk niAt bis zu Ende fahren kann! Traurig
ist es eigentliA, daB die DurAfahrung des Dombaues gelungen ist
und dadurA Veranlassung gegeben wurde zu anderen bosen Turm*
aufreAungen, zu allerhand Gotislerungen, Ae durAaus unzeitgemaB
waren. Fur den Dombau zu Koln war ein Stab von Meistem, dne
Gilde von Handwerkern notig: die beruhmte SAmidtsAe Bauhfitte
entstand. OberrasAend bleibt, wie liebevoll zu Anfang das Langst*
verjahrte wieder aufgegriffen, behandelt, ja verstanden wurde/ aber,
wie gesagt, das, was gelang, gereiAte sAlieBliA bloB zum Unheil.
Sowie einmal der Dom fertig werden muBte, konnte es nur unver*
sorgte Gotiker mit Familie geben: eine ganze Reihe niAt heimat*
bereAtigter, zeitliA unmogliAer ArAitekten blieb fibrig: man denke,
eine ganze SAule war da. An ein Abstreben der Gotisierer war
also niAt zu denken, Oberdies gefiel der Dom so gut, daB von nun
an, naA dem groBen Beispiel, uberall im Lande gotisA gedaAt, in
Gotik gemaAt, gestfimpert und gelogen wurde. Immer tiefer sank
Theodor Dduhfer • Simuftanitat 111
man, bis zum Reidispostamt in Badcsteingotik. Und 2war ubcr Land
und Meer. Einc Schmacfa bradi uber uns herein, die nidit wieder
gut zu machen ist Kunstgelehrten ging das Licht fur das Mittelalter
auf/ man denke: Historiker und das gotische Bekenntnis/ Schulfuchse
und die romanisdie Inbrunst!
Idi will blob einige Nationalunglucke, die uns beschert wurden,
anfuhren: die Verunglimpfung von Stadt und Kirdhe Ulm. Die Ver-
irrung zu Marienburg. Die wiederholten Anschlage gegen das Heidel-
berger Schlol?. Die Auslieferung der Ruine Hohkonigsburg im ElsaD.
Das Verbrechen an Meil?en. Die Bedrohung des Hradsdiins in Prag.
<Die Toren sehen nicht, dal? die prachtvolle Horizontale der Hof-
burg bereits mit einem stedcen gebliebenen Veitsdom redinet.) Die
Zurechtrichtung samtlicher ehrwurdiger Kirchen in Koln. Die mond-
silbrige Innerlidikeit von Sankt Gereon ist nicht mehr. Maria im
Kapitol kann man nur nodi abends betreten. Und so geht's endlos
weiter. Wo es etwas Erhabenes in Deutschland gab, dort hat man
herumgetiftelt, gesdimiert und ausgebessert, bis nichts mehr iibrig war.
Handlanger des Materialismus haben die steinemen Offenbarungen
unserer Mystiker vergewaltigt. Deutschland, was hast du uber dich
ergehen lassen! Wir religiosen Menschen protestieren gegen die Will-
kur, die Unbotmafligkeit, mit der man sich uber Erbgut madit, Herr-
tidies bis zur Unkenntlidikeit wasdit und ladciert, Erhabenes ausrottet
Heiliges Koln, du bist nicht mehr! Heiliger Dom, wohl bist du nodi
schon, furditbarer Mitschuldiger an der Verpfusdiung Deutsdilands,
konnte idi dir fludien? Wie ein Gletsdiergebirge sah idi dich, von
Muhlheim aus, ins Augustblau tausendzadcig funkeln. Das indu-
strielle Grofigewolk konnte nidit bis zu dir hinuber. Unweigerlidi
gipfeltest du, Dom, mit steinemen Sehnsuditshalsen uber alie Mensch-
lichkeit empor ins ewige Sanftblau. Lilasilbriges Eigengewolk um-
halste dich in riesenhafter Schwanenhaftigkeit. Du wufitest, dal? du
ein Berg bist, denn du hattest Nebel und Wolken, du wuBtest, dal?
du zuerst abkuhlen wurdest, um dann der Stadt Nachtkuhle zu
spcnden. Du bist ein Sinai, Kolner Gebirgswelt, Bekennerhand hat
dich aufgebaut/ du bist der Berg aus unseren Gesetzen hervorge-
ttirmt: du, du birgst unsere heilige Wolke in Pfeilerhut.
Ich habe den Kolner Dom betreten. Ein Sdiritt, und idi war in
112
Theodor DduBfer • Simuftanitdt
******************************************************* e********************************************************m**m*****mm******m***m*m****
eine himmelhohe Sphare entruckt. Nur zufallig bist du, Heiligtum,
bci uns zu Gast. Kolner Gletscber, bist du aus einer Region kri*
stallener Vollkommenheit zu den Mensdien emporgeflogen?
Wenigstens um zwanzig Jahre zu spat: was soli heute nodi eine
Jeremiade ixber die Grunderjahre! Wir werden wieder aus der Not
eine Tugend zu madien wissen, ich muftte daher eine Gr under jahr-
einleitung sdhreiben! Denn in dieser grauenhaften Epodie liegt die
kunftige Simultanitat unseres Stilempfindens eingewurzelt.
Den Beweis, daO man audi historisierend Gutes leisten kann, er*
braditen, auBer dem Dombaumeister Sdimidt, noch Hansen und
Semper. Wie steht's mit einer Klitterung, Versdimelzung eklektisch
wiederbelebter Stile durdi groBstadtmaBige Zusammenfassung? Audi
das geht! Siccardburgs und van der Null haben Wien in seiner
Oper gelungene Gemeinsdiaft der Stile besdiert. Gamiers Pariser
Opernhaus ist gleichfalls sehr prasentabel. Die Wohlbeleibtheit von
Pollaerts Justizpalast in Brussel laBt auf eine Sdiwangersdiaft hoffen.
Calderinis Justizpalast in Rom ist nidit so hoffnungslos, wie man
vielleidit zuerst denkt. Sdiade, freilidi, dal) er die Engelsburg drudtt
und die Wirkung der romisdien Hiigel sdimalert. Hier kann aber
vor allem Messel nidit ubergangen werden: in dieser Gesellsdiaft
ist er sidierlicb der Hervorragendste. Wo knupft er an? Bei portu-
giesisdier Gotik? Beim Flamenstil? Oft sdieint er Streifzuge durdis
Barock zu unternehmen, dann setzt er sidi etwas abseits vom Empire
fest, sdilielMidi aber versteht er Langhansens Klassizismus. Und darin
liegt seine vorbereitende Arbeit. Audi in der naturalistisdi eklekti-
sdien Mailander Bildhauerei, zumal beim Fursten Trubetzkoj, linden
wir, so sdilecht sie audi nodi bleibt, bereits Ansatze zu einem Stil
der Simultanitat: da fallt einem auf einmal das Erhasdien fremd*
artigster, grundversdiiedener Konnexmoglidikeiten auf irgendeiner
verkraust impressionistisdie Steinlaune mit gotisdiem Hierarchies
Oder renaissancehafte Ausgewogenheit einer Hausabsidit be>
fenstert sidi geschickt kleinerkerig maurisdi.
An der Unmoglidikeit, einen Stil gewaltsam zu gebaren, zweifelt
wohl niemand mehr. Van der Velde selbst ist viel zu sehr Kunstler,
um das nidit als erster einzusehen. Leider ist er nidit ganz firei von
Sdiuld an den gekriimmten Hausern in Belgien und Frankreidi. Bei
113
Theodor Dauhfer ■ Simuftanitat
uns hat der Jugendstil rasch ausgewutet, in Italien steckt cine ahnliche
Pest, das Floreale, nodi immer von einem Haus aus die Nachbar-
schaften an.
Zu einer Entsdieidung in Stilfragen fiihlt sich wohl jeder Mensch
mit etwas Gesdimack gedrangt, wenn er den Denker des riesen-
haften Rodin, der das Wesen der Baume und des Wassers in einem
Lubecker Privatgarten zu uberdenken imstande ist, in Paris vor dem
Pantheon aufgestellt sieht. Nein, das ist dort bloB nodi ein Gedanken-
hervordrucker, ein Klumpen Erz, der das ganze Pantheon beein-
traditigt. So geht es niefat weiter: entweder zuruck zu einem intel-
lektuell wiederbegrundbaren alten Stil oder uber Rodin hinaus in
eine sdiwingerische Ardiitektonik. Wahrsdieinlich sollen wir bald
beides erleben. Wie viel Ridirungen werden zugleidi Wurzeln setzen
konnen, traditionsfahig werden? Mindestens zwei! Eine, die sidierste
Riditung, wurde bereits eingeschlagen, nur fuhrt sie nicht zum Pan-
theon, sondern sie geht vom Brandenburger Tor aus. Denn Peter
Behrens' deutsdie Botsdiaft in Petersburg ist eine Tat. Die Aus-
sdialtung der historisierenden Grunderjahre, der AnsdiluB an groBe
Qberlieferung muBte geschehen. Welches lebendige, witterungsfahige
Wadistum wird uns wieder besdiert! Behrens, Sdiinkel, Klenze,
Langhans, Gilly, Scamozzi, Palladio, so heiBt vorlaufig die Reihe.
Ein Weg zu Baldassare Peruzzi und Donato Bramante kann ge-
funden werden.
In Goethes Faust, in der Sage, ist Helena bloB ein Gespenst.
Ein Gespenst, das in Deutschland ganz kurz aufgeisterte, das aber
auch in Italien nach funfzig Jahren wieder weg war. Gar vieles, was
die Renaissance geschaffen hat, wurde bald zerstort/ Leonardo spurte
am deutlichsten den Gerudi vom Gespenst/ er wollte seine Werke
kaum vor dem Versdhwinden bewahren. Sogar sein Leidinam ging
verloren.
Die Wiederbelebung der Klassik an Amo und Tiber hat in Deutsch-
land Moden geschaffen, Steingewander umgestaltet, in den Humani-
sten, in Holbein dem Jungeren Kronzeugen gehabt, Durer umzaubert,
aber wirklich umgeboren, verheidnischt, hellenisiert hat sie niemals.
Qbrigens ging sie mehr aufs alte Rom als auf Athen zuruck.
Deutschland enthalt aber die wirkliche Erweckung des Griechen-
114
IBtodor DduBftr • Simuftanltdt
turns: sie stammt von Winkelmann und Lessing. Sie kann Jahr-
hunderte Qberdauem.
Wir sind unseres Klassizismus in der Baukunst ailerdings vorGber-
gehend beraubt worden/ in der Malerei jedoch nicbt: da blieb die
Kette gesdhlossen. Schwind, Cornelius, der groBe Genelli, schiiefilich
auch Pilot!, vor alien aber Feuerbach und der herrlkhe Hans von
Marees verburgen uns heilvolle Besonnenheit bei der Heimsudiung
auf Erden, heimatliche llnterkunft Qber den Stemen und bei den
Quellen, hellenisdies VerantwortlichkeitsgefGhl vor der Form. Wie
durchaus liebesbewuBt und streng ausFuhrlich steht ein Bildhauer,
Sdiadow, auf marmomem Sockel vor unseren Augen. Heute ist der
entschiedene Vertreter der Riditung Adolf Hildebrand. Audi August
Gauls Werk richtet sich vortreffiich im klassizistischen Berlin ein.
In Frankreidi ist die Folge der nach klassischem Beispiel schaffen-
den KOnstler nodi imposanter: das grofiartigste Bauwerk nadi anti-
kern Vorbild wurde, nach der Madeleine, der groBe Triumphbogen.
Aber gerade in Paris mehr romisdier Auftakt als Griechentum. Rude
zumal ist ein nadigebomer Romer: seine »Marseil!aise« ist das be-
wegteste Epos, das sich bildhauerisch Qberhaupt beherrsdien laBt
Die Trajanssaule tragt im Vergleich eine Rinde von Kleinplastik
Die Truppen Constantins folgen auf dem rdmisdien Triumphbogen
einem Schlachtruf, wahrend die »Marseillaise« von Rude simultan
Ruhm, Siegesjubel, Schlachtgesdirei, Freiheit, Volkererlosung sympho-
nisch zusammenrafFt und in die Welt, die horen und staunen kann,
hinausschmettert, vor den Blidcen von Mensdi und Sternhimmel ver-
kundet. Diese Kunst ist endlich aufbrecherisch, in Pergamon wogte
erst Aufruhr emp>or. Auf Rude folgte das Raubtier durch Barry, die
barodce Tanzerregbarkeit eines Carpeaux, das Halsbrecherische in den
speziell genialen Werken Rodins. Aber gerade in ihm, im Meister
von Meudon, wird eine griechisch verinnerlichte Sehweise immer deut-
barer: Rodin wirft bald die windbewegten, sturmisdien Hflllen seiner
Problematiker in Stein und Erz ab, und seelenvolles Nadctsein offen-
bart eine geheimnisreiche Formergriffenheit: sie fuhrt zurOdk zur
Sdiweigsamkeit, die vor Pappeln um Stille zittert oder bei Zypressen
die Ruhe wirklich gefunden hat, Ingres war immer gefaBt. Welch e
Beruhigung, ihn im Anfang des vorigen Jahrhunderts, im AnsthluB
Theodor DauBfer • Simuftanitat
an den auftreterisdhen Romer David zu wissen. Eigentumlidi: in
fruhern stileinheitlichen Zeiten gewahrte der einzig herrschende Sell
alien Teniperamenten Obdach/ nun aber ist es anders: jedes Tem-
perament schliefit sidi an seinen Lieblingsstil an. Desto wichtiger, da0
der klassische miterhalten bleibe, wenn neue Ausdrudcsweisen uber
uns hereinzubrechen sdieinen! Vielleicfit setzen wir bloB die Simul-
tanitat der Stile fur die Simultanitat im Stile.
Betrachten wir die Erhaltung der Klassik in Frankreich noch weiter:
Paul Chenavard hat Massenwirkungen von Menschen und Genien
fur die Ausschmuckung des Pariser Pantheons zusammenzuhalten ge-
wufit, Nur uberkommne Kenntnisse konnten so ein Gesamtgebilde
uberhaupt ermoglidhen. Leider kam es niefat zur Ausfuhrung des
Werkes.
Chasseriau, ein michelangelesker Freskotechniker, war ein gewaU
tiger Vorlaufer von Puvis de Chavannes. Seine Hauptwerke befan-
den sich leider in der Cour des comptes und sind abgebrannt. Was
gerettet werden konnte, steht im Louvre. Fresken von ihm gibt's in
verschiedenen Pariser Kirchen.
Couture soil nicht ubergangen sein. Er konnte Riesenfladien groB-
artig ausfullen: audi war er der Meister einer ganzen Generation,
Cabanel durfen wir hier auch nidit vergessen. Er war kein nuditerner
Akademiker, sondern ein lebhaft begabter Klassizist. Sein Land-
scbaftlidhes ist sogar haufig voll von davongrunenden Unsagbarkeiten.
Puvis de Chavannes: der groBte Visionar des vorigen Jahrhun-
derts. Er bringt uns versdjleierte Qberwelt sehr nahe. Puvis erfullt
seine Wande mit diristlidher Einfalt und primitiver Hilflosigkeit, er-
ganzt sich aber im heidnisch Allegorischen. Eine langatmige Simul-
tanitat. Vielleicht die erste: sie stammt von Dante/ die Renaissance
erfullt sich in ihr hochst reizvoll und uberlogisch.
Also es gibt noch eine klassische Oberlieferung! Eine Zeit der
Stilwirrnis, der Geschmacksverwilderung, kunstlerischer Unsicherheit
kann nur durch einen intellektuellen Stil zur Gesundung gelangen,
Mittels einfacher Begriffe mussen wir klarlegen, was anstandig ist,
was verwerflich. Ich spreche immer von Bauwelt/ in der Malerei
wirkt die Kritik viel lebhafter sichtend und gebuhrlich einstellend.
Schlechte Skulptur kann Platze verunstalten, aber niemalsVerwustungen
115
116 IX t odor D&uBltr • Simu&anit&t
anrichten. Darum konnten wir dort anfangen, wo Brunelleschi die mit
Donatello dem V erstand zu seinem Recht in der Kunst verhalf : bei
der Sakristei von San Lorenzo.
Vlelleicht ist man aber immer nodi so weit, dad unsre besten Ar-
diitekten sicb sogleidi in Sdiinkel einzufQhlen vermogen: dann wGrden
wir im Nu die ganze Tradition wiedererobert haben und beherrsdien.
Dann ware audi das fGnfzehnte Jahrhundert Toskanas demnachst
eine Bereidierung mehr, kein Beginn! Italienische Probleme waren
aber niemals wicbtiger als soeben. Eines solien wir nicht vergessen:
Deutscfalands schdne Zeile, die Ludwigstrafie, fGhrt nacb Florenz.
Wohin nicxbte wohl die Maximilianstrade gewiesen haben? Zu den
Tudors nacb England?
Es ist wahrsdieinlich, dad der Klassizismus zuerst Berlin zurudt-
erobern wird. Moller van der Brudc hat redit, wenn er dort die Vor-
bedingungen dazu erkennt und feststellt. Qbrigens hat das klassizie-
rende Potsdam und was von Berlin nodi (xbrig ist nidits mit Florenz
zu tun. Palladio 1st da viel eher der grode Ahnherr. Qberhaupt die
Po-Ebne! Kdnnte das norddeutsche Tiefland nidit in dieser, nun«*
mehr ganz seiner eignen Riditung fortschreiten und dem hQgligen
Suden sein Toskanisches Oberiassen?
Soli das unsre Zeit erfGllen? Bevor idi »nein« sage, mocbte idi
nodi den Grund anfuhren, der dem Klassizismus am entsdiiedensten
das Wort redet. Warum sollte unsre 2^eit auf alien Gebieten neu-
gebarend sein? Soilten nicht aufgepeitschte Mensdien gerade eine
Wohnstatte ihrer Herkommlichkeit besonders lieben, einem neuerungs-
besessnem Aufenthalt, dem sie sich schidcsalsartig ausgeliefert fQhlten,
unbedingt vorziehen? Sollte nicht Kunst gerade letzt eine Sendung
zur beruhigenden Gberlieferung Qbemehmen konnen! Einer schnell-
dahinlebenden Zeit eine letzte Kunst: letzte im Sinne von Ewig~
keitswittern .
Diesen Standpunkt vertrete ich eigentlich vollauf: aber idi bin
trotzdem beunruhigt, weil uns der Simultanismus erfaSt hat. Aller*
dings versagt er in der Baukunst noch vollstandig. So wenden wir
uns zur Bildhauerei und Malerei, seinem ungefahrlidieren Kampf-
gebiet Folgendes sdiidce ich voraus: Simultanitat ist unser gefahr-
licher Reichtum, der Charakter ist Expressionismus !
T Be odor DduBfer ■ Simuftanitdt 117
WWW//#W////////W/W///////W/////WW////////##///////////#////W///JW//W//iMWWMfWW
Man kann zugleidh erhoben sein und sdiimpfen, loben und beinahe
die Hoffnungslosigkeit als das Beste ansehen. Die simultanistisdie
Gberfulle von Gelerntem, nur fluditig Aneigenbarem, fuhrt zu Ab-
straktionen, nervischen Erkenntlidikeitszeichen mehr als zu erschopfen-
demWissen, Eingeweihtsein. Wir tragen ganze Namenregister her-
um, audi lieber auf den Tastorganen, als im GroBhim: hinter jedem
Namen eine Widitigkeit, oft ganz winzig, aber do<b stenogramma-
tisch in uns eingeselzt, versponnen. Bin Impresslonismus im Geistigen?
Kenntnisse sind nidit mehr Pfeiler unsrer Kultur: wir spielen damit,
setzen sie nadi dem Sdionheitsgefuhl willkurlidi, aber eigenrhythmisdi
ein: wir barodcisieren. Die Wirkung nadi auflen ist so gering/ bauen
wir unsre Innenraume aus/ Treppenhallen braucben wir: die neuen
Erlebnisse sollen bequem in unsre Empfangsraume emporsteigen
.konnen. Wir erwarten sie in der Bibliothek. Der erste Barockbau
war Michelangelos Laurentiana. Barock: wir waren uberall. Wo der
Schnellzug uns nidit hlngelangen lieB, kerbten wir uns dodi ein: die
besten Wiedergaben stehen zur Verfugung.
Barock: Petersplatz Palmira, Borromini Petra, Bernini Timgad, Fon-
tana Trevi Baalbeck, Sant Andrea delle Fratle Heliopolis. Die Jahr-
hunderte dazwisdien sind versunken: wie sollten sie auch nidit ver-
schwinden, wir haben doth den Raum uberwunden. »Mon ame est
triste, helas, et j'ai lu tous les livres« kennzeidmet Mallarm^.
Wir, die wir die Verantwortung in der Kunst tragen, ziehen durch
unsre verbauten, in Sdiutt gelegten Stadte und suchen nach ver-
sdionten Winkeln, sdiliefien Augen und Ohren streckenlang, bis wir
zu einer versteckten anheimelnden Stelle kommen, fireuen uns plotz-
lich uber etwas Neues, das verspricht, und dabei vergessen wir ab-
sidididh was uns beleldigt hat, sdiludten hinunter, ubersehen, sind
einsichtig, nehmen mit in Kauf: Einheit finden wir ja nidit mehr.
Aber einzelnes lieben, hegen wir inbrunstig, zittern um seinen Fort-
bestand, sind simultan bei allerhand ahnlichem, das raumlich entlegen
ist, und wir glauben nodi an eine Einheit. So haben die Grunder-
jahre das simultanistisdie Empfinden gefordert.
Oder man ist ein unbeirrbarer Museumsbesucher. Man erinnert
sich audi der Bilder, bevor sie restauriert, gewasdien und ladciert
waren. Triibsinnige Betraditungen ! Aber schlieBIich: einige blieben
118 % 'Btodor DduSfer • Stmuftanitdt
bisher unberfihrt. Sogar von den groflten Meistem. Doth nein: da
ist wieder eins aus dem Rahmen gehoben: leb wohl, auf Nirnmer-
wiedersehen! Aber sdiliefilich, es hilft nidits: irgendein Eckdien wird
fibersehen, verschont bleiben! Rembrandt: bier nodi Spuren von La-
sur/ evQtjxa, das, um was sich das Genie am meisten abmGhte, ist
nodi sporadisdi vorhanden. Sogar ein van Dyck hat zufallig in dieser
Galerie nodi seine vomehme Eleganz. Wie muO dieser Tizian herr-
lidi gewesen sein! Was war einmal Rubens! Auf zwanzig Bildem
nodi so viel Stelien ubrig, dad man sidi ein Bild von ihm madien
kann. Hier dieser unbekannte Venezianer: nur nicht verraten, dad
man weid, wer es ist, sonst sieht man das berQhmte Gemalde als
Untermalung wieder. Nun ein Trost, ein groder: das Museum ist
dazu da, dad die aite Kunst versdiwinde. Foiglich wird es eine neue
geben! Und in Cincinnati wird man dereinst den letzten deutsdhen
Meister entdedcen, der nidit verhausert ist. Jubel und Wehmut,
frQhere Gesdilediter kannten euch nicht in so verheidungsvoHer Ver-
quickung!
Wir, in denen die Elemente, die der neue Stil zusammenfassen
wird, in Gahrung sind, bleiben selbstverstandlich die wichtigsten. Aber
sehen wir audh auf breitere Kreise, die uns einst verstehen werden.
Die vielseitige Beschaftigung mit interessanten Dingen, sadigemade
Erfullung einer Brotpflicht, ohne eigentliche Vorliebe zum Beruf, die
LektOre von Zeitungen versdiiedener Sdiattierungen, Kenntnis leben*
der und toter Spradien, alles das veranladt simultanistisdie Elastizi-
tat. Dazu reist man sehr viel, lebt der Wissensdiaft und bleibt da-
bei unbeirrbar glaubig, erfQlIt andrerseits als Sozialist vollkommen
seine Militarobliegenheiten : alles das ist im Grunde ausgesprodien
neuzeitlidi.
Sdiliefien wir mit psythologischen Erlauterungen des modemen
Phanomens ab. Simultanismus ist ein Zustand: das widitigste Ele-
ment fGr die grofizQgig kQnfrige Horizontale. Wir werden breitspurig,
gesdhwind, gesdimeidig, empfanglich fur EinflQsse und Eingebungen
bleiben. Der Wille zum Stil, der sdion vorhanden ist, wird diese
Unterlage bestatigen, festlegen. Von den erzielten Ergebnissen je-
doth an andrer Stelle.
Ein paar Zeilen Gesdiichtliches: die frfihesten Schopfungen, die wir
Theodor DduSfer • Simuftanitdt
119
heute simultanistisch ncnnen mogen, gehen wahrscheinlich auf Delaunay
zuruck. Das erste Bild, das sidi »Simuitane Visionen* nannte, ist
von Umberto Boccioni, der somit das Wort zuerst in dieser Auf-
fassung gebraucht hat. Es sollte eine Feier der Geschwindigkeit, des
modernen GroBstadtbetriebes, einen neuen Fieberzustand, erweckt
dutch die wissenschaftfichen Errungenschaften, zusammenfassend be-
zeichnen. Simultanitat, heifit es bald darauf in einem Futuristenmani-
fest, ist die Bedingung, unter der die verschiedenen Elemente, die
den Dynamismus ausmachen, in Erscheinung treten.
Marinetti schrieb darauf eine Abhandlung uber Simultanitat in der
Dichtung. Wir brechen ab.
Richard Wagners Ideal vom Zusammengehen von gesungenem
Drama, Orchester und Plastik bedeutet den entscheidenden Schritt im
Sinne der Simultanitat. Der Futurist Luigi Russolo sieht in der
Musik uberhaupt ein Prinzip der Simultanitat, das er ganz er-
schliefien will.
Moglicherweise wird ein bewegter Stil zuletzt in der Baukunst
durchbrechen : damit hat's auch keine Eile. Im Gegenteil, lassen wir
die klassizistische Richtung ruhig Oberhand gewinnen: vor allem tut
Gesundung, Beruhigung not. Freilich, etwas wie Kantenbarodc hangt
langst in der Luft: was wird man dereinst noch in Eisenbeton giefien!
Die Phantastik mag kommen, aber erst wenn sie, weil ihr Stil bereits
vorhanden, selbstverstandlich emporraketen und sich abstrakt verblat-
tern kann.
Ein gotisches Element mag immer bei uns zugegen sein, oft halt
man aber fur gotisch, was viel eher barock ist. Jeder sollte sich seibst
darin einer Prufung unterziehen: am besten nimmt man Bucher von
Gurlitt, von Wolfflin oder Riegl vor. Eine Klarung ist da sehr rat-
sam: gegen Barodc besteht vielfach ein hergebrachter oder auch ge-
dankenloser Widerwille, der unberechtigt ist. Leider sind gerade die
Jungsten in diesem Vorurteil befangen.
Selbstredend sind Bezeichnungen wie gotisch und barock auch hier
nur vorlaufige Hilfsausdriicke. Der neue Stil ist zwar im Keimen,
aber noth nicht da/ wir konnen daher bloB annahemd mit gelaufigen
Worten kennzeichnen, was wir meinen. So gleicht man den Eltem,
die schon vor der Geburt des erwarteten Kindes streiten, welchen
120
UBeodor DauBfer • Simuftanitat
Namen es bekommen soil. Augenblicklidi sind Simultanitat, Futuris-
mus, Expressionismus am haufigsten im Umlauf.
Wir hoffen zuversidttlich auf cin starkes deutsdies Element im kunf—
tigen Kufturwerden, besonders in der Baukunst. Die Vorarbeit ist
aber in der Bildhauerei und Malerei geleistet worden, und zwar
hauptsachlich in Frankreid).
★
Wenn wir zu Anfang des Aufsatzes sagen: Stil ist Sdiicksal, so
war das in keinem fatalistisdten Sinn gemeint. Vom Simultanismus
wollen wir nodimals betonen, daft er ein unabwendbarer Zustand
ist/ nadi diesen beiden Festlegungen konnen wir moderne Folge-
rungen ziehen. Es ist Kulturarbeit, sogar die tristen, unwiirdigen
Elemente unter Menschen aufzubrauchen, zu verwerten. Kunst kann
geradezu Erloserin sein: eine Schmach der Seele, das Charakter-
widrige in jeder Zeit mufl schopferisdi aufgesogen, erfinderiscb empor-
gegipfelt werden. Niemals wie heute soil ein Stil auf gefahrvoller
unsidierer Grundlage Notwendigkeiten in Begeisterung ubertragen,
Zusammenwirkendes emporgiebeln lassen. Was jemals bestand, alles
Neuhinzugekommene verlangt es, in Mensdienhand ein einziges Er-
gebnis zu werden. So kann den Eklektizismus hochstens der An-
standigkeit wegen bei so sdiwerer Aufgabe als vorlaufig hingenommen
werden. Uns sind aber Gesamtpragungen besdiieden. Urwudisige Ab-
straktionen werden gen Himmel gotisicen, seltsam pflanzlidi, geistig
erleuchtet die Welt besamen. Aus dem gleichen Gewadis werden
barockere Blatter unsre Heimstatten besrhatten und treu und freund-
lich bis in die Stuben Gesammeltheiten fadieln. Also, icb sage: die
gleiche Pflanze hat versdiiedene Ausdruckswirklidikeiten.
Der kuhnste Besdireiter auf solchen Wagnispfaden war im vorigen
Jahrhundert Honor£ Daumier. Der ganze Naturalismus ist die see-
lisdhe Steigerung aus eigenem Elementaren geworden,Emporsdhwingen
ohne Ruckwartsgriffe in verstaubten Krimskrams. Selbst die Roman-
tik in seinem Don Quidiote bleibt voll von Erdgeruch in ihrer her-
vorsteilenden Mondhaftigkeit. Daumier glaubt an die Sancho-Tragik.
Sein Stil knauft sich im Ratapoil wirblcrisdi zusammen.
Z "Beodor DduBfer • 5 imu ft a nit at 121
W r r
Rodins Balzac wurde nidit aufgestellt, er wartet nod) in Gips,
unter einem Vorhang, im Atelier von Meudon. Seine Existenz ist
aber eine hilfireidie Tatsadie. Er wurde bereits der Traum der ab-
sonderlichen Platze, das Gespenst der StraBen, der panisdie Schreck
der Parkeinsamkeiten vorbeirasender GroBstadte. Denn die Waren-
hauserkarawane steht nidit mehr an einem Fledt. Der versteckte
Gipsklotz wirkt bis hierher. Er wird auf einmal als steinemer Gast
unter uns ersdieinen.
Gfossen
GLO
Die drei
fetzten Briefe an einen Toten.
I.
I A begreife niAt, warum die wahren
DeutsAen noA niAt dagcgcn protestierten,
dab die AlldeutsAen siA AlldeutsAe
nennen. SiesinddoA soundeutsA! NiAts
ist doA bislang undeutsAer gewesen, als
UngedankliAkeit und HoAmut. Und wel-
Aes DeutsAtum, iA bitte diA, haben diese
allbetriebsamen Leute binter siA? Auf
welAe Tradition dfirfen si A diese plotz-
liAen Emporkommlinge berufen, die niAts
sind , wie eine ausgefallene Generation,
Ahnen und Urenkel in cinem, Insufaner
ohne die EntsAuldigung, dab sie auf einer
Insel wohnen, Anabaptisten, die ihre Wie-
dergeburt feiern? Obertont hier etwa niAt
wie einst das wilde GesArei einer kleinen,
aber verderbliAen Sekte? 1st dies etwa
niAt ein und dieselbe Welt? Fallt je etwas
aus ihr beraus? Und sAleppen wir uns
niAt, noA immer, mit dem Agens ver-
flossener Irrtfimer, fiber welAe siA dann
immer die NaAwelt so erbaben fuhlt, dab
sie ihr einen unerklarliAen Wabnsinn
dfinken? Ob, iA weiB sehr wohl, was man
fiber kurz oder lang von den AfldeutsAen
sagen wird, aber es hindert gar niAt, dab
sie heute die Unbesonnenen verwirren
dfirfen, und dab ibnen ein zu ho Aster
iSEN
Vervollkommnung berufenes Volk es ver-
dankt, dab es verkannt und ungeliebt ist
wie nur eins. Und keines ist doA von so
weitem Flug, wenn auA keines so be-
sAwert. Es ist das geistigste und geist-
verlassenste, das potenzieH hoAste, das
effektiv gefahrdeste, der Heimgarten aller
Gegensatze, in welAem die blaue Blume
tiefer aufleuAtet, zugleiA wilder fiber-
wuAert steht, als irgendwo. Mit groberem
Ernst, als dieses fiberduldsame Volk bat
keines die Parole von der GleiAheit, Frei-
heit und BrfiderliAkeit, die seine stfirmi-
sAeren Bruder pragten, zu Taten aufge-
griffen/ keines war so getragen von dem
Geffihl, dab der eigene NiedersAlag, die
eigenen Vcrkommenen, das eigene Ge-
sindel, der eigene Pobel . . . zugleiA die
eigene SAmaA einer Nation umfabt/ und
sAritt es da niAt sAon gerade darauf aus,
die Armut aus seinem BereiAe zu ver-
bannen und die Entwfirdigung der Nic-
drigen niAt mehr zu dulden? Auf eine
Sanierung naA dieser Seite bin so be-
daAt, dab es andere Dinge fibersah, wo
andere Augen geubteren Blickes gar auf-
merksam naA den WetterzeiAen sAauten
und siA vorsahen, damit, wenn der ge-
furAtete Sturm siA entfesseln sollte in-
mitten der Luft, die sie entzfinden halfen,
niAt sie die Inkriminierten, niAt auf sie
das Odium fallen, niAt sie: Feuer! son-
Gfossen
123
dcrn: *Wir sind es nidit gewesen !« rufcn
durften.
Idb tadlc sic darum nidit! Es ist nur
redit zu wissen, was die Gcstc wert ist,
und man ist der Sdileditere nidit, weil
man der Gerissenere ist.
Doch um so bedeutsamer bleibt, daft
kraft seiner stetig sidi veredelnden Arbeiter-
bevolkerung und eines Bauernstandes, der
vielfadi eine Adelsklasse fQr sicfi bildet,
das pofitisdi unreifste Volk dennodi in
gewisser Hinsicht das demokratischste ge-
worden war/ denn wenn es audi keinen
Konig hingerichtet hat, so ware es dafflr
gegen ein » East-End* schon lange in Auf-
ruhr. Es wiirde rebellieren, bevor cs sich,
wie das herrische London, eine ganze Stadt
organisierter Slums, organisierten Ver-
brechertums, organisierter Elender — britisdi
subjects: audi sie — an die marmornen
Flanken schmieden liefie/ oder bevor es,
wie das sdiimmernde, ewig holdselige Paris
so finster umgurtet stunde, dafi nadits die
Apadien — Franzosen : audi sie — Wolfen
gleich das Innere der Stadt wie ein feind-
liches Lager besdilidien. Denn sein Wohl-
stand kam den Enterbten weiter entgegen,
in keinetn Lande war die Armut so be-
dingt,nirgends hatte sidi der cinzelneHand-
werker so individualisiert, seine Bildung
so zu heben vermocht und so menschen-
wurdig gewohnt.
Und von einem soldien Volk hat jene
kleine, alien vemunftigen Deutsdien hochst
fatale Sekte ein seelenloses Plakat hinaus-
gegeben, das nun als typisch gilt, wahrend
es die Verneinung alles dessen begreift,
was deutsches GemQt und deutsdier Him-
mel ist. So haben diese plumpen Parforce-
Germanisierer sidi vermessen, in Germa-
niens lauterem Angesicht freche, fremde,
widerliche ZOge einzuzeidmen , die es bis
zur Unkenntlidikeit entstellen. An euren
FrQchten werde idi eudi erkennen: »Zehn
eiserne Gebote* heifit eine BrosdiOre,
die ganz nach Art und Stil der Wiedcr-
taufer, im Ton der Bibelparaphrase ge-
halten, ein Exempel fur kiinftige Psydiiater
herstellt: »Jene reden von Mitleid und
S<honung, ihr aber sollt eure Feinde ver-
niditenl Krieger, werdet hart!* lehrt sie,
um dann in folgender Saturnalie auszu-
klingen:
»Wir lieben den Krieg . . .
Wir danken dem Krieg . . .
Wir werden Qber den Krieg dahinbrausen
wie der Marzensturm!*
Dies im Jahre 1915 nadi Christi Geburt.
Ja, wer vor Ausbruch dieses Krieges
starb wie du, der ist nodi mit der Illu-
sion gegangen, dafi gewisse AusbrQdic
aufierhalb der Umzaunung eines Narren-
hauses nidit mehr moglich seien. Statt
dessen fangen jetzt sdion Zahnarzte und
Gouvernanten zu delirieren an, und dein
Tapezierer wurde Qber Nadit von dem
Irrsinn angestedet.
Wer sie dodi komisdi nehmen dGrfte,
diese Panslavisten, Pangermanisten, Im-
perialistcn, Nationalisten usw. ! Alles Ana-
baptisten redivivi, die samt und sonders
auf ein Ziel losrennen, das langst hioter
uns liegt. Trostlos ladierliches Schauspiell
Oh der Toren, welche da wahnen, christ-
lidie Nationen seien umzubringen als wie
Phrygier oder Babylonier! Und die es
wagen, sidi weiterhin Christen zu nennen,
wahrend sie dodi von dem Niederringen
zwisdien diristlichen Nationen reden. Denn
wie verloren ist an ihnen, und wie un-
vorhanden, wie ausgeschlossen sind sie von
der Tat, welche die Zeitredinung unseres
Planeten in zwei Halften spaltete! Nidit
einmal das eine, das einzige IndieAugen-
Springende, was unsere Zeit vor der An-
tike voraus hat, nehmen sie wahr: dafi
9 voi. m/i
/
///;
7777
/ /
Gfosstn
der PulssAlag der National ein andcrcr
geworden ist/ dafi, wo solAe frfiher unter-
gingen, sic sich hcutc wicdcr aufriAten,
gencsen, siA cmeuem konnen*)/ daB cs
in dem alten verjahrten Sinn cine Deka-
denz dcr Volker gar niAt rnehr gibt, und
daB allcs Unvemunft ist, was sic von
Germanen contra Romanen, Romanen
contra Gcrmancn bin und her fiber rufen,
daB Ac Gcfabr ganz anders bciBt: Gcr-
mancn ohne Romanen, Romanen ohne
Gcrmancn, wcil ihnen auBcrhalb ihrer Ge-
meins A aft gleiAerweiie kcinc aufstcigcnde
Linic mchr bevorsteht, sondem sic glciAcr-
weise von dcr cigencn Erffillung siA ent-
fernen mfissen.
Du weifit, wic ungch5rt iA Aesc kfinftige
Binscnwahrhcit scit cl f jahren in die Welt
hinausrufe: Dcuts Aland vcrniAtcn hiefle
si A selbst vcrniAtcn/ denn mit ihm »fielc
die Wcltc. Es ist tausendfaA wahr. Aber
our an den gesunden Wescnsclcmentcn
dcs »dckadcntcn« FrankreiA wird das *ge-
sundc< Dcuts A land mit dcr gefehrliAcn
und cntstellcndcn Bcule dcs AlIdeutsA-
turns mitten in dem gdttliAen Antlitz ge-
nesen.
II.
Es ist niAt wic zu Anfeng, da mir Ac
Gcfallcncn so oft den besseren Tcil vor-
weg zu nehmen sAicnen. Die jetzt noA
fallen, beklagc iA. Wer den Krieg bis
hierher mit crlcbtc, fingt langsam an, den
Kopf aufzuriAten, ob dcr Himmel si A
noA auf keiner Seite liAtet. SAon ringt
cr um einc RiAtsAnur inmitten des Wirr-
*> Burfchards Worte ans seiner tKtdtar dcr
Remittance*, die kb sAon to lange dtkrc, aind
nie to beherzlgenrwert gevesen: »Das sdkdnbar
krloktie Volk kaea der Oetnndhdt nahe seta, and
da tdieinbar gesundes Volk kana eiaen mScbtif
enrwkfcdten Todctkeim in ddk bergea, des ertt die
Ocfahr as des Tag briogt*
sals, abseits von jenen, Ac noA Kin- und
herrennen .mit dem GesArei, wer ihn
cntfcsscltc. AuA cin bcraufzichendcs Gc-
witter ist bis zuletzt etwas Ungcwisses.
Dcr Wind kana Ae Wolken ausdnander
trdben / das Gcwittcr kann vorfibcrzichcn.
DoA briAt cs los, so darf mit Fug be-
hauptet werden, daB es kommen muBtc,
und c ben so wird es niAt einen, sondem
vide Grfinde daffir geben, daB cs si A
entlud. Und ebenso, denke iA mir, werden
ffir die NaA welt dicUrbcbcr dieses Krieges
vor dessen vielverz weigte Ursa Aen zurQck-
treten, und Aese wiederam werden wdter
zurOdtrdAen, als Cromwell und der 30-
jahrige Krieg, Peter der GroBe und die
Borgias. Und seinen unzahligen Ursa Aen
entspreAen unzlhlige GesiAtspunkte. Von
Aesem GesiAtspunkte aus gesehen war
er eminent vermeidliA, von jenem unver-
meidliA/ bctraAtet ihn von dieser Wolkc
aus, und er war so vermeidliA ! noA ho her,
und er muBte siA noA einmal <zum letzten
Mali) unweigcrliA ergeben.
Denn alle Biologic in Ehren: aber die-
jenigen <und sie sind noA zahlreiA), welAe
da wirkliA vermdnen, solAe Kriege, die
nur deshalb cinen solAcn HaB auslosen,
wdl sic Brudcrkricge gcworden sind, solAc
Kriege seien an siA etwas zu Bejahendes,
fernerhin Notwendiges, und Ae Zust2nde,
das Chaos, das sie sAaftcn, Ae sden in
der Ordnung, eine Institution gleiAsam,
die Are RiAtigkcit habe und in dcr Natur
der Dinge liege wie cin Erdbcben oder
dn Orkan, die Volker selbst hiermit nur
dem blinden Element oder der reiBenden
Tierwdt vergleiAbar, Ac willcnlos ist ~
diese Leute sollten, fells sie weiterhin in
der Welt entsAdden dfirfen, do A we-
nigstens so viel Logik aufbringen, daB sic
das StraBburgcr Mfinster wie den Kolner
Dorn, St. Pauls Cathedral wie die Peters-
G fosse h
125
fcirdie a Is vollkominen f 5 (her I i die Objekte
proklamieren , das Wort Christentum als
das einztg wahre Fremdwort ausmerzen,
odor wenfgstens soil ten sie cine Doktrin,
von weldier nidit die alierleiseste Notiz
genommen wird, mcht mit so fludiwGrdiger
Stirn dem Sinn nach nod) aufrecfct halten,
dafi sie gar nodi in den Geriditsstuben
mit ihren Sinnbildern hantieren und auf
das sdiworen, worauf sie dodi im vollsten
Sinne des Wortes pfeifen.
Doth, was sage idi ? Sind nidit unter eben
diesen Zeidien die wGstesten Greuel in
der Welt entbrannt? Und hat nidit eine
Wahrheit zu urn so widerlichercn Aus-
wfldisen gefGhrt, je erhabener sie war?
Was Wunder, daB in einer Christenheit,
in weldier die Inquisition moglidi war/
dieser Krieg sidi nodi ereignet! Denn ist
dies nidit ein und dieselbe Welt? Fallt
jc etwas aus ihr heraus? }a, wir bedaditen
es nidit!
Jetzt aber kann man der Vcrwun-
deten und der Gefangenen nidht denken,
obne daB sidi das Mitgefflhl audi Jenen
Vereinzelten zuwendet/ deren es heute in
alien Landem gibt, die von dem Strom
der Gedankenlosigkeit/ der alles umwarf,
nidit fortgerissen wurden, sondern von
ihrer brennenden Erkenntnis, wie inEinzel-
halt verwiesen, affein und abgetrennt/ ihn
Gberragen. Man sdircibt gewifi nidit ohne
groBe innere Pcin Sitze nieder, wie ids
sie heute in der >Facfcelc finde: »Der
kriegerisdie Zustand sdieint den geistigen
auf das Niveau der Kinderstube herab-
zudrGdcen«/ und man stimmt nidit anders
als bedrGdcten Herzens dem Autor bel. Aber
nidit linger bin ids des Verfassers Meinung
(was ni<ht gesdiieht, urn ihm entgegenzu-
kommen, der ein paar Seiten we iter die
AuBerang zu Drucke bringt: *Eine Frau
soli nidit einmal meiner Meinung sein.
gesefaweige denn ihrer«)/ nidit (anger teile
idi seine Meinung/ wenn er auf die Frage,
die er aufwirft: »Was kann durdi den
Weltkrieg entsdiieden werden ?« sidi selbst
zur Antwort gibt: »Ni<ht mehr, als daB
das Christentum zu schwadi war, es zu
verhindernc. Ja, idi maBe mir die Meinung
an, daB er da wirklidi mit einer unzu-
reidienden Leudite an das Problem her an-
tritt. Das Christentum war nidit zu schwadi,
sondern zu stark, und die Mensdiheit
evoluiert der art langsam und in so ver-
zweifelt weiten Kurven um dies Gestim,
daB ihr sidi trotzdem vollziehender Auf-
sdiwung/Votlends zurStunde einer Sonnen-
finsternis wie der heutigen, dem freien
Auge sidi v5llig entziehen muB. Aber der
Gewalt des Christentums tut die mensdi-
lidie HinfSHigkeit keinen Abbruch/ ja un-
erbittliditr kdnnte es nidit wider uns
tr iumphieren , dafftr, daB wir statt seiner
cine irtindisdie, cine polnisdie, eine elsafi-
lothringisdie Frage als unersdiGtterlidie
Pfeiler setzten und deren Last — wire
auch im Vergleidi zu ihr jedes Jodi sGB
und |edc BGrde leidit — folgerichtig auf
uns nahmen, als seien sie, die doth im
Lauf der Jahrzehnte zerrinnen und ver-
wehen werden wie nie Gewesenes, der
Dinge letztes und EndgQltiges!
Besserund Gberlegter ist es, durdi das Al-
beme so wenig wie durdi das Abgeschmacfcte
irre zu werden, ja selbst durdi das Ekle und
das SdieuBlidie nidit, das giftigen Sdiwam-
men gleidi den Katholizismus Gberwudis,
sidi an ihm festfraB und tief unter sidi
begrub, sondern an dessen goldenem Be-
stand festzuhalten, in weiten Kunstbdgen
der BerGhrung mit ail seinen unberufenen
Vertretern bedachtsam auszuweichen, um?
in der Vermutuog nidit gestort zu wer-
den, daB, wo einmal dieser viel miB-
brauchte Kult zu seinem adaquaten Aus-
126 Gfossen
,vr / / / / // r / / / / • / . . / / // . / , / # /. i , • - / . /, j m I // / - . I / a +
drudc gelangt, cine H6he dcs Daseins
sids ergibt, die alles anderc welt unter
sids l5Bt, soldi e Grkorene aber entspre-
<bend seltener nods wie in der Kunst vor-
kommen, weil sie wciter Abgelegenes um-
spannen und wieder zum Ausgleids bringen
mfissen, daB, wo diesc Wage aber still-
halt, die Wfirde des Gedankens nidst nur
unbesdsadet bleibt, sondern unsagbare
Sdswingungen erfShrt Nidst langer von
dem Wortlidsen, dem Absurden, nods dem
Betbrfiderisdsen genarrt/ vielmehr auf das
In Platons Sinne Ballformige erpidit, viel-
mehr dem Verstedrten, Versdilcicrten auf-
lauemd, dringt ein soldses Denken trium-
phierend zum Profanen vor und vindiziert
es hinzu. Nun erst dem Verhaltenen, Ent-
zogenen, dem Eingeraupten, in Perspektiven
Fortgetragenen und Flfidstigen auf der
Spur, tut sids ihm dort das ewig Mutie-
rcnde, Ebbc und Flut, der Ozean, das
Planctare auf, wo andere, von der Enge
abgestoBen, verzagen und vcrzidsten. —
DaB heute/ wo die Welt wie nie zuvor
zu einem Jammertal versank, daB sids ihr
da zum ersten Male die Umrisse der Ge-
stalt des Hirtcn vollgfiltig umsdirieben/ ist
diese Tatsadse keiner Deutung wert? Nidst
Feind vom Feinde/ ni<ht ihre Konfessionen
sdieidend/ ist Gleidsgewidst, das hods und
einsam fiber die gebeugten Volker ragt,
bei ihm allein. Ist dies kein Innehalten
wert? Die wahre Fahne, die alle umwallt,
^ntrollte nur er. Und wer, Jud oder Heide/
spottet heute diese Hirten ohne Herde und
dennodi Hirten/ wie nie zuvor/ nie zuvor
so gebieterischen und so weithin deutlidsen
Reliefs, von der Wahrheit selbst gleidssam
emporgehalten und hinausgestellt, aus der
Ohnmadst erst geschaffen, wie es sdseint . . .
Oder soil ids es in Wahrungen aus-
drficken, da sie es dods sind, welche diese
Zz it in ihre Babnen warfen? Nun, wie zwei
Mfinzen, ffir was sie gelten und nur auf
ihren Klang hin und ohne Kommentar
werfe ids sie hin: Wilson und Benedikt
Denn wer horte nidst von selbst die sdswere,
gewaltige vor der hohten und hinfalligen
heraus? Wen ersdiredfte da nidst der Unter-
scfaied? Sogar Amerikaner. So viel Phantasie
haben sogar sie.
Ncin, Herr Kraus, das war gedankenlos !
Qberhaupt — um von den Mannern zu
reden meine ids, daB gegenwartig kein
Grand vorliegt zu ihrer Qberhebung. Ids
bin nie eine Frauen reditlerin gewesen und
dieser Bewegung gegenfiber stets passiv
geblieben/ aber ids muB sdson sagen: daB
»nads vielen Dezennien eines aussdslieBlidsen
Minnerregiments ein derartig voilendeter
Wirrwarr zutage gefordert wurde, gibt dods
zu denken. Man mddste da wirklich mcincn,
daB, wenn statt der Herren Sonnino,
Berdstold, Poincar£, Bfilow, Churdsill,
Iswolski usw. die Damen <ids nenne keine
beliebigen, sondern soldse, die sids sdson
crprobten, die es wirklich gegeben hat, die
mithin irgendwie weiter vorhanden sind),
wenn statt ihrer Damen wie die Mark-
grSfin von Bayreuth, Maria Theresia,
Katharina II. und die von Siena, Julie de
Lespinasse und auds die alte Queen, daB
wenn soldse Frauen mehr im Vorder-
grunde gestanden hStten, statt ausgescbaltet
zu sein, mit zu bestimmen, statt zu sdswei-
gen gehabt hatten, daB dann . . . — ■ es l5Bt
sich nidst s beweisen.
Fest steht nur, daB die Dinge, wie sie
ohne ihr Zutun und in dem selbstherr-
lidsen Mannerstaat erwudssen, unmdglids
nods irger oder nods verfahrener sein
konnten, und daB bei einem soldsen Er-
gebnis ihrer Regiekunst, wie wir es heute
erleben mfissen, die abgeworfene Beschei-
denheit wieder in ihre Rechte treten konnte.
Man dfirlte, meine ids, sids sogar darauf
G fosse n
127
besinnen, daB die Frauen, wo immer sie
zur Hcrrscberrolle gelangten, sdion von
der alten Dido ber sidh fast immer glanzend
bewahrten und groBe Regentinnen waren,
sei es, weil das Regieren gar niAt so sAwer
ist, oder, da es erwiesenermaBen so auBer*
ordentliA schwer ist, veil sie vielleiAt zu
regieren berufen sind, weil dies vieHcicbt
(hort! hort!) sogar ihre Spezialitat ist. Es
gef&llt mir an den Englandern, daB sie
einem Impuis der Selbsteinkehr foigend,
mitten in die politisAe Debacle hinein, als
die ersten zur Berufung des ersten weib*
liAen Diplomaten siA entsAlossen haben.
Bci uns dagegen heiBt es jetzt, die Un*
politisAcn muBten politisiert werden, aber
dieser Ruf, so bereAtigt er auA ist, er*
geht so spat, daB auA sAon die Stunde
far eine Selbsteinkehr der Politik selbst
gesAlagen hat. Denn was diese noA niAt
wahrhaben wollte, war langst in das Be*
wufltsein der Volker eingedrungen. Ein
Beweis dafar sind gerade jene jungsten
Volker, die in letzter Stunde auf den SAau*
platz der europaisAen GesAiAte traten.
Rakowsky, der groBe Vork amp fer fur cinen
Balkanbund, crblickte die Gewahr fur eine
nationalc Befreiung und Vereinigung bei
den Balkan vo 1 kern und niAt bei den
Balkan staa ten — und 10 Jahre spater,
1874, sArieb Karawelow: »Die Haupt*
ursaAe der bisherigen Sklaverei ist die, daB
die dixistliAen Nationen auf der Balkan*
halbinsel, sowie alle andern Volker und
Nationen betrogen sind, weil sie Hilfe,
Unterstutzung und Heil von den europ^i*
sAen Kabinetten erwarteten, und am
meisten von RuBlandc und Botjow: »Wenn
Ae Rcgierung eines jeden Volkes den Aus*
druck seines eigenen Willens und seiner
Bestrebungen gewesen ware, so hatten
selbstverstandliASerbien, GrieAenland und
Rumanien, sowie Montenegro langst ihre
Staatsgrenzen ubersAritten und den Bui*
garen geholfen — aber, wie es sAeint,
haben die Regierungen dieser Staaten siA
bisher mit niAts anderem befaBr, als mit
der NaAahmung der klugen Devise eines
MetterniA: ^Divide et imperalc Und siA
gleiAerweise gegen den Panhellenismus
GrieAenlands wie gegen die groBserbisAen
Ideen wendend klagt er diese Staaten an,
daB sie der Idee eines brflderliAen freien
sudslavisAen Bundes entgegen seien. Die
Neulinge, Ae das sArieben, nannte man
Revolutionare. Und warum wollten sie das
UnmogliAe? GewiB niAt, weil es unmog*
liA war, sondern weil Ae GroBmaAte ihr
Prestige von so rationellen Bewegungen
mit ReAt bedroht sahen, sie also nieder*
hielten und ihren vorAristliAen Kurs bei*
behaltend, das Dogma von einem Balkan*
Wetterwinkel aufstellten und die Volker
mit weiser Miene dahin steuerten, wo sie
heute angelangt sind.
Sie waren ja, diese Volker, wo sie nur
konnten, vor AusbruA dieses Krieges
zueinander unterwegs : Die DeutsAen naA
der Provence, die Franzosinnen mit Kisten
und SAaAteln naAMunAen und Bayreuth,
Autos, Qberfullte Sleepings,Wanderer, wo*
bin man sah, und statt der Salons, iA
sagte es sAon, hatten die Bahnhdfe ihre
»Habituesc. Wer ein Haus besaB, war von
dem einen WunsA beseelt, es wieder los
zu werden, und nur unter den Politikern
und Kapitalisten gab es noA einen Aus*
sAuB, der es fur dringend geboten hielt,
daB Europa zu einem Spital zusammen*
breAe/ sonst war sAon das groste Zu*
einander im SAwung: ein ewiges Kommen
und Gehen/ kein Verweilen/ nirgends/ bei
niemand.
Und mit ReAt.
Herr BorAardt mit seiner, von alien
Registern gesAwellten, und do A so weit
'
Gfossen
128
ab von der Wahrheit hinorgelnden Rede,
besinne si <h doch : er traf das Redbte nidit.
O Gedankcn! seid ihr dcnn von der Welt
entflohen, seit die scbimmernden Zeppc*
line, ewig getrflbten Andenkens, Bomben
statt Passagiere durdi die Lufte fahren. A<h !
laflt micb redcn! laflt mir meine Narrcn*
freiheit ! Was kommt es auf meine Worte
an? Ich sage ja nidbts anderes, als was unsere
Kindeskinder sagen werden. Mogen wir
alle, die heute leben, zu Staub darQber
werden, ehe es sidi erfQlIt, wahr bleibt
es docb, daB die Volker, bevor sie jah und
gewaltsam auf sidi selbst zurGdcgewiesen
wurden, den Plan scbon beschritten hatten,
von wo aus ihre Wege versdilungen aus*
liefen und das Tal der Mensdiheit geweitet
stand. Wie der Flufl, der als Quelle der
Hohe entstflrzt und dann sidi Gber Blocke
und Falle quSlt und durdi finstere Scb§chte
angstet, bis er ans Licht und breiten Laufes
strahlend dem Meer entgegenstromt, wie
er da wohl zu auBerordentlidier Hohe sidi
tGrmen wGrde, wenn er vor seiner MGn*
dung gewaltsam in sein enges Bett zurGck*
gedrangt, die alten lifer wieder aufw5rts
trciben mGBte, ebenso werden die Volker,
die jah und gewaltsam auf die sdion ver*
(assene Engc zuruckfluten, gewifl lei den*
schaftlich groBe Taten verriditcn/ aber neue
Gestade sehen sie nidit, und um ihre Be*
stimmung sind sie betrogen.
Aber wer denkt nodi daran? Wie be*
zeidinend 1st es, daB fast alle, die geistig
zu dem Kriege Stellung zu nehmen ver-
suditen, unweigerlidi versagten, und dafl
nur das Wort von der *Ohnmadit der
Gedanken* ins Sdiwarze traf. Die Gleidi-
formigkeit, mit weldier die Kriegfflhren*
den das Ritornell von dem aufgezwungenen
Krieg absingen, ist nicht mchr anzuhoren.
Sogar Italien stolperte nachtrSglich mit
demselben Notenblatt herzu. Es ist das
einzig Gemeinsame zwisdien ihnen ge*
werden. Entscb(6ssen sie sidi dodi, glei*
dberweise Stellung zu nehmen wider die
eigenen Besessenen, die hinter der Zeit
einherlaufen , Gewesenes aus der Taufc
heben modi ten und durdi ihre Verblen*
dung die verrudite Falle stellen halfen,
weldie gleidierweise die Vdlkcr in diesen
rGckstandigen Krieg hineinlodcte !
Seltsam ! Inmitten des Jammers um die
hingemordeten, die vermiSten, die unge-
borgenen, die ewig um ihre Jugend be*
trogenen Sohne, in einer von RadiegefGh*
len unterminierten Welt stehen Gberall nur
die Sdiuldigen unbedroht. Es ginge nidit an,
sie zu einem Reigcn zusammenzutreiben,
cinen Reigen, den Kitdiener wohl am schick*
lichsten eroffnen wflrde. Denn mit seiner,
unseres Zeitalters so vollkommen unwflr*
digen Initiative der Konzentrationslager
hat er einen schmachvollen Zustand ge*
sdiaffen, namenlose Leiden unsdiuldiger
Mensdien inszeniert, und er ist es, weldier
durdi die Preisgabe und Verfolgung der
Wehrlosen den niedrigen Instinkten des
Pobels am meisten entgegenkam. Jcdes
Volk halt ja in Friedenszeiten die Spalten
seiner Zeitung fur die Aufzahlung der
eigenen Greueltaten und Verbrechen offen.
Mein Gedachtnis ist nicht so kurz. Audi
der Gesdiichte bleibe ich eingedenk, und
deshalb audi der Tatsadie, daB Kitdiener
einen Pobel aufreizte, fflr den gcrade in
s einem Lande die Prinzessin von Lam*
balle und dcr kleine Ludwig XVII. so un*
vergeBlich sind. Man tausdit nur Verwun*
dete, keine Verantwortlidien aus . . Weldi
toriditer Vorsdilag! Warum so toridit?
Weil er unausfGhrbar ist. Sche ich denn
das nidit ein? Aber mit alien Anzeicheo
des Blodsinns beharre ich auf meiner Frage :
Warum ist es nidit mdglich? Was ist
dann mdglidi? Nur das Unmogliche ist
also moglich : da 6 dieser glfickliche Erdteil
sicfa auftat zu dnem Sumpf von Blot und
W tin den, der das Gcmut immer tiefer
hinabzieht. Ndn, ich verstche diese Weft
nicht mehr!
III.
Man maB es schon dnmal sagen: deno
darfiber wird ernes Tages kein Zweifel
sdn, daB in dieser Zdt nur einer das
Recht auf seiner Sdte hatte, und das ist
der parteilose uod unparteiische Papst/ die
Neutralen, die sich heute gerne besser
dfinken, kdnesfalls/ abcr audi die Strei-
tenden nicht/ mogen sie sich noch so
vortrefflich halten: der fiber dem Streit
Stehende uberragt sie docb wcit, und vor*
bildlicb ist nur er.
Dieser Vorbildlicbkeit wegen balte ich
aucb stets die Erinnerung an einige Epi-
soden fest, die icb alle mit Naraen vcr-
schen und beschworen konnte.
Zum ersten: in London. Sdt 1904 fuhr
ich ziemtidb regelmaBig hinfibcr. Die Phasen
der Feindsdigkdt wahrend dieser Zeit
waren mir sehr personlich fGhlbar gewor-
den, cbenso deutlich der zuletzt einsetzende
Umschwung. So popular endlicb wic im
Fruhsommer 1914 — die Geschichte wird
es bezeugen — waren die Deutscbcn scit
einem Menschenalter nicht gewesen/ ja,
sie standen im Begriff, London im Sturme
zu erobem. Ein Deutscher, mochte er auch
zu Hause afs ein ziemlicher Pinsel gelten,
hier genoB er a priori, iediglidi weil er
Deutscher war, Anspruch auf Gedai\ken-
tiefe und Geist. So weit war man sdion.
Die wertvollste Orientierung uber die
offentliche Lage erstattete- jcderzeit Lady
C Icb kannte sic ni<bt, abcr es ge-
nugte, ihr von wcitem zuzusehen. Stets
in das allerletzte Fahrwasser getaucht,
zeigte niemand besser die Tern per atur der
elften Stunde an, ob dies nun die letzte
Geschmadcsrichtung in der Musik, der Li-
teratur oder der Mode oder abcr, vor
allem andercn, die letzte politiscbe Stro-
mung betraf. — Niemand trieb so ietden-
schaftlich mit ihr empor — und war als-
bald so gaoz von ihr erfaBt.
Am Vorabcnd meiner Abreise safi idi
im Salon meiner Freundin und erwartete
mit ihr Lady C . . . . Sie hatte ihren Be-
such angekundigt und erschien no<b vor
Mitternacbt, von Juwelen uberfunkelt, das
gel be Haar von Diamanten Gbersprfiht:
Wurf und Farbe ihres Klcides voran-
leutbtend und no<b nicht dagewesen. Ihre
scbnellen Blidce, wahrend sie spracb, be-
deuteten mir ohne Vorbehalt, daB sie aus
Neugierde gekotnmen war, und zwar
meinetwegen. Es gab kein Thema, das
sie da nicht heranzog, nichts, worfiber sic
nicht meine Meinung, mein Urteil als aus-
scblaggebenden Faktor — denn icb war fa
deutsch — zu wissen begehrte. Und was
rief sie da nicht, bevor sie, schneller als
sie gekommen, wieder entscbwirrte und ihr
Auto durch die stillgewordcne GroBvenor-
street der funften oder secbsten >party«
des Abends entgegensurrte : »Give me the
Germans!* rief sie hingerissen. *They are
the first people in the world.*
Und da ich mir noch immer in der Feme,
und wenn icb mich cine Wcilc raumlich
von den ^Germans* geschieden hatte, die-
selbe Meinung fiber si' zurfickerwarb,
stimmte ich ihr rfidchaltlos bei.
Diese ihre letzten Worte waren es auch,
welchen ich folgenden Tages gerne nach-
hing, wahrend vor mir Ahnungslosen die
englische Kuste immer weiter zurticktrat.
Schafwolkchen weideten am Himmel, und
ich sah zufrieden zu ihnen auf. Denn Gott
sei Dank ! man war endlicb vernunftig ge-
worden und die Gefahr war uberstanden.
Ich teilte meine frohen Wahmehmungen
1 30 Gfossen
einem Englander mit, den iA an Deck des
SAiffes traf und der mit den Politikem
seines Landes aufs engste verquickt und
versAwSgert war. Krieg, sagte iA, gibt
es kelnen mehr. Aber er sAOttehe den
Kopf: *Sie lassen siA tSusAen. IA sche
nirgends AnzeiAen dafQr, daft man ihn
vermeiden wird.«
NoA waren siA aber die wenigsten Leute
be wuftt, daft es ei n Sera jevo auf der Karte gab.
FGnf WoAen splter: MunAen. Bei
einem namhaften russisAen Maler lebte
dessen originelle, wenn auA unzuverlas-
sige und unkultivierbare SAwester. Eines
Tages verkraAte sie siA mit ihm, und da
es ihr an alien Mitteln, um allein weiter
zu existieren, gebraA, erklarten siA ihre
bishengen Bekannten als ihre KundsAaft,
und indem sie sozusagen eine Private
sAneiderin wurde, fuhr sie fort, gesell-
sAaftliA mit ihnen zu verkehren. Alles
ging zum besten, bis es Sommer wurde
und ihre ausstaffierten Freundinnen die
Stadt verfieften. Nunmehr saft die auf
Vorzugsbehandlung gestellte Amateur-
nSherin allein und kflmmerli A in ihrem Zim-
mer. Diesen langst vorausgesehenen Mo-
ment nahm iA wahr, um endliA auA
meinerseits etwas zu bestellen.
Als iA zur Anprobe kam, war sie niAt
zu Hause, ersAien aber gieiA darauf hoA-
geraut und federngesAmQAt direttissimo
von einem MittagssAmaus bei einem alten
russisAen Grafen. Sie legte, seitdem sie
sAneiderte, ganz besonderen Wert darauf,
auA weiterhin von ihrer GesandtsAaft
eingeladen zu werden, und der alte Graf,
der sie sehr protegierte, tat ihr immer den
Gefallen. Der Stab war diesmal sogar
vollzsihlig ersAienen, sie hatte als einzige
Dame den obersten Platz behauptet/ so
gut hatte sie es niAt alle Tage/ zerstreut,
doA um so mitteilsamer steckte sie die
Falten meincs Mantels zureAt, und wie
iA jetzt bemerkte, hatte sie »!e vin ba-
vard«. »Ah! il faut une guerre !« rief sic
plotzliA aus . . . »Oh pas maintenant: en
1915< <und berief siA auf ihren Gcwlhrs-
attaA£> »i( le faut . . . Les Allemands sont
devenus trop arrogants.c
»Vous vous trouvez bien Aez eux,<
erwiderte iA . . .
Kurz zuvor saft iA im Lesesaal eines
Pariser Hotels. I A sehe die Zeitung durA/
doA von Qbelkeit und Verzweiflung flber-
waltigt, werfe iA sie wieder hin und stflrze
in mein Zimmer hinauf. Es bllckt auf den
Fluft. Allein die weite und geliebte Stadt
wird mir zur furAterliAen Enge. Wohin
soli dieser Ton, dieses GesArei, sollen
diese hohnisAen Ausfalle und gemeinen
Drohungen, soli dieser unheilbare, unbe-
lehrbare, planmaftige DeutsAenhafi, wohin
soil er fQhren?
Wieder kurz darauf war iA in Berlin.
Bei einem Abendessen. ReAts von mir
ein Oberst, links ein Ministerialrat/ beide
sind mir fremd. Der Oberst: >Nee, die
GesAiAte dauert mir zu lange. Wenn es
heuer niAt losgeht, stulpe iA mir einen
Zylinder auf.« I A, angstliA: »Was soil
denn losgehen?« »Nun, gegen dieses gott-
verdammte, freAe Franzosenvolk.c Der
Ministerialrat, elektrisiert : »Und zahlen
sollen sie uns diesmal !« Der Oberst: »Bis
zur letzten PusteU FrohliAes Gemedter.
Warum, da er nun gekommen ist, dieser
Krieg, den tiberall noA zu viele wollten,
warum wollen sie ihn plotzliA alle niAt
gewollt haben und walzen die Verant-
wortung far diese ungeheuere Tragodie
der MitsAuldigen einander auf?
Weil sie reAt hatte, die mutige Frau
von Suttner, die vielverlaAte Friedens-
berta mit ihrer Behauptung, daft die erste
Zwangsfolge des Krieges die Lflgc sei!
Gfossen
131
*** ***** * ***** *** *********************************************************************************************************** # *********************
Mein Gott, wie sehnlich wunschte idi, die Achsel zuckten, wahrend man drauBen
daft wir, uns selber treu, den anderen Vol-
kern mit der Initiative vorangingen, den
inneren todbringenden Feind zu stellen.
Vielleicht warten sie in England nur dar-
auf, um zuzugeben, daft bei ihnen jener
Militarismus, dem sie bei uns den Garaus
machen wollcn, in Lord Kitchener, auf den
sie doch so stolz sind, in seinem subal-
temsten Glanze erstrahlt/ und daft jener
Imperialismus, den sie, wo er als Pan-
germanismus auftritt, so namenlos verab-
scheuen, in Churchill, von dem sie sich
doch regieren lieften, seinen typis<h grofi-
mauligen Vertreter fand. Gut also. Lassen
wir furs erste die Imperialisten aus dem
Spiel. Machen wir versuchsweisc nur gegen
unsere Alldeutschen Front.
Und so greife ich weiter zurude und
sehe etwas Unheilvolles und Gefahr-
liches in unserer Arroganz. Sie ist es, die
unseremVerstandnis franzosisdierWesens-
art so sehr im Wege liegt. Und sie ist
das Bedenklidie und Hinzugekommene.
Die Franzosen neigen zur Suffisancc.
Sie haben stets etwas von Kindern.
Wir nie. Das Ominose und Charak-
teristische bei gewissen Alldeutschen ist,
daft sich die Arroganz bei ihnen an
Steile der Besonnenheit behauptet und
da Turen zuschlagt, wo sonst Gedanken
waren. Von mir im Jahre 1904 geschrie-
ben, sogar gedruckt, aber naturlidi igno-
riert: »Denn in keinem Lande ist es so
unmdglkh, sich Geh5r zu verschaffen, wenn
man nicht in Amt und Wurden schon er-
graute, wie bei uns. Nur Dichtern, Schau-
spielern und Tanzern ist bei uns Jugend
bewiiligt.€ Ich bitte um Entschuldigung,
wenn ich mich schon wieder selbst zitiere.
Hatte ich aber nicht redit, wenn mir da-
mals schon vor jenen Leuten bangte, uber
die wir innerhalb des Reiches leiditsinnig
nur allzu gespannt den paar Schreiern,
wic wir sie vcrachtlich nannten, aufhorchte,
die so lange an der Hollenpforte rutteln
halfen und, wo sie einzurosten drohte, sie
wieder olten, bis sie sidi von selbst in
ihren Angeln drehte. Ja, aus meinem
Deutschtum heraus hasse ich sie, diese
Schadlir.ge, wie jene Raupen, die in ihrer
morderisdien Geschaftigkeit die Farbe des
Laubes annehmen, das sie zerfressen, und
sich nicht unterscheiden (assen von der
koniglidien Eiche, deren Tod sie berciten.
Denn ihnen danken wir es heute, daft cine
verblendete Welt mit einer HerzenskSlte
ohnegleichen den beispiellosen Kampf mit
ansiehr, den ein verkanntes Volk bestehen
muft, nur dem Griechenvolk hierin ver-
gleichbar, ja es noch uberbietend.
Jene humorlose und sonderbare Korpo-
ratlon aber, welche, den Rauberhut in die
Stirne gedruckt und den Brigantenmantel
uber die Schulter geschlagen, so furchter-
lich verspatet in der Gesdiidite aufzog,
schiebt sich heute Bismarck als Gewahrs-
mann unter: ihn, dem sie — man kann in
Anbetracht seiner eigenen unparlamenta-
rischen Ausdrucke uber diese Art von
Leuten nur ein entsprechendes drastisches
Wort gebrauchen — schon spei fatal ge-
wesen sind, als sie nodi in ihren An-
fangen steckten, weil er wohl ahnen modite,
wie sie sich auswachsen wGrden. Und in
der Tat fehlt heute nidits mehr zu ihrer
Entfaltung. Oder wird mir ein Kenner
Bismarcks entgegnen kdnnen, daft die
Art, mit welchem der und jener seine
eine ewig selbe Geste des Handschuh-
hinwerfens meistert, nach Sinn, Art und
Geschmack die des schmiegsamsteo aller
Staatsmanner sei? Wurde sich der GrGn-
der des Deutschcn Reiches heute von den
Alldeutschen nicht vielmehr boykottiert, ja.
verd^Atigt sehen, er, welAer naA dem
Si eg von 1870 Lothringen FrankreiA zu
lassen rict un d mit so frierliAen Worten
Ac Vcrantwortung fOr diesen Krieg, den
er damals voraussagte, jenen aufbOrdetc,
Ac damals dicscn srinen Rat miBaAtcten?
Annette KofB.
Das Gewitter.
»Und David sandte hin und liefl naA
dem Weibe fra gen, und man sagte: 1st
das niAt Bathseba, die ToAter Eliams,
das Wcib Urias, dcs Hcthitcrs? Und Da*
vid sandte Boten hin und lieB sic ho(en.«
*Des Morgens sAricb David einen Brief
an Jakob und sandte An durA Uria.c
Er sArieb in dem Briefe: »SteIlet Una
an den Streit, da er am h&rtesten ist und
wendet euA hinter ihm ab, daft er er*
sAlagen werde und sterbc.€
2. Samuelis 11
★ * ★
<Die Szene ist auf dem flaAen DaAe des
Palastes. Ringsum Himmel. Im Boden zwei
Tflren. Bathseba hier, Uria dort, wie auf
cincr Wage, auf und ab.>
Kdnig David:
Wie gut ist Aese Stunde do A zu mir,
wie strciAt sie liebliA Qber meine Haare!
Strahlt niAt Ae Stadt wie kleine Abend ware
in meinem uferlosen ReiAsquartier?
So mOtterliA ist mir von Anbeginn
vor Aug' und Ohren blau die Welt ver*
hangen:
daft meine FQfte bloft und wund gegangen,
daB meine Lippen HirtenspraAe sangen,
daB Gouts SturmesflGgel miA be*
sAwangen —
sAeint alles eines fremden Lebens Sinn,
AuA daB vor einer steilen Stadt
mein Heer wie eine RiesensAlange lauert.
im Hagel blutet und am Feuer kauert,
hat meine Seele sAGAtern nur besAauert,
weil meine Seele Traum und Abend hat.
Ein WaAter (unsiAtbar):
Den innem Kreis
besAritt Ar FuB,
Ae Stunde heiB
bewegt zum GruB
Ae Wolken an der Himmelswand
und baut viel SAatten fibers Land.
Brim Tempel sAon —
den Bogen sAon
betrogen sAon —
und immer Wind und Wolke mit —
Bathseba naht mit holdem SAritt?
Bathseba:
Wer von Konig Davids Stamme
hat des Harzes aufgefangen,
spiegelt nimmermehr die Wangen
im verklskrten WiesensAlamme.
Nimmermehr nimmt klrin Behagen
meinen SAeitel an die Brfiste.
In Urias fahler Wfiste
kann iA nicmals FrQAte tragen,
AA, Uria, wie so feme
<Wurzel warst du mir und Mitte!)
sAweben wir auf einem Sterne —
Fort! IA hore seine SAritte . . .
Uria:
Du hieBest, Herr, miA rufen
und laBt miA fragen aus:
»Was sAlifst du auf den Stufen,
was gehst du niAt naA Haus?
Vor deines Hauses SAwellen,
des Windes Zeitvertreib,
Ae sAweren Rosen qucllcn.
I
Und drinnen sproBt dein Wrib.« —
Soli iA, da deine Helden,
ein tausendfaAer Hauf,
um Gouts Ruhm zu melden
Ae Heiden greifen auf.
f J d X
133
im Hagcl der Gescbosse,
im Feuer, Dampf und Blut,
im Wirbcl toller Rosse,
bei Wolkenbrudi und Flut,
soil icb geborgen scblafen?!
Und nicbt auf hartem Sand?
Gott sollt' miefa eher strafen!
Hcil! Ehre! Vaterland! <ab)
Konig David:
Ein Opfer aller Opfer singt sein Blut
sicb auf dem scbmalen Pfade nacb dem Rande,
und xst der Himmclflut und ist dem Sande
und ist der Erde atemzcugend gut.
fhm ahnt es nidit, vom Morgen aufgespart,
in einer Wolke Qber kuhlem Lande,
da6 er von GottweiBwem verwaltet ward.
Bathseba:
Mit wesfhin aufgelostem, blondem Haar
und einem Mantel von der Wolken T6nung
nimmt Abscbied alles, was mir Leben war.
Ein neuer Atem tninkt midi mitVers5hnung.
LaB um die Sdiale rund den Donner gehn,
in deren Mitte brandbereit wir ragen.
Midi drangt die Dunkelheit, icb soil dir sagen :
Mein Iiebes Scbeit — laB midi in Flammen
stehn !
<Sdion wahrend des Vorigen der Him met
duster und gewitterhaft. Donnerscblag und
Blitz. Ein Engel fahret nieder.)
Der Engel:
Midi sefaidet der Herr mit Flammenwort
und Hellc,
idi hab vor diet das Gleidinis auszuscbGtten
vom reicben Mann, der Qber seine Stalle
nadi eincs armen Nadibars Wolle griff ~
Zudrt MiBmut, RScber, auf dir im Gesidit ?
Willst du der frechen Wilikflr Handwerk
legen ?
So treffe diet der gottgere<btc Segen
selbeigner Missetat, du Bosewicbt!
Konig David:
Weh mir! Wer hilft mir sterben!
Adi, sdhollc Erde sebon
midi Toten einzuerben!
Mir graut auf meinem Thron.
Nur immer Scbritt um Sdiritt
vom Atem fremd getricben,
wie ein dunkles Blatt in die Sonne gesdirieben.
Ein Regen fallt und scbwemmt midi mit.
Eudi wird das dQrre Holz ersdilossen,
eu <b tragen alle Ranken Laub. — •
Gott ist ein Fels und meinenWurzeln taub :
So falle denn <du hast Genossen)
Stamm Israels, ein Gottesraub!
(Er sinkt grimmig hin.)
Der Engel (unsiglicb mild):
Nicbt also, S&nder, mit verkrampfter Faust,
mit wildem Atem und geblumten Adern,
nicbt mag der Herr, dafi du ihn so ersdiaust.
Will Staub und Erde mit dem Himmel
hadern ?
Komm, ofine didi, laB flieBen und ersprieBen
in meinem Licbtkreis deiner Ruhe Spur!
Sebon brenn' idi still und lasse micb um*
schlieBen,
und sei es bloB mit einer TrSncnscbnur.
Sdiau, wie der Regenbogen auf und nieder
zuHaupten uns ein licbtesBQndnisscbwingt.
Erhcbe diet, versQndigtes Gefieder,
ob deine Stimme ausgelidbtet wieder
bis an die Grenze deiner Trcuc dringt!
Konig David:
Strahlende Eigenscbaft
zeigst du der Welt mir.
Sprengst meine Einzelhaft —
Erde gefallt mir,
lieblicb und bloB.
Von dem verderblicben,
ahnenfludv-erblidien
Hocbmut der Leidenscbaft
sag icb midi los.
134
Gfossen
Zwar — an der Zinnen Kranz
wird mir verzichen
lirias Totentanz,
Bluten und Pliehen?
<Nocb donncrt es hohl)
Wir icb entflohn, wic er,
llg id) nadi Gegenwehr
dunkel vor Abcndrot,
selbstlos, gctrcu und tot —
adi/ mir war wohl !
Aber Versdhnung brid)t
flammend aus (etztem Licit/
braust mir ins Angesidit/
rciBt midi aus Sttnden rein,
laBt midi des Himmels sein.
Nicbt durdi den bangen Hain
irrend in bittrer Qua! ~
Triff midi zur Steiie
mit deiner Helie!
Icb bin die Welle,
Du bist der StrahL
* * ★
Von der gesamten Wassermenge eines
Niedersdilages verdunstet ein Drittel, ein
anderes sideert ein, eines aber wandert zum
Meere.
An eincr sanften Boscbung der Ufer-
hfiften, unter wallenden,leichtangezGndeten
Wolken, trflbt es den FluB bis auf den
letzten Grand, tausendjahriges Wurzel-
werk umgerissen und in einer GberstGrzten
Nadit Mensdi und Vieh naefa dem Atem
getraditet 2u haben. Aber was waren wir,
da sich unserer Beklommcnheit wieder das
goldene Feuer der Abendsonne bemacb-
tigt, wenn wir es nicbt an unseren Sunden
erlitten, daB wir nach dem ewigen Meere
reisen, licbe Frcundin?
Rudolf Tuds.
Bemer&ungen des HerausgeBers .
Der Verlag teilt mit: Das Schauspiel
»Hans im Sdinakenlocbc, das das Heft
erdffhet, wird erst bei seiner Auffuhrung
nadi dem Frieden ais Bucb ausgegeben.
Dieses Heft ist nacb ScbluB des Qgartals
einzeln nicbt mehr zu beziehen.
*
Eduard Bernstein war sehr krank. Die
Veroffentli chung seiner Erinnerungen, die
im Dezemberheft begann, erfuhr dadurcb
eine Verzogerung.
*
In den letzten Monaten haben sich die
Schwierigkeiten, unter denen die Heraus-
gabe der WeiBen Blitter leidet, nocb be-
deutend vermehrt. Urn eine ausfuhrliche
Erkllrang fur die vieifachen Unzutrlglich-
keiten zu vermeiden, mogen die Lescr be-
den ken, daB unsere Zeitscbrift von jungen
Menscben gesebrieben wird, die der Krieg
in alle Windc verstreut hat. Audi war
der Hcrausgeber monatelang abwesend.
Er bittet alle diejenigen urn Entscbuldigung,
denen er auf ihre Briefe nicbt geantwor-
tet hat.
★
linterdessen hat mein ehemaliger Freund
Otto Flake in der Neuen Rundschau cincn
Aufsatz flber die jGngste Literatur ver-
offentlicht, worin er einer Gesellschafts-
anschauung den Garaus macht, die er *Ex-
pressionismus* nennt. Icb konnte, icb will
ihm nicbt antworten, wie eine reinliefae
Auseinandersetzung es vielleicbt verlangte,
und besebranke micb deshaib darauf, ihn
an einiges zu erinnern, was er, wenigstens
in seinem Aufsatz, voilkommen vergessen
zu haben scheint. Den Roman von Hein-
rich Mann, den er kritisiert, zu erwerben,
hat er sidi zur Zeit, wo die WeiBen Blatter
vorbereitet wurden, lebhaft bemflht/ der
Roman wire im ersten Jahrgang dieser
Zeitscbrift ersebienen, den er als verant-
wortlicfaer Schriftleiter gezeichnet hltle.
Flake hat sich Gberdies angeboten, far
G fosse n
135
******* ********** ///// / / /// #////////////// //// ////////////////////////////////
Heinrich Mann die Verhandlungen fiber lichen Grunden ablehncn mussen. Wenn
die Qbersetzung in eine fremde Sprache
zu fuhren . . . Die Arbeit erschien dann in
einer Mundhener Wochenschrift. Flake
weifl, daB der Roman infolge des Krieges
Obersturzt zu Ende gcbradit wurde, er
wcifi, daB und warum das ausgedrudcte
Buch wahrend des Kriegs nicht ersdieint.
Er hatte, ganz abgesehen von kamerad-
schaftlichem Anstand, Grfinde, sogar per-
sonlide Grfinde genug gehabt, diese Zu-
ruckhaltung zu achten. Dabei nehme tch
an, daB er aufrichtig, im Innerstcn durdi
den Krieg umgelernt hat, und daB er slch
nicht einer Stromung fugte, die sein eigenes
Denken und Trachten leichthin umwarf . . .
Was er nicht nur fiber meinen Roman
»Benkal«, sondem uber midi schrieb, be-
ruhre ich nicht/ es tat mir leid, dafi er den
Augenblick fur gekommen hielt, nein, dafi
er sich in diesem schlecht gewahlten Augen-
blick verleiten lieB, in der Neuen Rund-
schau weiterzugeben , was unser La;ids-
mann Fritz Lienhard in seiner Flugsdirift
fiber das Elsafi ungefahr zur selben Zeit
ausspielte, wo der von Lienhard verdadi-
tigte Ernst Stadler auf dem Sdilachtfeld
fiel: eine falsdie Charakteristik unserer
wahrend mehr als zehn Jahren gemein-
samen Bestrebungen, die auf eine unwur-
dige Denunziation hinauslief. Aber Flake
uberbot Lienhard: er vergafi wiederum,
dafi er bis in die letzte Zeit sich selbst
in jener, wie er sagt »hysterischen« Ver-
fassung befand, die er als die unliterarisdie
Gemeinsamkeit der »Expressionisten« be-
zeichnet. Der Aufsatz 1st sdilecht. Wer
von uns hatte noch keinen schlechten Auf-
satz geschriebeu? Er bedeutet jedoch die
Ausfuhrung eines redaktionellen Auftrags,
dessen Sinn nicht miftzuverstehen war.
Den Auftrag hatte Flake, wenn nicht aus
er ihn aber ubernahm, so hatte er ent-
weder, in rucksichtsloser Aufrichtigkeit, ein
Pamphlet sdbreiben sollen — was eine
saubere Sadie gewesen ware — oder aber
sich darauf beschranken mussen, literarische
Angelegenheiten, ohne kulturhistorisdie
Manover, nach bestem Wissen literarisch
einzuordnen. Die scheinbare Objektivit3t
des Verfahrens, das er wahlte, mag zeit-
gemaB sein. Sie ist widerlich und setzt
cinenSchriftsteller tiefer herab, als ihn zwolf
gute BQcher htnaufheben konnten, die er
nodi in seinem Leben schrieb^.
Ich wurde nicht bei einem Aufsatz wie
dem besprochenen verweilen, wenn nicht
Angelegenheiten, die sehr personliche zu
sein scheinen, heute in Wirklichkeit uber-
personlidher Art waren : sie stellen Menschen
dorthin, wohin sie cndgultig gehoren kraft
der Prufung, die ihnen von der Zeit auf-
erlegt ward. Gemeinsdiaften haben sich
gelost, andre werden sich statt ihrer bildeu.
Ihr Bestand wird fester sein, weil sie nicht
durdi Zufall, Neigung und Berechnung be-
stehen werden, sondern aus Trcue zu
sich selbst und der erprobten Widerstands-
kraft gegen Gewaltsamkeiten aller Art.
Man wird gern alles verzeihen, aber gut
tun, nichts zu vergessen.
★
Da wir sdion beim » Expression ism us «
sindy will ich mit meiner Meinung fiber
ihn nicht hinter dem Berg halten. Der Ex-
pressionismus ist ebensoviel und ebenso-
wenig wert, wie jedes Schlagwort. Es gab
expressionistische Diditungen, expressio-
nistische Gemalde, bevor es einen *Ex-
pressionismus« gab. Vielfach nennen wir
heute expressionistisch, was frfiher roman-
tisch hiefi, und deshalb ist es nicht richtig,
daB uns die Intensitat des Ausdrucks, die
pers5n lichen, so wen igstens aus gesellschafi- ihn kennzeidinen soil, erst durch franzo-
Gfossen
136
sische Werke vermittelt werden muBte. dcr crstcn Gelegenheit das Ges<h3ft dcr
Jedenfalls hat das Sdilagwort den Wert oppositionellen Haltung wiedcr beginnen,
eines Schlagworts, es ist mit ihm bestellt genau, wic er in die Hochkonjunktur des
wie mit dem Realismus und Naturalismus »Patriotismus« sprang, urn ja auf der
frQhercr Generationen. Es kann eine mo* Butterseite zu bleiben. Es gibt mdglicher-
ralische Macht werden oder in der Lite* weise viele Arten, deutsch zu sein/ als
raturgeschichte stecken bleiben. Der Essai reifer Mann sich zu verleugnen, ist die
von Heinrich Mann im Novemberheft zeig* beste nicht. Wir gehn nicht na<h dem Lon*
tc, zu welcher politischen Macht der Na* don frttherer Jahrzehnte/ wir bleiben in
turalismus in Frankreich gelangen konnt t, der Nlhe Wei mars, heute wie vor einem
ein Vergleich mit dcr sozialisierenden Lieb* Jahr. Eine Nation ist vielfaltig genug ge*
haberei der schnellemporgekommenendeut* gliedert. Wir gchdren nicht zu denen, die
schen Naturalistcn, die eben nur Literatur* leben, urn Geschafte zu machen. Diese
beflissene waren, Literaten, die, wenigstens mogen in der Mehrzahl sein. )e zahlreicher,
bi(dfi<h gesprochen, eilig nach Berlin W je stirker sie sind, desto leichter konnen
Gbersiedelten, wGrde das MiBverhsMtnis in sie unsere Hilfe entbehren. Jene konnen
ein noch grelleres Lidht setzen. siegen oder geschlagen werden/ wir nicht.
Der Expressionismus, so, wie ihn die Wir hQten einen Schatz, ohne den Eu*
sehn, die als Expressionisten angesprochen ropa aus bosen Negern bestinde. Denn
werden, ist nattirlich auefa eine technische dieser Schatz ist das einzige, was uns von
Ausdrucfcsform — der die Naturalisten den »Wilden« unterscheidet. Jede andere
genau so gegenQberstehn, wie die *to* Qberfegenheit teilen wir letzten Endes mit
talenc Deutschen der aditziger Jahre den den AfFen. Unsere MSrser, sie mogen nodi
Naturalismus ansahn. Er bedeutet aber so gut sein, haben mit Goethe niefats ge*
vqjt allem den Wunsch, neben die Schilde- mein, die gelungensten DurdibrOdie zu
rung^ einen moralischen Willen zu setzen/ Bach nicht die geringstc Beziehung. Ein
er ist kimpferisch / er ist radikal / er sdileu* Sieg ist, wenn Geist Macht wird/ wenn
dert die Kunst, die in und seit unsrer aber die Gewalt sich des Geistes bedient,
Klassik ein vomehmes Privatleben filhrte, urn der Macht und nur ihretwillen, so Gbt
durch die StraBe — ■ selbst auf die Gcfahr sie die schlimmste Sklaverei, die Menschen
hin, dab sie dort zugrunde gehe. erdulden kSnnen.
* Und sic haben sie nie erduldet,
Es ist nicht nur leicht, es ist schdn, sich Und sie werden sie nie dulden.
einer Licbe hinzugeben. Die Art, wie er Der Kampf darum heiBt Weltgeschichte.
es tut, kennzeichnet einen Menschen. Und Jeder tue, an seinem Platz, was sein
eins weiB ich : wer jetzt feig war, der i s t Gewissen ihm gebietet. Es gibt kein an*
feig und wird es immer sein, er wird bci deres »Gebot der Stunde«. R. S.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Em if Lucfia:
DIE PSyCHOLOGIE NAPOLEONS*)
WIR konnen im Mensdien zwei letzte Elemente finden, die so
sehr letzte sind, dafi alles Mensdilidie uberhaupt durch sie
festgelegt ist: Die Wirkungen der Welt und die Anlagen seiner Natur,
kurz alles, was dem Menschen gegeben ist,- und diesem unermefilidi
Vielen steht die innere zusammenfassende Kraft des Willens oder
der Personlidikeit gegenuber. Diese im innersten zwiespaltige Kon*
stitution madht den Menschen zu etwas, das fiber die Natur hin-
ausragt, das ihn prinzipiell nidit vollig beredienbaren Mechanismus
sein lafit, weil eine innere Aktivitat, etwas ganz Unmathematiscbes,
da ist, das wissensdhaftlich nicht erfafit werden kann.
Die beiden Grundelemente — sagen wir kurz: Sdiicksal und Wille
— • mussen prinzipiell in jedem Mensdien angenommen werden, aber
es gibt Mensdien, die so sehr Naturwesen sind, die so wenig eigent-
lidi Menschlidies haben, dafi das eine Element, die personlidie Kraft,
gar nidit vorhanden zu sein scheint oder wenigstens nidit in ihr Be*
wufitsein fallt und bei keiner ihrer Handlungen merldidi wird. Wenn
wir die groBen Romer naher betraditen, so erkennen wir leidit, dafi
sie einander aufe Haar gleichen. Sie empfinden sidi selbst nidit als
besondere, auf einem inneren Mittelpunkt ruhende Personlidikeiten,
sondern als abhangige und vollig bestimmte Glieder ihres Staates,
der nidit viel anders gefugt ist als der Staat der Btenen, der einen
grofien Versudi darstellr, dem Geist eine innerlidi fremde Ordnung,
namlidi die Ordnung, die in der Natur herrsdit, aufzulegen, ohne
das Besondere, Personlidie, Menschliche zu wfirdigen. In Rom ist
fur die Personlidikeit kein Platz, Romertugcnd ist Unterwerfung unter
die Forderungen der Gesamtheit, Angleidiung alles Besonderen ans
Gemeinwohl. Die Gesittung Roms ist absolut unphilosophisdi und
unkunstlerisdi-unpersonlidi, ganz auf den Zwang des Nutzlidien ge-
I— » » ■ - ■ ■ ■*-«> — . ■» » w . ■ ■ ^ mm - ■ ■ i 0 — > — — — i ■■ "mm ■ » m m ^
•> Diese Arbeit ist vor dem Kriege abgesdilossen und nidit mehr gcandert worden.
10 Voi. m/i
Emit Ludia • Die PsgSoCogie Napofeons
grGndet. Zwar wlrd auch in der griediischen Tragodie das Schicksal
als absolut Herrschendes anerkannt, aber cs ist doch immerhin zum
Problem gemacht/ der einzelne empfindet die Moira als etwas Frem-
des und Lastendes, und wenn er sie auch nicht anzuzweifeln wagt,
so vermag er doch uber sie nachzusinnen und hat sie so schon in-
nerlich entthront Fur den unphilosophisdien Romer dagegen ist die
Abhangigkeit vom Zwange der Welt, vom Schicksal, das ihm sein
Staat reprasentiert, so fraglos und selbstverstandlidi, daB er sidi sie
nidit bewuBt machen kann/ schon der Gedanke, nicht ein Teil, son*
dem ein Ganzes zu sein, ist ihm unverstandlich und fremd. Ich nenne
diese iiberaus einfache seelische Formation, die im Romer kulturell
festgelegt ist, den Schidcsalsmenschen, im Gegensatze zum Men*
schen, der sich als innere Einheit, als Personlichkeit zu fuhlen vermag.
Fur die Gegenwart, die unter dem Zeichen der Personlichkeit und
der inneren Freiheit steht, bedeutet der Schicksalsmensch eine Aus-
nahme und einen kulturellen Atavismus. Mit der Schopfung der
Personlichkeit — die gegen das Ende des Mittelalters, besonders in
den deutschen Mystikern, vollzogen erscheint — ist das Schicksal als
Letztes und Hochstes abgesetzt, alle groBen Menschen der neueren
Zeit konnen nicht mehr Schidcsalsmenschen, mit Verstand ausgestattete
Naturmechanismen sein/ sie haben etwas Neues, Hoheres in sich,
eine Kraft, die von alien auBeren Schlagen nicht ganz gelahmt wer*
den kann, die den eigentlichen Kern der modernen europaischen Seele
ausmacht.
Der Mensch als Personlichkeit ist eine wirklidie Welt, ein Mikro-
kosmos, der sein eigenes Gesetz in sich tragt und dem Kosmos, der
Welt, als ein selbstandiges Ganzes gegenubersteht. Der Schidcsals*
mensch ist kein Ganzes <weil ihm das BevuBtsein innerer Freiheit
abgeht), keine Welt, sondern ein Teil, ein Stuck der allgemeinen
Welt unter deren Gesetzen. Und weil sich dieser Mensch nur als
ein Teil und nicht als abgeschlossenes Ganzes fuhlt, konnen Leben
und Geltunghaben fur ihn nur in bestandiger VergroBerung, nicht in
innerer Veranderung und Vertiefung beruhen. Sein Wunsch ist, ein
immer groBerer Teil der Welt zu werden — der Wunsch alter Men-
schen ohne inneren Mittelpunkt — und endlich die ganze Welt aus»
zufullen. Tamerlan hat gesagt: Wenn wir die Erde erobert haben.
Emit Lucfia * Die Psycftofogie Napofeorts 141
so werden wir uns auf den Mond sturzen. Dieser Wunsch, sich be-
standig auszudehnen, an Macht zuzunehmen, kann nie gestillt wer-
den, denn das Grundgefuhl, nichts Ganzes zu sein, sondern ein Teil,
andert sich niemals/ das StGck Welt, das der Schicksalsmensch ist,
wird immer nur umfangreicher — kann sidi aber nie zu einem
Ganzen schlieBen, es hat eine unersattliche Gier nach Raum und
Macht. Wortlich genommen ist es wohl faisdi, aber in einem tieferen
Sinn fur den Schicksalsmenschen wahr, wenn Napoleon von sich
selber sagt: »Ich habe keinen Ehrgeiz/ sollte ich aber doch welchen
besitzen, so ist er mir derail angeboren, daB er vollkommen in
meinem Wesen liegt, und er hangt mit meinem Dasein so innig zu-
sammen wie das Blut, das in meinen Adern rollt, und die Luft, die
ich atme.« Denn Sein und Mehrseinwollen ist fur ihn dasselbe.
Der Sdiidksalsmensdi versteht nidit zwisdien Mensdhen und Dingen
zu scheiden, zu werten/ er sieht nur Grofies und Kleines. Denn nur
in bestandigem quantitativem Wachstum vermag er einen Inhalt zu
gewinnen. Das ist wohl eine Illusion, aber eine unvermeidliche Illu-
sion, wenn ein innerer Lebensquell nicht vorhanden ist. Wirkliches
Innenleben, das heiBt Leben, das selbst genugsam in sich ruht, ist
daher fur diesen Menschen nicht moglich/ er geht in Wirkung und
Gegenwirkung mit der Aufienwelt auf.
Audi der kleine Mensdi unserer Zeit hat nicht das Gefiihl innerer
Selbsttatigkeit, er beugt sich dem Geschehen ohne Widerstand, »weil
es einmal nicht anders ist«, Aber dieser Zustand ist so sehr charak-
teristisch fur den kleinen, inhaltsleeren Menschen, daB wir uns den
wahrhaft groBen genau entgegengesetzt denken, daB uns GroBe ge-
radezu mit dem Bewufltsein innerer Kraft, Personlichkeit, Freiheit
identisch ist. Ein wahrhaft grofier Schicksalsmensch ware fur unsere
Zeit die erstaunlichste Anomalie/ sie ist nur ein einziges Mai, nam-
lich in Napoleon verwirklicht worden. Schon im Jahre 1790 hat
der korsische General Paoli zu ihm gesagt: >Sie sind ganz ein Mann
aus dem Plutarch, Sie haben nichts von einem Modernen an sich!«
Und so glaube ich mit dem Verstandnis dieses einen Menschen die
seelische Konstitution eines Typus festzulegen, der uns heute fremd
geworden ist, ja wie ein Fossil anmutet.
Der richtige Schicksalsmensch kommt aus den Tiefen, ist Geschopf
Emit Ludla ■ Die Psxdotogie Napofeons
des Zufalls. *Ich bin der Sohn des Glilcks!«, hat Napoleon auf der
Hohe seiner Madit gesagt. Er wird Zeit seines Lebens von dem
Geftihl beherrsdit, unfrei, vom Schicksal abhangig zu sein. »I<h bin
Fatalist seit jeher/ wenn das Sdiidcsal etwas ■will, haben wir zu ge»
hordien.* — *I<fa babe midi niemals damit abgequalt, die Umstande
meinen Ideen anzupassen/ idi liefi mich jederzeit von ihnen treiben.
Wer kann im voraus fiber die zufalligen Umstande, die unerwarteten
Begebenheiten gebieten?* — »Idh konnte midi selbst nidit ersetzen «
<d. h. idi bin dieser Besondere nur unter diesen besonderen Urn-
standen)/ *i<b bin das Gesdiopf der Zeitverhaltnisse.*
Diese und ahnlich lautende Worte begleiten Napoleon durdis
Leben, sie sind der getreue Ausdradt seines Grundgeffihles : nidit
selber zu wollen und zu handeln, sondem gefuhrt zu werden. Er
betont ausdrucklich die Blindheit seines Wollens und erklart: »Der
wird nidit weit kommen, der von Anfang an seinen Weg kennt.c
Als die Sonne von Austerlitz strahfend aufging, da ist er vom Sieg
fiberzeugt gewesen — und er hat ihn errungen.
Weil sidi der Sdiidisalsmensdi nidit als eine eigene autonome Welt
empfindet, sondern nur als ein Phanomen in der Welt, ist sein
Grundgefuhl, von alien anderen Phanomenen abhangig zu sein. Er
aditet auf Zeidien und ist aberglaubisdi. Von innen kann ihm ja
nichts kommen, er vermag keinen eigentlidien Wert zu erlangen, nur
dessen Surrogate, Glfick und Madit, und so weifl er sidi als Knecht
der Ereignisse. Er glaubt an sein Gluck, an seinen Stem — »Ge»
trost! Du fahrst Casar und sein Glfick !c raft Casar dem zaghaften
Sdiiffer zu/ ihm kann nidits geschehen, denn das Sdiidcsal halt die
Hand fiber ihn. Und Napoleon ermutigt die wankenden Soldaten
bei Waterloo: >Die Kugel, die midi treffen soli, ist nodi nidit ge»
gossen.c So fuhlt er sidi bestandig getragen und geleitet.
Napoleon, der in katholischen Landem aufgewadisen und vollig
unreligids gewesen ist, hat sidi dem Mohammedanismus, der Reli-
gion des blinden Fatumglaubens, des Kismet, eigentumlidi verwandt
geffihlt Und diese Sympathie charakterisiert ihn als heimlidien Orien-
talen. Die Phantasien von einem orientalisdicn Kaiserreich verfolgen
ihn von Agypten bis St. Helena, und es ware ganz unpsychologisdi,
diesen aussdiweifenden Gedanken blofi auf seine Politik zurfidtzu-
Em if Lucia • Die PsycSofogie Napofeons 143
9************M******************************************************************************************************s************************
fuhren, die England in Indien vielleidit hatte treffen konnen. Nodi
am Tage von Austerlitz hat er gesagt: » Hatte idi Accon einge-
nommen, so ware ich Mohammedaner geworden . . . Kaiser des
MorgenIandes.« Und der Zug Alexanders hat wie ein bezaubemdes
Gaukelspiel vor ihm geschwebt. Selbst im Jahre 1812 sind die Plane
lebendig gewesen, uber Ruflland bis nach Indien vorzudringen.
Folgenden Aufruf hat Napoleon an die Mohammedaner in Agypten
erlassen: *Ist ein Mensdi so unglaubig zu bezweifeln, dafi alles in
dieser Welt der Herrsdiaft des Schicksals unterliegt? Der Tag wird
kommen, wo die Welt einsehen wird, dafi idi hoheren Befehlen
folge, und dafl keine mensdilidie Anstrengung etwas gegen midi
vermag . . , Alles, was idi unternehme, ist bestimmt zu gelingen.
Die sidi als meine Freunde erklaren, werden gedeihen/ die mir feind-
lidi begegnen, werden untergehen,* »Madit dem Volke bekannt,«
bcfielt er der Geistlidikeit, *dafl seit Anbeginn der Welt gesdirieben
steht: Idi werde, nadidem idi die Feinde des Islams verniditet, die
Kreuze zersdilagen habe, aus der Feme des Abendlandes daher-
kommen, urn das zu erfullen, was mir aufgetragen ist. Zeiget dem
Volk, dafl in den heiligen Biidiern des Korans an mehr als zwanzig
Stellen vorausgesehen ist, was sich jetzt ereignet.« Wenn man audi
die sdione Phrase <die Napoleon sein Leben lang uber alles geliebt
hat) und die orientalisdien Floskeln in Betracht zieht, so spridit aus
solchen Worten dodi ganz zweifellos das BewuRtsein einer Gemein-
samkeit mit dem islamischen Fatalismus: der blinde und grundlose
Glaube an die Unabwendbarkeit des Vorausbestimmten, der die Per-
sonlidikeit aussdialtet und daher mit dem Christentum und dem Geist
Europas in sdiroffem und ganz prinzipiellem Widerspruch steht. Und
es ist widitig, dafl Napoleon nidit nur vom Fatalismus beseelt ge-
wesen ist, sondem dafl er sidi selbst mit dem Sdiicksa! in Zusammen-
hang gebradit, als dessen Liebling gefuhlt hat.
Damit sich das Bild des Sdiicksalsmensdien vollende, mufi namlich
nodi etwas dazukommen, was gar nidit mehr ins Psychologische
fallt, uber das eigentlich nichts gesagt werden kann; dieser Mensdh
mufl sidi nidit nur ganz vom Sdiicksal regiert wissen — das Sdiicksal
mufl ihm audi wohlgesinnt sein, er mufl Gluck haben. Es ist natur-
lich nidit zu scheiden, wie einerseits der Glaube an seinen Stern
144
Emit LucHa • Die PsySofogie Napofeons
rj ai i ■nrjr.ruTij i i 1 i rm i r r r rrrr - rrrrrrrrrrrrr ~n rrr^rrr r ~rr i — ~i n — — i \rrn~rrrrr'nr“rr -rrrnrmtumnmmmm'
durdh bestandiges Gluck geweckt und zum Aberglaubcn wird/ aber
dieser Glaubc ist doch von Anfang an da und reift zu der Qber-
zeugung, daft das Geschidc dieses eine Mai fur seinen Liebling ein
Auge haben, zur Vorsehung werden kdnne. Bei einer psychologischen
Betrachtung muft dies unberetbenbare und unfaftbare fremde Element
— daft einem ailes gelingt, was er anfangt — naturlich wegbleiben,
aber der seelische Typus des Schicksalsmenschen wird erst dadurdi
ganz abgerundet, daft er wirklich der Mann des richtigen Augen-
blicks und des glucklichen ZusammentrefFens ist.
Das Volk hat nie an andere Menschen geglaubt als an die Lieb-
linge des GlOcks — sie sind seine eigentlichen Helden. Es fragt
nicht nach Geist, nicht nach Talent und audi nidit nadh Taten im
wahrhaften Sinn, sondem nur nadi dem Zusammentreffen alier Zu-
falle, die einen in die Hohe heben, nadi aufieren Vorzugen, nadi
Erfolg, nach Gluck. Das erklart sidi ganz einfadi: die Mensdien
wissen sidi ununterbrochen von alien Faktoren abhangig, unter hun-
derten ist vielleicht nicht einer, dem eine Ahnung von Freiheit dam-
mert. Wen also alle Faktoren <der Zufall) begunstigen und emj>or»
heben, der ist offensiditlich der wahre, der bewundemswerte Mensdh.
Napoleon ist nicht angestaunt worden, weil er ungewohnlich viel
Verstand und Kaltbliitigkeit besessen hat oder gar, weil er eine starke
Personlichkeit gewesen ware, sondern weil er mehr Gludt gehabt
hat, als jeder andere. Sachverstandige meinen, daft Lazare Hodie
ein ebenso fahiger General gewesen sei wie Bonaparte — aber er
starb jung, er hatte kein Gluck.
Napoleon, der an nichts geglaubt hat, als an Nutzen und Erfolg,
vermochte sich auch bei den Menschen keine anderen Motive vor-
zustellen. *Es gibt nur zwei Hebei, um die Menschen in Bewegung
zu setzen: Furcht und Interesse. Liebe ist eine dumme Verblendung,
Freundschaft ein leeres Wort . . .« Ohne Widerstreben schrieb er
<im Februar 1814) seinem Schwager Joachim Murat, der mit den
Feinden gemeinsame Sache gemacht hatte, und stellte ihm vor, daft
er von keinem anderen, als von ihm etwas zu erwarten habe. »Be-
nutzen Sie wenigstens einen Verrat, den idh doch nur der Furcht
zuschreibe, um mir mit einigen guten Ratschlagen beizustehen! . . .«
Ebenso weift er genau, dafi die Minister Fouche und Talleyrand
4
Em if Ludia • Die PsycBofogie Napoftons 145
mit seinen Feinden in Verbindung stehen und bestoAen sind. DoA
solange er sie brauAen kann, nimmt er ihnen das niAt Qbel. Von
FouA£ hat er selbst gesagt: IA sollte ihn eigentiiA hangen lassen!
— zieht cs aber vor, siA seiner kaltblutigen VerbreAersAlauheit zu
bedienen. In den hundert Tagen werden alle wieder aufgenommen,
die siA dem Feind angesAlossen haben. A!s MarsAall Ney, der
vom Konig ausgesandt war, um ihn gefangen zu nehmen, und es
gem tat, zu ihm ubergeht — da ist wieder alles wie zuvor. Auf
Liebe hat er niemals gereAnet, hat er doA selbst keinen geliebt und
alle nur als seine Werkzeuge verwendet. Man erhalt sie in mog-
liAst gutem Zustand und zahlt niemals vergebens auf ihre niedrigen
LeidensAaften/ kommt aber der AugenbliA, wo man sie niAt mehr
brauAen kann, so wirft man sie fort. Als es auf St. Helena unter
seiner Umgebung Streitereien gab, erklarte er: »Was gehen miA
die GefOhle an, die man innerliA hegt? Wenn man mir nur eine
freundliAe Miene zeigt! IA hore nur die Worte, iA lese niAt in
den Herzen. «
»Viel verspreAen und niAts halten, so will es die Welt,c ist
Napoleons WahlspruA gewesen. Ein anderes Mai freiliA, wie ihn
einer im StiA lafit, heifit es: *Wenn ein Mann sein Wort niAt halt,
was do A sogar naA den Gesetzen der Wuste gesAiehr, unter**
sAeidet er siA in niAts mehr von einem Tier.« Dies ist keine In**
konsequenz: Es hat ihm Nutzen gebraAt, dab die Leute, die zu
etwas verpfliAtet waren, ihr Wort hielten, und so hat er diese
EigensAaft gelobt <wie die katholisAe Religion), ohne selber an sie
zu glauben. Als die Qberreste der grofien Armee im russisAen
Winter umkamen und zu niAts mehr gut waren, hat er sie be!
NaAt verlassen und siA selbst in SiAerheit gebraAt/ ebenso die
Armeen in Agypten, in Spanien und naA der SAlaAt von Water-
loo. Ein Gefuhl der VerpfliAtung gegen alle diese MensAen, die
ihm gefolgt und fur ihn verwundet worden waren, hat er niAt ge-
kannt, weil er die MensAen niAt anders ansehen konnte, als siA
selber — Dinge der Natur ohne Seele und Innenleben. Und diese
vollige Fremdheit zu allem eigentiiA MensAliAen maAte ihn so
aufierordentliA stark/ denn er hat hemmungslos gehandelt, er hat
keine seelisAe Kraft damit vergeuden mussen, Ehre, Gewissen und
Emit Ludta > Die PsydoCogie Napofeons
146
Mitgefohl in si A zu uberwinden, wie and ere Feldherren doth, wenn \
sie ihre Soldaten opfern, ihm 1st niemals zum Bewufltsein gekommen, j
dafl sein WunsA, Herrscher der Welt zu sein, niAt audi der WunsA ,
aller anderen MensAen gewesen sein konnte. •
Napoleon hat es verstanden, den Glauben an sein Glu A alien ,
um ihn her, besonders Soldaten und Offizieren <aber auA den feind-
liAen Feldherren) einzuflofien. UnersAopfliA sind seine Phrasen von
Ehre und Ruhm und Vaterland — und sie wirken, solange sein
GlftA dauert. Als er aber gesAlagen aus RuBland kommt — »das
GlflA 1st eine Dime!* sagt er dieses Mai — da ist auA bei den
anderen der Zauber dahin. Es zeigt si A, dafl die Welt niAt von
der MaAt einer PersonliAkeit, sondem von der Gunst des Zufalls
geblendet war. Wohl sind ihm seAs oder sieben Treue naA St. Helena
gefolgt — alle in dem festen Glauben, dafl seine Wiederkehr be*
vorstehe! — Millionen andere aber haben seine eigenen Lehren be-
herzigt und ihren Vorteil wo anders gesuAt
Napoleons MaAt Qber die Massen beruht aber zuletzt darauf,
dafl er selbst an sie, an den MensAen als Naturphanomen geglaubt
hat. So wenig er einen einzelnen bedeutenden MensAen hat be-
greifen konnen, so nah ist sein Verhaltnis zur Masse — Wirkung
und Gegenwirkung — gewesen. »Die Krafte eines MensAen sind
niAts, wenn die Umstande ihm niAt helfen, die offendiAe Meinung
ihm niAt gftnstig ist. Die offendiAe Meinung maAt alles . . .«
Der beruhmte Satz des Code Napoleon: »Es ist verboten, naA
der VatersAaft zu forsAen,* beweist von einer anderen Seite her,
dafl ihm jedes Verhaltnis zum MensAen als einem Individuum a b-
gegangen ist, dafl ihm die MensAen nur als Masse eine WirkliA-
keit gewesen sind. Er hat gefuhlt wie die Natur, die Keime aus-
streut, ohne siA um ihr SAiAsal weiter zu kflmmem — wenn es
nur immer genug MensAen gibt, Ae man als Soldaten brauAen
kann! Alles sonst interessiert ihn niAt an ihnen.
Was for ihn das SAiAsal gewesen ist, hoAste Gottheit — das
wollte er selbst fur die anderen sein, der Reprasentant des SAiA-
sals, er wollte naA Goethes Wort »das Fatum spielen**). Und dar-
um forderte er den Glauben an seine Autoritat, an die Autoritat
*> Am 11, M3rz 1807 zu Riemer,
Em if Ludia • Die PsySofogie Napofeons 147
des Staatcs, an Autoritat fiberhaupt fur alle anderen a(s eigentliAe
Religion. Er hat vor der katholisAen KirAe einen gewissen Respekt
besessen, veil sie die grofite und alteste Organisation der MaAt ist,
und hat sie von Jahr zu Jahr als Stfitze der Autoritat hoher ge»
sAatzt. Allein uber das PraktisAe hinaus ist ihm doA noA etwas
anderes am Katholizismus nahegekommen: Das Dogma. An das
Dogma mufi ja so blind geglaubt werden wie an das SAiAsal —
und es kann dem MensAen innerliA ebenso fremd sein. Napoleon
hat dem Dogma den »Wert einer KuhpoAenimpfung« gegen seinen
wahren und tiefsten Feind, das Bewufitsein der Freiheit, das Be-
sinnen auf die eigene Seele und das selbstandige Denken zugesproAen.
*Die Religion befriedigt das Bedfirfnis der MensAen naA dem Wun-
derbaren und sAfitzt sie vor SAarlatanen. Die Priester sind mehr
wert, als die Cagliostro, die Kant und alle Traumer DeutsAlands.*
Napoleon hat das Dogma genau so gesAatzt wie der GroB-Inqui-
sitor bei Dostojewski, namliA als Bollwerk gegen wirkliAe Religion,
und als er gesAlagen wurde, hat er <im tiefsten Sinne mit ReAt>
die Philosophic, die *Ideologie«, der immer sein eAtester Instinku
hafi gegolten hat, fur alles UnglfiA verantwortliA gemaAt/ denn sie
untergrabt die Autoritat und *proklamiert das Prinzip der Unbot-
maBigkeit« — FiAtes FreiheitsrausA als PfliAt! Und Napoleon hat
den Zusammenhang gekannt: »Ware iA ein religioser MensA ge-
wesen, so hatte iA alles das nie vollbringen konnen.* Wie gut
stimmt dazu, was Hudson Lowe, der Gouverneur von St. Helena,
fiber Napoleons letzte Jahre erzahlt: er hat si A immer mehr dem
Dogma genahert. >IA bin kein Atheist,* sagt der Erbe der Revo-
lution. »IA bin kein Gottesleugner und glaube alles, was die KirAe
lehrt* Wie ein magisAes ZeiAen hat er das Kreuz gesAlagen,
wenn ihm eine Gefahr drohte.
Aller eAte Wert hat seinen Sitz im Geiste, die Sphare des Ver-
standes wird von Erfolg und MaAt beherrsAt. Napoleon hat
Erfolg und MaAt praktisA und theoretisA als das einzige Wesent-
liAe angesehen. Hatte er Spinoza gekannt, so ware er sein SAfiler
geworden. »Wenn ein Rebellenffihrer Erfolg erringt, grofie Dinge
vollffihrt und Ruhm fiber das Land und siA selbst verbreitet, so
wird er niAt mehr als Rebellenffihrer, sondern als General und
148 Emif Luda • Die Psy&ofogie Napofeons
Souveran bezeidinet. Es ist der Erfolg allein, der ihn dazu madit...
1st einmal der Pdbel Sieger, so wird er nicht mehr Pdbel genannt,
sondem »die Nation*. Siegt er nicbt, so werden einige hingeritbtet,
und es ist von Pobel oder Raubern die Rede.*
Und well Napoleon nur das tatsachliche Geschehen anerkannt hat,
ist ihm die Weltgesdiidite als »die einzige wahre Philosophic* er-
schienen. Dies ist ganz anders gemeint, als die ahnfidi klingenden
Satze Hegels. Hegel hat in der Weltgesdiidite die Entfaltung von
an und fGr sich sinnvollen Ideen, von Werten hodister Ordnung
gesehen, fur ihn ist gar nidits zufallig, alies hat Sinn und wesent-
lidie Bedeutung, was sidi in der Gesdiichte der Volker und Staaten
ereignet. Er treibt einen Kult mit der Entfaltung des wahrhaften
Seins in der Weltgesdiidite, und sdion das blofie Werden ist ihm
hodister Wert. Genau das Gegenteil von alledem findet Napoleon
in der Geschidite: nicht Logik und Sinn, sondern Zufall, und fur ihn,
den Sohn des Zufalls, ist das durdi und durch sinnlose Geschehen
das eigentlich Verehrungswiirdige. Er erhebt Geschidite und Politik
<Zufall und Klugheit) im Gegensatze zu Philosophic und Kunst
<hoherer Notwendigkeit, Weisheit, Personlidikeit),- das blofie Ge»
sdiehen ohne Sinn und Richtung soil Geschidite heifien, die Politik
ist das Sdiicksal, sagt er zu Goethe. Verstand, Klugheit besitzt Na-
poleon im hodisten Mafi <wahrend er den Geist furchtet und hafit)/
die einzige Wissensdiaft, fQr die er Vorliebe hat, ist die Mathematik,
die das Skelett des Verstandes darstellt, den Verstand in seinem
blofien Funktionieren ohne Inhalt, nodi Ausblidc auf einen Sinn.
Was im Vorstellungsleben des Menschen geordnet ist, aber regel-
haft im Sinne der Natur arbeitet, das kann man unter dem
Begriff des Verstandes zusammenfassen/ der Geist <die *Ver-
nunft«> ist eigentlich mensdilich und mufi daher dem Mensdien, der
nidits als Naturprodukt ist, fremd sein. Es versteht sidi von selbst,
dafi audi die Mathematik in eine hohere Sphare gehoben werden
kann, wo das Formale Selbstzweck wird und asthetisdien Wert ge»
winnt. Aber Napoleon hat von diesen hoheren Beziehungen nidits
gewufit, er hat die Mathematik nur als Mefikunst und als Ballistik ge-
sdiatzt. Der Gedanke, die Pyramiden <die augenfalligsten Sinnbilder
der Macht!) ausmessen zu lassen, hat ihn bis St. Helena besdiaftigf.
Em if Ludta • Die Psydbofogie Napofeons 149
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Die Gabe, sicfi in der Welt zu orientieren, ist Napoleon im er-
staunlichsten Mafl eigen gewesen. >In melnem Kopf sind die ver-
sdiiedensten Angelegenheiten fadiweise geordnet wie in einem Sdirank.
Wenn ich eine Sadie unterbrechen will, schliefie icb ihr Fadi und
offne ein anderes. So geraten sie nie durdieinander . ■ . Wenn ich
sdilafen will, sdiliefie idi samtlidie Facher und sdilafe ein.c Man
kann den ganz nuditernen Verstandesmenschen, den Mensdien der
hochsten Klarheit, vielleicht nicht besser beschreiben als mit diesen
Worten — Leidensdiaft und Genie sind ihm gleidi fremd. Und die
Fahigkeit, immer orientiert zu sein, alles richtig und ohne Illusion
zu sehen, wird durdi sein beruhmtes Gedaditnis (besonders fur
Zahlen) machtig unterstutzt,
Mit dieser Beherrschung der Phanomene trifft zusammen, da0
Nap>oleon eine ganz souverane Art besessen hat, das Geld, den
Nerv aller austauschbaren, funktionalen, unpersonlidien Dinge und
das widhtigste Mittel der Organisation, zu behandeln. Er ist der ab-
solute Herr des Geldes, lafit sidi niemals von ihm tyrannisieren <wie
doch mancher grofie Herr), ist weder habgierig, nodi allzu versdhwen-
derisdi und gibt es jederzeit am richtigen Orte hin. Es wird erzahlt, da8
er alle Redinungen des Staates selber gepriift und mit verbliiffender
Sidierheit Irrtumer und Betrugereien herausgefunden habe. Diese
Vertrautheit mit dem Abzahlbaren, Rationalen ist ein sehr wesent-
licher Zug. Denn fast alien Mensdien, die nidits entsdiieden Person-
lidies besitzen, wird das Geld zum Verhangnis. Napoleon aber hat
es verstanden, sidi uber dieses Sdiidcsal des Allraglidien, dieses so-
zusagen biirgerlidie Sdhicksal zu erheben, es zu beherrsdien und zu
veraditen. Seine Qberlegene Stellung zum Gelde ist gerade entgegen-
gesetzt der gleidhgiiltigen des Phantasten, der das Geld mifiachtet.
Der Phantast hat die sdiicksalhafte Macht, die Damonie des Geldes,
der schon mandier ungewohniiche Mensdi erlegen ist, niemals ver-
standen, er ist in Wirklidikeit von dem abhangig, was er zu ver-
aditen glaubt. Napoleon kennt die Bedeurung des Geldes genau —
und er steht daruber wie der Meister uber seinem Werkzeug.
Napoleon ist, wie die grofien Romer alle, Verstandesmensch ge-
wesen, in ihm gibt es nidits Philosophisdies, nidits Phantastisches,
nidits Religioses. Nodi auf St. Helena ist er Ciberzeugt, dal) der
150 Em if Ludia • Dit Psydofogit Napofeons
Mensch nur ein besser ausgestattetes Tier sei (was seiner Anerken-
nung des Dogmas durcfaaus nidit im Wege steht)/ und diese Gber-
zeugung gehort zum Verstandesmensdien. >Der Mensdj ist ein volU
kommeneres Tier, als die anderen . . . Sagt, was Ihr wollt, ailes ist
Materie, mehr oder weniger mit Erkennen ausgestattet ... Es ist
meine Qberzeugung, dafi wir nidits als Materie sind.« Solche Aus-
spruche wiederholen sich oft genug, und er sagt zu Gourgaud: » Wenn
wir tot sind, dann sind wir vollkommen tot.< Dieser gleichgultige Mate-
riaiismus ist ganz verschieden von dem leidenschaftlichen Atheismus
der franzdsischen Enzyklopadisten <die ihm Ja den geistigen Boden
bereitet haben). Weidie begeisterte Polemik gegen Gott spridit a us
den Karfreitag-Diners eines Diderot!
Nidit nur durcb den Zufall der politischen Lage und eines be-
sonderen Feldherrentalentes hat Napoleon so viele Kriege gefohrt.
Der Krieg war vielmehr der einzige Zustand, der ihm ganz an-
gemessen gewesen ist, der organisdie Zustand des Mensdien als
Naturwesen und nicht als Personlidikeit Audi ein hoherer Mensch
kann den Kampf wollen, um sich an einem Feinde zu rachen, uber-
sdiQssige Kraft zu entfalten, einen bestimmten Zwedc zu erreichen.
For Napoleon aber ist der Krieg eigentlidies Lebenselement gewesen.
Im Kriege hat der Mensch jeder hdheren Norm entsagt und sich
dem Naturrecht des Starkeren (Spinoza!) Qbergeben. Dies ist der
wahre Grund, dafi der Sdiidcsalsmensdh, der Mensch, der Natur-
wesen ist und nichts mehr, in seiner reinsten Erscheinungsform Krieger,
Feldherr sein wird (obgleich diese Richtung auch mit anderen An-
lagen zusammen bestehen kann). In der Herabsetzung alles Mensch-
lichen auf das Mindestmafi, auf das AUgemein-Tierische <das durch
Berechnung und Technik nur verstarkt, aber nidit verandert wird),
liegt die eigenste Sphare des Menschen als Naturwesen. Man mufi
bedenken, wie sehr einer im Vorteil ist, der in der Sdilacht erst ganz
er seibst wird (dies ist von Napoleon vielfach bezeugt), der alle seine
Fahigkeiten zur VerfQgung hat, wo sich das Nervensystem der an-
deren doth in einem ungewohnlichen Zustand befindet. For den
Menschen unserer Kultur — fur den Berufssoldaten ebenso gut wie
for jeden anderen — ist der Krieg eine Anomalie, und auch beim
und Oberlegenheit in aufierordent-
grofiten Mute sind KaltblQtigkeit
EmU Luda • Die Psydofogie Napohons
151
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lichen Verhalfnissen nichts Naturhafies, sondem Zustande hoherer
moralischer Willensanspannung.
Nietzsche hatte vidleicht die Psychologic Napoleons geben konnen,
ware er nicht sogleich in Schwarmerei geraten und hitle er vor allem
das Wesen des verbrecherischen Menschen richtig erfafit. Aber wie
Fichte in Napoleon das Urbose gesehen hat, so hat auch Nietzsche
den Sdiidcsalsmenschen — den Menschen als N aturphanomen —
nicht vom Verbrecher, der durchaus menschlich, wenn auch negativ
menschlich ist, zu scheiden gewufit, slch far ihn begeistert und alles
verdorben. Die typisch falsdhe Perspektive, unter die eine unserer
Kultur so firemde — weil antike oder orientalische — Erscheinung
wie Napoleon immer geruckt wird, ist das Entweder-Oder : ein
Genie — ein Verbrecher <auch wohl: ein Verbrecher — Genie). Dies
laflt sich ja begreifen, denn es ist nicht leicht, MaBstabe an einen
Menschen zu legen, die uns ganz und gar ungewohnt sind. Wir
pfiegen wohl Geisteskranke und Degenerierte unter dem Gesichts-
punkt der Natur <anstall der Menschheit) zu betrachten und wie die
Tiere nicht als verantwortlich, sondem als bloB naturhaft bedingt zu
werten, aber fur den seelisdi gesunden und sogar bedeutenden Men-
schen ist uns diese Art der Betraditung unnaturlidh/ wie immer
unsere theoretische Ansicht daruber sein mag — wir konnen doch
nicht umhin, den Menschen als selbstverantwortlich, als frei anzu-
sehen.
Der tiefe und prinzipielle Unterschied zwischen dem Schicksals-
menschen und dem Verbrecher ist aber der: der Schidcsalsmensch als
reiner Typus hat schlechterdings keine Beziehung, auch keine feind-
selige, zum Personlichen, zum Sittlichen, er ist Natur und handelt im
Stande der Unschuld, er ist dem Guten wie dem Bosen gleich fremd.
Der Verbrecher jedoch ahnt seine Freiheit — und ist ihr wildester
Feind. »Des Lebens Wein ist ausgeschenktlc nift Macbeth in Ver-
zweiflung, wie er den Konig ermordet hat. Der Schidcsalsmensch
weiB so wenig von der Freiheit als der eigentlichen Menschlichkeit
wie der Stein, der niederfallt, und der sich durchaus nicht frei fGhlen
wurde <wie Spinoza behauptet), konnte er denken. Der Schidcsals-
mensch erfahrt im tieferen Sinne keine Freiheit und auch kein Schidc-
sal, gleichwie das Tier kein Schicksal hat/ denn erst im Lidite des
152 Emit Luda * Die Psgdofogie Napofeons
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eigentlidi Mensdilichen kommt das Fremde, das Sdiicksalhafte zum
BewuBtsein. Eines findet sich am anderen.
Dem Sdiidtsalsmensdien fehlt jede Moglidikeit, einen Sinn des
Lebens zu fassen/ in ihm gesdhieht nidits, obgleich er in bestandiger
Bewegung scin kann <— so wenig wie durdi einen Bergsturz eine
wirldiche Veranderung in der Natur erfolgt, hodistens eine Veran-
derung im asthetisdi-formalen Zug der Linien. Was er tut, versteht
er nidit an und fQr sich als Tat, die ein Ziei vor sich sieht, sondem
nur von der Wirkung her, die sie verursadit hat. Und darum sind
seine Taten nidit Symbole seines Seins (wie beim Menschen im
hdheren Sinn>, sondern sie sind fur ihn das Sein selbst. Nimmt man
Ihm die Moglidikeit, in die Welt zu wirken — Beispiel: Napoleon
auf St Helena oder mandier andere, der immer in kleinen Verhalt-
nissen leben mud — so ist er audi innerlich tot.
Die GroBe Napoleons, die wir alle empfinden, ist nidit Menschen-
grdBe, sondem ein asthetisdies Phanomen, vergleidibar einer voll-
endet sdionen Tanzerin, die sidi in naturlidien Rhythmen wiegt/ als
Seele ist sie uns gleidigultig, vielleidit wertlos, und entzudct uns doch
als bewegte Korperform. Wir empfinden ihr Tun als schon und edel
nadi gegenstandlich-asthetisdien, nidit nadi seelisdi-menschlidien Be-
ziehungen, wie von einem Gesdiopf der Natur ausgehend, das die
Mensdiheit nur sdieinbar und vorubergehend urn sich getan hat.
Ebenso ist der Sdiidksalsmensdi ein Stuck Natur, zur hddisten Kon-
zentration gesteigert, er ist eigentlidi nicht Mensdi, weil ihm das ab-
geht, was den Menschen uber die Natur erhebt, er ist Phanomen
und kann wie ein Wasserfall oder ein Seesturm hohe asthetisdie
Bewunderung wedten. Audi diesen Erscheinungen spredien wir nidit
Wert an sich zu, wir wissen, daB sie nidits sind, als physikalisdie
Vorgange, aber wir vermogen sie in eine andere, in die asthetisdie
Lage zu Qbertragen und uns an ihnen zu erfrcuen. Und darum ist
der Sdiidtsalsmensch immer wieder der bevorzugte Gegenstand der
Diditung. Die Bewunderung, die Nietzsche, mandie Kunstler und
viele Frauen fur Napoleon empfinden, ist rein asthetisdi, sie ist die
Bewunderung des Zusdiauers fur ein Phanomen, nidit des Menschen
for einen Menschen. Diese Bewunderung zur Weltanschauung zu
erheben, beweist eine prinzipielle Verwedislung der gegenstandlidien
Em if Ludta • Die PsydBotogie Napofeons 153
W Y-p
und der personlichen Katcgorie, das heifit, man vermag nicht den
Menschcn von innen heraus als Mensdien zu verstehen und zu be*
urteilen, sondem man wertet ihn nur von auBen, nach seinen Wir*
kungen, von einem Beschauer her. Diese Perversion ist das eigentliche
Grundubel des Asthetizismus.
Wir verstehen jetzt nicht nur die Bewunderung Goethes fur Na*
poleon, der hier ein groBes Naturphranomen gesehen hat, sondern
audi die tief menschliche Empfindung Beethovens: er hat das Titel*
blatt der dem General Bonaparte gewidmeten heroischen Symphonie
wutend zerrissen, als er vemahm, der Held habe sidi zum Kaiser
gemacht. Sein reiner und genialer Instinkt hat sogleich erfaflt, daB
Bonaparte nicht der groBe Mensch sei, fur den er ihn gehalten hatte,
sondem der Mann des Tages und der Menge.
Und veil Napoleon kein grofier Mensch, sondern elne grofie
Erscheinung gewesen ist, darum hat er auch keine bleibende Wir*
kung uben konnen, er hat das Fuhlen, das Handeln, das Denken
der Menschheit nidit dauemd beeinfluBt. Als es mit seiner Macht zu
Ende ging, da ist er selbst dahin gewesen. Ein paar StraBenbauten
sind Obrig geblieben. Der Schidcsalsmensdi als ein Teil der Natur
kann nicht schaffen, sondem nur zerstoren. Wenn Napoleons Hande
unbeschaftigt gewesen sind, haben sie vernichtet, was sie erreidicn
konnten, Blumen, Mobel, Porzellan, kleine Tiere — und dieser Zwang
zu zerstoren, ist <neben einem bestandigen und undifFerenzierten sexu*
ellen Bedurfnisse) sein tiefster Ersatz far Produktivitat . . ,
Wahre Schopfung kann nur aus dem Kosmos — und aus dem
Kosmos im Menschen, aus der Personlichkeit — hervorgehen. Wenn
man auf das Leben Napoleons von einer gewissen Distanz blidct,
so erkennt man, wie all sein Tun, das mit so auBerordentlichen
Mitteln ins Werk gesetzt worden ist, keinen eigentlichen Sinn —
auch nicht fur ihn selbst — gehabt hat. Er kann niemals zur Ruhe
kommen, weil er bewegtes Sein ist — aber es ist das Umlaufen
eines Pferdes im leeren Gopel, instinkthaftes, automatisches Wollen
und Sich-Bewegen, identisdi mit dem Tun des Wilden und sogar
des Tieres, nur von einem groflen Verstande bewegt/ aber doch
wieder nicht bewufites Handeln in der eigentlichen Bedeutung, denn
BewuBtsein ist nicht Reflex der Instinkte in den Gedanken, sondem
11
154 Em/f LudSa • Die PsySofogie Napofeons
Handeln nach Sinn und Ziel, Orientierung dcs Subjektiven an ide»
ellen LeitJinien. Und dieses blinde Hintreiben versucht immer wieder,
in Bildem von Grofle und Majestat einen Ruhepunkt zu erringen.
Napoleon hat den Giebel des Mailander Domes mit seiner Statue
<als romisdier Imperator) geschmfldct und von Thorwaldsen den
Siegeszug Alexanders symbolisch meiBeln und in Rom aufstellen
lassen. Die Kunstschatze Italiens hat er nach Paris gefuhrt, um seinen
Namen an sie zu hangen.
Napoleon ist in seiner Jugend schwermGtig gewesen und hat mit
dem Gedanken des Selbstmordes gespielt. Das angespannte, in halt-
lose und durchaus unersattliche Wollen ist olFenbar zuerst mit seiner
ganzen Trostlosigkeit hervorgetreten, es hat ihn gedrangt, Biblio-
theken durchzulesen und endlosen Grubeleien nadizuhangen . Spater,
als er sich schon ganz dem blinden Geschehen ubergeben hatte, da
ist ihm alles Fragen nach Sinn und Zweck tief verhafit gewesen.
Der Mensdi, meint er, der sich die Frage stellt: Wozu lebe ich?
ist der ungluddichste von alien. Vielleicht wurde der Philosoph sagen:
Wer sich die Frage nach dem Zwedc des Lebens nicht stellt, sei
nicht wert, ein Mensdi zu sein/ aber fur den Schidtsalsmenschen
bedeutet die Frage nach dem Sinn des Lebens — Selbstvemichtung.
Die Taten Napoleons sind nicht Taten im eigentlichen und tieferen
Sinn, das heifit Wirkungen einer Seele in die Welt hinein/ sie sind
vielmehr der Ersatz fflr Innenleben und in ihrer erstaunlichen Menge
immer noch leeres Geschehen ohne seelischen Kern. Die Hinriditung
des Herzogs von Enghien, die man ihm so sehr zum Vorwurf ge»
macht hat, ist ebensowenig wie alle anderen politischen Hinrichtungen
als moralische Tat zu werten/ alles das sind instinkthafte Reaktionen
gegen Hindemisse, mogen sie auch durch den Verstand hindurch-
gegangen sein.
Napoleon hat sich selbst fGr einen Mann der Tat gehalten, und
er gilt atigemein dafGr. Aber so sehr auch sein ganzes Leben mit
Ereignissen angefullt ist — es gibt keinen bedeutenden Menschen,
der nicht mehr Taten vollbracht hatte, als er. So paradox es klingen
mag: KGnstler, Philosophen, Gelehrte, Techniker sind mehr Manner
der Tat, als Napoleon. Was bewundern wir doch an Homer, an
Mozart, auch an Edison und Geringeren? Nicht unmittelbar sie selbst
Em if Lucia • Die PsySofogie Napofeons
155
— oft wissen wir gar nichts von ihnen — aber ihrc Gestalten und
Werke <ihre Taten) sind lebendig unter uns, und erst von ihnen
fallt ein Strahi auf den Menschen, den wir dann im hochsten Sinn
als Menschen ehren. Bei Napoleon aber bewundem wir genau ge-
nommen keine einzige seiner Taten — denn daft von zwei kampfen-
den Heeren eines den Sieg davontragt, ist selbstverstandlich, und
seine taktiscben Zfige konnen nur von Spezialisten gewurdigt wer-
den. Wir bewundern Napoleon nicht als Schopfer von irgend etwas,
sondern als ein asthetisches Phanomen, als ein Schauspiel der Natur.
Er ist heute, nadi hundert Jahren, nicht mehr eine lebendige Kraft,
sondern ein Gegenstand fur gelehrte historische Bucher und fiir
Theaterstucke, und so hat sich seine behauptete Unpersonlichkeit
durch die Geschichte erwiesen. Der Verachter aller Ideologic ist
heute eine Beschaftigung fur den Geist.
Alles, was menschlich zuhdchst gilt: Liebe, Treue, Edelmut, Rein-
heit, lebendige Innerlichkeit, Produktivitat — ist bei Napoleon gar
nicht oder kaum merklich vorhanden, nur ein grofter Verstand und
unermudliches Wollen imponieren, Gaben, die in der Welt helfen,
aber unsere Bewunderung nur sehr eingeschrankt geniefien. Die
grofle Klugheit Napoleons hat absolut nichts, was an Genialitat
erinnerte, wenn sie auch zu hoher organisatorischer Kraft gesteigert
ist/ der Verstand hat kein Genie, so wenig wie die Muskelkraft.
»Genie ist Fleift« hat dieser Ruheloseste gesagt. Die Moglichkeit
des Irrsinns, die fur jeden geniafen Menschen am Horizonte steht,
existiert fur ihn zu keiner Stunde des Lebens. Sein klarer, fiber-
legener Verstand ist so fest gegrundet, daft er durch nichts erschuttert
werden kann, Und er hat sich niemals betrunken.
Der Verstand Napoleons unterscheidet sich im Prinzip nicht von
dem des Alltagsmenschen. Wenn wir annehmen wollen, daft ein
kleiner Kaufmann etwa drei oder vier Faktoren fibersehen mufl,
von denen seine geschaftlichen Erfolge abhangen <den Bedarf seiner
Kundschaft, die Qualitat seiner Waren, den Kredit, den ihm der
Fabrikant gewahrt, die Hdhe seiner Spesen)/ wenn der Leiter eines
groflen Unternehmens zwanzig bis dreiftig Faktoren, der erste Minister
eines modernen Staates eine noch groftere Anzahl in Betracht zu
ziehen hat, wobei wieder von jedem Hauptfaktor andere Faktoren
ii voi, m/i
156 Em/f Lucia • Die PsgSofogie Napoftons
zweiter Ordnung abhingen: so darf man sagen, daB diese Fahig-
keit, zu uberschauen und daraus Folgerungen zu ziehen, bei Napoleon
nodi weiter ausgebildet ist <wobei er ubrigens von einem auBer-
ordentlicben Spionagesystem und seiner tatsacfalichen Madit unter-
stutzt wurde). Aber etwas prinzipieil anderes — wie es doth in der
Intuition eines echten Erfinders iiegt — eine sdiopferisdie Synthese
ist dabei nidit im Spiel, nur h odist gesteigerter gesunder Mensdien-
verstand. »Veranderungen der Landkarte,« die mandiem so sehr
imponieren, sind nidits Sdiopferisches, das sind Versdiiebungen vor-
handener Dinge, diplomatisdie und militarisdie Zuge, die auf der
scharfsinnigen Erwagung aller Umstande und auf Gluck beruhen
<wie dies Napoleon selber genau gewuBt hat>. Diese innere Ver-
wandtsdiaft mit dem Alltagsmenschen ist ja audi der Grund, daft
alle, deren Kraft Verstand und Ausdauer, deren Gott Erfolg und
Gluck heifit, in Napoleon ihr Idol seben. Der kleine Beamte, der
junge Offizier, die entsdilossen sind, etwas zu werden, fuhlen eine
Gemeinsamkeit mit dem Welteroberer . Und das ist nidit Tauschung,
sondem Wahrheit.
Der Verstand kann nidit ladieln. Er ist immer emsthaft und weiB
nidits von Freiheit. Der alltaglidie Verstandesmensdi wie die hohere
Form des Sdiidcsalsmensdien, — sie vermogen keinen Standpunkt zu
gewinnen, von dem aus ihnen ein freier Blidt uber Welt und Mensch-
heit vergonnt ware. Sie haben kein Gefuhl fur das Komisdie
<allenfalls fdr den Witz), und an Napoleon gibt es wirklidi nidit
den kleinsten humoristisdien Zug, kein ladielndes Wort, kaum ein
Bonmot ist unter der grofien Menge der uberlieferten Aussprudie
zu linden. Niemals hat er wie andere groBe Herren beim Wein
gesessen, um einmal Diener fur Freunde anzusehen/ er ist immer
der ernsthafte, auf Wurde und Ruhm bedadite Romer. »Idi habe
das GefQhl fur das Ladierlidie nidit !« sagt er selbst. >Die Madit
ist niemals ladierlidi.c
Vielleicht kennt aber audi der Sdiicksaismensch — denn er ist dock
Mensdi! — Augenblicke, da wie ein pldtzlidies Grauen seine Un»
freiheit vor ihm aufsteht. Konnte er sein Wesen einmal jah als ein
Etwas begreifen, das heiBt: nidit als Das, afs das Selbstverstand*
lidie und Letzte t wenn er seines ganzen Seins in einem Augenblick
Emit Ludla • Die PsgSofogie Napofeons 157
nidit mehr als etwas Fraglosen, sondem als etwas FragwOrdigen
bewuftt werden konnte — dann ware eine neue Kraft in ihm er-
standen, eine so ungeheure Kraft, daft sie der Grofte seiner sdiicksal-
haften Natur die Wage hielte! Ein Bewufitsein tiefster Damonie
ware eingetreten — der Sdiicksalsmensdi ware zum Genie gewor*
den. Und so ist der wahrhaft grofte Sdiicksalsmensdi vielleidit nur
urn eines Haares Breite vom wahren Genie getrennt — aber dieser
Raum birgt den Sinn der ganzen Mensdiheit und ist wohl nodi von
keinem Sterblidien ubersprungen worden. Hier lage ein Vorwurf
hodister Art fur den tragisdien Diditer. Als Napoleon vor Goethe
stand und in diese Augen sah, ist er von einem ratselhaften, bisher
niemals gekannten Grauen angefaflt worden. Er ist erstarrt. Und
er hat diesen Bann mit dem Ausruf abgeschGttelt: Voili un homme!
Sieh da! Ein Mensdh!
158
HtinricB Mann • Der B ruder
HeinricB Mann:
DER BRUDER
NO VELLE
PETER Scfieibcl blieb nacb dem Tod seiner Eltern zurfidc als
ganz verarmter Siebenzehnjahriger und mit einer kleinen Sdiwester,
die niemand hatte als nur ihn. Er sagte sidi, daft er auf der Scbule
und spater auf der Hocbscbule wohl sich selbst nodi wfirde durdi-
bringen konnen, unmoglidi aber ein heranwadisendes Maddien/ und
ohne Saumen ging er auf die Suche nadi einer bezahlten Arbeit.
Er fand sie bei Fulle ® Sohn, Haute, zuerst als Ausgeher/ aber
bald lieBen sie ihn Briefe schreiben. Nadi adit Jahren war er Budi-
halter und hatte ein Zimmerdien far sidi allein, auf einen Hof hin-
aus, das nidit hell war/ aufier im Hodisotnmer mufite man immer
das Gas brennen. Luft und Lidit fand er zu Hause, ihm dunkte es
oft, kein Mensdi konne zu Hause, die kurzen Stunden, in denen
dies erlaubt ist, so viel Sonne und frohes Herz linden. Sie wohnten
hodh fiber einem weiten Platz, mit elektrisdien Bahnen, Obstkarren,
Soldaten. Ihr kleiner Balkon trug Blumen, und Anne drinnen sang.
Andere horten sie nidit von draufien, ihre Stimme war nicht stark/
der Bruder aber blieb auf der Treppe stehen und horte sie.
Sie war erwadisen in den adit Jahren, unter seiner Pflege, seinem
steten Gedenken, als Lohn fur alle seine Mfihen/ aber nodi blieb
sie zart und unsidier, nidit nur von Gesundheit, audi in ihren For-
men, Farben und in ihrer Art, das Leben zu nehmen oder es vor-
auszuahnen. Bei ihren wenigen Bekannten gait sie fur langweilig
oder hodimfitig, mandimal argwohnten sie Bosheit. Nur ihr Bruder
kannte sie wirklidi, er war stolz darauf, wie auf eine treu erworbene
Vertrauensstellung. Ihr ward es nur leidit bei ihm. Nur bei ihr war
er gluddidi. Am Abend mitunter und dann wenn sie ihm Gute
HeinridB Mann • Der B ruder
159
Nacht wunsdite, sah er auf zu ihr, staunte eine Weile, und nanntc
sic Beatrix. So hatte eine Prinzessin geheifien, in einem Budi mit
bunten Bildem, das sic zusammen lasen, als er zwolf und sic funf
Jahrc alt war. Damals sdwitt cr ihr aus Papier den goldenen Gurtel,
wic cr von den Huften der Prinzessin ficl. Wenn sie fiber ihrem
langcn Hcmdchen den Gurtel hatre, hiefi sie Beatrix. Ob sie ihn
uberzeugte? Ob er es entdeckte? Ihr eigentlidier Name und ihr
Wesen, das nur er sah, waren Beatrix. Ihm blieb nidus ubrig, als
ihr die Rechte zu erobern, die ihr naturlich waren.
Aber nodi wollte sie nidits/ sie lachelte schwadi und wegwer-
fend zu seinen Versprediungen von Kleidern und Schmudc, fur
kunftig, wenn sie reich sein wfirden, wenn seine Ersparnisse den
Nutzen getragen haben wfirden, auf den er sann. Es kam unbe-
merkt, sie war damals zwanzig, — und als er es dann dodi sah,
wie gem sie jetzt ihren besdieidenen Tand trug, begriff er nodi
immer nidit, dafi etwas verging. Ihre Kopfhaltung machte ihn auf-
merksam, das freiere Auftreten, die erwadite Anmut, und dann dies
Ladieln, das stolz einlud: Sieh dodi! Was er aber sah, ward dem
Bruder nidit frfiher klar, als bis er Fremde es nennen horte. Sie
sagten: >Die Anne Scheibel ist aber sdion gewordenc. Er horte es
und ward von einer solchen Freude erfafit, dafi er in der winter-
lichen Strafie plotzlidi eine laue Luft spiirte und Rosen rodi. Beim
Betreten des Hauses fand er cndlidi Worte. >Jetzt haben sie es
herausU sagte er. Jetzt sahen alle ihre wahre Natur, und nicht
mehr nur fur ihn war sie eine Prinzessin. Freilich verlor er dadurdi
einen Vorzug und einen grofien geheimen Stolz. Ihr aber tat die
Bestatigung so wohl! Unter den Blicken, die sie bewunderten, ent-
faltete ihre Schonheit sidi, ihm sdiien, ins Ungemessene. Ihn blendete
sie nur noch. Hiervon hatte er trotz allem keinen Begriff gehabt:
ein Gesidit, so klar, als sei es Fleisdi gewordener Edelstein! Und
aufgebluht das Gold der Haare, in den herangereifien Gliedern
irgendein ungeahnter Saft, — die Hand aber, man konnte sie un-
mdglidi noch nehmen ohne Demur, sie konnte sie unmoglidi anders
geben, als mit Herablassung. Sie spiirte es selbst, denn sie lachte
manchmal auf dabei, ubermutig und wie zum Spotr auf ihn und
sidi, weil alles sidi nun auf diese theatralisdie Art gewendet hatte.
160 He in rich Mann • Der Bruder
Er zahlte ihre Kleider, die teurer wurden, aber nicht sie hatte jetzt
zu danken, sondern er. Dazwisdten zeigte sie ihm unversehens ein
ernstes, vertrauliches Auge, das sagte: »Du verstehst natfirlich, es
ist meine Rolle. Im Grund bist Du alles, was ware ich. Gluddich
bin idi, weil Du nun be'iohnt bist.c
Aber sie hatre durchaus den Widen zu ihrer neuen Rolle. Sie
ging aus, trat auf, und trug Siege heim. Sie besuchte eine Sdhau-
spielschule, kannte Kavaliere, schlug Heiraten aus, die ihr nicht an-
gemessen waren. Er mufite haufig warten auf sie am Abend, und
kam sie heim, brachte sie Unbekanntes mit, Erlebnisse, Moglich-
keiten und Fragen an das Schicksai, in die er nicht immer wagte
hineinzuhorchen. Sie afi reichlich, wie ihre Schonheit es erforderte/
es geschah aber, dafi sie den Teller fortsthob, die Arme weiB auf
den Tisch stellre, und zwischen ihnen kurz den Kopf ruckend fiber
das zu geringe Zimmer hinsah, die dfirre Hangelampe, und auch
fiber ihn — gereizt hinsah, auch fiber ihn, und doch, als sei sie ab»
wesend. Da ersdirak er so tief wie nodi nie. Sein alter Rode brannte
ihm plotzlidi auf dem Rudcen, und leise, aber angestrengt sdiob er
sich mitsamt seinem Stuhl vom Tisch fort, damit sie ihn nicht mehr
rieche. Denn ein wenig, trotz aller Vorsidit, roch er wohl nadi
Hauten. Dafi er es nicht bedacht hatte, kurzlich, als ihre Freunde
sie besuditen! In einer entsetzten Sdiam ward es ihm ffihlbar, dafi
er zu viel da sei, und dafi er Anspruche madie, unberechtigte An-
sprfiche, indem er da sei. So begann er ins Cafe zu gehen, safi
einsam und grubelte, weil in diesem Augenblick die Damen und
Herren, die mit ihr einen heiteren Abend verbraditen, sie in dem
mifiverstandlichen Rahmen des zu geringen Zimmers sahen. Konnte
dadurch nicht ihre Ehrfurcht leiden? Adi es war klar, dafi dies
nicht mehr weiterfuhrte, und dafi er selbst, nur er die Schuld daran
trug. Er hatte eine Prinzessin bei sich aufgezogen und zeigte sich
nun unfahig, die Mittel zu besdiaffen ffir ihre Hofhaltung. Seine
Ersparnisse, die bisher ihre Toiletten bezahlt hatten, waren schon
dahin, was nun? Sie wartete, und die Jahre vergingen, die ihre Jugend
waren. Er stahl sie ihr, er war ihr Feind! Einst bekam er im Ge»
schaft eine unerhort grofie Summe in die Hand und behielt sie eine
Nacht lang, obwohl sie schon Abends ware abzuliefern gewesen.
Heinri<6 Mann • Der Bruder
161
Es war die Nadit, in der er mehrmals starb und mehrmals lebre
wie noch nie. AJs es Morgen ward, war er dem Abgrund ent-
ronnen, und was er fuhlte, war Erbitterung gegen sie, die Glaubi-
gerin, die ihn so sdiwer bedrangte. Er wolle sie einem braven
Mann geben, besdiloB er hart, — aber wie flehentlidi bat sein
Herz es ihr ab, als sie am Abend vor der Tiir seines Gesdiaftes
stand und ihn abholte. Sdion und vomehm wie keine, ging sie den-
noth an seiner Seite durch die glanzendsten StraBen. Hinter der er-
leuchteten Glastur eines Friseurladens sah man eingeseifte Herren
sitzen, streng wGrdig, aber doch abgerGstet. Im Vorbeigehen beugte
die Sch wester sidi vor das Gesicht des Bruders. »Da sitzen sie,c
sagte sie, und hatte um ihren karminroten Mund zwei Zuge von
HaB und Hohn. Nodi beim Abendessen dadite sie wohl daran,
denn unvermittelt ladite sie auf, und wie er hinsah, war es wieder
dies Gesidit. Da sie merkte, er sah hin, verwandelte es sidi, und
ihre Augen tauchten in seine, mit einer soldien Kraft von Mirleid,
Dankbarkeit und Wissen, daB er fuhlte: *Gesdiehe was immer — .«
»Wir wollen dodi nodi unsere Partie spielen,c sagte sie, da ward
ihm sdion wieder bang, denn es klang wie ein fetztes Mai. Dann
gab sie die Karten, mit ihren Handen, von denen Duft wehte. >Du
sdhwindelst wohl?« sagte sie heiter, da er gewann/ und langsam,
mit verlorener Miene in die Lampe starrend: »Adi nein. Am sdiwer-
sten wird man die AnstJndigkeit los.«
Kunftig zeigte er sidi nodi seltener, er durfte nidit langer sidi da-
zwisdiendrangen in den Lebenskampf, dem er sie nidit hatte entheben
konnen. Was sie fortan erlebte, gehorte nur ihr — und wohl noth
einem, aber nicht ihm. Sein waren die Angst, die Sehnsudit und der
Zorn, dies gehetzte Herz, das anbetete und verwunsdite in einem.
Er wuBte gleidiwohl immer, was verging/ ihm sdirien es Dinge zu,
die kaum waren, ein Haudi in der Luft, ein Sthatten in zwei Augen.
Er kannte den Mann — hatte ihn nie mit ihr gesehen, war ihm un»
bekannt, und stand dodi unter einem Haustor, um ihm entgegenzu*
blicken, der Gestalt des Sdiidtsals, um ihm nadizublidten, dem Gang
des Sdbidtsals, unerbittlidi wie es ging, und ganz fremd, Einmal aber
verlieB er das Geschaft zu einer ungewohnten Zeit, ein hohes Fieber
notigte ihn/ und zu Haus nahm er wahr, sie waren da. Er stand.
162
Heinrich Mann • Der B ruder
atmete nicht und horte. Ein entzuckter Klang drang hervor, und ja,
dieser Klang: Beatrix. Da ging er fort, fiebernd, aber seine schnellen
Pulse klopften wie ein Gluck — ein Gluck, sei es wie immer. Sie hatte
von dem, den sie liebte, genannt werden wollen wie von ihm!
Wenn sie sich von Liebe verklart fuhlte, ging sie in das Marchen*
wesen ein, das sein, sein war. Er fuhlte: Meine Sch wester!
Tage zogen vorbei, da sie ihn wohl ganz vergessen hatte, und
Tage, an denen sie ihn nicht fortlassen wollte/ aber er wufite, wann
es aus Gute und ruhigem Sinn kam, und wann er sie retten sollte.
Er rettete sie nie/ sie mufite allein an sich tragen, er konnte ihr nur
stumm und treu wie ein Hund, bedeuten, daft er Bescheid wisse um
ihre gekrampften Mienen, die Trennung hiefien, bevorstehender Zu»
sammenbrucb, Angst des Endes, um ihr Umherirren und Seufzen,
worin schon neue Hoffnungen sich meldeten, ein anderer Mann, und
wieder Leichtsinn und wieder Schmerz. Ihm schien die Zeit stillzu*
stehen, in allem Hin und Her, das nur ablief und zu nidits fuhrte,
und dem er beiwohnte in immer gleicher Demut und Ergriffenheit.
Dennoch erschien ein Abend — sie hatte ihn nicht fortgehen lassen
und war selbst nicht vorbereitct zum Ausgehen, setzte sich hin bei
ihm, fand keine Ruhe, hatte schon ihr Zimmer aufgesucht und kam
noth zurQck. Er sah auf, erstaunt wie von jeher, wenn die Gunst
des Augenblicks ihm ihren Anblick schenkte. In ihrem Gesicht aber
entstand nichts von der kleinen Freude, die sein Staunen sonst ihr
schenkte. Seltsam, sie hatte ein Gesicht, als sahe sie, nun sie zu ihm
sprach, nicht sich, sondem wie vor Zeiten, wirklich ihn. Sie sagte:
»Hast du denn eigentlich nie daran gedacht, zu heiraten?* Er be*
dachte, was ihr denn einfiele. Um Zeit zu gewinnen, sah er an sich
nieder und er murmelte: »Jetzt doch wohl nicht mehr.« Dies war es
aber nicht, in ihm stammelte es anders. »Wer wie ich — € Und:
»Beatrix!« Ihr Blidc zog sich schon zuruck, sie sah nicht w eg, und
sah schon nicht mehr ihn. »Hattest du geheiratet,« sagte sie, »viel*
leicht wiirde ich dann ein Asyl gehabt haben, wenn es mit mir aus
ist.c Er schrak auf, fassungslos: »Mit dir!« Da schwieg sie zuerst
gramvoll und sagte dann, mit einer Stimme wie eine Kranke: »Sieh'
mich doch an! Sieh' mich doch nur wirklich an!« Und weil sie es
wollte, sah er sie, sah mit einem Schiag alles. Sie hatte die Lippen
Hein rid Mann • Der B ruder 163
heute nidit gefarbt, die Haut des Gesidites gelassen vie sie var,
dem Blick nidit nachgeholfen, das Kletd umgehangt vie um irgend-
eine Nebenperson, und stand auf einmai da, als sei sie entblofit von
einem goldenen Nebel und in den Allrag versetzt. Die Augen er-
kaltet von Enttauschungen und geschvacht von Verlusten, der Zug
des Hohnes eingevurzelt um den Mund, umgewuhlt die Stirn vie
ein Feld mit Leichen, und mude dies mensdilidie Wesen nacb gc-
tragenen Lasten, entstellt das Antlitz und der Leib durdi Kampf,
den taglidien Kampf um das Brot der Seele und um ihr Dasein,
den nie entschiedenen Kampf: so stand sie vor dem Bruder, der die
Hande erhob, langsam aufhob und sie faltete. Da sie sah, er habe
begriffen, sagte sie: »Diese adit Jahre varen eine lange, lange Zeit.c
Und vahrend ihre Stimme, kranke Kinderstimme, nodi nadiklang,
stridi sie tastend uber ihre Huften, als seien sie vund, oder als
sudite sie nacb ihrer verlorenen Form. Da riB er sie an sidi, und
hinsinkend veinten sie.
Das Gesidit nodi trocknend, eilte sie sdion fort. Unter der TOr,
zurGdtgevendet, sagte sie: »Morgen gehe idi auf eine Reise. Du
kannst unbesorgt sein,« — sagte es instandig, als setzte sie hin-
zu: »Glaub mir, oder dodh, lab midi es glaubenlc Morgen kam,
und sie var fort, und er in seinem Hofzimmer beim Gaslidit er-
diudtte mit beiden Handen in seinem Herzen, vas er vufite, sein
ungeheures Wissen. ZveiTage, da rief man ihn in die Frauenklinik:
tot sei sie, tot sei seine Sdiwester. Er ging und beugte nodi einmai
seinen grauen Kopf vor ihrer unverganglichen Sdionheit.
Der Sarg sdivankte hinaus, da var ein Mensdi da und hielt dem
Bruder die Hand hin. Es var ihr erster Geliebter, jener, der an
Gestalt und Gang dem Sdiicksal geglichen hatte. Armes Sdiicksal,
verstort und bleidi. Trotz der truben Friihe standen drauRen Leute,
um den Sarg zu sehen. Der Bruder horte sagen: »Sie var nur
eine — «. Er sah sidi njcht um nach dem Wort, er dadite: »Wifit
ihr denn gar nichts?c und er ftihlte Veraditung und Mitleid.
Bertbofd Viertef • Die SSfacSt
BertBofcf Viertef-.
ZWEI GEDICHTE
DIE SCHLACHT
Unbesorgt, ob die Holle brullt auf dem Hflgel —
Ja der Mensdi, der Mensch nur hat die Holle erfunden —
Geht im Tal der Bauer, fuhrt seinen Pflug vor.
Unbekummert um den Triumph der Minen —
Hodiauf quirlen die schwarzen Saulen Jehovas —
Lauft im Tal das Bauernkind, wo der Pflug geht.
Unbesorgt um den tanzenden Ekrasitberg —
Martyrer schwebten ohne Hande und Fufle —
Grabt der Pflug seine Furdie — der Bauer ein Kreuz schlagt.
Unbekummert um die zerworfenen Puppen —
Droben am Berghang, buntverkleidete Leidien —
Trabt im Tal die Stute, froh sdireit das Fohlen.
Unbesorgt um die giftige, rotbraune Wolke —
Wo seit Nachten der Wald brennt, riesige Esse —
Kreist urns Fohlen eifersuditig die Stute.
Rosige Wolkdien seh ich gemalt und sdiwarzes Gewolke,
Breit am Firmament die brandige Glorie
Und der braunen Halse Spiel in den Grasem.
Bert Botd Viertef • BauemftuB*
BAUERNSTUBE
Ewig s&wingt die Wiege,
Holzgehohltes Trogiein.
Auf dem Ofenlager
Altvergilbte Ahnin
Zieht das Wiegenzugband
Stetig wie die Wanduhr.
Und die Katze warmt sidt
Weidigeknault beim Ofen.
Weifles Kleid ist Sonntag!
Zopfe, eingefloditen
In die bunte Qiiaste.
Blankgewidiste Stiefel.
Die Ruthenenmutter
Lehnt beim Fenstergucklodi.
Eisbeblaute Sdbeibe,
Schneebegrabnes Bergdorf.
Aufgewadit das Kindlein,
Heifi und runde Wange.
Halt mit beiden Fausten
Mtitterlidie Brust fest.
Saugt mit guter Lunge
Mutterliche Labe.
Softer Milchdunst dammert
In der iauen Stube.
Bauer ist versdiollen
Wo im wirren Kriege.
Baurin in der Scheune
Fugt sidi den Soldaten.
Wohlig spinnt die Katze,
Wohlig gludtst das Kindlein.
Bald bewegt die Wiege
Ihre Welle wieder.
Eduard Bern fit in • Vdfier tu House
Eduard Bernjiein:
vOlker zu hause
ERINNERUNGEN
II*>.
VOR DREI JAHRZEHNTEN IN UND UM LUGANO
~K LS ich im verhangnisvollen Monat Juli 1914 nach einer Pause
einem Vierteljahrhundert Lugano einen kurzen Besuch ab-
stattete, war mein erster Eindruck eine ziemlidhe Enttauschung. Wohl
war ich darauf vorbereitet, die Stadt, die 1878 erst ein paar Tausend
Einwohner gezahlt hatte, erheblich groBer und in hoherem Grade als
Fremdenstadt wiederzufinden, und nahm es als selbstverstandlich
hin, dafl nun eine um ein Vielfaches groBere Reihe Hauser, als da-
mats, die Budit des Sees umrahmt, daB eine elektrische StraBenbahn
die Stadt durchzieht und sie auf beiden Seiten mit Vororten ver-
bindet, und daB Laden und Wirtsdiaften sich in sehr viel groBerer
Zahl und vielfach auch groBerer Eleganz darbieten. Audi wuBte ich
manches des Neuen, insbesondere die inzwischen erstandene schat-
tige Promenade am See mit ihren Schmuckanlagen, durchaus zu wur-
digen. Durch sie erhalt Lugano den Anstridi eines Luzern in ver-
kleinertem Mafistabe.
Aber noth in einem andera Sinne konnte und kann man von
einem kleinen Luzern sprechen. Die vielen, vielen palastartigen neuen
Hotels und Pensionen, die sidi den See entlang aneinander reihen,
sie konnten, stattlich wie sie sind, ebenso gut wie Lugano auch Lu-
zern angehoren. Oder auch jedem andern Fremdenort. In dem MaBe,
wie sie raumlich gewachsen ist, hat die Stadt an Charakter verloren.
Die Eigenart ihres einstigen Wesens ist, wenn auch nicht vollig ver-
v) Siehe das Dezemberheft der Weifien Blatter, 2. Jahrgang 1915.
167
Eduard Berttftein • Voffor zu Hause
schwunden, so doch arg zusammengesdirumpft und wird erdruckt
von eincm Zuwadis, der alles Mogliche darbietet, nur das nidit, was
dicser Eigenart entspredien wtirde.
Im Jahrc 1878 war Lugano in Bauart und im Wesen seiner Be*
vdlkerung nodi eine vollig italienisdie Stadt. Da die Gotthardbahn
noch vor ihrer Vollendung stand, ward es vom Norden her fast
nur von Auserwahlten besudit, die kein groBes Heer bildeten, Vier
oder funf Hotels mit nidit ubergroBer Zimmerzahl genugten, die
zahlungsfahigen Besudier unterzubringen, der Rest der Unterkunfis-
stellen waren Herbergen — alberghi — italienisdien Stils fiir Arbeiter
und sonstige wenig bemittelte Elemente. Italienisdi im Stil gaben
sicb, wie die StraBen, so die Wohnhauser, die Laden und die Wirt*
sdiaften. Audi die Bedienung in diesen war mit wenigen Ausnahmen
rein italienisdi. Die Ausnahmen in den Laden wurden durdi In*
sdhriften bekannt gegeben, die mitteilten, daB man franzosisdi oder
englisdi oder beides spredie, von deutsdi war nodi kaum die Rede.
Selbst in dem einzigen Cafe etwas besserer Gattung, dem Cafe
Terreni an der Nordostecke des Regierungsgebaudes — des jetzigen
Stadthauses — radebredite nur der eine der beiden Kellner neben
dem Italienisdien nodi ein paar Satze Franzosisdi und Englisdi,
wollte man gut verstanden sein, so mufite man audi mit ihm die
Landessprache spredien.
Ganz italienisdi war audi das kleine, ostlidi vom Regierungs-
gebaude erridhtete Theater, von dessen Existenz heute kein ubrig
gebliebener Stein mehr erzahlt. Da gerade eine Truppe dort Vor*
stellungen gab, ging idi an einem der ersten Abende nadi meiner
Ankunft hinein. Fur ein sehr besdheidenes Eintrittsgeld ward idi in
den Raum eingelassen, den man bei uns Parkett nennt. Hatten nidit
ganz in dessen Vordergrund drei rohgezimmerte Banke Sitzplatze
dargeboten, deren Benutzung einen kleinen Aufschlag kostete, so
ware dieser ganze Raum Stehplatz gewesen. Und wie ward er be-
nutzt! Das Theater war an dem Abend nur maBig besudit, und in
ungeordneten und gar nicht sehr still sidi verhaltenden Gruppen
stand das Publikum im Saal herum. Ja, zu meinem Entsetzen be*
merkte idi, daB einer der Besucher seinen Hund mit hatte, dem
er von Zeit zu Zeit mit einem zugeworfenen Bissen die Lange*
168 Eduard Bemftein • Vofktr zu House
r~w- ^r wrrr T T r r r r -r 1 r ' r ' ' ^ TT r ' ^
weile vertrieb. Fast nodi vollig des Italienisdicn unkundig, konnte
idt nicht feststellen, ob man auf der Buhne ein Drama oder cin
Lustspiel auffuhrte. Kundige unterriditeten midi spater, dafi dies fur
das Benehmen des Publikums grundsatzlich gleidigultig gewesen sei.
Der ganze untere Zusdiauerraum war fQr die armeren Bevolke-
rungsklassen bestimmt. Was sidi zur burgerlidien Gesellsdiaft im
KlassenbegrifF des Wortes zahlte, hielt nur die Benutzung der Logen
fur passend. Diese zogen sidi die ganzen Range entlang, offene
Rangsitze, wie man sie bei uns hat, konnte idi nidit entdedken. Die
Logen wurden von Burgerfamilien fur die ganze Zeit, wo die Truppe
spielte, gemietet, man ging abends in seine Loge, um sidi zu unter-
halten, wobei die Auffuhrung auf der Buhne oft die Nebenrolle
spielte. Die Familien besuditen einander, ward mir erzahlt, im
Theater von Loge zu Loge und sdiwatzen dabei nadi Herzenslust/
nur wenn oder solange es den Sdiauspielern gelang, das Publikum
in nennenswerte Spannung zu versetzen, herrschte jene vollige Ruhe
im Zuhorerraum, an die man bei uns wahrend der Vorstellungen
gewohnt ist. Als idi einige Jahre spater einmat jemand, den idi in
Lugano kennen gelernt hatte, in Zurich ins dortige Theater mitnahm,
geriet er fast aufier sidi daruber, daft man sidi dort, solange der
Vorhang hoch war, »still wie bei einer Predigt« verhielt. Dieser je-
mand war kein Geringerer, als der franzosisdie Sozialist Benoit
Malon, einst Mitglied der Pariser Kommune und nun auf dem Wege,
einer der Begrunder der soziaidemokratisdien Arbeiterpartei Frank-
reidis zu werden.
Verweilen wir indes zunadist nodi etwas bei der Stadt Lugano
und ihrer Einwohnerschaft. So itafienisdi viele der Sitten hier an-
muteten, so wenig entspradi der allgemeine Volkstypus dem Bilde
des Italieners. Sonnabends und Sonntags sammelte sidi viel Arbeiter-
volk auf dem groflen Platz vor dem Regierungsgebaude, der heutigen
Piazza della Riforma, aber nidit, um zu demonstrieren, sondern um
zu sehen oder zu horen, was es Neues gabe, oder sonst der Ab-
wedislung halber. Da fiel mir erstens auf, wie ruhig es dabei im
ganzen zuging, und zweitens, wie wenig sidi die grofte Mehrheit der
Arbeirer in bezug auf Hautfarbe und Physiognomic vom Durdh-
sdinitt unserer deutschen Arbeiter untersdiied. Man war nidit um-
Eduard Bern fie in • Vo (tier eu Hause 169
+****jmm*0******a f***************************************************************************************™****************************'*******
sonst im Gebiet der scit dcm letzten Jahrhundert vor unserer Zeit-
redinung von germanischen und anderen nordischen Stammen uber-
fluteten Lombardei. Im ubrigen mul) die Ruhe der Masse audi ihrer
groBen MaBigkeit im Trinken zugeschrieben werden.
Es ist eine allgemein gemachte Erfahrung, die zum Teil aus kli-
matischen Grunden sidi erklart, daB in den eigentlidien Weinlandern
die Bevolkerung sehr viel groBere MaBigkeit im Trinken ubf, als
dort, wo Bier und Branntwein den Wein ersetzen. Und im sudlichen
Tessin war damals wenigstens Wein nodi vollig das Volksgetrank.
Dies wurde mir in drastisdier Weise einige Tage vor meiner Ab-
reise von Lugano im FrOhjahr 1879 veransdiaulicht. Fur die Be-
forderung unseres ziemlicb umfangreichen Gepacks — neben mehreren
Koffem nodi ein halbes Dutzend ziemlicb groBer Kisten mit Budiern
— zur Guterannahme hatte ich mit einem Sdiiffer und dessen Ge-
hilfen akkordiert, und nachdem sie diese Arbeit besorgt hatten und
von mir abgelohnt waren, lud idi sie gebuhrenderweise ein, mit mir
nodi in eine Wirtschaft einzukehren. Meinem heimatlidien Volks-
getrank treu, wahlte idi eines der inzwisdien von mir ausgekund-
sdiafteten drei Lokale, wo man neben Wein ein in Bellinzona ge-
brautes Bier erhalten konnte, bestellte fur micb ein Glas davon und
fragte meine Begleiter, ob sie Bier oder Wein haben wollien. Beide
erklarten sidi fur Wein. Als wir aber dann beim Trinken waren,
bemerkte ich, daB beider Augen immer wieder sidi dem Bier zu-
wandten. >Ihr hattet wohl dodi lieber Bier getrunken?« fragte ich.
»0 nein,€ ertonte es wie verwahrend aus beider Munde, »fur
uns ist Wein gut genug — basta per noi il vino.« Ob wohl nidit
gerade ubermaBig teuer <das Glas kostete dreiBig Centesimi) war
das Bier nadi ihren Begriffen offenbar das vornehmere Getrank, ein
Luxus, der nur den oberen Klassen zukam.
Lugano war der eleganten Welt fur einen Winteraufenthalt nidit
warm genug, die Hotels wiesen daber im Oktober 1878 nur noch
vereinzelte Gaste auf, und so waren die Strafien der Stadt und der
Weg den See entlang jedenfalls menschenleerer, als es in der eigent-
lidien Saison der Fall sein muBte. Dodi wurde mir versidiert, daB
audi wahrend dieser das Fremdenelement wenig auffallig hervortrete,
der Grundzug des Lebens der Stadt vielmehr unverandert derselbe
12
170
Eduard Bernfiein • Vofktr zu Ha us*
bleibe. Das war nun jetzt grundlich anders geworden. Ein rastfoses
Treiben herrscbte vor, und das uberflutcnde Element der Fremden
aus alien Landern — jetzt vor allem Deutsche — nimmt dem Ort
vollig seine Besonderheit. Die ruhige Via Nassa mit der alten, sdhone
Fresken Luinis darbietenden Klosterkirche Santa Maria degli Angioli
war jetzt eine vom Tram durdifahrene modeme Avenue, in der die
maditigen Hotel- und Pensionsbauten die besagte Kirdie vollstandig
erdrucken, Ebenso verandert ist die nach Osten sidi hinziehende
Via Canova, sowie der Platz, in den sie einmundet, und der da-
mals den ostlidien AbschluB der Stadt bildete. Zu jener Zeit groBer
als heute, aber ungepflastert, war er an der Westseite von Werk-
statten begrenzt, vor denen meist im Freien gearbeitet wurde, wah-
rend gegenuber auf Gestellen aufgehangte unverarbeitete Gewebe
vom Dasein einer kleinen Weberei oder Bleidierei erzahlten. Von
ihm ab fuhrte eine sdimale, die Mauer des Gartens der Villa Ciani
hohlwegartig entlang laufende StraBe zum wdt ausgedehnten Campo
Marzio und eine dieses durdisdineidende Baumallee zu dem am
FuBe des Monte Bre gelegenen Weiler Cassarato, der nur erst
einige wenige Arbeiterhausdhen aufwies. Jetzt ist die Via Canova
nur nodi GesdiaftsstraBe, die alten einfadhen Laden italienisdien Cha-
rakters haben modernen groBstadtisdien Laden Platz gemadht, aus
der urwuchsigen Arbeitsstatte ist die wohlgepflegte Piazza dell'Inde-
pendenza und aus dem Hohlweg die Viale Carlo Cattaneo gewor-
den. Hier wie in Cassarate wiegt der Villendiarakter vor — alles
sdimudt und gefallig, aber ohne jede Farbe.
Indes diese und die vorerwahnten Veranderungen muB man als
unvermeidliche Folgen des Wadistums und des so gewaltig gestiegenen
Fremdenbesudis in den Kauf nehmen und ihnen die beste Seite ab-
zugewinnen suchen. Woruber icfa mich aber gar nidht hinwegsetzen
konnte und kann, das ist die mit den sdion bewaldeten Anhohen
um Lugano vorgegangene Wandlung, Das ehedem so harmonische Bild
dieser Umrahmung ist durch die Fulle der uberall in wiister lln-
systematik emporgesdiossenen Riesen-Hotels, Pensionen und Private
Kauser entsetzlidi verunziert. Ein Blidt auf die Anhohen vom See
oder vcn dessen Lifer aus fallt auf ein jeden Sdionhcitssinn belei-
digendes Chaos. Einzeln fur sidi und aus der Nahe betraditet mag
Eduard Bern fee in • Vofker zu Ha use
171
jedes von ihnen seine Schonheit haben, auf das Gesamtbild aber,
das sie den von ihnen besetzten Anhohen verleihen, pafit nur das
Wort: absdieulich. Ein wahres Gluck, dafi weiter nach Osten hin dieser
Segen aufhort, wie er auch den der Stadt nach Sudosten zu gegen-
uberliegenden Monte Caprino und dessen Fortsetzung bis jetzt noth
verschont hat.
★
Um die Mitre des neunzehnten Jahrhunderts war Lugano ein
wahres Fluchtlingsnest gewesen. Die Rebetlen gegen Ostreichs Herr-
schaft uber die Lombardei fanden hier einen Zentralpunkt, von dem
aus sie mit Leichtigkeit ihre Brandschriften und unter Umstanden
Waffen in das Ostreich unterstellte Gebiet einschmuggeln konnten.
Nach einem der beruhmtesten italienisdien Rebellen ist die Viale
Carlo Cattaneo benannt. Von Lugano aus ward 1853 der Mazzi-
nianische Mailander Putsch ins Werk gesetzt. Aber nicht nur Italiener
sondern audi Revolutionise anderer Nationalitaten wahlten gem das
stille, so romantisch am Ufer des Ceresio gelegene Lugano zum zeit-
weiligen Sdilupfwinkel. In dem kleinen Flecken Besso oberhalb Lu-
gano steht oder stand noch zu meiner Zeit ein einstockiges Haus,
in dem, wenn auch nicht unmittelbar nacheinander, so doch der Zeit-
folge nach hintereinander der Italiener Guiseppe Mazzini, der llngar
Lajos Kossuth, der Pole M. Langiewicz und der Russe Michael Baku-
nin gewohnt haben. Es versteht sich von selbst, daB ich eine mir
gebotene Gelegenheit gern ergriff und mich eines Tages von einer
Freundin der Familie Bakunin in diesen heiligen Revolutionsraumen
herumftihren lieB.
Jedoch auch von Fiuchtlingsleben merkte man, als ich nach Lugano
kam, nur noch wenig. Die Zeit der national-politischen italienisdien
Konspiration war eben vorbei, wer von Mazzinianem noch in Lugano
lebte, war dort geblieben, weil er daselbst seinen Unterhalt gefun-
den hatte, und verhielt sich still. Ein Exemplar dieser Spezies lernte
ich in der Person eines Mannes — ich glaube, er war Buchhandler —
namens Imperatori kennen, der nur noch fur das vom Volk mit
Leidenschaft betriebene Kugelspiel »alle boccec, in der Luganer Mund-
art alle botsch ausgesprochen , Interesse zu haben schien. Indes
wurde mir doch auch die Bekanntschaft mit einem Vertreter einer
12 voi. m/i
172
Eduard Bern fie in * Vdfier zu Ha use
*************************** w***********sm********m***m*m*******m**********m*m*m**m****mm*m**mmmmm*****m***mmm****mm***mrn*
ganz andem Gattung italienisdier Revolutionare nicfat vorenthalten.
Id) war gluddid) genu g, nod) den groBen Ippolito P...i in Lugano
zu finden.
Das war dn Typus, den es lohnte kennen zu lernen. Ein Mann,
wie geboren, der erste zwar nicfct in Rom, aber doth — anderswo
zu sein. Von Statur und Antiitz ein wahrhaft schoner Mann, groB,
statdid) gebaut, mit dunkiem Kopfhaar und Bart und blitzenden
Augen, kam der »professore« Ippolito P . . . i in seinetn AuBern ganz
und gar den Anforderungen nach, die man an einen seriosen Bas-
sisten der italienisdien Oper zu stellen berecfatigt ist. Aber er war
kein Opernsanger, und serios . . . nein, sends war Ippolito P . . . i
audi nidit, so gern er serios genommen werden wollte. Von Beruf
Gymnasiallehrer, unterhielt er ein kleines Lehrinstitut und gab neben-
bei ein radikales Halbwochenblatt >11 Republicanoc heraus, dessen
Spezialitat fulminante Sdiimpfartikel auf die katholisch-konservative
Partei waren, die damals im Kanton Tessin regierte. Und fQrwahr,
an Vehemenz und Kraftworten konnten diese Artikel schwerlich uber-
boten werden. »Die Viper verliert ihr Gift nidit«, »Klerikale Infa-
mienc, >Die Niedertraditigen am Werk< — diese Titel seiner Ar-
tikel lassen auf ihren Inhalt sdtlieBen. Warum er Italien hatte ver-
lassen mussen, weiB id) nicht. DaB er kein reditglaubiger Mazzinianer
war, verriet seine demonstrativ zur Sdiau getragene Gegnersdiaft
gegen den »Iddio«. Demonstration war sein Lebenselement, sein
Auftreten so theatralisd) wie nur mdglich. Wenn er vom Marktplatz
her gehobenen Schrittes in das Cafe Terreni kam, gab er in seiner
lauten Weise dort sofort der Unterhaltung den Ton an. Kein Gast
entging seinen Augen, keinem blieb die Kundgabe seines Atheismus
und Materialismus, wie seines politisdien Radikalismus vorenthalten.
Als im November 1878 die 78 Berliner Sozialdemokraten, die auf
Grund des soeben verhangten kleinen Belagerungszustandes plotzlid)
ohne jeden AnlaB in einem Schub aus Berlin ausgewiesen wurden,
einen Aufruf an ihre zuruckgebliebenen Genossen veroffentlichten,
worin sie diese aufforderten, unerschuttert zur gemeinsamen Sache
zu halten, aber sidi zu keinen unuberlegten Streichen hinreiBen zu
lassen, legte id) ein mir ubersandtes Exemplar dieses Manifests
unserem P...i vor, da er zwar nid)t deutsd) sprad), aber es leid-
173
Eduard Bern fie in • Vo flier zu House
lich lesen konnte. Mit einer unnachahmlichen Geste gab er es mir
zuruck: *Troppo moderato, caro amico, troppo moderato!* Mit
uns deutschen Sozialdemokraten war er ganz und gar nicht zufrieden.
Ich habe ihm das gelegentlich in meiner Wieise zurudcgegeben. Ob*
wohl auch ich der materialistischen Weltauffassung anhing, war seine
Art, sie zu manifestieren, ganz und gar nicht nacfa meinem Ge»
sdhmatk. Er bekam es fertig, vor dem Cafe Terreni mit lauter
Stimme, dafi man es uber den ganzen Platz horen konnte, auszu*
rufen: >Io sone una bestia, non riconosco che il mangiare, il bevere
e le donne.c Als ich mich erst im Franzosischen einigermafien mit
ihm unterhalten konnte, erklarte ich ihm eines Tages rund heraus,
die Lekture seines Blattes madie es mir verstandlich, warum <was
damals der Fall war) die klerikale Partei selbst in Lugano an An-
hang gewinne. Er wollte midi darauf katechesieren.
»Eh bien, citoyen Berenstein,* rief er aus, »vous socialiste alle-
mand, vous n'etes peut-etre meme pas athee?«
Urn ihm etwas aufzugeben, erwiderte ich, das sei in der Tat
der Fall.
Nun war er doch erstaunt. >Et vous croyez en Dieu?«
*Non plus*, gab ich zuruck,
•Comment done? Vous pretendez n'etre pas athee, et en meme
temps vous declarez ne pas croire en Dieu. Que veut dire cela?«
Ich kannte die klassische Antwort nodi nicht, die der beriihmte
La Place einst Napoleon I. auf die Frage gab, weldie Rolle Gott
in dessen Weltsystem erfiille, und entbehrte fur meine Auffassung
sehr der wissenschaftlidien Grundlagen, uber die der grofie Astro*
nom und Naturphilosoph verfugte, Aber ein ahnlidier Gedanke, wie
der, welcher in den Worten lag: »Sire, je n'avais pas besoin de
cette hypoth£sec hatte dodi meine Antwort diktiert, und so erwi*
derte ich trodeen: »CeIa veut dire, que cette question metaphysi*
que ne m' occupe pas.«
P . . . i fand sidi mit dieser positivistischen Antwort ab, Aber be-
friedigt hat sie ihn sdiwerlidi, Der Kampf gegen das Konigtum war
in der republikanisdien Schweiz selbst nur Metaphysik, eine soziale
Volksbewegung von tiefgehender Bedeutung gab es im Tessin nicht,
so war in diesem katholisdien Kanton, wo die Parteiganger des
174
Eduard Bern fee in • VSffier zu Hause
Klerus In der Tat das Heft In der Hand hatten, der Kampf ge gen
die Kirche fur den Radikalismus des Mannes der einzige reale
Kampf. An Anlafi zu scharfer Kritik der klerikalen Machthaber hat
es nun sicherlich nicht gefehlt. Das renommistische Zurschautragen
eines ohnehin ziemlich oberflachlidien Atheismus und Materiallsmus
war indes zuletzt geeignet, die Volkselemente, auf die es ankam,
dem Klerus zu entfremden.
Ganz anders afs der brave P . . . i fQhrte sidi ein italieniscber
Anarchist auf, der damals unfreiwillig in Lugano sein Heim hatte. Da
er hoffentlich noth unter den Lebenden weilt, wird man mir gestatten,
seiner hier nur unter einem Pseudonym zu gedenken. Filippe Mar-
zottl, wie wir Ihn nennen wollen, war keine so auffallige Ersdiei-
nung wie P...I, aber gleichfalls von hoher Statur und schon g e-
schnittenen Gesiditszugen, und da er junger und schlanker war als
jener, lieD er, obwohl nur ein einfadier Friseurgehilfe, den burger-
lichen Politiker an Eieganz der Bewegungen weit hinter sidi. Dabel
war an ihm nichts Erkunsteltes, sein Auftreten so ungesucht und
bescheiden, wie nur moglich, Als sehr hubsch, wenn auch nidit ge-
rade als eine blendende Schonheit, konnte audi seine Frau Marietta
gelten, von der er zwei Kinder im Alter von 7 und 5 Jahren hatte.
Das Ehepaar lebte in proletarischen Verhaltnissen und erhohte das
Einkommen aus dem sehr mafiigen Arbeitslohn des Mannes unter
anderem durch Abvermieten eines Zimmers. Bei ihnen hatten, bevor
ich nach Lugano kam, zeitweise die damals durch ihren ProzeB wegen
des Attentats auf den Polizeichef Trepoff zu europaisdier Beruhmt-
heit gelangte russische Sozialistin Vera Sassulitsch und deren nur
erst in engeren Kreisen russischer, franzosischer und italieniscber So-
zialisten bekannt gewordene hochbegabte Landsmannin Anna Kuli-
schoff gewohnt.
So ruhig Filippo Marzotti fur gewohnlicfa in seinem Benehmen
war, so lebhaft war sein politisches Empfinden. Er war dem Anar-
chismus mit Leib und Seele ergeben, wobei man jedoch nicht ver-
gessen darf, dafl der Anarchismus, oder besser: was sidi so nannte,
in Italien die urwuchsige Form des Sozialismus war und in den
ganzen Qberlieferungen des Volkes wurzelte. Die anardiistisdie Be-
wegung war indes nach dem MiBglOdcen verschiedener Aufstands-
Eduard Bernftein * Voffier zu House
175
*********************************************************************************************************************************************
versuche schon in das Stadium einer Krise eingetreten, die ihr schwere
Verluste zufugen sollte.
Fragte man in der zweiten Halfte der siebziger Jahre nach den
hervorragendsten Verfechtem des Anarchismus in Italien, so konnte
man sicher sein, an erster Stelle die Namen Andrea Costa, Carlo
Cafiero und Enrico Malatesta zu horen. Nur der Letztgenannte ist
noch am Leben und halt auch wohl noch immer zur alten Fahne.
Cafiero, der nach einem hochst opferreichen Leben in geistiger Um»
nachtung gestorben ist, hat, bevor er in Wahnsinn verfiel, am Anar-
chismus selbst Kritik geiibt, ohne indes einer anderen Bewegung
als Propagandist sich zuzuwenden. Anders Andrea Costa. Er kehrte urn
das Jahr 1879 der anarchistischen Bewegung den Rucken, erklarte sich
fur die sozialdemokratische Politik der Beteiligung an Wahlen, Ein*
tritt in Parlamente usw. und hat spater sowohl als Burgermeister
seiner Vaterstadt Imola wie als Mitglied des italienisdien Parlaments
lange Jahre im Vordergrund des offentlichen Lebens in Italien ge*
standen, Ehe sich die politische Wandlung in ihm vollzog, war er
mit der obengenannten russischen Sozialistin Anna KulischofF eine
freie Ehe eingegangen, und der Einflub dieser geistig bedeutenden
und mit der Literatur des deutsdhen Sozialismus wohlvertrauten
Frau soli nicht wenig dazu beigetragen haben, dab aus dem toll-
kuhnen Anarchisten Costa ein umsichtiger sozialistischer Politiker
wurde. Jedenfalls schob unser guter Marzotti die Abkehrung Costas
vom Anarchismus ganz auf Rechnung der Frau KulischofF. Als ihn
die Kunde zuerst erreichte, dab Costa fiir die anarchistische Sache
verloren sei, streckte er erregt die Hande nach oben und rief ein
uber das andere Mai fast verzweifelnd aus: »Anna, Anna, Anna!*
Etliche Jahre spater sollte indes auch die Stunde seiner Bekehrung
schlagen. Schon als er im Jahre 1880 auf einige Tage nach Zurich
kam, wohin wir mittlerweile iibersiedelt waren, gab er mir im Ge-
sprach zu, da0 an cinen unvermittelten Obergang von der kapitali-
stisch-burgerlichen zu einer anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft
nicht zu denken sei, und dab die tlbergangsepoche wahrscheinlich
Generationen beanspruchen werde. Von dieser Auffassung bis zum
Abfinden mit Grundgedanken des sozialdemokratischen Programms
war aber kein sehr weiter Schritt.
176
Eduard Bern fie in • Vdfker zu House
V/4
Bei Gelegenheit des vorerwahnten Besuchs machte midi Marzotd
mit eincr ihn und wahrscheinlidi audi andcrc seiner Landsleute be-
herrsdicnden Leidensdiaft bekannt, von der idi bis dahin nodi nie
gehort hatte. Wir gingen an einem Dienstagvormittag durch die Bahn-
hofstrafie, wo gerade Wochenmarkt abgehalten wurde. An den Ran-
dern des Burgersteigs hielten Handler ihre aufgeschiditeten Waren
feil. Unsere Unterhaitung war bis dahin sehr lebhaft gewesen, jetzt
aber wurde sie dadurdi immer matter, dal) Marzotti meine Be-
merkungen fast unbeantwortet lief), was naturlidi audi meinen Rede-
flul) dampfte. Sie drohte vollig einzuschlafen, als mein Begleiter plotz-
lidi zu mir sagte: >Sie mussen entsdiuldigen, wenn idi die letzte Zeit
etwas zerstreut war, aber meine Aufmerksamkeit wurde durdi einen
Anblick abgelenkt, dessen Zauber idi midi nidit entziehen konnte.«
»Und darf man wissen, weldies dieser Anblick war?< fragte idi.
»0 ja,« antwortete er, »nur durfen Sie nidit ladien.e
Und er entwickelte mir, daft, was seinen Blick gefangen genommen
hatte, die Bundel — Knoblaudi gewesen seien, weldie fast nirgends
bei den ausgestellten Waren der Gemuse- und der GewOrzhandler
fehlten. Fiir den Genul) von Knoblaudi habe er eine sdiier unbe-
zahmbare Leidensdiaft. Sie sei so grol), dal) er in jungeren jahren
manchmal so lange Knoblaudi gegessen habe, bis sein Gesidit uber
und uber ergluht und er selbst wie berausdit gewesen sei,
Zwei italienisdie Sozialisten kamen wahrend des Winters 1877/78
aus Italien selbst zu kurzem Besudh nadi Lugano. Professor Os-
valdo Gnocchi-Viani, der damalige Redakteur des Mailander
sozialistisdien Blattes >La Plebe«, machte auf der Hodizeitsreise mit
seiner jungen Frau in Lugano zum erstenmal halt, und idi lemte
in dem kleinen, fein gebauten Mann einen ruhigen, sehr objektiv
urteilenden Denker kennen. Von ganz anderem Kaliber war der
andere Besucher, Paolo Valera, der von Varenna her als Aus-
flugler nadi Lugano kam. Ein lebhafter, bluhender junger Mann,
dem man es anmerkte, dal) fiir ihn der Kampf Lebenselement war.
Als idi in den neunziger Jahren meine Zelte in London aufgesdilagen
hatte, traf idi dort Valera wieder, der mittlerweile Korrespondent
eines groDen Mailander Blattes
idi glaube des >Secoloc
ge-
worden war. Wir trafen einander wiederholt bei einem gemeinsamen
ft
Eduard Bemfteitt • Voder zu House
177
Freund, und da fiel mir auf, wie stark Valeras Urteil von Stim-
mungen beherrsdht war. Ziemlich um dieselbe Zeit, wo ich von
London fortging, kehrte audi er nach Itaiien zuruck, wo er in Mai*
land das Blatt »La Fol(a« (Die Menge) grundete, das, glaube ich,
beute nodi besteht. Sein mandhmal unbandiger Radikalismus bracbte
ihn des Ofteren in Konflikt mit den leitenden Vertretern der Mai-
lander Sozialdemokratie und trug seinem Blatt den mit Umstellung
der Buchstaben leidit zu bildenden bosen Spottnamen »I1 Follo« ein.
Beide, Gnocchi-Viani und Valera, sind mir in Lugano durch
Benoit Malon vorgestellt worden, den sie dort aufgesudit hatten.
Und damit komme ich zu demjenigen auslandischen Sozialisten, der
im Winter 1878/1879 vor alien anderen unseren Umgang bildete,
und an den sidi audi das groBere allgemeine Interesse knGpft.
Zunachst einige Worte fiber die Person des Mannes. Benoit Malon,
lange Jahre als Verfasser einer umfangreichen Geschichte des Sozialis-
mus und versdiiedener sozialistisdier und soziahethisdier Schriften
wie als Grunder und Herausgeber der *Revue Socialistec einer der
geaditetsten Vertreter des zeitgenossischen Sozialismus in Frankreicb
— er hat unter anderem viel dazu beigetragen, Jaures fur die so*
zialistisdie Partei zu gewinnen — gehort zur Kategorie der erfolg*
reidien Autodidakten. In der Nahe von Lyon geboren und als
edites Proletarierkind aufgewadisen, kam er gegen Ende des Kaiser*
reidis nach Paris und schloB sich dort den Organisationen der Inter*
nationalen Arbeiter*Association an. Er war einer der Mitangeklagten
in dem groBen ProzeB gegen Mitglieder der Internationale, der An*
fang 1870 sich abspielte, und saB mit seinen Mitverurteilten im Ge*
fangnis von St. Pelagie, als der deutsch-franzosische Krieg ausbrach.
Der Sturz des Kaiserreichs nach Sedan brachte ihm die Freiheit,
Im belagerten Paris betatigte er sich bei der Organisation der Ver*
teidigung und ward Beisitzer in der Burgermeisterei des Stadtviertels
Les Batignolies im nordwestlichen Paris. Bei den Wahlen zur Na*
tionalversammlung Anfang 1871 ward er zu einem der Abgeord*
neten fur Paris gewahlt, trat aber mit Rochefort und anderen aus
der »Kammer der Landjunker« wieder aus, als diese in die Ab*
tretung von ElsaB*Lothringen einwilligte. Trotzdem gehorte er mit den
Theiss, den Varlin usw, zu denjenigen Vertrauensmannem der Pa*
178
Eduard Bemfiein ■ Vofter zu House
riser Arbeiter, die im Marz 1871 alles versuchten, urn es zwisdien
Paris und der Regierung in Versailles nidit zum aufiersten kommen
zu lassen. Als diese Bemuhungen gescbeitert waren und in Paris
die Kommune proklamiert wurde, ward er zum Mitglied gewahlt,
gehorte in ihrem Rat zur sozialdemokratisdien Minderheit und war
bei der Niedermetzelung der Kommune in den blutigen Maitagen
von 1871 Verteidiger einer der letzten Barrikaden von Paris. Dann
fanden sidi Freunde, die ihn verbargen, er entkam nadi Genf und
schlofi sidi dort beim Konflikt der westsdiweizerischen Autonomisten
mit dem Londoner Generalrat der Internationale jenen an. Er ward
Mitglied des von Michael Bakunin gegrOndeten Bundes der Sozia-
listischen Demokratie und einer der Vertrauten des genannten russi-
sdien Revolutionars, zog sidi aber einige Jahre spater von der ba-
kunistiscben Bewegung zuriidc, lebte langere Zeit an versdiiedenen
Orten in Italien und siedelte sdiliefilich nadi dem Tessin fiber, wo
er in dem Dorf Castagnola bei Lugano sein sehr besdieidenes Heim
aufschlug.
Sdion in Paris hatte Maion viel an seiner geistigen Ausbildung
gearbeitet, im Exil erfuhr er durdi gebildete Frauen, die sich fur
ihn interessierten, allerhand Anregung und Forderung in diesem Be-
streben und gait bald in Kreisen seiner Parteifreunde als ein haiber
Gelehrter. Eine Reihe von Jahren lebte er mit der unter dem Namen
Andre Leo bekannten sozialistisdien Romandiditerin zusammen, die
Mitarbeiterin angesehener Pariser Zeitungen war, und blieb audi
mit ihr in sdiriftstellerischem Briefwechsel, als sie das personlidie
Verhaltnis gelost hatten und er in einer gebildeten Russin, Katerina
Katkoff, eine treue Lebensgefahrtin gefunden hatte, die ihm eine
ebenso fursorgende Hausfrau wie unermfidliche Helferin bei seinen
literarisdien Arbeiten wurde. Der Bund mit dieser ausgezeidineten
Frau ward fur Maion in literarisdier Hinsidit nodi dadurch ganz
besonders vorteiihaft, daB sie der deutschen Spradie ziemlidi gut
maditig war und ihn mit Erzeugnissen der deutschen Literatur be-
kannt madite, die sonst seiner Kenntnis entgangen waren. An ihrer
Hand hat er ubrigens eine Zeitlang audi selbst deutsdi getrieben.
Merkwiirdig, Benoit Maion hatte in seiner Ersdieinung gar nidhts
Bestediendes. Bau und Bewegungen waren eher bauerisdi, und seine
Ecfuarcf Bemftein • Voflter zu House
7 r r r 7 4 77 r 77 7 7 r j
717
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777 77777
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77-77
Physiognomic war durchaus neutral. Nidits verriet an ihm den Sud-
franzosen, Der mittelgrofie, etwas breit gebaute Mann mit seinem
bedachtigen Wesen konnte ebenso gut aus irgendeinem Teile Deutsch-
lands stammen. Breit geformt war auch sein Gesidit und geradezu
unschon seine ziemlich dicke Nase. Und doch hatte er von jeher
Gluck bei Frauen, hat er Frauen zu fesseln gewufit, denen es nidit
an andern Verehrern fehlte. Diese Erfolge trugen ihm sogar von
einer Seite den Ruf eines coureur de femmes ein, der er nun sidierlich
nicht war. Die Frauen, mit denen er in ein intimes Verhaltnis trat,
waren gebildete Sozialistinnen und ihm an Jahren iiberlegen. Was
ihnen an ihm liebenswert sdiien, war offenbar das ernste Streben
dieses Proletariers nadi Wissen und die Gemutstiefe, mit der er
sich der sozialistisdien Bewegung hingegeben hatte. Dem Sozia-
listen Malon gait insbesondere die aufopfernde Zuneigung Katerina
Katkoffs.
Um 1878 hatte Malon eine Halbmonatssdmft *Le Socialisme
Progressif« ins Leben gerufen. In ihr veroffentlidite er seine Ge-
sdhidite des Sozialismus in ihrer ersten, nodi sehr skizzenhaften Ge-
stalt. Bei der geringen Kraft der eben erst wieder erwachenden
sozialistisdien Bewegung Frankreidis war an einem nennenswerten
finanziellen Ertrag des Unternehmens nicht zu denken. Seinen*
Lebensunterhalt gewann unser Freund vielmehr als Buchhalter und
Korrespondent eines wohlhabenden franzosischen Seidenzuditers,
Mr. d'Arces, der in Castagnola eine herrlich am See gelegene Villa
bewohnte. Dies die Ursadhe, weshalb Malon selbst in dem ge-
nannten Dorfe Wohnung genommen hatte. Und da dem sehr ner-
vosen, an hochgradiger Sdilaflosigkeit leidenden Karl Hochberg das
stille Lugano nodi immer nidit genug Sidierheit gegen stdrende Ge=
rausche bot, sudite und fand Malon audi fur uns ein Quartier in
Castagnola. Es war ein zwisdien dem oberen und unteren Teil des
nur erst wenig bebauten Dorfes still gelegenes Hauschen, Casa in
Valle genannt. Vom Ende Oktober 1878 bis Anfang April 1879
haben Hodiberg und ich
als die einzigen mensdilichen Insassen es
bewohnt, so dafi, streng genommen, unser Winter in Lugano ein
Winter in Castagnola war.
Vom Dorf Cassarate fuhrt ein ziemlich ebener Weg nach dem
180 Eduard Bemfiein • Vdfter zu House
untcren Teil von Castagnola, der aus einer maBigen Anzahl am
See gelegener Villen und einer an deren Rfidcseite sidi hinziehenden
sehr schmalen, im Sommer und Winter von keinem Sonnenstrahl
besdiienenen DorfstraBe bestand. Ein anderer, von Cassarate aus*
gehender Weg fuhrt in erst maBiger und dann starkerer Steigung
und mit versthiedenen Windungen aufwarts zum Dorfe Bre und
dem Gipfel des gleidinamigen Berges. In etwa zweihundert Meter
fiber dem See gelegenen Hohe zweigt sidi von ihm ein Weg zur
Kirdie des Fledcens ab. Dort standen rechts und links von ihm je
ein einstodciges, jeden Ausputzes entbehrendes Hausdien. Das eine
war von einer Arbeiterfamilie bewohnt, das andere war unsere Casa
in Valle. Es gehorte der Sch wester des Dorfpriesters, einer etwa
funfzigjahrigen unverheirateten Matrone, Prudenza Prati benannt.
Von ihr, die beim Bruder im Pfarrhaus neben der Kirdie wohnte,
oder ihrer hodibetagten Magd empfingen wir morgens, mittags und
abends die unumganglidie Bedienung. Sonst hatten wir bei Tag und
bei Nadit keinen menschlidien Hausgenossen, nur in einem unter
dem eigentlidien ErdgesdioB zu ebener Erde gelegenen dunklen Stall
fuhrte ein Muttersdiaf, das eines Tages einem Lamm ein sehr kurzes
Leben gab, ein nodi einsameres Dasein. Zum Gluck lag der Stall
gerade unter der Kuche, sonst hatte das Bfoken des Sdiafes dem
armen Hodiberg audi dieses Wohnquartier verleidet.
Viel verloren hatte er zwar an ihm nidit. Das Haus war so ein*
fadi wie nur moglidi hergerichtet und das Mobiliar auf das aller-
notwendigste beschrankt. Eine geraumige Kuche auf der einen Seite
und ein mafiig grofies Wohnzimmer auf der anderen Seite des Ein-
gangs bildeten die unteren, zwei oder drei Sdilafzimmer die oberen
Raume. Nur das Wohnzimmer unten hatte einen heizbaren Kamin,
der obendrein so wenig ausgebaut war, dafi man wirklich die Obung
unserer Prudenza und ihrer Magd haben mufite, um mit dem uns
zur Verfugung stehenden Heizmaterial — nur ungenfigend getrocknetes
oder wieder feucht gewordenes Reisigholz — ein Feuer in Gang zu
bringen. So hatte denn namentlich Hodiberg viel unter dem Mangel
an auBerer Warme zu leiden, die er um so mehr braudite, als der
Winter ganz ausnahmsweise kalt, von innerer Heizung durch Nah*
rungszunahme aber bei ihm so gut wie keine Rede war. Wie
181
Eduard Bemfiein • Vofcer zu Ha use
************9**s**w***90*+t+*******r*****m*******M****s*****s*99**************m****r*+**r9**9**+**e*****m*9*m*****m*********r*m—m*
er, der als der alteste Sohn eines sehr wohlhabenden Frankfurter
Kaufmanns mitten im burgerlichen Komfort aufgewachsen war, und
der uber die Mittel verfugte, sein Leben ganz nach seinen Wunschen
einzurichten, sich monatelang mit diesem Zustand abfand, kann nur
verstehen, wer den seltenen Charakter und den Lebenslauf dieses
eigenartigen Mannes kennt.
Karl Hochberg hatte die Mutter sehr fruh und auch den Vater in
sehr jungen jahren verloren, Dieser war ein Mann von weitem,
geistigen Horizon t gewesen, in dessen an der Bodcenheimer Land-
straRe gelegenen Villa Gelehrte aller Art, darunter auch der beruhmte
Naturforscher und Nordpolreisende Payer, verkehrten. Als Frank-
furt a. M. 1866 zwangsweise preuRisch geworden war — wahrend
der Besetzung hatte der befehlshabende General Manteuffel in der
Hdchbergsdien Villa gewohnt — erwarb der Vater Hodibergs, wie
das damals viele Frankfurter Demokraten taten, fur seine Sohne das
Scfaweizer Burgerredit, um ihnen das Dienen im preufiisdien Heer zu
ersparen. Die preuBisdie Regierung beantwortete dieses Auskunfts-
mittel damit, daR sie die jugendlichen Neuschweizer kurzerhand aus
PreuRen auswies. Um den Sohn in moglidister Nahe zu haben, gab
der Vater Hodibergs diesen in Darmstadt in Pension, und zwar,
was fur die Denkart des Mannes bezeichnend ist, bei dem als Demokrat
und philosophischen Materialist bekannten Dr. Ludwig Buchner, dem
Verfasser von » Kraft und Stoff« und ahnlidien Schriften. Unter dessen
geistigen Einflufi verlebte Karl Hochberg die letzten Jahre seines Gym-
nasiastenlebens und forderte in seinen Aufsatzen durch den Radikalis-
mus der darin entwickelten Ansichten nicht selten den Widerspruch
seiner Lehrer heraus, wenngleidi er fur Aufbau und sachlichen Inhalt
gewohnlich die Note 1 erhielt. Auch sein Abiturientenzeugnis fiel
glanzend aus, seinem FleiR und seiner Begabung wurde die groRte
Anerkennung ausgesprochen. Mittlerweile hatte Hochberg auch den
Vater verloren und war nun als Student vollig sein freier Herr. Zu
seinem Unheil, denn ohne Rudcsicht auf seine ohnehin zarte Gesund-
heit, zerruttete er diese durch Oberarbeit und Unterernahrung. Er
hatte sich als Hauptstudium Philosophic gewahlt, beschrankre aber
sein Arbeiten nicht auf die speziell zu dieser Disziplin gehdrenden
Wissensgebiete, sondern dehnte es auch auf alle moglichen anderen
182 Eduard Bern ft ein • Vdfker zu House
Disziplinen aus, weil fur ihn die Philosophic zugleich die Soziologie
in ihren versdiiedenen Verzweigungen umfaBte. Wahrend er sich unter
dem Einflufl Friedrich Albert Langes und anderer in der Philosophic
vom Materialismus ab« und einem erkenntnistheoretiscb fundierten
Idealismus zuwandte, ging er in der Soziologie uber Buchner und
Genossen hinweg zum entschiedenen Sozialismus uber, wobei ihn
allerdings in erster Linie ethische Momente bestimmten. Ethisdie und
naturphilosophisdie GrOnde fGhrten ihn zugleich zum Vegetarianismus,
der ihm um so verhangnisvoller wurde, als seine durch Oberarbeit
verursadite Nervensdiwache ihn audi jeder kraftigen vegetarisdien
Nahrung sich enthalten lieB, weil sie ihm, wie er behauptete, Magen-
drucken verursadite. Es ist unglaublich, wie wenig Nahrung er in
den Monaten unseres Zusammenlebens zu sich nahm. Alles Zureden
und alle Kniife, die ich anwandte, um ihn von dieser verderblichen
Lebensweise abzubringen, schlugen fehl, bis ich schliefilidi im Fruh-
jahr 1879 durch einen Staatsstreich eine nicht mehr aufzusdiiebende
Veranderung herbeifuhrte. Einstweilen aber nahmen als Folge der
von Hochberg sich selbst auferlegten Hungerkur — denn so kann man
es nennen — seine Korperkrafte und mit ihnen seine Widerstands-
kraft gegen Kalte immei mehr ab.
So emst die Sadie war, so sorgten die Umstande dodi auch fur
eine gewisse heitere Beigabe. Es war unmoglidi, unserer Wirtin Ver-
standnis dafur beizubringen, was es mit dem Vegetarianismus Hodh-
bergs auf sich hatte. Dafi jemand sich den GenuB des Fleisches von
VierfuBlern und Vogeln untersagte, konnte die fromme Katholikin
verstehen, obwohl eine so strenge Enthaltung nicht einmal mehr fur
die Fastenzeit den Glaubigen von der Kirche als unbedingte Ver*
pflichtung auferlegt wurde. DaB aber die Entsagung sich audi auf den
Genufi von Fischen erstrecken sollte, wollte ihr absolut nicht in den
Kopf. Immer wieder, wenn wir uns uber die geringe Emahrung
Hochbergs unterhielten, kam sie darauf zuruck, ob sie dem >Signor
Carlo* nicht wenigstens etwas Fisch bringen durfe. Und wenn ich
dann antwortete, das ginge absolut nicht, Hochberg esse grundsatzlich
audi nicht Fisch, dann ergriff die gute Prudenza Prati ein Sdiauder
und kopfsdiutlelnd rief sie ein uber das andere Mai: >0 che penitenza!
die penitenza!* Dieser Signor Carlo, der so sanft sich benahm, muBte
Eduard Bern fie in • Vo flier zu Ha use 183
nadi ihrcr Meinung wahrsdieinlidi irgend ctwas Entsetzlidies auf dem
Gewissen haben, daB er cine soldhe BuBe auf sidi nahm.
★
Mir personlidi war die brave Prudenza Prati ubrigens von groBem
Nutzen. Sie war langere Zeit die einzige Person, mit der ich ita-
lienisch zu radebrechen wagte, sozusagen meine unbewuBte Repeti-
torin. Mit ganz wenigen Worten Italienisdh, aber ohne jede nahere
Kenntnis der Spradhe, war idi nadi Lugano gekommen/ einen Lebrer
zu nehmen, war mir zu umstandlich, so besorgte ich mir einen Spradi-
fuhrer und eine Grammatik, machte mich mit den Formen der Zeit-
worter usw. bekannt, lemte jeden Abend vor dem Auslosdien des
Lichts eine Anzahl Vokabeln auswendig, und als ich es auf 150 bis
200 Worte gebracht hatte, begann idi mutig mit Frau Prudenza linter-
haltungen anzuknupfen. Nadi und nadi kamen wir audi ganz gut
dabei zustande, dodi gab sie zum Ungluck fur mein Eindringen in
die italienisdie Spradie leider bei uns nur Gastrollen. Fur gewohn-
lich sdiickte sie uns die Speisen usw, durdi die alte Magd, und mit
dieser armen Person, die an alien moglicben Gebresten des Alters
litt, war eine leidlidie Unterhaltung unmoglidi.
Im Malonsdien Kreis, der unseren eigentlidien Verkebr bildete, war
die vorherrsdiende Spradie franzosisdi. Der Kreis bestand aus Malon
und Frau, einer Sdiwester und Kusine der letzteren auf der einen
Seite und dem Mr, d'Arces und Frau und einigen zu deren Haus-
halt gehorenden Personen auf der anderen Seite. In der von Malons
Chef bewohnten Villa haben wir manche sehr gesellige Abende ver-
lebt, wobei die Gesellsdhaft sozial ebenso bunt gemisdit war, wie
national.
Mr. d'Arces hatte auf midi von Anfang an keinen gunstigen Ein-
druck gemacht, und was ich in spateren Jahren von ihm erfuhr, redit-
fertigte das Urteil der ersten Stunde. Der Mann war in jiingeren
Jahren ein Lebemensdi von riditigem Kaliber gewesen und soil dann
sidi als ein recht rudcsiditsloser Gesdiaftsmann gezeigt haben. Aber
in seinem Haus ging es gastlidi und auch redit patriardialisdi zu —
dies vielleidit unter dem EinfluB der Madame d'Arces, die eine ge-
borene Ungarin war und viel Zutrauliches in ihrem Wesen hatte.
Sowohl ihr Dienstmaddien wie ihre Kochin nahmen fast immer an
184 Eduard Bern fit in * Vo f ter zu Ha use
****************************************** * ***************************************************************** m r rr ere ********** r nr rmrr fw r mvwMw
unsercn Abenden teil, und haufig gcnug kamcn auch noch zwei Ar-
bciterinnen hinzu, die Mr. d'Arc^s in seincm Hause mit dem Ausmustern
der Eier der Seidenraupen beschaftigte. Eine der Arbeiterinnen war
einige Jahre in Lyon in Dienst gewesen und sprach daher franzosisch,
ebenso die aus der Champagne geburtige Kochin, die wegen ihrer
stattlidien Figur und ihres fast eleganten Benehmens in unserem Kreis
den Beinamen La Marquise erhalten hatte. Groft, aber nicht uber-
srark gebaut, wuftte diese einfache Frau in der Tat in jeder
Lage eine so ruhig vomehme Haltung an den Tag zu legen, daft,
wenn z. B. die kleine, unscheinbare Madame d'Arces mit ihr ein-
kaufen ging, der ihnen Begegnende unbedingt sie fur die Dame und
jene fur deren Begleiterin genommen hatte.
Alte Rouds sind in der Regel gewandte Gesellschafter, und Mr.
d'Arces hatte kein Franzose sein mussen, wenn er es nidit in hohem
Grade verstanden hatte, den liebenswurdigen Wirt zu machen. So
gab es viel Stherz bei unseren Zusammenkunften. Ganz besonders
geschickt zog der Biedermann sich aus der Affare und wuftte, um
mit Schiller zu reden, als guter Franke jedem etwas Zierliches zu
sagen, als wir bei Beginn des Karnevals 1879 ihn auf Anstiften einer
unserer Damen mit einer kleinen Maskerade Oberfielen.
Man mufl indes nicht denken, daft unser Leben in Castagnola
nur aus Unterhaltung und Geselligkeit bestand. Die Abende in der
Villa Riva waren im Gegenteil nur Oasen in einem Dasein, das
unter verschiedenen Gesidhtspunkten des Truben genug bot, ganz
(iberwiegend von emsten Gedanken und ernster Arbeit erfullt war.
Daruber in einem andern Zusammenhang. Hier noch einiges, was
ins Gebiet der Oasen gehort.
Eines Tages erfuhr ich von Prudenza Prati, daft fm Dorf Mario-
nettenspieler abends Theatervorstellungen gaben. Sofort besdilofi ich,
sie aufzusuchen. Erstens aus Interesse am Volksleben und zweitens,
weil man als Zuhorer vielleicht auch sprachlich Nutzen ziehen konnte.
Ich lieft mir das Haus beschreiben, wo an dem Tage gespielt wurde,
und tappte abends durch das unerleuchtete Dorf meinen Weg zum
»Theater«. Dieses bestand aus einer, noch nicht einen Meter im Ge»
viert messenden Puppenbuhne, die in der Wohnstube eines einfadien
Bauernhauses aufgestellt war/ die Vorstellung selbst fand beim Schein
Eduard Bemjhtn • Vdfter zu Ha us*
185
******
eincr mafiig grofien Petroleumlampe statt. Programm: una traggedia,
gefolgt von una farsa, an die sidi Tanz sdilieflen wfirde. Unter dem
Gesiditspunkt des Lembegierigen kam ich trotz sehr biliigen Ein-
trittspreises nidit auf meine Kosten. Von der Tragodie verstand ich
berzlich wenig, der Dialog wurde for midi so undeutlidi gesprodien,
dafl nur gewisse Ausrufe, wie »0 traditrice, tradi trice!* und Ahn-
licbes, sowie der unvermeidlidie Mord am SdiluB micfa den Vorgang
ahnen lieflen, und die Posse, im Dialekt gespielt, ward mir audi nur
dann verstandlidi, wenn die komisdie Person — Menegino
irgend
jemand durdiprugelte, was zur Erbauung des Publikums alle Augen-
biicke gesdiah. Zum Tanz spielte ein Knabe aus einer kieinen Dreh-
orgel auf. Jeder Tanz kostete 10 Centimes, d. h. nidit for jeden
Tanzer, sondem for die ganze Runde. Dabei bestand die Regel,
dafi wer den Tanz bezahlte, jedesmal for diesen damit das Monopol
for sidi und seine Freunde erwarb, in das einzubredien streng ver-
pont war. Was mir eines Tages redit deutlidi, wenn audi mit an*
erkennenswertem Takt zu verstehen gegeben wurde.
So urwudisig diese »Vorstellungen mit Tanz* waren, so bedeu-
teten sie immerhin Unterbrediungen *im ewigen Gleidimafi der Tage*.
Audi durfte ich hoffen, da0 mein Ohr sidi an die Ausspradie des
Marionettenfahrers gewohnen werde. Ich ging also wiederholt bin
und veranlafite unsere Gesellsdiaft, das gleidie zu tun. Wer von
uns jung war oder sicb so fohlte, sdiwang sogar audi beim Tanz
das Tanzbein. Unbekannt mit der vorerwahnten Regel, leistete ich
mir dies ohne Rdcksidit darauf, ob jemand von uns oder einer der
Dorfbursdien gerade den Tanz bezahlt hatte, forderte wohl audi
hier und da eine Dorfsdione auf. Da rief, als ich wieder einmal
10 Centimes auf die Drehorgel gelegt, demonstrativ eine Stimme:
»I Francesi!* Und kein einziges Tanzerpaar stellte sidi zum Tanz
auf. Denn wir Auslander hatten gerade eine Pause gemadit, die
Bursdien vom Ort dagegen tanzten nicht, urn uns dadurdi zu sagen :
»Jetzt seid ihr an der Reibe, nadiher miscbt eucb nidit in unser
Spiel.* »Franzosen« aber war in Hinblick auf Malon und d'Arcih
der Sammelname for uns.
Einer hoher stehenden Auffuhrung wohnten wir etwas spater im
sdhon am See gelegenen Dorfe Gandria bei. Toditer der oberen
13
Eduard Bern fie in * Vofier zu House
186
asm****** ********************** ******** • *** ****** —*■****+*++— ********************
Zehntausend des Ortes gaben in der Karnevalszeit eine Theater-
vorstellung, die ihnen der Ortsgeistlidie einstudiert hatte. Audi da
ward — in einem speidierartigen Raum — erst ein emstes StCck
und hinterher ein Sdiwank gegeben, bei weldi lefzterem es ohne
Menegino und Arlequino lustig genug zuging. Der Priester erwies
sich als guter dramatischer Einpauker. Die darstellenden Madchen
hatten hubsdie Kostume und bewegten sidi mit viel natGrlidier
Anmut,
Audi dem wirklichen Theater in Lugano statteten wir eines Tages
einen Besudi ab und sahen von den Banken des Parterre aus einige
Akte einer italienisdien Dramatisierurg vcn Sues Ewigem Juden
mit an. Qber die mannlichen Schauspieler will idi sdiweigen. Aber
die Darstellerin der Adrienne de Cardoville schien ihrer Rolle ge»
wadisen und verkundete namentlich Fouriers Lebensphilosophie recht
ausdrucksvoll.
In den Ddrfern der Umgegend gab der Namenstag des Orts-
heiligen — und weidier Ort hat in diesen Landern keinen Schutz-
heiligen! — jedesmal Anlafi zu einem Fest, verbunden mit einer Art
Messe. Einige davon besuchten audi wir. Das sdionste davon war
das idi glaube auf den 8. Marz fallende Fest des heiligen Provino
in dem am westlidien Fufie des Monte Salvadore gelegenem Dorfe
Agno. Es erfreut sidi grofier Beliebtheit und wird von der ganzen
Umgegend stark besudit. Fur Hodiberg und die Familie Malon war
der Weg von Castagnola zu weir, urn ihn zu Fufi zuruckzulegen,
und so hatte ich, als idi hinauspilgerte, einzig die eine franzosisch
sprechende Arbeiterin des Mr. d'Arces und deren jiingere Biuder
zur Begleitung. Als wir am Ort waren, bemerkte idi, dafi neben
verlcckenden Waren aller Art audi kunstlicbe Blumen feilgeboten
wurden, und daB fast alles, was jung war, soldie Straufie trug. So
erstand denn audi idi einen Sfraufi und uberreichte ibn meiner Be-
gleiterin. Sie nabm ihn mit Dank an, brachte mir aber bald darauf
audi ein Straulkhen und bestand darauf, daB sie es mir anstecken
durfe. Andern Tags erfuhr idi von Malon den Sinn des Vorgangs.
Das Blumenspenden am Fest des San Provino hat eine bestimmte
Symbolik. Lehnt das Madchen den ihr vom Burschen dargebotenen
StrauB ab, so heiBt das: »Sudi dir eine andre, idi will nidits vcn
Eduard Bern fie in • Vdfker zu House 187
e+e+e+e+s*** *************** ^+*r0**0^*v++++0m*++*+***vr+++**9+**++v9*M*+vww**m*+*MM*wm+0B+*€*m*m**+**mmme+g*m**+m*miww++9*
dir wissen.« Nimmt sie ihn an und macht sie dem Bursdien ein
Straufidien zum Gegengeschenk, so gibt sie ihm damit zu verstehen :
»Icfa sdiatze didi sehr, aber mein Sdiatz kannst du doch nidit sein.c
Nimmt sie die Blumen aber einfacb ohne Gegengabe an, so erklart
sie damit den Bursdien zu ihrem Auserwahlten.
Idi hatte es also bei Angiolina nur zum Aditungserfolg gebradit.
Bald erfuhr idi audi, wer der Glucklidiere war. Wie nocfa einige
andere weibliche Personen unseres Verkehrs war die arme Kleine
damals bis fiber die Obren in Karl Hodiberg verliebt. Dodi ging es
ihr bei ihm nidit besser als mir bei ihr. Audi er hatte einen Straufi
von ihr lediglidi mit einer symbolisdhen Gegengabe beantwortet.
In Agno fiel mir wieder auf, wie ruhig sich bei aller Hingabe an
die dargebotenen GenOsse und Belustigungen das Volk verhielt. Und
als wir abends nach Hause zogen, sind wir auf der recht belebten
Landstrafie nidit einem einzigen Betrunkenen begegnet. Ich selbst war
in frohlidister Stimmung, die selbst dann nidit beeintraditigt worden
ware, wenn idi den Sinn von Angiolinas Blumenspradie sdion ver-
standen hatte. Denn, obwohl meine Begleiterin redit niedlich war,
ware es mir damals nidit im Traum eingefallen, mit einem jungen
Maddien eine Liebsdiaft ohne »emste Absichtenc anzuknupfen.
Meine Anschauungen fiber freie Liebe blieben in der Anwendung
auf die eigene Gegenwart nur Theorie. »Ernste Absiditenc zu haben
erlaubte mir aber der Ernst der Stunde nidit. Im Kreise frohlidier
Mensdien konnte idh ihn auf Augenblidte wegscherzen, midi fiber
ihn hinwegzusetzen war jedoch eine Unmoglidhkeit.
Die Madit, die hiergegen ihr Veto einlegte, hie0: Ausnahme-
gesetz gegen die deutsche Sozialdemokratie.
13 Vol.
Kasimfr EdsSmid • Der Gott
Kasimir KdscBnud:
DER GOTT
EINE NOVELLE
SEINE Mutter verliefi ihn, nachdem sie ihn ein halbes Jahr vorher
geboren hatte. Er schlug die festen Arme in die Luft und rief
zweimal: »Ma« — Dann losdi sie, die ein grofles Segelboot von
Honoruru entfernte, aus seinem Gedachtnis. Seine franzosische Gou-
vemante nannte ihn Jean Francois und lieh ihm wenig Zeit und
MOhe. Seine drei ersten Jahre volizogen sich am Strand. Gespielen
waren ihm Natives, Chinesen und Maiaien. Er krodi auf dem Baud)
und sdirie aus gebraunter Kehle langgedehnte Vokale und wurde
ein gesundes Kind.
Nad) drei Jahren kehrte die Mutter zuriidt. Sie sud)te ihn im
ganzen Haus, den Gebauden der einzigen Faktorei auf der Insel,
lief durdi den Garten und fand ihn im Sand am Meer zwisdien
Muscheln und Farbigen. Sie gab der franzosischen Gouvemante
eine Ohrfeige und nahm ihr Kind auf den Arm.
Sie fragte ihn in englisdher Rede schluchzend, wie er sid) befinde.
Der Junge aber schwieg, denn er verstand sie nidht. Er sprad) nur
polynesisd) und minderes Franzosisd). Die Mutter war eine feurige
Frau. Sie weinte und glaubte, das Kind sei vertauscht. Das Kind
sah sie stumm mit grofien Augen an. Sie wies es zurfidc und
sdhenkte ihm einen Monat lang keinen Blick. Kurz darauf verfiel es
einer Krankheit, und a!s sie nun besorgt und gluddid) es pflegte
sagte es an einem Morgen: »Ma«.
Nad) geringer Zeit vermochten sie sich in der Rede zu verstan-
digen. Da zwang ein ausbrediendes Leiden die Mutter, die begonnen
hatte, in Ruhe ihre schweifende Seele an das Kind anzulehnen, ins
Weite. Sie sdiifften sich auf dem Segler Bounty ein, als die Sonne
Kasim ir Eds dm id * Der Gott 189
einen riesigen Kranz um die Insel legte und in dunklem Blau ver-
ging. Ein Krater raucfate nodi dunn in die Dammerung. Dann sdioll
das unendlidie Meer in ihr Ohr.
Sie erlebten am dritten Tage einen Sturm, der das Sdiiff liber
die Wellen sdileuderte, dafi die Kajiitenwande sprangen. Jean Fran-
cois hieit verzuckt den Stofien stand. Der Kapitan lieft Stagsegel
aufziehen, Sie rissen sofort. An den Marquesasinseln warfen sie
Anker. Der Meerboden war Muschelgrund und Kalkgries, der Anker
hieit nidit.
Da stiefi, wahrend sie lavierten, ein Kanoe mit rotem Holz und
Perlmutter in der Schnitzung aus einer Budit. Zwei Wilde hielten
kupferfarbene Binsen hodh und winkten. Folgend busrsierten sie die
Bounty in eine Bay.
Der eine Malaie stieg herauf, seine Glieder hatten wunderbaren
Anstand. Sie bedeuteten ihm, sie brauditen Wasser, da sdirie er
sofort, indem er die Hand wie eine Sdiale unter den Mund legte,
ins Meer hinaus. Der Strand bevolkerte sicfi mit Booten, die in
breiten Gefafien Wasser und Geflugel braditen, denn viele der Ma-
trosen litten am Sdiarbock. Jean Francois, auf dem Arm seiner
Mutter an einen Mast gelehnt, rief ihnen einige Satze zu. Da er-
staunten sie und verbeugten sich vor ihm. Ihr Oberhaupt aber legte
ein Messer vor ihn hin und sagte: *Rono . . . Rono «.
Bald horten sie es donnern. Vogelschwarme rausditen iiber sie.
In leichter Brise liefen sie gegen eine Kuste an. Es war Peru. Sie
ankerten im Hafen von Callao. Zwanzig Matrosen desertierten in
der Nadit Sie stellten Spanier ein. Langsam trieben sie die Kiiste
hinunter, bis sie Antufugasta erreiditen.
Dort stiegen sie aus. Sie blieben wenige Tage, aber das Klima
versdilediterte die Gesundheit der Frau. Sie zog in die Berge hinauf
zu einer Sdiwefelquelle, in der sie badete. Jean Francois jedoch ver-
trug die Luft der Hohe nidit und wurde bleidi. Deshalb gab ihn
die Mutter mit einiger Dienerschaft hinunter nach Valparaiso.
Als die Mutter zuriickkam, war Jean Francois sechs Jahre alt,
hatte blonde Haare und braune Haut und sprach nun spanisdi und
polynesisdi <den Dialekt von Taheiti und der hawaiisdien Eilands),
aber kein Wort englisdi. Da besdiloB die Frau, den Sohn, der ihr
r.V.V.V.V.V
190
Kasimir Edsdbmid • Der Gott
bis zur Hufte reichte, und mit dcm sic kein Wort zu wechseln
wufite aufier dcm Gcfuhl, das von Auge zu Auge stromend rcdctc,
nie wieder zu verlassen in seiner Jugend, schifFte sich mit ihm ein,
und an cincm Morgen karri ihnen wieder unter dem Himmei die
groBe Kuste Oahus entgegen.
Sie fanden dort bei ihrem Bintritt in das Haus die Nachrlcht,
daB Jean Francois' Vater gestorben sei, der die Jahre in Rom und
in einer Mission des Papstes in Skandinavien verweilt hatte. Die
Mutter ward still und nachdenklich, obwohl ihre Seele getrennt von
dem Schidcsal dieses Mannes lag. Jean Francois begriff dagegen
keineswegs, um was es ging, und lehnte ab, als sie es ihm deutlich
madien wollte. Sein Gefuhl verbreiterte sich. Er lebte sein Dasein
bis zum sedizehnten Jahre rund herum aus im Kreis der Begriffe
und Dinge, die ihn umgaben. Die Gedanken waren sdilidit. Die
Dinge gestalteten sidh einfach, nur im Verkehr mit primitivem Da-
sein. Selten nur brachten anlegende Schiffe Europa in sein Blickfeld.
Aber seine Seele saugte sich fest an Kuste, Meer und Land.
Dann sandte ihn die Mutter, die noch vier Jahre die Welt durch-
schweifen wollte, von sich, damit er in den europaischen Dunstkreis
eintrete. Sie stellte ihm grofle Wechsel aus, und sie verplauderten
den letzten halben Abend.
Darauf ging er hinaus in den Garten. An der groBen Hecke der
weissen Himbeeren stand Kalekua, die dem Gesdilecht der Konige
verwandt war, sang vor sich hin und schaute uber ihren Garten
hinauf zu ihrem hellen schonen Haus. Jean Francois, die Brust von
Weite erfullt, rief ihren Namen, mit der er die anfanglichen Spiele
erster Jugend geteilt hatte. Sie wandte sich um.
In diesem Augenblick hob sich das Gefuhl abenteuerlidier Feme,
in die er verlangte, zu einer groBen Welle, und er, dessen Hande
noch keine Frau beruhrt hatten, uberstromte den Korper des Mad-
chens mit Liebkosungen. Ihre dunnen Gewander schwanden unter
seiner Hand, und er fuhlte ihre weichen und wunderbar gerundeten
Glieder ihm entgegenfliegen. Da faBte er sie auf die Arme und trug
sie noch tiefer in den Garten in die Mulde einer Platane.
Ganz umhangt von ihrem Duft hob er sich in den Morgen, schiflte
sich ein und fuhr nach England.
<*
191
Kasim ir Ecfs&mid * Der Go a
Nadi zwei Jahrcn sdion zog seine Mutter ihm nadi. Sie nahmen
cin Haus in der Nahe des Hydeparks. Sommers zogen sie auf ein
Landgut in Schottland. Sie empfingen viele Menschen, gaben grofie
Gesellsdiaften und hatten ausgewahlte Freunde. Aus ihren Be-
sitzungen flossen gewaltige Mittel immer erhoht ihnen zu, spater
verkauften sie Anwartsdiaft und Faktoreien und breiteten das Kapital
in englisdien Anlagen aus. Vor der Wirklidikeit dieses fest gegrun-
deten Daseins sank die Jugend der Sudsee, fast vergessen, im Traum
zuruck. Jean Francois studierte in Cambridge, zuditete Hunde und
hatte Ansprucfa auf die diplomatisdie Laufbahn. Mit neunzehn Jahren
hatte sidi die Luftschidit weltmannisdier Beherrschung didit urn ihn gelegt.
An dem Tage, wo er den groften Preis im Ballspiel fur das west-
lidie England errang, starb seine Mutter. Er erfuhr es, als er, den
Kopf zuruckgelegt, sidi von der Riditertribune wendend, nadi der
Seite ging und den Diener sah, der ihm den Brief uberreidite.
Er war einundzwanzig Jahre, hatte einen glanzenden Korper und
gute Zukunft, wie viele sagten.
Er kehrte nadi London zuruck, versdilofi die Fenster und nahm
am brenrtenden Kamin das Bild seiner Mutter vor und besdiaute
es. Sein Herz offnete sidi nidit, sie heftig zu beweinen. Kaum ward
ihm die eingetretene Leere bewuBt. Eine Unbegreiflichkeit waltete
uber seinen Gefuhlen, daft sie, ihn dem Sdiwung erhohter Seelen-
lagen fernhaltend, alle Empfindungen nur von der Oberfladie dik-
tiert und durdh etwas von seinem inneren Dasein getrennt erleben
lieften. Er zog in der Folge roten Dreft an und jagte Fudise und
legte die Sachen der Mutter beiseite. Beim Jagen und raschen Leben
kam ihm geringer das Gefuhl, in leichter Betaubung sidi zu befinden.
Bei einem ausgesuchten Diner saft ihm eine Sangerin gegenuber,
deren zarte Haut und grofte Augen seinen Blick anzogen. Urn sie
besser zu sehen, nahm er eine breite Blumenattrape und setzte sie
auf den Boden hinter seinen Stuhl. Ihr Blick begann, entgegenkom-
mend, gleichfalls auf ihm zu ruhen. Ihr Reden war sdinell und heift.
Unmerklidi hob sie ein spitzes Glas, als sie mit einem Nachbar an-
stieft, heruber zu ihm. Als nach Tisch alles in den Musiksaal stromte,
stellte er sidi hinter ihren Fauteuil und redete zu ihr. Sie, ohne sidi
umzudrehen, sagte: >Ich kenne Sie nicht«.
’—S
f-k
V
>V/iV>y
192 Kasim ir Edsdmid * Der Gott
»Sie sollen es Iemen,« sagte er. Verbeugte siA kurz und berGhrte
knapp ihr Knie im Gehn mit dem seinen.
Sie trug an diesem Abend eine gelbe Robe, und ihre sAonen
Bruste standen voll und fest in dem sAmalen AussAnitt. LeiAter
Puder maAte die LoAen grau, die tief in ihren Kopf hinein-
hingen.
Sie liel) ihn zweimal durA ihren Diener abweisen, bis er eindrang
und sie ihm Geliebte wurde.
In einer NaAt fragte sie ihn, als sie ihn ubermaBig ihrer siAer
glaubte, wie alle Frauen fragen: naA denen, die vorausgingen.
Es seien einige, doA niAt allzuviel, denn dies sei billig, sagte er.
Sie fragte, wie lange es her sei, dafi er die letzte gehabt habe, und
er zuAte die AAseln.
»Was waren sic, Lieber?«
»Was soil die Frage, die niAt sAon ist?« sagte er langsam.
*Mein Herz sturmt, dafi iA es weifl. Um Sie mehr zu lieben.c
Da druAte er die Ampel aus und sagte: »Eine Blumenverkauferin
von den DoAs, eine Dame, ein MadAen, eine Tanzerin, eine liebe
Frau . . .«
Sie sAlofi die Augen und offnete sie verwirrend vor den seinen:
>Keine hielt Sie in dieser Reihe?«
Sie sah an seinem starken Korper hinunter, und im Gefuhl, dal)
in solAen Erlebnissen siA das WeibliAe in seiner ganzen Art er*
sAopft habe, legte sie sanft ihre Bruste an seine Wange und fragte
das GleiAe ein weiteres Mai.
Da warf er siA hoA, und indem es sAien, dal) er sie ganz in
siA sAlinge, sagte er ihr, dal) er auA sie verlasse, wenn der Nebel
vor den Fenstern heller werde. Er blieb noA einige Stunden bei
ihr, indem er sie streiAelte und ihr Wesen ein letztes Mai einsog,
denn sie war sAon und edel und weinte, die Hande vor die Augen
gesAlagen. Dann verliefi er sie,
Er ging den Morgen in die Themse und badete.
Dann ging er naA Hause, lief) paAen und fuhr naA den sAotti-
sAen Gutern. Aber am ersten Tage der dritten WoAe glitt er,
jagend an einem BergruAen, aus und braA das linke Bein. Sein
HoAlander trug ihn ins Tal.
Kasimir EdsSmicf • Der Gott
193
Sie taucfaten immer tiefer hinunter, wo die Dunkelheit ihnen ent-
gegenkam, und je mehr sie in die verdidhtete Landschaft hinein-
sdiritten, Gberfiel ihn Beklemmung, deren Sinn er nidit begriff. Sie
eireichten ein Lidit, ein geoltes Haus. Sie sdirieen nadi dem Besitzer
und befahlen ihm, mit dem Pferd in die Finstemis hineinzureiten,
damit er Hilfe bringe. Erst am Morgen kam er mit einem weifi-
bartigen Mann, der das Bein einrenkte, Als die Knodien wieder
aneinanderstieOen, sdirfe Jean Francois vor Sdimerz, so sehr lahmte
der Alp seine Brust.
Der Hochlander schaute abgewandt durchs Fenster, und Jean
Francois, der fiihlte, wie jener sich fltkr ihn sdiame, sdirie ihn an
und wurde ungeredit. Am nachsten Tage aber sdienkte er ihm das
Elengeweih seiner Sammlung, damit dieser beides vergafie, die Scham
und den Schrei.
Da er (ange lag, haderte er mit dem Gesdikk. Denn er fiihlte,
daB der Druck uber ihm blieb. Er wollte ihn vertreiben. Er fuhr
mit dem Auge die Berge hinauf und lieB den Blidc herabfallen in
die Wiesen, fiber denen Kuhgebrull erdwarm donnerte. Er trieb
Studlen, er las. Er farbte Stoffe. Er fodit zwei Stunden des Mor-
gens angesdinallt ans Bett mit einem groBen Fechter des Elans,
damit seine Muskeln hart blieben. Aber es half nichts.
Nadi sechs Wochen zog er wieder in London ein.
Sein seitheriges Leben kam ihm in gleicher Form entgegen.
Er griff es, nahm es und lebte weiter.
Eines Abends reizte ein Maddien sein Gefiihl, die mit einer
herrischen Kopfbewegung aus dem Nebel ihm entgegenkommend in
den Latemensdhein hineintrat. Sie war untersetzt mit gesdimeidigen
Lenden und trug einen auslandisdien Pelzhut Er drehte um und
folgte ihr. Sie gingen durch Strafien und Gassen, es war eine ganze
Stunde, dafi er sie verfolgte/ da kamen sie in die Gegend des Hafens.
Die Gassen verwirrten sidi immer verzogener ineinander. Da bog
sie zur Seite und versdiwand. Das Haus, in das sie getreten war,
hatte einen wusten Eingang voll Winkeln. Ein grunes Lidit flammte
davor. Die Fenster waren aus Olpapier und erleuchtet.
Jean Francois trat ein. Im Flur schon horte er, wie Musik be-
gann. Er trat in einen Saal. Links safien die Musikanten. Sie spielten
Kasimir Eds dm id • Der Gott
194
Fioten und irische Dudelsacke. Ein einzelner Hagerer hieb wild auf
eine Pauke.
Im Hintergrund hob sich dcr Saal im Rauch und Qualm zu Ter-
rassen von StGhlen und Ban ken in die Hohe und vergrofierte sich
ungewiB. Vorne schwankten Paare durch die dichte Luft. Schreien
und Gestampf durchbrach die Musik.
Auf einem der Tische stand eine der Vorstadtkoniginnen, wunder-
bar wild im Bau, hatte eine rote Mutze fiber den Haaren, die Bluse
voll herabgestreift und schwang die Arme singend, den Kopf im
Rausch gerotet, durch den Raum. Der Rauch umwallte sie manch-
mal ganz, dann riB er sie wieder in die Blicke. Ihre Augen glanzten
wie feuchte Steine, der Mund stand often, derb und gluhend.
Ein Matrose schwankte mit groflen Sprungen fiber die Diele und
suchte im Vorbeisprung Jean Francois zu umarmen. Doch der schob
ihn weit zur Seite und arbeitete sich durch die Tanzenden quer
hindurch zu den Stuhlkolonnen und setzte sich an einen leeren Tisch.
Das Gesicht eines Graubartigen bewegte sich neben ihm auftauchend
und brachte ihm Punsch, der scharf nach Essig roch.
Plotzlich ging die Saaltur weit auf und schloB sich rasch, frische
Luft stromte herein und warf den Rauch auseinander, die Olfenster
knallten unter der Luft, die wie helle Nester eines fiber dem an-
deren hodeend die ganze StraBenfront gliederten ... da sah er in
der Ludce, dafi am anderen Ende des Tisches ein Mann safi, dessen
Blidt ihn kuhl abmaB. Er hatte grune Augen, Brauen, die sich roma»
nisch fiber die Stirn spannten und ein bleiches Gesicht. Er trug die
Kleidung eines vomehmen Mannes, eine flandrische Krause als Ein-
satz, aber hohe Stiefel.
Der Mann erhob sich und setzte sich ihm naher gegenuber.
Die Musik brach jah ab. Vom Nebentisch sprang die Tanzende
herunter und warf ihre Arme von hinten her dem Fremden fiber
die Schulter und drangte ihre schweren BrGste um seinen Nacken.
Sie hatte den Kopf an sein Ohr geschmiegt und lachte, uber ihn w eg
kokettierend, zu Jean Fran<;ois hinuber. Im gleichen Augenblidc aber
stedete ein Matrose seine Hand in des Gegenfibers Tasche und zog
mit zwei spitzen Fingem ein funkelndes seltsames Stuck Borse wie
einen Wurm heraus.
Kasimir Eds&mid • Der Gott
195
Jean Francois erheiterte dieser Fall sehr, allein er nagelte trotz-
dem den Kerl sofort mit gezogener Handpistole auf den Platz fest.
Der Bursdie ward bleich, von einigen Tischen scholl Geschrei.
Der Fremde lachelte, nahm die Borse zuruck, um sie dem Ma-
trosen mit einem Kompliment wieder zu iiberreichen. Dann dankte
er, indem er den ausbrechenden Tumult des Lokals mit einer Hand-
bewegung dampfte, durcb eine leichte Verbeugung Jean Francois fur
seine Giite.
Das Madchen hatte sidh auf seine Knie gesetzt.
Seine Hand spielte nebensachiich mit ihr, indem er Jean Francois
bat, als einen Ausgleidi und um — zumal als Auslander — hof-
lidier Handlung mit edelmannischer Genugtuung zu begegnen, eine
Bitte an ihn zu richten.
Allein Jean Francis lachelte nur, denn ihm schien nichts wun-
schenswert, was er nicht selbst hatte erreichen konnen.
Doch auch der Fremde lachelte.
Und wiederholte eindringlich, daft er bate, ihn nicht zu verkennen,
sondern ins uferlos Blinde uber ihn zu verfugen, denn es sei morgen
bereits schon zu spat, und das wurde ihn schmerzen, wo ihn eine
Flotte nach Indien fahre. Dann lachelte er wieder, Jean Francois'
Ersfaunen erwartend.
Der aber durchdrang mit dem Blick den Rauch des Zimmers,
schweifte einige Sekunden in Entferntem, das ihn betaubte mit der
Unendlichkeit der Bilder, und sagte, dem Traum der Jugend nahe
gebradht, dunkel aufgewuhlt und Unbekanntem willig folgend <ob-
wohl er erstaunte uber Sinn und Klang der eigenen Stimme), er
bate um ein Patent, wenn dies in der Macht liege . . . »Wurden
Sie . . .«
Der Fremde jedoch zog ein Papier, bemalte es mit wenigen Zeidien
und uberreichte es ihm. Es war ein Diplom als erster Leutnant und
zweiter Supracargo auf einem Schiff, das » Santa Cruz« hiefi.
Jean Francois sah ihn scharf an. Dann verbeugte er sich.
Der Fremde hielt ihm die damenhaft schmale Hand bin, in die
das Madchen auf seinem Knie einige Tropfen Wein schnidcte. Aber
eh Jean Francois einschlug, sagte er, daft er wohl wisse, wie eng
dies ihn binde, daft er aber innerlich keine Verpflichtungen auf sich
196
Kasimir Eds dm id ■ D*r GoU
nehme, denn er sel gewohnt, die Stunden zu treiben, wie er wolle,
zu weilen, wie ihm passe und der zu sein, der er beliebe, Doch
der mit den grflnen Augen ihm gegenOber sab, gab hierauf keine
Ant wort, empfing den Handschlag und wies hinaus, wo Pferde
stampften.
Sie erhoben sich und verlieben den Raum. Das Madchen zerrte
an ihren Rodcschoben. Sie acbteten nicht darauf. Ein Wagen mit
weiben Pferden hielt in der Gasse. »Sie werden alles finden,« sagte
der Fremde, >aber Sie diirfen nicht zogern.« Er verabsdiiedete sich,
da er noch einiges zu verhandein habe und sagte, sie wurden sich
bald wiedersehn. Der Wagen fuhr bis zum Hafen. Eine Ruder-
barkasse brachte ihn ans SchifF.
Sie zogen die Nacht noch den Flub hinunter. Am Morgen bob
England hinter ihnen zusammen wie grauer Schaum.
Als die Weite des Meers vor ihnen lag, fullte sich Jean Francois'
Herz mit tosenden Takten. Er nahm seine Equipierung auf dem
Schiff. Als er sich umzog, trat ein Offizier in seine Kabine, er wech-
selte gerade die Hosen, und bat um die Aushandigung des Patents.
Jean Francois reichte es ihm:
*Sie werden erstaunt sein, mich aus einer schwarmerischen Nacht
in diese Fahrt und Stellung sturzen zu sehen, im Abendanzug, Leut-
nant Vaudricourt. Allein es trieb mich so.«
Der Leutnant griibte hoflich und erwiderte, dies wolle nichts sagen.
denn er habe die Fregatte lediglich mit einer Nachtkleidung und
einem Damenstrumpfband aus weiber Seide erreidit. Er legte die
Papiere zusammen und sagte: >Ich sehe, wer Sie sind.c
Er war hoHich. Er war Franzose, wie viele auf diesem Schiff
Qbergetretener, und von guter Erziehung.
Am Abend, als er die Offiziere zu einem groben Diner einlud,
erfuhr Jean Francois, dab sie sich mit fiinf anderen Schiffen ver-
einigen wurden, bestimmt, Brotbaume in der Siidsee aufzunehmen
und sie zur Verpflanzung nach Westindien zu schaffen. Die Ver-
dedce waren schrag aus Blei aufgelegt mit Rinnen zur Bewasserung.
Zwischen den oberen Verdecks waren hohe Raume, und in einem
falsdhen Boden standen hunderte Kubel.
Nach vier Tagen trafen sie auf eine Flotte, Signale riefen die
Kasimir Edsdimid * Der Gott
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M****M*00****J*90000*0***0***Mnr9**090******909M90*0*9******0**0******»*04*0*900**9?09**9M***9***9999*9*9****99M*W**0999m99W***m***
Offiziere auf das Admiralschiff, Sic steflten sidi im Halbkreis auf
dcm Hinterdeck auf.
Dann ersdiien, begleitet von groBem Stab, ein Mann, edel und
vornehm. Er hatte griine Augen, Brauen, die sidi romanisch iiber
die Stirn spannten und ein bieidies Gesicht. Die Augen funkelten.
Die Offiziere verbeugten sicb tief.
Er senkte iangsam den Kopf. Qber seiner Brust sdiwebte nodi
das Ludwigskreuz. Sein Degen war von wundervoller Arbeit. Es
war der Admiral.
Er ging auf Jean Francois zu, nachdem er die Befehle ausge*
geben hatte, nannte leise seinen Namen: »D'Adie,« und bat ihn,
mit ihm zu kommen. Sie stiegen ubcr einige Treppen tief hinunter.
Dann traten sie in einen breiten Raum. Der Vicomte hob einen
Leuditer und deutete auf einen Kafig, in dem ein Mann geduckt
saB: Der Kafig hing an Seilen hodi von der Decke herunter, Er
lieB mit einem Griff ihn sidi senken. Jean Francois sah, daB es der
Matrose war, dem er vor sedis Abenden seinen Pistolenmund auf
die Magengrube gerichtet hatte, und der Graf sagte ladielnd:
»Junger Mann, idi sdiatze Ihre Liebe fur andere Atmospharen, in
denen das Leben derber und inbriinstiger geht, als in den uns an-
gemessenen. Ich liebe dies audi. Sie werden dariiber sdiweigen, horen
Sie. Idi habe Sie verpfliditet, weil idi aus dieser Anlage GroBes und
Wildes von Ihnen erwarte.
Doch das mit der Pistole war toridit. Sie miBverstehen den Stil.
Sie flatten uns in Fetzen gescblagen. Man muB das anders madhen.
Den hier habe idi mir spater selbst und allein nodi geholt. Fragen
Sie ihn.«
Der Matrose wimmerte, aber sdiwieg . . .
Jean Francis fuhr mit seinen Offizieren zu seinem Schiff.
Wahrend der Fahrt betrat er das Admiraisdiiff nidit mehr,
Sie waren drei Leutnants auf der Fregatte, er, Vaudricourt und
Jules Labe. In den Naditen seufzte Vaudricourt nach dem Mond
und erlebte die Verse groBer Diditer, wenn das Meer in ziellosen
Spiegelungen ergliihte. Labe hatte eine Kreolin mit, die in einer
Matte unter dem grofien Segel lag und rauchte.
Oft spielte Vaudricourt auf einer langen silbernen Flote ihr vor
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198 Kasfmtr Edsdmkt • Dtr Gott
und sang mit warmem Tenor. Sie schloB die Augen wieder, dffnete
sie zu Jean Francois und bat ihn, ihren Windhund zu hoien, damit
sie mit diesem spiele. Sie hetzte ihn fiber das Verdedc, und seine
wilden Laute schoben sich zwischen die Schwingungen der FIdte.
Vaudricourt blB sich die Lippen und sagte:
»Madame, wenn Sie das Spiel nicht lieben, will i<h die FIdte ins
Meer werfen, obwohl sie Richelieu meinem Vatersbruder gab.c
Die Kreolin bog sich in ihrer Matte und sagte; 9Aber ich liebe
das Spiel.«
Der Hund sprang fiber die Matte hin und zurfidc, und sie sah
Vaudricourt so lange an, bis er verzweifelt ans Heck ging und ins
Weite stierte.
Abends legten sie eine Pharaobank auf und spielten.
AIs sie urn Kap Horn fuhren, griff ein Wind sie von der Seite
und warf sie grgen eine Bank. Da das Steuer aus Zufall quer stand,
glitten sie scharf vorbei. Wieder flogen sie in den blauen Spiegel
der Winde.
An einem Morgen lag Land vor ihnen, Sie hoben die Kopfe.
Sie begriffen erst langsam, dafi es Land sei. Sie fuhren Wodien sdion.
Steil erhob sich eine dunkie Kfiste, die ohne Jede Einschnfirung
war. Sie suditen zwei Tage lang eine Einfahrt an der westlichen
Kfiste, sie trafen nichts als einen Wall schwarzen Gesteins, aus dem
Flfisse ins Meer spien. Da gab das Admiralschiff das Zeichen, und
sie fuhren nach der ostlidien Seite. Da hob sich der Nebel und
schwebte in einer gleichen Lage wie ein mystisches Tuch in die Hohe.
Berge in tausend Gipfeln, die weifi waren wie Schnee, stellten sich
gegen den Himmel, der in unsaglichem Blau an ihren Linien herab-
rann. Vor ihnen offneten sich geschwungene Buchten, saftig und grfin
heranschwellend ans Meer.
Sie warfen Anker.
Dann schifften sie aus. Da brack aus Gebfisch weiter hinten eine
Masse fetter eingeborener Weiber mit Geschrei. Doch liefen sie nidit
nach vom, sondern bewegten sich in gleichbleibender Erregung am Platz.
In der Mitte zwisdien der Kfiste und den Tobenden stand eine
Zeder mit Olivenblattem. Neben ihr, allein, war ein Eingeborener,
braungelb, und hob die Hand. Er naherte sich nicht und lieB sie
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Kasimir Eds dim id • Der Gott 199
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herankommen. Die Offiziere gruflten ihn hoflich, so viel Wurde war
an ihm. Jean Francois sprath ihn an, Da wuthsen, ais er die eigene
Sprache vemahm, seine Augen ins Ungemessene, er beruhrte seine
Nase und vemeigte sidi tief. Sie verabredeten zum folgenden Tag
eine Expedition. Durch Boden aus Bims und schwarzem Glas
brachen sie vor, bis sie in ein Tal kamen, das viele Brotbaume
hatte. Jean Francois befahl, sie auszupflanzen und auf das Schiff zu
bringen.
Der Anfuhrer vemeigte sich, sprach kein Wort und lie!) den Blick
nicht von ihm.
Rutkwarts durthquerten sie einen Sumpf, in detn viel Pappeln
standen. Am letzten Rande des Moors, wo das Gelande sith nacfa
dem Meer abbaute, sal) eine Frau, die eine Farrenwurzel kaute, die
Fasem loste und einem Saugling in den Mund schob. Es war hoher
Mittag und die Sonne fiel steil auf die Frau.
Sie hob den Blick, lie!) ihn an Jean Francois hangen und hob das
Kind hoch in die Luft, drehte sith dreimal im Kreis und lief rufend,
die Arme kreisend, davon.
Das Land war Neu-Seeland.
In der Nadit ging Jean Francois auf Deck. Schlaf kam ihm nidit.
Er sah die weidhe Kuste sich gegenQberliegen. Er sann nadi. Er
war nie an dieser Insel gewesen. Er sthaute den Himmel ab. Der
Mond rollte hoth fiber den Bergen des Westens. Er ffihlte sith sehr
leitht und umgeben von einer unerhorten Wallung. Er hordite lange,
schnitkte Wassertropfen von seinem Armel und ging hinunter.
In der Nacht fiel Frost.
In den drei folgenden Tagen fQllten sie die Halfte der Sthiffe mit
Baumen. Am vierten fuhren sie.
Sie fuhren nordlith.
Die Schiffe glitten voll Musik zwisthen wunderbaren Eilanden
durch, an Buditen voruber, die voll Pinguinen safien und von Bachen
durthstromt waren. Sie lagen den ganzen Tag auf dem Vorderdeck
und rauthten. Das Meer war leitht und kaum bewegt, und die Inseln
formten sith mit gtanzenden Farben und Vogelruf aus ihm heraus
wie Wasserblumen, Als sie zwisthen einem Gemisch suber Buthten
lavierten, suthte die Kreolin Jean Francois zu verffihren, indem sie
200
Kasim {r EdsSmid • Dtr Gott
abends nacb dem An kern ihr Bein aus der Matte glriten IieB und
ihren FuB langsam fiber seine Hand ffihrte.
Docb er stellte das Windlkht sdhrager, daB die Matte ganz in
Vaudricourts Blickfeld blieb.
Sie ankerten nod) einmal in Guam, urn Wasser zu nebmen und
den Rest der Ladung. Sie blieben zwci Wodien in dem Hafen, der
vor vier Winden schfitzte. Die Bucbt war morgens rot von Seegras,
Meerwolfen und Seenesseln. GroBe Schildkroten scbwammen lang«
sam vorfiber.
Den Mittag gingen sie in die Stadt, die auf Pfahlen stand. Der
spanisdie Gouvemeur Dorn Simon de Auda IieB die Wache an-
treten und ging ihnen jeden Tag in groBer Uniform entgegen. Auf
seiner Veranda nahmen sie Scbokolade und lange Zigaretten, die er
ohne Pause selber drehte. Dann ritten sie ins Innere, das voll Sa-
vannen lag, die tief in den Urwald hineinreiditen, auf denen wrifle
Odisen mit dunklen Ohren gingen. Am letzten Abend gab er ihnen
ein Fest. Die Eingeborenen, deren Reste die Spanier auf diese Insel
gepferdit hatten, da sie revoltierten und aus Verzweiflung ihre Frauen
zwangen, die Kinder nidit mehr auszutragen, bewegten sidi mit Lid)-
tern und Stieren auf einer weichen Rasenebene, urn die der Wald
aufwudis. Im Gezuck der Bodenfeuer und dem Krdstben der Manner
kampften zwei Hahne. Der Spanier saB unbeweglidi und stolz davor.
Sie nahmen groBen Absdiied. Aber im letzten Augenblidk, noth am
Strand, kam cine Schar aus dem Inneren, die Weiber mit roten
Hummersdieren in den Ohren und legten, die Offiziere umringend,
Gaben hin und in die Nahe von Jean Francois. Jean Francois ver-
zog nid)t den Mund.
Letztmals legten sie bei den Philippinen an. Der Gouvemeur sandte
eine Einladung durdi seinen Minister, einen Native in Hosen aus
roter Seide und weiBem, chinesisdiem Hemd, Er bat, ungezahlt lang
zu bleiben. Seine Langeweile wiege seine Orden nicht auf. Er ver-
spradi gestimte Hirsdie und Eingeborene mit Schwanzen.
Jules Lab£ sagte ladielnd, ein Wunder sei eines Wunders wert
und sah auf Vaudricourt. Die Kreolin trug eine ironische Falte und
bat, ihr den weiBen Stoff zu besorgen, den der Minister trage. Jules
Labe zog ihn in eine Edte und kaufte das Hemd um eine Pistole.
201
Kasimir EcfsSmid • Dzr Gott
Nur seine Hosen gluhten, als er halbnackt vom Ufer zuruAwinkte.
Die ganze Nadit sAwammen die Insein unter weiAen Mandolinen-
tonen.
Morgens flaggte das Signal zur Abfahrt.
Mittags hob siA ein Strudel aus dem Meer, wuAs an den Himmel
und sprengte wie ein GesAoB die SAiffe auseinander.
Sie fuhren auf seiner Fregatte WoAen irr und im Sturm.
Als sie glaubten, daB sie sterben wollten und alles gleiA sAien,
senkte siA ein linder Abend herab. Die Wellen sAoben siA in-
einander, der Wind lief gering und zart. Wie ein SAaumnest quoll
der Horizont auseinander. Im letzten LiAt streAte siA eine sAmale
Bay vor ihnen aus. Sie wuBten niAt, wo sie waren. Der Sturm
hatte die Kompasse zerhauen. Sie fanden nur aus dem Sonnenstand,
dafi sie westliA fahren miiBten und beluden, die GesiAter aufgehellt,
das SAifif mit Lein wand, dafi es gut davonstriA. Sie warfen keine
Anker in der Dammerung, da die Lotung gftnstig war.
Sie lieBen die Fregatte gleiten. Dammerung sAob siA raubend
zwisAen das SAiff und das Land. Sie glitten in leiAter Brise selt-
sam gesAwellt in das warme Meer.
Da liefi Jean Francois, wahrend die anderen alien, die Hande
vom Reeling. Sein Herz hob siA. Er taumelte fast. Von einem Ge-
stiegensein getragen, ging er ans HeA. Sein Herz sprang. Er uber-
striA das SAiff mit dem Auge. Er wufite niAt, was er tat. Aber
er liefl, stolz und strahlend, das kleinste Boot herunter, sprang hinein
und stiefi ab von der Fregatte in die Dunkelheit, die ihn anzog,
daB seine Pulse brannten. Er ging ohne AbsAied, die Hande leer,
das Ohr ungeheuer gefuilt vom sAwaAen GerausA femer Brandung.
Allein die Ebbe war ihm entgegen. Er ruderte mit alien Muskeln.
DoA er kam niAt vorwarts, und das erziirnte ihn, daB er das Ruder
drohend in die NaAt hinein hob.
Er arbeitete weiter. Er ruderte mit alien Muskeln/ allein die Ebbe
war entgegen und warf ihn zuruA. Es war eine lange NaAt. Sturz-
seen Qberfielen ihn. Riffe turmten siA auf. Sein Kiel streifte oft an
Madreporen. Allein er barst niAt.
Sein GesiAt strahlte, daB die Dunkelheit um ihn wiA. Seine Augen
hefteten siA an das Land und zogen siA hin an dieser Kette. Gegen
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202
Kasimir Edsdmid • Der Gott
Morgen umfuhr er eine Budit Korallen und schob sidi in helles Wasser.
Als sein Boot Sand unter sich erknirschen machte, wich die Dam*
merung. Die KOste lag frei. Er sprang mit einem riesigen Satz hinfiber.
Es wurde Morgen, und Helligkeit sturzte uber ihn.
Vor ihm standen Eingeborene, die Musdieln suditen. Als er aber
unter ihnen ersdiien, erstarrten sie. Einer allein sprang in die Luft,
drehte sich im Wirbel und sdirie wie in hitzigem Gelachter.
Die anderen aber fielen zur Erde. Sie lagen wie gefallt. Die Frauen
sahen hodi und zogen die Haare fiber den Mund. Dann riefen sie:
»Rono
Rono
und weiter kein Wort.
Er befiahl ihnen aufzustehen. Sie wi<hen zurfidt.
»Welche Insel?c rief er mit der Spradie von O-Taheiti.
Allein sie antworteten mit dem rechten Dialekt:
»Oahu«, sagten sie und starben sdiier.
Er aber hatte diese Spradie lange nidht gehort. »Oahu«, sagte er
und sah sidi urn. Seine Augen sdifossen sidi. Das Blut zog hinauf
in den Kopf. Dann fiel es zurfidt. Die Blidte faflten alles.
Zugleidi vergafi er alles Vorherige. Es hatte keinen Wert mehr,
es fiel wie eine Kulisse. England stromte aus seinem Bewufltsein.
Vaudricourt, die Kreolin flogen sdiemenhaft von ihm. Alles Seit-
herige ersdiien ihm nur geheimnisvoll <audi im Unbegreiflidien) na<h
dieser KOste geriditeter Wille. So begriff er alles im Fallenlassen
und Heben der Lider, Nahm den Fall des Strandes in sidi auf, das
Erbrausen der Brandung, die Demut des Natives und einen zarten
Maiabaum, der ganz allein auf der Kuste stand.
Wie alles hinter ihm zurGcksank, kein Gedanke das Sdiiff mehr
sudite, das zwisdien fernen Wellen segelte und nidits mehr aus ih
her daran rGhrte, stieg eine Zartlidikeit in ihm, der folgend er nieder-
kniete. Legte das Gesicht in den weifien Sand, erhob sidh, den Kopf
drehend, und sdirie wie ein Tier in das Land.
Da stoben die Eingeborenen in den Wald.
Nadidem er die alte Welt aus seiner Seele getilgt hatte und gierig
den Einzug der neuen spurend, folgte er ihnen.
Es war still. Die Baume sdilossen sidi didit fiber ihm. Er ging.
Eine Fledermaus spannte sidi vor ihm auf und flog. Wurzeln krall-
ten sidi fiber den Weg. Der Tag stieg. Ein Trogu ldetterte in den
203
Kasim ir Edsdmid • Der Goff
Palmen. Er segnete ihn. ZwisAen SAaAtelhalmen rausAte ein
Wiedehopf. Es wurde stiller. Sein Herz klopfte bis in die Kokos-
kronen und breitete sicfa uber sie. Sein Herz sAwoll Ober den Wald
und versdilang siA mit ihm, dafl jedes GerausA der Blatter in seinen
Kammern mitscboll. Er empfand ZartliAkeit fur alles. Am Mittag
sah er einen langen, spitzen Kopf mit steilem, hohem Ohr. Es war
ein wildes SAwein. Es sah ihn an. Er streichelte es.
Er ging.
Dann kam er in ein kleines Tal. Bergwande warfen si A herunter,
es war eng und diAt. PlotzliA verliefl er das DiAiAt und braA ins
Freie. Die Enge war paradiesisA, Palmen sAwankten in der Sonne
tiber einer Hutte.
Vor der Hutte stand ein MadAen.
Als er kam, kniete sie nieder und flusterte: *Rono.e
Er trat an sie heran und sagte: »Liebe miA.«
Sie war weiB wie eine Franzosin mit einem metallisAen SAimmer
der HauL Ihre Glieder waren sAlank und weiA. Sie stand auf.
Sie hob die Arme. In den AAselhohlen saB kupferner Flaum.
Ihre Haare waren tiefrot und glatt.
Sie hob die Arme und legte sie urn seinen Hals. Er trug sie in
die Hutte voll Erleben des zartliAen DruAes, mit dem sie siA an
ihn lehnte, so, als sturbe sie an ihm.
Er fragte sie, wie sie heiBe.
Sie wagte ihren Namen vor ihm niAt zu sagen. Da nannte er sie
Kalekua, weil sie dieser ahnliA war,
Aber naA wenigen Tagen bedrOAte es ihn, daB er deren Er-
lebnis noA ungelost und sAwingend hinter siA trage. Er braA auf
und ging zwei WoAen durA den Wald mit ihr bis Honoruru zur
sudliAen Kuste. Dort horte er, Kalekua sei gestorben, und dies er-
fGllte ihn mit Freude, denn nun sAien ihm alles auf diese Frau ub er-
gegangen zu sein.
Er baute zwei Tage von der kleinen Stadt der Natives ein Haus
auf einem sAwarzen Lavafelsen, der die Bay uberragte.
Morgens sahen sie gleiA aufs Meer, in dem Kanoes liAte SAaum-
streifen hinter siA zogen und silberne Rollen an den Madreporen
rannten. Einmal lag ein SAiff lang drauBen unbewegliA, das ameri-
14 Voi. m/i
Kasim {r Edscbmkf • Dtr Gott
204
kanischen Kaufleuten gehdrte, die Sandelholz nach China brachten,
wo es a(s Weihrauch durch die Pagoden stieB. Sonst kamen keine
Schiffe.
Oft regnete es. Aber der Himmel bfieb strahlend blau und die
Tropfen hingen wie tanzende Seile in die See.
An einem Morgen nahm Kalekua ihn bei der Hand und fuhrte
ihn stundenweit, Sie bahnten sidi durch Farrengestrupp und Unter-
holz einen Weg. Spat kamen sie in eine Schludit Kalekua lieB seine
Hand nicht frei. Plotzlich, nachdem sie unter fiberhangenden Felsen
lang gegangen waren, traten sie hinaus.
Qber ihnen war ein Brausen. Sie hoben die Kopfe. Er sah auf
der einen Seite der Schludit einen Strom herabfallen, aber in der Mitte
der Luft fing ihn ein Windstrom, der strudelnd gerade vor ihnen
hochsturzte, und trug ihn auf die andere Seite hinfiber. Der Wind
stand wie eine blaue Spirale in dem Tal.
Kalekua sah fragend zu ihm auf.
Da herrschte er sie an, stellte sie und firagte: »Was willst du?c
Sie sagte: »Rono!« und sonst nidits. Aber ihre Augen fragten.
Sie kehrten zurudt.
Manchmal kamen Natives an den Rand des Waldes und sahen
nadi der HOtte und gingen scheu zurfidc.
Die Luft war klar und hell Gerausche spannten sich unendlich
aus. Klang entfernter Fisdierboote halite lang herauf. Selten wurden
die Nachte kuhf. Drei Kokosbaume standen um ihre HOtte. Kam
Sturm, bogen sie sich wie Glas tief hinunter nadi dem Meer. Es
wurde heiB, aber eine leichte Brise schob die Luft klar zusammen
und machte das Klima wie aus Seide glatt und kfihl
Kalekuas Wesen war durcfasiditig und glanzend, und ihre Haut
glidi geblaBtem Bernstein. Manchmal erzitterte sie, wenn sie Jean
Francois sah und schien unter seinem Blick aufzugehen und sich zu
entfalten, und in immer steigender, unirdischer Hingabe ihn mitzu*
fuhren und nach seiner Seele wiederum hinaufzuwachsen, daB er in
den Umarmungen ihrer Nachte sich wie schwebend empfandL
Einmal traf er sie, als er durch den Wald streifte. Sie saB neben
einem Ohiobaum, spielte mit den roten Fruchten und hielt eine
zwischen den Knien, Ihr rotes Haar fiel straff zuruck. Sie sang:
Kasimir Eds dm id • Der Gott
205
Inoa o Mauae a Para,
He aha matou auanei?
0 Mauae, te wahine horua nui,
Wahine maheai pono.
Tuu ra te Ravaia
1 ta wahine maheai,
I pono wale ai te aina o orua.
I ravaia te tane.
I mahe ai te wahine.
Mahe te ai na te ohua,
I ai na te puari.
Sie hatte eine Verklarung in ihr Gesicht gesammelt, dafi er nicht
wagte, sie anzureden. Er schlofi die Augen. Dann zog er wie ein
Fudis den Kopf ins Dickicht zuruck.
Ein paar Tage regnete es hintereinander. Dann kam die Luft ge-
strahnt frisch herauf. Jean Francois lag auf seinem Betl und kaute
gelangweilt an den Limonenblattern. Kalekua trat ein. Sie war noth
feudht vom Bad. In ihren Haaren staken vier weifie Federn.
»Du hast die weiBen Federn . . .«
»Es ist das Konigszeichen.* Sie strich fiber sie.
Ihre Brust bebte. Sie nickte. Dann ging sie allein hinunter den
langen Weg nach Honoruru zu den Zeremonien der Konigin, der
sie verwandt war in der dritten Reihe. Jean Francois lief den Tag
durch den Wald.
Die Fledermause stoben auf. Sie reizten ihn nicht. Kein Trogu
entzuckte seine Augen. Er warf mit Fruditen nach den wilden
Schweinen und brullte aus breiter Brust, dab sie verstoben. Er kam
heim, als die Sterne sich uber den Wald wolbten und lag eine
Nacht, das Gesicht verzerrt gegen den Himmel, schlaflos.
Am Morgen wusch er sich, nahm ein Kanoe, stieb ins Meer,
sang heifi, kam des Nachts in die Stadt und durchschweifte die
Gassen. Gegen Morgen kam er an die groBe Bay. DrauBen lagen
im fahlen Silbergrau sieben Schiffe. Er begriff nicht. Er visierte. Es
waren sieben Schiffe. Es waren nicht die seinen.
Drei waren Sandelholzfahrer. Amerikaner. Die anderen hatten die
plumpe Bauchlinie und das Grau der Walfischfahrer der sudlichen
r.V.V.V.V.V
206 Kasimir EdscBmid • Der Gott
Meere, Er verstand diese groBe Flotte nicht, wo sonst nur einzelne
in Mon a ten Pause ankerten.
Er ging zurQck und trat In eine erleuditete HOtte. Matrosen Johlten
darin. Sie hatten Rumfasser aus den Schiffen herQbergewalzt. Er
ging auf den Besitzer zu und nahm ihn zur Seite. Es war ein alter
Chinese, er kannte ihn. Der sah ihn an von unten und sagte, seit
vier Wochen sammelten sich Schiffe und Matrosen am Strand. Jean
Francis erstaunte, ahein seine Sehnsucht ging nach Kalekua. Er
vergaB alles darQber.
AIs er aber im grofien Garten von Ananas bei ihrem Oheim
Kuakini saB, begannen die Amerikaner das Haus der Kdnigin zu
beschleflen. Sie speisten gerade. Jean Francois sprang hinaus. Zwi-
schen den verankerten Sdiiffen und der Kuste wimmelten Boote.
Ein Weifler kam ihm entgegen. Er trug den dGrftigen Taillenrock
um die eherneBrust, ein starres Gesicht, urn das sich Locken krauselten.
Es war ein Missionar von den Sdiiffen.
»Warum tun sie das?«
Der Missionar spradi von Christ! Wunden und hob sein Bib el-
buch. Da schlug ihm Jean Francois die Hand voll ins Gesicht.
Die Natives flohen aus alien Hausern, Die Matrosen stellten
Espingoles am Strand auf und sdiossen einpfQndige Kugeln. Hauser
brachen knallend zusammen. Das Haus der Kdnigin brannte. Jean
Francois ging in den Garten zurQck, nahm Kalekua und floh mit
ihr. Qberall in breiter Kette stromten Menschen in den Wald, wo
die Matrosen nicht mehr folgen konnten. Einige blieben stehen,
hoben die Arme und machten demutige Gebarden, »Ronoc rufend.
Allein er umarmte Kalekua und fragte nadi nidits.
Sie zogen zwei Tage durch den Wald. Am Abend nodi, da sie
ihre Hutte erreiditen, fuhr er hinaus aufe Meer. Er sah sein dunkles
Lavariff in den Himmel aufwarts stoBen und sein Haus wie auf
einem WellenrQcken hodi tragen. Er sah die gesdimeidige Flanke
der Bucht ausgedehnt nadi den beiden Seiten, Sah darQber gewolbt
die Unendlichkeit des Waldes, den hellen Sand, die Muscheln, die
Sonne . . . er sang, er spurte in einer heiBen Gehobenheit, wie dies
alles zu ihm gehore und er sich wieder darein zurQckergieBe wie an
die weiBen Glieder Kalekuas.
<*
Kafekua aber irrte verwirrt amher. Glanz zog aus ihrem Auge
Sie sprach nidit, sie sah ihn lange an. Es war einsam um die Hutte.
Selten tauchten Eingeborene auf. Das Klima wurde kostlidier und
von Bluten durthzogen.
Einmal wagte Kalekua zu reden und bat, er solle das Ungluck
bedenken. Er verstand sie nidit. Sie meinte die Stadt und sagte es.
Jean Francis hatte es vergessen, als er den Abend in die See
stiefi, denn es war an der GroBe seines Gefuhls hinabgeglitten und
beiseite geblieben. Wenn er die Hohe der Seele empfand, was war
es ihm, daB Matrosen Kokos plunderten! Und er lacbte und sagte
es ihr.
Dock sie setzte einen FuB vor den andem wie spielend und sagte :
»Sie sind nodi da, streifen und sudien die Konigin.*
>Was wilfst du — .«
Da wies Kalekua auf ihre weiBen Federn und bat zu ihr gehen
zu durfen, die versteckt sei, und zitterte vor ihm.
Sdimerz wOhlte sidi kurz in seine Brust, wie er dadite, daB sie
gehe, aber er sah in ihre Augen und lieB sie gehn.
Am vicrten Tage ihrer Abwesenheit taudite eine Floite aus dem
Horizont. Jean Francois lag auf dem Baudi uber den Rand der
Klippe gebeugt und erwartete sie. Sie sdiaukelte weidi getragen
heran. Plotzlidi riB er den Kopf zurudt und sdiQttelte ihn. Dann
sprang er auf und lief ins Haus.
Es war kein Zweifel. Es waren seine eigenen Sdiiffe.
Er schrieb sofort einen Brief. Er schrieb, fette Walkahne hatten
die Kuste besdhmutzt, an der er lebe. Man solle sie zerschieflen,
obwohl es veraditliches Handwerk sei. Er habe sidi vom Sdiiff ent*
fernt wie er gekommen sei. Er habe darauf vorbereitet, auch ohne
zu wissen, warum. Darum unterlasse er es, Entsdiuldigung zu er-
sudien, denn allein das Verstandnis erklare sein Tun/ daB so sein
Drang und seine Art sei.
Als die Sdiiffe Anker warfen in der Dammerung, sdiwamm er
hinuber und warf ihn ins Admiralschiff.
Die Nadit lag er sdilaflos. Er bedadite Vergangenes, wo die alte
Welt ihn wieder uberspulte. Sein Him fand keine BrQcke zu ihr.
Sein Herz staunte uber sie. Sein Leben schien nur nebensacfaliche
rrn rrs
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'.VV/V/iV
208
Kasimir EdsSmid * Der Gott
Vorbereitung fur den Zustand, in dem er nur die hdchste Gleidi*
gewichtslage seines Daseins empfand. Er hob eine Musdiel und
schlOrfte sie voli Andacht. Er streichelte den Boden des Hauses und
empfand Erschutterung. Er lachelte, hob die Hand, und unter dieser
Bewegung schwang das Vergangene ins Uferlose zurGck.
Morgens wechselte das Admiralschiff Signaie nach dem Strand.
Graf d'Ache stand auf der Brftcke in groBer Uniform, das Band
des Ludwigskreuzes Qber der Brust. Er kommandierte:
*Mein Herr, Sie sind desertiert. Ich wGrde Sie in Eisen schlagen,
trafe ich Sie. I<h werde den Strand absuchen lassen mit funfzig
Mann. Man wird Sie wie einen Hasen fangen. Ihr Wunsch um
Hilfe sei aus Sachlichkeit gewahrt. Ich werde morgen fahren. Neh-
men Sie von einem Gentleman am SchluB die Versicherung bewun-
demder Freunds<haft.«
Kurz danach kam Kalekua.
Am Mittag such ten fbnfzig Mann mit Bajonetten die Kuste ab.
Jean Francois floh nicht. Er wuBte, daB sie die Wege zu ihm nicht
fanden, und sie fanden sie aud» nicht. Anderen Morgens losten sie
eine metalfene Kanone, begaben sich kreuzend unter Wind und
trieben aus der Bucht nach Honoruru zu.
Kalekua hatte eine neue Weise zu gehen, sie beruhrte den Boden
weniger wie frQher, ihre Hande hatten einen eigenen Takt und ihre
Augen sahen durch die Dinge hindurch, die sie umgaben. Die Feier-
lichkeit reizte Jean Francois, und er bat sie, ihn zur Konigin zu
ftihren, wenn sie wieder zu ihr ginge. Und sah sie fest an.
Sie erschrak und wurde braun im Gesicht und sagte stodcend vor
Freude und Angst: »Ich will,*
Sie speisten auf dem Tisch vor dem Haus. Sie brachte eine Ka»
rabasse mit Teig, gebratenes Schwein und suBe Kartoffeln. Als sie
die Holzschale mit Wasser reichte, sah er wieder, wie schon sie war.
Sie setzte sich ihm gegenuber, eine yameswurzel leicfat zerkauend,
die Palmen bogen sich in der Luft, das Meer scholl herauf.
Da wies er hinunter und sagte ihr, daB er fremde Schiffe gesandt
gabe gegen die Chinafahrer und verzog keine Miene. Sie aber, un-
glaubig, QbermaBig erbebend, sprang auf, wandte sich wie zum
Fliehen, kehrte um und kuBte ihn zwisdien die Warzen seiner
Kasim ir Eds c£ mid • Der Goff
209
Brust, wagte den Blick nicht aufzuheben zu ihm und flusterte: *Rono«.
Jean Francois erzumte iiber das Wort, das wieder auf ihn traf,
ohne daft er es fafite, drohte ihr und fragte, was sie damit sage.
Sie hob wieder den Blick. Aber sie brachte das Auge nur bis
dahin, wo sie ihn gekufit hatte, und fast vergehend sagte sie:
»Du wolltest zur Konigin. Sie will dick sehen.c
Ihre Haltung war schwach. Die Sdiultern hingen. Sie kehrte um
in das Haus, kam zuruck und trug die weiften Fedem. Sie nahm
seine Hand und sagte: »Komm.«
Dann gingen sie in den Wald hinein und lieften das Haus hinter sich.
Die Tur stand often.
Das Meer brauste blau hinein.
Kalekua sah sich noch einmal um.
Nachts schliefen sie in ciner Platane. Morgens wanderten sie
weiter. Als die Sonne steil stand, kamen sie an einen Pafi, der in
Windungen sich aufwarts drehte. Sie gingen lange. Mit einem Male
endete der Weg. Hinter einem Busch trat ein Mann hervor, der mit
dem Firnis der Gumminuft im Gesicht gezeidinet war. Er neigte sich.
Kalekua winkte mit der Hand. Da ging er vor ihnen her. Sie schrit-
ten durch den Busch und gingen iiber eine Gegend, die verbrannt
war, diirrer als Wiiste. Erdhaufen bogen sich wie Wellen. Risse
durdhfuhren den Boden. Trockene Biische klebten am Rand der
Steigung. Kalekua padste seine Hand. Sie kletterten iiber eine Lava®
dune, bogen und stiegen eine kleine Terrasse hinunter.
Der Bogen senkte sich tief und lief in machtigen Kurven sich ver®
schlingend um einen Streifen Wasser, der sich tief ausdehnte, den
wieder Zungen und Wellen Landes durchstiefien und sich so zum
Horizont verloren.
Aus dem Wasser bracken Kegel wie spitze Maulwurfshiigel. Aus
ihren Rohren stieg lautlos weifter Dampf. Es waren Hunderte von
Kegeln. Einer spritzte Gelbes aus seinem glasdiinnen Schlund,
Kalekuas Hand fuhrte ihn weiter. Vor ihnen ging der Gezeichnete.
Sein Rucken zitterte.
Jean Francois schritt federnd und leicht. Sein Herz sturmte in eine
grofie Erwartung. Seine Augen streiften ein grofles Erlebnis iiber den
Tag und hungerten danach.
Kasim ir EdsSmid * Dir Gott
210
Sie sriegen wieder, Es wurde glflhend vor Sonne. Die Erde tat
den Sohlen weh. Nirgendwoher kam ein Wind.
Dann taudite eine Mauer auf, die den Bergrucken herunter lief in
einem lan gen und leeren Bogen. Auf ihr war ein Holzstamm rund
gehauen aufgestellt mit vieien schmalen Rinnen, die nadi unten liefen.
Darauf hodcte, halb stehend, eine Figur. Sie war in die Knie ge-
beugt mit einer Knickung, daB die Sdienkel wollQstig und breit an-
sdiwollen. Die Arme waren dQnn und verkQrzt leblos nadi der Erde
gehangt. Die BrGste waren klein und saBen dicbt unter dem Hals.
Der Kopf bestand aus einem einzigen wflsten Radien und trug einen
Helm, dessen Schweifung sich in einer Raupenfahne bis zum Becken
hinabzog.
Sie maditen einen Bogen und traten dicht an der Bergwand in
einen Gang. Zuerst war es dunkel. Dann sonderten die Wande ein
Lidit aus, das mit einem matten gelben Sdiein die Hohlung durdi-
drang. Die Luft war weich. Kalekuas Daumen stridi uber den Ballen
seiner Hand. Das gelbe Licht aus den Mauern verdidhtete sith zu
phosphorisdiem Glanz.
Eine Stimme sdioll ihnen entgegen, die seinen Sdiritt hemmte.
Aber Kalekua trat vor ihn. Er fragre: »Kalekua? Am Ziel?« Sie
drehte sidi halb und sagte: »Der Priester, der das Kommende weiB,<
und zog an seiner Hand. Sie waren in einem runden Saal voll von
dem Lidit. In der Mitte stand ein Gehause, oval und derb gesdinitzt»
mit Gitterung in der Halfte der Hohe.
Kalekua deutete auf ihre Federn, wies mit beiden Handen darauf
und sagte: »Zur Konigin.*
Als ein dumpfer Laut zurGdtkam, wollte sie vorgehen. Allein Jean
Francois trat, sicfi von ihr losend, an das Gehause und erfragte
streng den Sinn des Wortes, das ihn Gberall traf und das sein Be-
wufitsein qualte. Er fragte: >Was ist Rono?«
Ein Kopf sthob sidi aus dem Gitter, pergamenten die Wangen,
mit geflochtenem, weifiem Bart, starrte ihn an und erschrak. Dann
zog sidi der Kopf zurudc, und eine demutige, zitternde Stimme fragte
aus dem Inneren des Gehauses, warum er sdierze. Doth Jean Francois
befahl laut die Antwort.
Da begann die Stimme wieder. Sagte — wenn er Bekanntes
Kasim ir Eds <6 mid • Der Gott
211
wiederholen musse — , dafi Rono ein Gott gewesen sei, der die Insel
bewohnte, dann Menschen die Erlaubnis gab, sie zu besiedeln, die
ihn aber sdilecht ehrten. Da brack er los, totete viele und verlieB
die Insel . . . Und daB er wiederkomme ubermachtig in einem Schiff,
der Gott, der Gott sagte er, und heulte erbarmlich.
Kalekuas Gesidit war starr. Der Priester wimmerte und bewegte
sein Gehause, daB es urn die Achse sdmellte und ein haliendes Ge-
rausch gab.
Nun wufite Jean Francis Kalekuas tiefste Gedanken.
Sie drangen weiter vor. Das schwebende Lidit horte auf, die Be-
leuchtung ward mehr die des Tages, blau und durchsichtig.
Plotzlich widi die Wand auf der einen Seite tief in die Dunkelheit
hinein, die anbrach. Am Ende des finsteren Raumes jedodi sahen
sie hellen Himmel hereinkommen. Als sie die Augen senkten, offnete
sich das Meer vor ihnen, und vertiefter nodi dann die Stadt und
die Bay.
Jean Francois gewohnte sein Auge an das straMende Lidit. Da
sah er die Budit voll von Booten, die vom Strand zuruckeilten. Um
die Klippe aber sdiwammen fremde Sdiiffe, von denen weiBe Wolken
sich hoben.
Kalekua druckte ihn gegen die Wand.
Ein feiner Larin kam von unten heran. Zehn junge Manner gingen
vor einem Zuge. Sie bliesen Horner aus weiBen Knodien, die spitz
gleidh Sdhaferpfeifen klangen. Ihnen folgten andere, die Besen hatten,
die brannten und einen Moschusduft ausspannten. Dann kamen stamp-
fend, die Beine wirbelnd, Madchen in gelben Manteln. Sie hatten in
der linken Hand kleine und dicke Stocke, in der anderen grofle ge-
sdialte hohle und sdilugen quirlende Takte darauf. Zwei hatten
Trommeln aus Haifisdihaut. Sie rasselten knatternd und dumpf.
Sie rannten voruber nadi dem Felsausblick, und ihr Geschrei er-
hob sidh heftig und monotoner, wahrend sie die Schfadit besdiauten,
Kalekua faBte ihn. Sie gingen weiter. Es wurde wieder dunkel.
Dann aber kam von neuem Luft zart und mild herauf. Sie blieben stehen.
Ein Teidi lag vor ihnen. Ein schmales Stuck Land schloB ihn am
Ende rund ein. Dariiber stand die groBe Offnung des Berges gegen
den Himmel hin.
212
Kasimir EdsSmid • Der Goto
77777777. .7:71. . 7177 7 77 1 7717 L
Aus dem Wasser stiegen langsam Frauen. Eine kam zuerst Sie
trugen alle, ohne diese, Helme mit roten Papageienfedem. Eine nur
trug einen Wedel aus Palmenfachem.
Die erste aber schwang in leichtem Spiel die Arme zum Trocknen
durch die Luft Das Blau zog dick hinter ihr zusammen. Sie war
sdilank mit wunderbaren hohen Beinen und nackt.
Ibre Knodiel trugen Ringe von Gardenien.
Ihre Haut war gefarbt/ gelblicb braun wie eine reife Olive.
So trat sie vor ihn, das Haupt zurudcgelehnt, und sah ihn starr an.
Ihr Blick aber streifte die Welt um ihn hinweg. Er sah ihren
Kopf, ihre Nadctheit, die weich und einfach auf ihn strahlte. Ihr
Blick weilte auf ihm mit stolzer und demutiger Klarheit, und dies
erhob sein GefQhl, dafi sie ihm wie ein Ausgleidi sdrfen zwischen
seiner Kraft und ihrer Hohe, sein Blut stromte gesteigert bis an
Grenzen, die er selbst nidit mehr erreichte, sein Him, unirdisdi ge»
worden, schrie: Konigin.
Er begehrte sie.
Er loste Kafekuas Hand von sich ohne Empfindung. Dann warf
er mit einem Schrei den Stolz der Konigin nieder.
Ihr Blick fiel. Sie wurde bleich.
Von den Stromen seines Ich durchschwellt erhob er die Hande
nach ihr: »Liebe mich«.
Seine Stimme schuf ein Sdiweigen, in dem die anderen erstarrten
und Kalekua niederfiel. Er sah ihr Gesicht, als er die Konigin auf
seine Arme legte, versteint und still zu ihm aufsehn von der schmutzigen
Erde. Aber so sehr kreiste dieses Erleben in ihm, dafi es seinem
BewuBtsein vorbeischwamm wie ein rascher Mond.
Er nahm die Konigin hoch, kQBte sie und trat mit ihr in das
Wasser, das bis zu seinen Huften stieg. Dann wurde es seichter.
Er bog in den Seitengang und kam in ein Nebengewolbe, das voll
stand von kleinen Geraten, Waffen und Figuren aus Jade. Sie alien
grGnes Harz zusammen, das ihre Adern tosend erhitzte und er kufite
sie, die verging.
Als am Morgen sein erwaditer Blick gegen das Blau des Hori-
zonts prallte, sturzte das Bild Kalekuas von alien Wanden gegen
sein Gesicht und verstorte sein Gefuhl.
213
Kasimir EdscBmicf * Der Gott
Er riditete sidi auf, bis er kniete. Er sah auf die Konigin. Sie
war schon. Ihre Lippen lagen fest zusammen und zitterten. Er ver-
glidh ihre Glieder. Er beruhrte ihr braunes Haar und den sdimalen
Ansatz des Augenschlitzes, er fuhr uber ihre jungen Briiste. Er
hielt die beiden gegeneinander. Aber Kalekua stieg.
Er stand auf, trat bis zur Offnung, wo der Berg hinuntersauste,
sdiwang die Arme, sah noth einmal auf die Konigin und ging. Das
Wasser nahm ihn kuhl auf. Am anderen lifer schiittelte er sich wie
ein Hund, die Tropfen spritzten gegen die Mauem. Er wuBte, daB
er eine grofie Hohe erlebt habe, aber daB er sie wegtun musse aus
der bleibenden Erinnerung. Es war nicht viel, eine Nacht aus dem
Leben zu streidien. Er sdiob sie zuriick.
Im Gang standen in Nischen groBe Figuren aus Holz und Stein.
Sie hatten aufgebiasene Baudie und grune Augen.
Am Ausgang lag Kalekua, zusammengekrummt. Sie sdhlief. Tau
hatte ihr rotes Haar verwirrt und feudit geballt.
Er bezahmte sich. Er sturzte nidit auf sie. Er wagte nidit sie
anzureden. Er sah sie lange an und ging voriiber.
Nadi fiinf Sdiritten holte ihre Stimme ihn ein, sie sdiuttelte sidi,
stand auf und kam. Er senkte den Kopf ein wenig. Sie aber nahm
seine Hand wie immer. Sie gingen zusammen, wie sie kamen, den
PaB hinunter. Sie stieBen durdi die Dampfe der aufgespitzten VuU
kane. Sie sdiliefen die Nadit in der Platane. Mittags erreiditen sie
das Meer.
In der ersten Nadit glaubte er, daB Kalekua ihn toten werde.
Dodi sie zeigte Andacht und Liebe. Er grcibelte, warum sie sidi
mit Freundlidhkeit verstelle. Dann stellte er sie zur Rede. Er sagte
ihr, dafi sie unehrlidi sei und Masken uber ihr Empfinden ziehe.
Sie weinte darauf und erbleichte in Sdimerz. Da stieB er roh in den
Mittelpunkt des Gefiihls:
»Hast du nicht Schmadi uber mich? Ich lieB didi bei Seite und
nahm andere Glieder an die Brust.«
Da ladielte sie ihn an, verstandnislos, und sah unsidier nadi der
See, iiber der die Brandung aufschwang. Am Abend begann sie
langsam zu weinen, und als er ihr die Haare grade legte, fragte
sie, ob sie bleiben durfe. Da lieB Jean Francois sein Mifitrauen vor
Kasimir Edsdbmkf • Der Gott
soldier Liebe, deren Quellen er nidit begriff, und Qberstromte sic
mit Zartlichkeit.
Als sie spater aufbrach zur Konigin, blieb er allein auf seinem
Peisen sitzen. Die ganzen langen Stunden sann er ihr Bild in die
Luft, dafl er am Abend des dritten Tages, halb verstort von Liebe
und heifier Luft, in die Hutte taumelte, um die Kalekua in unzah-
ligen Formen und Haltungen sdiwankte. Jede Linie schob sidi zu»
sammen mit anderen und wurde ihr Bein, ihr Arm, ihre Brust, ihr
Winken. Seine Augen wurden rot. Im Fieber sdilief er ein. So
wartete er auf sie.
Sie kam des Nachts und trat nidit ein. Als er unruhig erwadite
und Kuhlung begehrend hinaustrat, sah er sie leblos vor der Tiir.
Das Stemlicht Gbersdiwankte sie, und sie fror. Er trug sie auf
Armen hinein. Das Herz ging. Aber es sdilug nidit nadi dem seinen
hin, es fief durdi den Takt des seinen ohne Sinn und Ziel.
Er blies ihr seinen Atem in den Mund. Sie stohnte. Er stieg
auf das Bett und legte sidi auf sie, dafi sie erwarme. Ihr Blick traf
ihn. Er war ausdrudcslos. Ihre Fedem hatte sie aus den Haaren
genommen.
•Kalekua. «
Die Pupilfe bog sidi nadi oben.
Sie bekam einen kleinen Ausdrudk auf der Oberfladhe. Es war
Angst.
•Die Konigin . . .«
»Was — c Seine Stimme fuhr sdiarf auf.
Doch sie antwortete nur mit einer leeren Geste, auf die keine
Frage gesetzt werden konnte. Kalekua war affein zuruckgekommen,
sie hatte die Konigin nidit gefunden. Grauen hatte sidi in ihr Him
gesturzt. Die Konigin war fort.
Nidit mehr stridi Kalekua an sein Lager und durchduftete das
Zimmer mit Liebkosung. Die Welle ihrer erregten Bruste sdilug
nidit mehr an seine Brust. Ihr Auge mied den Meerkreis. Kein Blick
segelte auf den Horizont. Echos sdilug ihre Stimme nie mehr aus
dem Riff.
Jean Francois trostete sie mit Streidiefn und mit Worten. Dodi
ihre Haut zudcte nidit. Worte fielen von ihr ab. Da befahl er ihr.
Kasimir Eds dim id ■ Der Gott
215
MMM UMl
MM
sich zu freuen, aber sic sagte: »Die Konigin . . .« und vertiefte
das Auge zum Boden.
Sie ging zielios durch die Gegend, fOrchtete etwas Entferntes und
hielt die Haare in Verwirrung. Einen ganzen Morgen lief sie an
der Kuste auf und ab ohne Laut. Sie wich den Wellen aus, die
kamen, und bog in die zuruckflutenden ein in einem erschredcenden
Zickzadtlauf. Mancbmal hielt sie erstarrt einen Augenblidc die Arme
senkrecht. Jean Francois sah es stundenlang an, bis es ihn tief be-
sturzte und er hinunteriief und sie holte. An diesem Morgen begriff
er, daB sie ein fremdes Gefuhl in sich trug, das von seiner Seele
wild hinwegwuchs. Denn sie glaubte, daB sie ihn der Konigin ent-
zogen habe, und daB diese ihr furchtbar ziirne, und ihre Liebe ging
scheu geworden von der seinen zurtick, die ubermaditig iiber sie
hing. Er aber glaubte, daB sie Schmach triige, weil er ausbiegend
vom graden Sinn seiner Liebe die Lust der Konigin empfand.
Er suchte dies aus ihrer Seele zu werfen und sie mit Funkeln-
dem zu erfullen. Er fuhr mit dem Kanoe sie tief hinein ins Meer,
bis der aufgliihende Abend, als sie selbst schon vom Dunkel ver-
zehrt waren, die Bucht brandrot entflammte. Er fing kleine Sthweine
im Wald, damit ihr Quitschen bis zu ihrem Geladiter vordringe.
Drei Wocben fertigte er an einem Haken, mit dem er einen Hai-
fisth fing, den Bau<h vom Boot aus aufriB mit dem Messer, und
aus dessen Zahnen er cine Kette madite, damit der Stolz daruber
ihre zu Traurigkeit zusammengesdblossene Seele lotkere. Er log zu
ihr eines Abends, als ein femes Lacheln hinter ihren Augen saB,
von einem Bruder, den er nidit besafi, der mit Schiffen, wie mit
BauchBossen von Fisdien gestalteten, fahre.
Als er an einem Morgen spat hinaufkam von der Bucht, lungerte
um sie, die schweigend und nichtachtend saB, ein Chinese. Er er-
schlug das gelbe Tier, das ihr Bein mit Beriihrung befleckte, sdiabte
nadi der Sitte der Stamme das Fleisch von den Knodien und schenkte
ihr diese, auseinandergelegt und gebleicht von der Sonne, in einem
gebeizten Kasten mit gelbem Tuch.
Allein sie farbte sich die Lippen schwarz mit Beerensaft aus Trauer
und fehlte zwei Nachte, den Wald stumm durchsuchend, in seinem
216 Kasim ir Eds<£mid ■ Der Gott
Die Welt war jedodi so ma&tig und grofi in ihm, da 6 er, sidi
heftiger an sie verstridcend, nadi dem Fafibaren das Unmoglidie
verspradi: Giraffen, Tiger und den Mond.
Dodh ihr Auge blieb dunkel. Ihre Seele verehrte ihn sdieu und
entfernt. Dock je tiefer sie in ihre Angst taudite, um so wilder
umfafite sein Begehr ihr Entweichen.
Als sie wieder einmal fortblieb, dadife er ihr Bild nidit mehr in
den Raum. Es genugte nidit mehr. Seine Hande zeidineten ihren
RiB an die Wand. Seine Fauste sdilugen den Kopf in Ton, in zwei
Tagen, bis sie toten Blidts zuriickkam aus dem Wald.
Damit er sidi verkleinere, ihre Leidensdbaft aber aufwarts hebe,
tat er das Obermafiige von sich, ftihrte sie in das Haus und sagte:
»I(h bin nidit Rono. Fiihl den Muskel, der didi mandie Nadit hielt.
Greif in den Riicken. Idi bin nidits als Mann. Jeder konnte midi
ersdilagen. Deine Liebe ist mehr wertend, als meine. So gering bin
idi, daB niemand midi begehrt, es sei denn eine wilde Sau zum Frafl.«
Dodi sie wies auf die Stelle, wo die fremden Sdiiffe die Wal-
fisdifanger der Sudmeere gesdhlagen hatten, erinnerte ihn daran und
ladielte und glaubte ihm nidit.
Da griff er die Dumpfheit ihrer Seele von der anderen Seite an,
die sidi zwisdien ihre Liebe schob, packte das Bild der Konigin,
demutigte den Triumph und das Genossene in sidi und sagte:
»Was ist sie? Es ist geringes nur. Idi hatte sie in der Hand wie
ein Ei. Sie gab wenig zuruck. Ihr Korper ist gut, wenn deine Haut
audi heller ist. Aber ihr Sinn ist der einer Sdinecke.«
Allein ihre Seele, die an das Nahe und Einfadie angelehnt stand
und nidit vordrang in das Entfemte und Aufbauende seiner Satze,
hielt fest an der Konigin. Sein Hebei zerbrach an dem einen Wort.
Denn der Gedanke an sie und das Maditige, was sie umgab,
lag zaher und fester in ihrem Blut und vererbter den Rinnen ihres
Gehims, als das Erdonnemde seines Namens fflr ihr irdisdies Ge»
fiihl und selbst als die in seinem Korper verankerte Liebe des
Mannes, die nur durch Umarmung und Umarmung, in Pausen ge-
spalten, sidh erlebt.
Sie stellte sidi hoch und sah ihn sdiarf an. In dem Blick war
wenig von Liebe, aber dumpfe Erwartung, die ihm die Gurgel zer»
Kasimir Eds dm id * Dtr Gott
MM
217
MM4
sdinurte, denn er wuBte kein Mittel mehr, wie er die Angst vor
der Konigin Rache von ihr nahme.
Hr versuchte nodi eines: sudite tagelang die Konigin, sdirie ihren
Namen in die Taler. Aber fand sie nidit.
Kalekua sah ihn hart an, als er eintrat, widi die Nacht aus dem
Haus. Er aber sab in der Platane und erwartete den Morgen, in
dem seine Liebe sidi nodi tddlicher vertiefte.
Oft sah er sidi um und erstaunte sekundenlang. Denn was ihn
sonst trieb, die Kuste, die Wellen, die Flut der Palmen, was seinem
Leben und Dasein Ausgleidi gegeben hatte und seine Seele defer
emahrt und bewegt hatte, wie jedes vorherige Dasein — es sdirumpfte
zusammen vor dem Gefuhl zu Kalekua, das alles ubertraf und
niditig machte neben sidi.
Seine Liebe schwoll an, daB er sie nidit mehr in dem GefaB
seines Wesens halten konnte, und daB sie ausstromend Kalekua
adelte, ihren Gang erhob und ihr Dasein ins Unbegreiflidie steigerte.
Seine Umsdilingungen wurden heftiger. Sie begnugten sich nidit
mehr mit dem Errafifen des letzten Mensdilidien in ihr, das sie ihm
in wunderbarem Rhythmus entgegengesdilagen hatte und mit der
absdiwingenden Gliickseligkeit gleidigefuhlten Daseins, seine Um-
armungen vielmehr ersdegen eine Hohe, wo er ihr irdisches Dasein
nidit mehr erkannte, sondern sie, dies alles zuruddassend, nur nodi
erkannte und empfand verbunden und anheimgegeben uber das
Erkennbare hinausgehenden Rauschen und Gefuhlen.
Ihr Blidt erschauerte unter seiner Umsdilingung, die furditbar sidi
uber ihrer Seele erhob, die nur in Sorge und Abwehr gespannt
war. Er jedoch kuBte ihre FuBe, lauschte ihren Atemzugen und er*
sdhrak, wenn ihr Puls sprang.
Voll fessellosen Erlebens umgab er ihr geringes Dasein mit In-
halt. Er folgte ihr in der Entfemung, verlieB sie das Haus. Er
setzte sidi neben sie, wenn sie die Augen furditsam gegen die Hohe
des Berges erhob. Nadits beugte er sidi uber ihr Bett und sah ent-
ferntes Lidit des Mondes darubergehn.
Er suchte eine groBe Musdiel und hielt sie lange vor ihr Gesidit,
weil die wechselnden Spiele in der Farbe des Perlmutter ihre Ziige
zum Lacheln zu vermisdien schienen.
<*
218
Kasimir EdsSmid • Der Gott
Kalekua ging jeden Tag durth die Taler, die Kfisten und die
Baume. Sie sah sie nidit, Ihr Auge saB nadh innen gedreht und
lauscfate auf Ungeheures, das sie unsiditbar umsdioll.
Er aber war so voll von Liebe, dab er die Insel nun <die ihn frfiher
beseelte) damit umfing, so dab der Gerudi des Meeres, das Kost-
lidie des Horizonts, Sturm und Ersdiwanken der Palmen wie aus
seinem Leben herauszustromen sdiien. So gewaltig wudis seine Liebe
fiber das Land, dessen Sehnsucht lange vorher uber ihm stand, dab,
wenn er es gewollt hatte, die Insel begonnen hatte, wahrend die
Winde sdiwiegen, sidi in Kreisen um sidi selbst zu drehen.
Kalekuas Gefuhl aber wandte er damit nidit.
Ihr wudis alles, Luft und Erde, zusammen zum Bild der Konigin,
die mit gierigen Lippen Rathe heisdite. Und au<b den Geliebten
zog es in diesen Schlund. Sie bekam, von dem unabwendbaren
Scbicksal bedroht, eine Ergebenheit, die ihr Gesicbt bleidite und im
Erwarten des SchreAens leu<htend madite wie eine Qualle.
In einer Nacbt erscholl der Berg hinter ihrem Haus, ein Rib zog
sidi durtb die Mauer, Die Klippe barst zur Halfie ab und raste
ins Meer. Die andere trug sdiaukelnd ihre Hutte. Ein Donner warf
sidi aufsturzend gegen den Himmel.
Kalekua erwadite, und aufsdireiend erhob sie sidi, gfaubend, dab
durch die vertausendfadite Stimme die Konigin sie rufe. Sie sturzte
zur 1 ur.
Aber Jean Francois ergriff sie bei der Taille und hielt sie. Sie
sah sidi um und bliAte ihn an als wie ein sdiledites Tier. Ihr Mund
wurde zornig. Sie sdirie:
»Lab midi!4 — und als er den zuAenden Leib fester fabte: »Die
Konigin . , . die Konigin . . .« Dann hob sie die Hand und stieb
ihn unter das Kinn.
Aber sie madite seine Liebe nur grofter, und er band sie auf das
Bett vor Sehnsudit. Der Boden beruhigte sitfa, und gegen Morgen
beruhigte sicb Kalekua, als er sidi uber die Zitternde neigte und
seinen Namen sagte. »Rono«, sagte er.
Als sie sdhlief, band er die Sdinure ab und ging hinaus. Der
kalkweibe Kegel des Bergs hatte eine tiefe Wunde. Der Krater
dampfte leidit. Er lag in der gleidien Hohe wie sein Haus, und fiber
Kasimir EdsSmid • D*r Gott
219
9 f******S++*+*S*»S*SS*S*+**+*+ **+***+*++ ** **++0++++*++W***+*+WW****9**M*40++++++ *++*******+*+**+++*0++++*M*+*+****+**09*+**++***+* *+ * *****
das Riff verband sie eine Felswand miteinander. Das Meer war
grun, wo die sausende Lava sich hineingebohrt hatte. Weifie Fisdi-
baudie blitzten unzahlig herauf. Er setzte sich vor die Hutte.
Gegen Mittag aber ward der Schreck fibermaditig in ihm und warf
ihn nieder. Er stieg fiber den schmalen Grat zu dem Vulkan.
Da am Rande schleuderte es ihn auf die Knie. Sein Gefuhl, aus-
quellend unendlidi, stieg uferlos und stiefi an Gott. Das Meer ver-
farbte sich weit hinaus fast gelb und silbrig zu einer unbewegten
glanzlosen Fladie, auf der zwei Kanoes wie gefroren schliefen, Er
hob die ganze Inbrunst zu Gott hinauf und herrschte ihn an, dafi
druben fiber der kleinen Bucht Kalekua aus der Hutte heraustrete
und gelost von ihrer Angst und zurudcgeformt zur Liebe ein Ladieln
unter den Augen truge.
Aber Gott war taub.
Der Tag ging. Kalekua schlief bis in die Dammerung. Dann er-
wachte sie und blieb still sitzen.
In der Nacht begann der Boden zu schwanken. Mond schien.
Da stand sie auf.
Ihr Gesidit glich dem ihres ersten Tages, als ihm der Trogu nodi
die Seele entzudcte, die jetzt ganz nur Liebe war. Sie stridi ihr Haar,
das gluhend den Rucken hinunterbrannte. Dann nahm sie die vier
weifien Fedem und tat sie in ihr Haar. Aber eh sie ging, zog sie
aus dem hohlen Balken am Eingang die Kette der Haifisdizahne
und kufite sie.
Es war fast hell. Er sah ihren reidien Leib, der straff und zart
nadi den Brusten hinaufwudis, sidi mit den spitzen Zahnen gfirten,
Sah den Schwung ihres Beines, die Achsel, die Biegung ihres Nadcens,
die er mehr liebte als wie Gott. Er sah alles. Er weinte nidit.
Aber er hatte nicht die Kraft, sie zu halten.
Er nahm das Schidcsal in sich. Er konnte nidit hoher als Gott.
Plotzlidi ertoste der Berg. Da sprang sie hinaus. Sie lief. Einmal
nodi horte er ihre Stimme. >Sie ruft,« rief sie.
Da hielt es ihn nidit mehr. Er lief ihr nadi. Aber sie war zu weit.
Da warf er sich mit dem Rucken gegen die erdrohnende Hfitte.
Er sah sie fiber den Halbkreis des Grates fiber der Kuste her hin-
laufen, schmaler und blasser werdend im entfernteren Monde und
is vou m/i
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220
Kasim/r EufscBmid • Der Gott
beschwingt voll Licht weiterellend wie von Unirdischem getragen
gleich einer silbcmen Tanzerin in den Krater verschweben.
Er aber hatte, todlich verwirrt, ni<bt die Kraft ihr zu folgen. Noch
jagte ein Strudel von Gefuhlen sein vergangenes Leben uber ihn
hin. Aus der Kette der Gesidite warf sitb eines vor ihn, an das
er nie mehr gedachf hatte, und uber ein Bild, das sich unter seinem
Bewudtsein formte, sdiluchzte er, sich wie an ein Letztes daran
klammernd, dafi es ihn entwirren solle: »Ma , . . Ma — *
Aber audi dies war taub.
Da raste und sdirie er gegen Gott. Und dann besdiwor er die
Erde urn ihn, dad sie ihn hielte. Aber so tief war er als in das
Hodiste an Kalekua verstridet, dad, wahrend er schrie, die Dinge,
die er anflehte, sadit aus ihm entwichen. Ruhiger werdend sah er
nicht mehr Stern, kein Haus, kein Meer. Seine Augen lausditen
nach innen. Unendlidie Stille umflutete sein Geiiihl.
Er warf sich mit dem Bauch auf den Boden und blieb wie ein
Holz. Erst als die Stimme des Abgrunds heisdiender heraufscholl,
erhob er sidi und folgte ihr.
221
R. Sefigmann * Einsamhit und Gem e insam 6 e it
**+*****]t+m**++s***i**4A*lt+*+***+ *• ******** +**++************+wr*******+********+******r******r***9*m**m***********+****s+*********9T ******
R. Sefigmann:
EINSAMKEIT UND GEMEINS AMKEIT
A US der ganz besonderen, exklusiven Stcllung, die das mensch-
liche Bewufttsein inmitten seiner anders gearteten nicht-be-
wufiten Umgebung einnimmt, geht unmittelbar das psychologische
Phanomen der Einsamkeit hervor, das wir somit in diesem Zusam-
menhange nid\t ausschliefllich als eine psychologische Kategorie, als
eine gewisse Manifestation des menscbiichen Gefiihlslebens, sondern
eher als eine metaphysisebe Kategorie, als eine im Urgrunde der
Dinge wurzelnde Ersdieinung verstanden wissen wollen. Das Gefuhl
der Vereinsamung, das in gewissen Augenblicken sich jeder menscb-
iichen Seele zu bemachtigen vermag, und das bei gewissen Geistern
zum permanenten Begleiter ihres ganzen Innenlebens wird, dieses
Gefuhl der Vereinsamung, das unter Umstanden sich zu dem einer
absoluten Verlassenheit steigern kann, ist mit seinen tiefsten Wur-
zeln schon in jener elementaren Fahigkeit des Empfindens verankert,
das samtliche Dinge um sich her auf einen einzigen in einem ge-
gebenen Momente ausschliefilich an dieser und keiner anderen Stelle
des Raumes weilenden Punkt sammelt und konzentriert. Die Lage
des BewuDtseins bringt es also mit sich, daft die Ersdieinung der
Einsamkeit sich notwendig bei ihm einstellen mull/ mit dem Auf-
keimen einer bewuftten Reagierbarkeit auf die Einfliisse der aufteren,
nidit-bewufiten Umgebung ist schon die oberste Bedingung after
Vereinsamung gegeben, denn der Prozeft des Bewufttwerdens besteht
eben in nichts anderem, als in dem des fortwahrenden Sichisolierens.
Fur das unmittelbar wahrnehmende Subjekt, das schlichten und
offenen Sinnes an die Dinge der Aufienwelt herantritt, unterliegt es
nicht dem geringsten Zweifel, daft beispielsweise dieser harte Gegen-
stand hier, den es mit seinen Fingern betastet und gegen dessen
222 R. Stfigmann ■ Einsamftit und Gtmtinsamfieit
Flache es die Fingerspitzen druckt, auch auBerhalb seiner tastenden
und driickenden Hand einen bestimmten Platz im Raume einnimmt,
daB er also auBerhalb seines Leibes ein unabhangiges, reales Da-
sein fQhrt. Und doth wird dieses Subjekt ungeacbtet seiner tiefsten
Qberzeugung von der absoluten Unabhangigkeit des ihm gegen-
uberstehenden materiellen Gegenstandes, in dem Akte des Wahr-
nehmens, also im Akte des Betastens und DrGdtens den volien Ge-
halt des betasteten materiellen Partikelchens in jenen engen Bezirk
seines Leibes hineinverlegen, den seine Fingerspitzen darstellen. Und
je intensiver und langer es diese Fingerspitzen gegen den Gegen-
stand drucken wird, um von seiner massiven Materialitat sich immer
fester und sicfaerer zu iiberzeugen, desto scharfer und eindringlidier
wird es den von auBen auf seine Handfladie ausgeubten Drutk nur
als den Ausdruck seiner eigenen Muskeltatigkeit empfinden, als ein
Etwas also, das im gegebenen Momente sich ausschlieBlich hier in
dem von seinem Arm eingenommenen Teile des Raumes befindet.
Wenn ich ein Gewicht vom Boden in die Hohe hebe, so zweifle
ich gewifl keinen Augenblick daran, daB dieses Gewidit auBerhalb
meiner hebenden Hand ein reales, von meinem Ich vollstandig un-
abhangiges Dasein fuhrt, und niditsdestoweniger werde ich den
ganzen und volien Gehalt des Gewichts als Schwere in meinen
Muskeln empfinden, und so geschieht es mit alien anderen Empfin-
dungen und Wahmehmungen. Die blaue Farbe, die ich in dieser
Entfernung vor mir erblidce, existiert fiir mein BewuBtsein ganz
gewiB gerade an dem Orte, an dem ich sie sehe, und doch wird
diese Farbe als Wahrnehmung des Blauen an der Oberflache meines
Sehorgans haften bleiben. Der soeben von mir vernommene Klang,
von dem ich wohl weiB, daB er von einer weiten Ferae an mein
Ohr herankommt, wird trotzdem von mir genau an der Stelle fixiert,
an der sich mein Gehdrorgan in gegebenem Momente gerade be-
findet. Und so schlupft die ganze Fulle des Daseins in den ver-
haltnismaBig eng bemessenen Raum meines Leibes unmerklich und
muhelos hinein, wie die fetten Kuhe in den Schlund der durren und
mageren in dem bekannten Traum des biblischen Pharao. Und in-
dem ich auf diese Weise die realen Dinge der AuBenwelt an der
Oberflache meines Leibes festnagele, komme ich im Verlaufe meines
R. Se fig man n * EinsamReit und Gem einsamfte it 223
individuellen Lebcns allmahliA dazu, meine Umwelt von dem Orte,
den mein Leib augenbliAfiA im Raume einnimmt, fernzuhalten und
auszusAlieBen und gleiAzeitig damit den ersteren von der Ge-
meinsdjaft mit den Dingen abzusAneiden und zu isolieren. Trotz-
dem icb den Bestand der aufierhalb meiner befindliAen Welt ebenso-
wenig anzuzweifeln vermag, wie die lebendige Existenz meines
eigenen Leibes, so kann iA doA niAt umhin, diese meine Umwelt
in einem fort in Gedanken zu vemiAten, denn alles das, was idi
von dieser je zu wissen vermag, erweist siA notwendig als irgend
welche Empfindung und Wahrnehmung, und da doch mein Leib
der einzige Trager von Empfindungen und Wahmehmungen ist, so
bleibt eben fur die reale AuBenwelt eigentfiA niAts ubrig. Aber
diese immense Bereidierung meines Leibes wird eben urn den Preis
seiner ganzlichen Isolierung von den Dingen erkauft, denn aufier-
halb der Grenzen meines Leibes beginnt das unermeBlidie Reich
des Nicht-Idi, das unendliche Reich alles dessen, was mein Leib
fortwahrend verneint, indem er es auf sicfi selber fortwahrend kon-
zentriert.
Aber wiewohl mein Leib diese unverrudcbar feste, zentrale Stel-
lung gegenuber alien anderen Dingen der AuBenwelt immer be-
hauptet, so wird es ihm auf die Dauer kaum gelingen konnen,
seinen rcalen Bestand mit Sicherheit aufrecht zu erhalten, denn der
ProzeB des Isolierens schreitet unaufhaltsam weiter, je praziser und
sdiarfer sich mein Denken gestaltet. Habe iA einmal begonnen, die
reale AuBenwelt in all ihrer UnermeBliAkeit auf meinen eigenen
Leib einzusAranken, was auf das gleiAe hinauslauft, daB iA meine
reale Umgebung in Gedanken verniAte, ungeaAtet dessen iA von
ihrer Existenz die unersAiitterliAste Qberzeugung von der Welt
hege, so muB einmal unbedingt der Moment kommen, wo mir auA
die voile Realitat meines Leibes unter den Handen zerrinnt, indem
iA mi A namliA frage, ob denn mein Leib etwas anderes als bloB
den jeweiligen Ort meiner Empfindungen und Wahrneh-
mungen zu bedeuten habe. Und so mag es kommen, daB mein
fuhlender und begehrender Leib fur miA ins NiAts versinkt und
zu einem bloBen Symbol wird, das jedesmal die jeweilige Stelle im
Raume kennzeiAnet, an der siA diese oder jene Empfindungen und
224 R. Stfigmann • Einsam&tit und Gemtmsamfitit
Wahrnehmungen abspielen. An diesem Stadium des Denkens an*
gelangt, beginne id) meinen Leib als Ding unter Dingen zu be*
trad) ten, das unbes<badet seiner absoiuten Bedeutung ftlr meine
ganze Existenz meinem eigentlidien Subjekt nidit angehort und ihm
firemd bfeibt. Nun hat mein Subjekt seinen Sitz in der EmpfSndung
gewahlt, aber seines Bleibens dort ist nidit von (anger Dauer, denn
bei etwas scbarferem Zusehen werde id) nicht umhin konnen, die
Beobaditung zu machen , daB der eigentliche Quellpunkt melnes
Id) nid)t in dieser oder jener einzelnen Empfindung enthalten sein
kann, daB er irgendwo jenseits der Sphare alter einzelnen Empfin*
dungen und Wahrnehmungen liegen muB. Denn mag id)- in dieser
Hinsidit irren oder nid)t, aber Tatsadie ist es ein trial, daB sid) mein
Subjekt immer und uberall als der eigentliche Empfinder und Wahr*
nehmer all seiner Empfindungen und Wahrnehmungen ftihlt/ daB
wenn idi uberhaupt von einem Ich oder einem Subjekt reden darf,
idi darunter aussd)lieB(id) diesen Empfinder und Wahrnehmer meinen
kann, oder wie man sidi in einer ailgemeinen und abstrakten Weise
auszudrucken pflegt, daB das Ichbezeidinete immer und uberall als
der Trager von Empfindungen und Wahrnehmungen auftritt. Von
der einzelnen Empfindung und Wahrnehmung aber kann id) ebenso*
wenig behaupten, daB sie empfindet und wahmimmt, wie von dem
auBeren materiellen Gegenstand meiner realen Umgebung, die Emp*
findungen empfinden nicht, die Wahrnehmungen nehmen nidit wahr,
die Gefuhle fuhlen nidit, sondem alles das, was empfindet, wahr-
nimmt und fuhlt stedct irgendwo dahinter, in irgendeinem verbor*
genen Urgrunde meines Wesens, der bewirkt, daB bei dieser oder
jener Gelegenheit diese oder jene seiner AuBerungen als Empfin*
dung und Wahrnehmung auftritt. Und auf diesem Wege komme
idi wieder dazu, meine Empfindungen und Wahrnehmungen aus
ihrem gesidierten Sitze zu vertreiben, um sie irgendwo weiter und
tiefer zu verlegen, in genau derselben Weise, wie idi vorhin mit
den realen Dingen der AuBenwelt, und dann mit meinem eigenen
Leibe getan habe, was auf dasselbe hinauskommt, daB, indem id)
meine Empfindungen und Wahrnehmungen gedanklich vemidite, idi
die Kreise um mein Subjekt immer enger ziehe und midi immer
mehr isoliere. Aber wo kann eigentlidi dieses mein Subjekt stedcen?
R> Stfigmann * Einsamfait und Gemeinsamfait
225
vm
AuBerhalb der Grenzen mdnes Leibes ist es gewiB nicht enthaltcn,
aber aucb fnnerhalb dieser Grenzen wird es mir niemals gelingen,
es mit Sidierheit anzufassen und zu bestimmen, aus dem sehr ein-
fadien und durdisiditigen Grunde, daB das Angefaflte und Be-
stimmte nie und nimmermehr identlsdi mit dem Anfasser und Be-
stimmer sein wird, als den idi micb immer und uberall fuhle, solange
ich ein Wares BewuBtsein von meinem Idi besitze. Mag dieses Be-
wuBtsein stammen woher auch immer, aber einmal empfinde idi
midi als den Betaster und Beschauer aller Dinge, so wird mein Idi
in eben dem Momente, wo idi es irgendwie bestimmt zu haben, es
also irgendwie gedanklidi angetastet und angesebaut zu haben glaubte,
als Getastetes und Gesdiautes von mir in die Feme rucken und
zu etwas mir ganz Fremdem werden.
Es wird mir uberhaupt niemals gelingen, mein Idi in dem Welt-
ganzen irgendwo punktuell zu bestimmen, denn mein Idi ist ProzeB
seiner inneren Veranlagung nadi, und das Fixieren wurde jedenfalls
besagen, daB der ProzeB irgendwo zum AbsdiluB gekommen, daB
die Bewegung irgendwo an einem End- und Haltepunkt angelangt
ist. Mein Icb oder mein individuelles BewuBtsein besteht eben in
nidits anderem, als in einer konzentrisdi verlaufenden, spiral formigen
Bewegung, die um einen unsidit- und unfaBbaren, imaginaren Mittel-
punkt immer engere Kreise zieht, ohne jedodi irgendwo Halt zu
madien und stehen zu bleiben. Sieht man von dieser fur das Bewuflt-
sein so diarakteristisdien konzentrisdien Bewegung ab, und will man
dieses BewuBtsein irgendwo im Raume als fixen Punkt anfassen, so
wuBte idi wirklidh nicbt, welcben annehmbaren Sinn es dann nodi
hatte von einem Unterschiede zwisdien Sein und BewuBtsein zu
reden, trotzdem dodi dieser Untersdiied jeder unbefangenen An-
sdiauung unmittelbar einleuditet und von jedem unvoreingenommenen
Verstande auf das sdiarfete und deutlicbste von der Welt empfunden
wird. Fasse idi beispielsweise die Tastempfindung »Hart« ins Auge
und suche sie in ihrer Isoliertheit fur sidi zu betraditen, so wird mir
die Frage daruber, ob sie zur Welt des BewuBtseins oder der des
Seins angehort, die groBte Verlegenheit bereiten, Dieser Tastempfin-
dung »Hart« als soldier ist es ebensowenig anzusehen, ob sie in
die Sphare des Seins oder die des BewuBtseins hineingehort, wie
226
R. Stftgmann ♦ E(nsam6*it und Gemeinsam&eit
**********************************
diesem vcreinzclten, isolierten Punkte hier auf diesem vor mir liegen-
den Stuck Papier anzusehen ist, ob er zu einer krummen oder ge-
raden Linie gehort. Der einzelne Punkt als soldier, in seiner Iso-
liertheit, kann ebensogut einer krummen, wie einer geraden Linie
angehoren, denn Geradheit oder Krummung konnen unmoglich in
dem einzelnen Punkte stecken, sondern entstammen einem unerklar-
lidien spontanen Schwunge, der aus der Linienhaftigkeit je nadi Urn-
standen eine gerade oder eine krumme Linie macht. Und genau so
verhalt es sich mit der einzelnen Empfindung. Die isolierte Emp-
findung als soldie kann mit demselben Erfolge und demselben Rechte
als Sein oder Bewufitsein diarakterisiert werden, und wenn etwas da
ist, was ihr den Stempel der BewuBtheit in unverkennbarer Weise
aufzudrucken vermag, so ist es eben diese konzentrisdie Bewegung,
die sick ihrer bemaditigt und in ihren FIuB hineinzieht.
Denn der tief empfundene Untersdiied zwisdien BewuBtsein und
Sein kann eben unmoglidi in dem Inhalte eines Wirklidhkeitsfaktums
(iegen, sondern muB einzig und allein in der diesem Faktum an-
haftenden Tendenz zur AussdilieBlidhkeit und Zentripetalitat gesudit
werden. Pruft man namlidi die Wirklidhkeit auf ihren inneren Gehalt,
so erweist sie sidi immer und iiberall als eine und dieselbe, mag
man sie sonst Materie oder Empfindung oder was audi immer nennen,
und nur wenn man sie von der Seite einer an ihr auftretenden
Tendenz sidi immer mehr ein- und auszuschlieBen, betraditet, gewinnt
sie diesen Charakter der BewuBtheit, der von jedem unmittelbaren
Verstande auch unmittelbar empfunden wird. BewuBtsein — ist Aus-
sdilieBIidikeit, und mithin nimmt BewuBtheit notwendig die Form
des individuellen BewuBtseins an. Diese AussdilieBlidikeit des indi-
viduellen BewuBtseins findet ihren pragnantesten Ausdrudt in dem
auf den ersten Blick so einfachen, im Grunde seines Wesens jedodi
so wunderbaren und ratselhaften Umstande, daB in jedem gegebenen
Zeitmomente es im unendlidien Weltaif nur eine einzige Stelle gibt
und geben kann, innerhalb deren sich alles das, was idi zu meinem
eigentlidien Subjekte redine, abspielt — namlidi die Stelle, die mein
Leib momentan im Raume einnimmt. AuBerhalb dieser Stelle mag
es unendlidi viele Subjekte geben, die genau so wje ich empfinden,
wahrnehmen und fuhlen, aber alle diese Empfindungen, Wahmeh-
R. 5 e fig man n - Einsamfieit und Gemeinsamfoit 227
mungen und Geffihle kann idi eben als die meinigen nlcht aner-
kennen, was mit anderen Worten auf dasselbe hinauslauft, daB idi
mein eigentlidies Subjekt als etwas ganz Apartes und Aussdiliefl-
lidies weiB, das unbeschadet seiner innigen Beziehungen zu alien anderen
Dingen und Subjekten ein ewig Ffirsichseiendes bleibt. Und wenn
es im Weltall einen sidieren Sdieidepunkt gibt, so ist es eben diese
Stelle, die mein Leib momentan im Raume behauptet. Der jeweilige
Ort, den in einem bestimmten Zeitpunkte die Funktion meines Leibes
einnimmt, gibt das einzig feste, absolute Zentrum ab, von dem aus
alle sonstigen Raumbestimmungen mit Sidierheit unternommen werden
konnen. Weldie Reflexionen man sonst uber das innere Wesen der
Raumlidikeit anstellen mdge, ob man diese als eine in den Dingen
selber enthaltene Eigenschaft betraditet, oder ob man sie blob als
eine Funktion des vorstellenden Subjekts auffaBt, so bleibt es dodi
eine allem Zweifel enthobene Tatsadie, daB derjenige Teil der Aus-
gedehntheit, innerhalb dessen sich mein ganzes Geffihls- und Emp-
findungsleben abspielt, der einzige im unendlicben Raume ist, der
sidi in absolut eindeutiger und objektiver Weise gegen alle anderen
Raumteile abgrenzen laBt und von dem man mit Sidierheit behaupten
kann: es ist >dieser« und kein anderer. Denn wahrend es eine von
Natur aus gegebene Tatsadie ist, daB meine Empfindungs- und
Geffihlsfunktionen die Peripherie meines Leibes nicht fibersdireiten,
so dafi die Grenzlinie zwischen meinem Leib und den an ihm sich
unmitfelbar anschlieBenden Raumteilen sidi willkfirlich nidit versdiieben
lafit, bleiben die Begrenzungen der sonstigen Raumteile der indivi-
duellen Willkfir unterworfen, ohne daB ein festes Gesetz darfiber
entscheiden sollte, weldher Raumteil als »dieser« und welcher als
»anderer« zu betraditen ware,
Allein das Charakteristisdie und zugleich Verwunderlidie an der
ganzen Sadie ist, daB mein eigentlidies Subjekt bei all seiner Selbst-
herrlidbkeit die absolute Abhangigkeit von den Dingen und Subjekten
seiner Umgebung auf das lebhafteste empfindet, und daB es nur im
untrennbaren Zusammenhange und unzerreiBbaren Verwobensein
mit diesen Dingen und Subjekten sidi seiner Idi- und Selbstheit
bewuBt zu werden vermag, und daB, sobald es den Versuch madit,
von allem »AuBeren« und »Gegebenen< abzusehen, um ungestort
228
R. 5 e fig man n • Einsamfeit und Gemeinsamftit
be i seinem elgenen Selbst zu verweifen, es sofort ins Leere greift
und an sidi irre zu werden beginnt Immer und Qberall, wo idi mein
eigenes Subjekt auf das sicherste erfaBt zu haben glaube, erweist
es sidi bei naherem Zusehen nidit mehr ais mein Ich, sondern a(s
etwas ihm ganz AuBeres und Fremdes, denn da idi midi immer und
uberall ais den Erfesser und Ergreifer empfinde, so mufi es mir im
Momente des ErfaBt- und ErgrifFenwerdens notwendig entsdilupfen
und aufhoren Idi zu sein. Und daher kommt es eigentlidi, daB ich
meine Idiheit nur in ihrer engen Verstrickung in irgendeinem Dinge
der Aufien- und Innen welt empfinden kann,nur solange idi midi in irgend-
weldier realen Beziehung zu irgendweldiem »Objektec befinde, ganz
gleidi in weldier Gestalt dieses Objekt vor meinem BewuBtsein auf-
treten mag, ob ais materieller Gegenstand, oder ais Nebenmensdi,
oder ais Phantasie- und Erinnerungsbild, oder ais Gedanke, — und
daB an die Stelle meiner Idiheit sofort ein leerer Platz tritt, sobald
idi es versudie, von all diesen Objekten Abstand zu nehmen, um
midi nur auf mein eigenes Selbst zu konzentrieren.
Wir haben also gesehen, daB das mensdilidie BewuBtsein von der
unausrottbaren Tendenz beherrsdit wird, sidi immer weiter zurfidt-
zuziehen, sidi immer enger einzusdilieBen, sidi immer tiefer zu ver-
graben, sidi immer mehr zu konzentrieren, um in moglidist voll-
standiger Beziehungslosigkeit und Unabhangigkeit bei sidi selbst zu
verharren, wahrend es anderseits nur in Beziehungen und Abhangig-
keiten aller Art seiner selbst bewuBt zu werden vermag, oder kurzer
ausgedrQckt, daB das mensdilidie BewuBtsein sidi immer absoluter
gestalten modite, wahrend es sidi anderseits nur in Relativitaten aller
Art zu behaupten und auszuleben imstande ist. In dieser wider-
sprudisvollen Situation stecken die tiefsten und verborgensten Wurzeln
der Einsamkeit. Hatte das mensdilidie Idi die Moglidikeit vor sidi
gesehen, diese ihm innewohnende Tendenz zur AussdilieBlichkeit und
Zentralitat inmitten all seiner realen Umgebung zum endgultigen
Durdibrudi zu bringen, ware es je in der Lage gewesen, diese von
ihm so sdiarf empfundene Einzigkeit, Alleinigkeit, Aufsidigestelltheit
und Unersetzlidikeit in ganzlidier Unberuhrtheit von den unzahligen
Eingriffen der AuBenwelt zu wahren und aufredit zu erhalten, ware
es ihm je vergonnt gewesen, sein eigenes Selbst mit Sicherheit zu
229
R. Stfigmann • E ins am /tea und Gtmeinsamftit
erfassen, ohne immer wieder sich darauf ertappen zu mussen, dafi
ihm dieses Selbst im Momente des Erfassens unter den Handen zer-
ronnen und bereits zu einem Anderen geworden ist — es lage kein
Grund zu irgendwelcfaer Einsamkeit vor, da doth Einsamkeit not-
wendig irgend welch e Abhangigkeit und Unfireiheit voraussetzt, wah-
rend dann das menschliche BewuBtsein als eine ganz in sich abge-
schlossene, bei sich und fur sich seiende Welt, in vollem Besitze
seiner Freiheit und Unabhangigkeit gelebt hatte. Ware aber ander-
seits das menschliche BewuBtsein von Natur aus uberhaupt nicht mit
der verhangnisvollen Gabe ausgestattet, sich immer schroffer gegen
die reale AuBenwelt abzuschlieBen, konnte es restlos und mit seinem
ganzen Wesen in seiner unmittelbaren Umgebung aufgehen, wie es
der Fall mit einem materiellen Atome ist, das sich in lauter Be-
ziehungen aufldst und in voller Angepafitheit an die Dinge seiner
Umgebung nur fur ein Anderes und von einem Anderen da ist, es
konnte erst recht nicht zu irgendwelcher Einsamkeit kommen, da
doch Einsamkeit anderseits irgendwelche Ab- und Aussonderung
notwendig voraussetzt. Und nur auf dem psychischen Boden eines
zwitterhaften Wesens, wie das menschliche Ich eines ist, kann die Ein-
samkeit gedeihen, auf dem geistigen Boden eines Wesens, das seiner-
seits die Existenz der AuBenwelt mit absoluter Sicherheit bejaht und
gleichzeitig damit in einem Atem die AuBenwelt gedanklich vemeint,
indem es diese durch diese Empfindung auf sich selbst zuruckfuhrt
und sammelt.
Es ist nur ein anderer Ausdruck fur die vom einzelnen Indivi-
duum so scharf empfundene Unersetzlichkeit und Einzigkeit, wenn
dieses sich nicht zu erfassen vermag, ohne dadurch zugleich sich selber
entfremdet zu werden/ denn es muB jedermann ohne weiteres ein-
leuchten, daB, wenn ich beispielsweise jemals in die Lage kame, mein
eigenes Ich in seiner vollen Unmittelbarkeit und Lebendigkeit zu er-
fassen, will sagen, daB, wenn ich mich in dem dermaBen Erfafiten
nicht als Objekt, sondern als voiles und reines Subjekt zu fiihlen
vermdehte, diese meine beiden Ich beliebig einander ersetzen und
fiireinander eintreten konnten, und mit meiner Einzigartigkeit und
Unersetzlichkeit ware es aus. Aus demselben Grunde, aus wel-
chem ich mein eigenes Selbst als etwas Unwiederholbares und
230 R. 5 e fig man n • Einsamfett und Gem einsamHeit
Absolutes empfinde, aus eben demselben Grunde ist es mir ganz
unmoglidi gemadit, in dem ergriffenen und erfafiten Idi midi selber
je wiederzufinden, denn ware das letztere der Fall gewesen, so
wurde ich doch erstens wiederholbarer geworden sein und zwei-
tens wflrde dodi mein zweites Ich zu meinem ersten in einer Re-
lation gestanden haben. In jedem Augenblidt meiner Lebensdauer,
an jedem Punkte meiner Lebensoberfladie fuhle idi diese meine
Einzigkeit und Ausschliefilidikeit, dies sagen mir meine elementar-
sten Empfindungen und Gefuhle, die im gegebenen Augenblick an
dieser und keiner anderen Stelle des Raumes auftauchen, und die
idi eben deshalb gedanklidi als die meinigen bezeidine, will sagen,
als Manifestationen, die von Natur aus mit dem Charakter der
Einzigkeit und Alleinigkeit behaftet sind. Anderseits aber weifl idi
mit derselben untriiglidien Sidierheit, daft dieser mein Leib, der
adaquate Reprasentant meiner Empfindungen und Gefuhle, und mit-
hin alles dessen, was idi als Einziges und Aussdiliefilidies empfinde,
sich in fortwahrendem StofFwedisel mit den Bestandteilen meiner
materiellen Umgebung befindet, derselben Umgebung, die meinem
personalen Bewufitsein als etwas absolut Indifferentes und Fremdes
gegenubersteht, und dafi auf diese Weise sidi von meinem uner-
setzlidien und unwiederholbaren Idi fortwahrend Ringe ablosen und
im Weltenraume hangen bleiben, wo sie als materielle Bewegungen
ein mir vollstandig fremdes und gleidhgultiges Dasein fuhren. Irgend-
wo im unendlichen Raum ist das Ich meiner fruhesten Jugend mit
all seinen Reizen und Freuden hangen geblieben, irgendwo im un-
endlichen Raum wird mein gegenwartiges Idi mit all seinen Traumen,
Sehnsuchten und Hoffnungen hangen bleiben, irgendwo im unend-
lidien Raum wird dies alles zu leblosen Atomen, die in absoluter
Teilnahmslosigkeit an meiner Seele voruberziehen , und die von
meiner Seele in absoluter Verstandnislosigkeit angestarrt werden.
Alles, was idi an meiner Person als etwas Absolutes und Fursidi-
seiendes empfinde, erweist sich mir bei naherem Zusehen als in
lauter Beziehungen aufgelost, alles was idi in dieser Person als Un-
wiederholbares und Unersetzliches fuhle, wird fortwahrend wieder-
holt und ersetzt, und alles, was sidi in meinem Bewufitsein an ihr
als etwas Unfafi- und Ungreif bares darstellt, wird unaufhorlidi von
R. Sefigmann • EinsamUtit und Gemtinsamieit
231
den materiellen Bewegungen ergriffen und in ihren Strudel hinein-
gezogen.
Es ist nun sehr naturlidi, wenn sich die menschliche Seele nadi
einem Stutzpunkte sehnt, um in dieser unhaitbaren, widerspruchs-
vollen Situation einen sidieren Halt zu gewinnen. Aus derselben
W urzel, aus der die Einsamkeit stammt, wachst audi die Sehnsucht
nach einem Ausweg aus ihr hervor. Da stdfit die Seele innerhalb
ihrer Umgebung auf das fremde Idi, das zunadhst und auf den ersten
Blick sich ihr gegenikber als ein Ding unter Dingen gebardet und als
solches auftritt, in welchem sie aber bei etwas naherem Zusehen eine
voile W esensahnlichkeit errat und herausspurt. An den beiden Ein-
samkeiten entzundet sich das Ineinander und die Gemeinsamkeit, ohne
da6 die Seele dabei an ihrem Eigensein und an ihrer Selbstandig-
keit irgend welch en Schaden nimmt. Denn das Fursichsein der Seele,
das in einer Welt von iauter Relationen sich nicht zu behaupten
vermag und nicht zur Geltung kommen kann, findet hier seine voile
Bestatigung und Sanktionierung. Dieses Fur- und Beisichsein der
Seele kann unmoglich vollkommen sein, solange das individuelle Icfa
in seiner Gesondertheit nur bei sich allein verbleiben will, da es in
einer Welt des Fureinander gar nicht imstande ist, sich abseits von
Relationen auszuleben/ es wird aber gesichert, sobald es diesem Ich
gelingt, mit einem fremden Ich in eins zu verschmelzen, da in diesem
Falle das Fureinander und das Fursichsein in einem einzigen
Punkte koinzidieren.
232 Part Beyer ♦ Mdd<£engesc6k£te
Paul Beyer:
mAdchengeschichte
SIE waren satt vom ersten Abend aufgestanden und safien scbal
in die Nadit. Gedanken kamen so, als stande nicbts vor ihnen.
Sie hangten klingende Dinge, die sie spradien, an die sdiwarze Tafel,
die zukunftsdunkel vor dem Fenster lehnte. Und dodi ruckte die Uhr
unkend ihr Haupt und scblug bedachtsam an die Sdiale, aus welcher
die Zeit steigt. Verstohlen gahnten die roten Mahagonisdiranke. Augten
in das warme Streicheln des Feuers, das auf den grunen Tisdi <mit
krausem Mehl der Stickerei kreisrund bepudert) bieder herabsah.
»Sie blakt ein wenig,< sagte Henni und hob die Hand vom blau-
geblumten Kleid.
Mandimal waren sie ganz still, weil eine Brudce zwisdien ihnen
FlQgel spannte, auf der einsame Gedankenganger sidi ansprachen.
»Weiter,« tonte er so hin.
>I<h hab' dodi gar nicbts gesagt.c
Er sdtrak. Sie versucfate ein Ladieln. Dann kniete sie vor ihm,
grub ihr Gesicht in seinen SdboB: »Mein Gotf, idi habe Angst um
didi wie ein Madcben.c
Sie weinte ganz laut.
Er stemmte sidi: »Icb muB nun fort.«
Sie Qberstromte an ihm, der ihren Sdieitel leise bestridi.
>Wein' nicbt, Henni. LaB all meine Bucher liegen. Denn wenn
ich wieder...*
Da riB das Dunkel. Licht brach grell herein. Und sein Mund war
voll ihrer stammelnden Kiisse.
Nodi einmal sah er den kleinen Schreibtisdi , wo Werke offen
warteten. Dann wurde er fest: »Glaub' mir, Henni, daB dein Sohn
einst ganz groB wird, weil er aus dieser Zeit und unserer Liebe
zum Leben kommt.«
Pauf Beyer • MM<£enges(£{(6te 233
Sie aber ftihlte, dafi ihr Leib nackt Tar. Und ihr Kieid Turde
durchsichtig.
*
Sie erschrak heftig, als er die stiirzende Stiege ohne Blidt pochend
zu Ende klomm.
»Du bist vie! weiter, als du bist,« scfaluchzte sie leise.
Er drehte sidb um, sah sie oben, vertrat den FuB, fiel auf die
Knie. Ganz unten. Der Degen rasselte.
Sdinell eilte er laut durdi den dunlden Flur und verbiB die Lippen,
dafi seine Sdilafen hervorquollen, als Turden hier Augen nach den
Seitenenden der Zeit. >Was mag dort liegen?« Eine metaphysische
Frage nach der mehr dimensionalen Zeitlichkeit umsurrte ihn: ein
quSlendes Insekt.
Die Nacht stfirzte uber. Er straffte sich und sdiritt weit aus durdi
die nGtzlicben Gebirge der Hauser, die von den Monden der Bogen-
iampen viel zu hell und viel zu dunkel waren. Er schlug die Hand
weit durdi die Luft. Es pfiff. Sie zitterte wie endende Films. *Wedisel-
strom. < Davon kam er nidit los. Spater bog er in Gassen, wie Cations
der Wagenflusse, vorbei an Maddien, weldie zisdiend gegen Hauser
lehnten. »MeinVater Tar Ingenieur.< Und veiter. Rasdier. »Warum
mufi idi nadi Osten kampfen, wo meine Mutter geboren ist. Und
gegen die Sonnenbahnlc
Er sah. Tie Henni in irgendeinem Haus stand. Hodi an den
Stufen. Jetzt erst. Tie lange er fort Tar, merkte sie, dafi unten ein
gelber Dodit oligen Sdileim blahte, der, die Zadcen der Treppe be-
nutzend, bis zu ihrem verTunderten Kieid Tinselte, to ihn die
kleinen Augen bedauerten.
Dort verbarg er sich ebenso in den Falten, Tie Hennis Gesicht
im Taschentuch.
★
Langsam setzte sie am Nahtisch einen hellblauen Brief an ihn zu-
sammen. Darin stand: >Du bist so groti, daB keine Kugel dich treffen
kann. Ich habe gar keine Maddienangst mehr. Denn zum grofien
Mann gehort auch, daB er von Kugeln versdiont Tird. WeiBt du
denn noch gar nidit, daB Kugeln auch Ehrfurdit und eine Seele
haben? Sieh mal, du hast noch nidus geleistet. Aber ich TeiB, daB
234 Pauf Beyer - Madc£enges<£ic6te
eeeeeeeeee/teeeeeeteeeetreeeeee #/ ret re eeteeeeeeeeeree r err 4 eeeeeeeeeeeeeeeeeeee eereerejwteeeeetreeee+eeeeeeeeeteeteee*******,* eeeeeeeeeeeeeewm
du cinmal grofi in dcr Welt wirst, so wie du jetzt schon bei mir
bist. Und iiberhaupt, wozu solltest du denn sonst geboren sein.
Mein kleiner Junge bist du, und idi mufi dich betreuen. Du mufit
mir aber sdireiben, Idi weifi nodi gar nidits von dir, seitdem du fort
bist. Idi bin ja so leidit zu trosten, denn idi bin einfadi, und an
mir ist nidits Besonderes. Du sagst immer, ich bin dein Polares. Und
jetzt bist du am femsten . . .«
A!s sie fertig war, faltete sie ihn ein und sdilofi ihn.
Dann sang sie ein Lied.
*
Sie saB und las und spann sidi um ein Budi. Darin waren die
Sagen der bunten Blume von Lhassa. Es war so tief, wie einer
sdirieb, der den Geist nodi nidit kannte. Nun war es alt. Und der
Gott, weldicr alles von sidi am besten wufite, ladite dariiber.
Gem versdiwand sie in dem weidien Rot von Lotos, das daraus
zog, und horte durdi den Wind am helleren Strom das wadie Hallen
rollender Gonge bald nadi Mitternadit.
Es klopffe, daB sie ersdirak. Die Stubentiir sprang bastig auf. Ein
Wind stieB tief ins Zimmer, hob die Gardinen wie Rocke und stridi
mit unsiditbarer Hand die losen Blatter vom Sdireibtisdi. Henni erblaBte
und biitkte sidi sdinell. Ein Peitsdienknall im Sdirank madite sie hodi»
taumeln. Alle Sdiubfadier streckten die Zungen heraus und knarrten
leer. Aus der Sdiranktiir wuchs wedelnd <der Saugarm eines Poly~
pen) ein angstlicher Gedanke und sdinappte nadi ihrem Knie, das knickte.
»Nanu,« sprach Hill dick vom Turrahtren und trat ins Zimmer.
»warum ist alles offen?«
»Icb wollte den Brief fortbringen.« Ihre Stimme zitterte.
>Haben Sie an Wilhelm gesdirieben? Wie geht's ihm denn?«
»Es ist nodi kein Brief da.« Sie hatte einen Kinderkopf, und ihre
Augen blickten treuherzig.
»Idi bin gekommen,* er legte Hut und Stock auf den griinen Tisch
<sie glaubte, daB sein Kinn versdiwand : er sah aus wie ein Geier),
»idi bin gekommen, um seine letzten Sachen auf Drudcbarkeit hin
durdizusehen.«
Plotzlidi haflte sie ihn: »Warum sind Sie nidit im Krieg?« Sie
trat ganz didit zu ihm.
Pauf Bayer • MddcBengesc6ic6te 235
Er lacfate: »Wei( ich keine behaarten Arme habe.«
Henni fiel in einen Stuhf. Hill blatterte in Papieren. Einmal sah
er auf: »Qbrigens wissen wir, dafi es auf Psycbologie nicbt mehr
ankommt. Und ob alle Mutter von grofien Mannern Marien waren,
ist bezweifeibar. Fest steht nur, dafi Kausalitat die herrlidiste Dicb-
tung ist und dieses Zeitalter politiscb. Naturlidi ist der Individu-
monismus scbuld an den Kartoffelpreisen. Jetzt stofien wir alle in ein
Horn und sdhreiben, dafi Sdireiben nicbts wert sei.« Henni stand auf.
»Gehn Sie fort, Sie sind ein Intellektueller.*
»Da irren Sie.« Er zog die Brauen hocb und stiefi den Zeige-
finger steif durdi die Decke. »Les intellectuelles se sont intellec-tues.
Dies soil der Grabstein meiner Gallizismen bleiben.«
Aus den Tapeten sprangen Vogel und sangen, die Sonne drehte
sidi auf, und alle Blumen am Fensterbrett leuditeten. Da offnete sie
ihr Gesidit wie ein Budi und las: »I<b gfaube an den Osten.c —
»Ja, gewifi, man darf an die Kultur-Futura nicbt den Mafistab
der Kanalisation legen. Und sicber haben Sie viel SdilegeUFriedricb
gelesen.* Er stand auf.
Aber da war sie sdion lange im Schlafzimmer und band ihren
Sommerhut um.
Hill nahm den Stock und staubte unwissend den Hut mit dem
Mittelfinger ab.
★
Bronzene Gongs von Gescbutzen scbutteln das Fruhlicbt wadi.
Aus Erdhohlen hebt sidi, fiber Flacben gefegt, die Sturmtrompete
blank wie ein Strahl und walzt Scbladitenscblangen quer vor sidi hin.
Raketenbaume flitzen Flugzeuge ins Ungewisse. Ketten entsdinattem
den Zahnen der Walder. Attacken prasseln, Hagel, an die Hfigel,
die dort sidi aufbaumen.
Und bronzene Gongs von Gesdifitzen scbutteln ein Lied wadi in
Brusten. Heben es sdiwer in die kfihle Blaue.
Da — vorn unter vielen der Eine. Den Degen himmeldurdi-
bohrend, reifit er mit sdiarfem Sdirei Gebrfill aus dem Chaos, das
vorspritzend Winddunen, zur Tiefe fliegt.
Und er sdireit wieder — ob er gleicb fiel.
Gleidiviel wer siegt.
*
16 VoL m/1
>V/iV>y
236 Pauf Beyer • M&f<£enges<6i&te
******************** *r*f ********************************************
Wie der Morgen die grauen Barte von den Dachern nahm, stand
Henni auf aus ihrein Bett. Sie zog sorgsam den gestreiften Morgen*
rock an und ging in die Kuche, um Malzkaffee zu kochen. Der kleine
Gashahn zisdhte, eine blaue Flamme spreizte erwachend die Krone.
Es war kalt. Darum ging sie zum Fenster, schlofi es und nestelte
sich enger in das Kleid ein.
»Guten Morgen,* sagte der graue Kiichenschrank hinter ihr und
verbeugte sich tief. Sie fuhr herum, so quirlte sie der Ton. Heifies
Eisen goB von den Schlafen in ihren SchoB. Und aus Angst, der
Schrank konnte fallen, stutzte sie ihn. Doch er with schlammig unter
ihrer Hand wie Gallert.
Eilig lief sie ins Schlafzimmer und zog, zitternd vor dem, was
kommen sollte, das grune Kleid mit gelben Punkten an. Wusch sidi
kalt und steckte das Haar auf.
Der Spiegel, ein simpler Voyeur, nidcte: »Sieh, welch sch&ne
Hande sie hat.«
»Wie ungebildet,* dachte die beteiligtere Bettdedce, *sie hat
Hande wie Magdalenen.*
Da wurde sie rot bis unter die Brust, warf sich ladiend aufs
Bett und drfidcte die warme Dedte an sidi. Wie froh sie war, ange>
kleidet zu sein. Sie stand gleich wieder verlegen auf. Ging ins
Wohnzimmer. Aber wie erstaunte sie, als der Sdireibtisch ihr half,
indem er sagte: *Ich kenne einen, der wurde meinen, deine Hande
sind auf dem Kleid, wie Mandelbluten, die im April-Regen von
Li*leis schlanken . . .«
Schnell nahm sie eine Photographic, kuBte sie mit nassen Augen
und fliisterte: >Wilhelm«. Wie ein Vorwurf.
Von der Kiiche her rief das kochende Wasser schrill. Sie stellte
das Bild hastig hin, daB es umfiel, und lief hinaus.
Um den Herd quirlte Dampf. Sie meinte, daB Wilhelm darin stand.
Er war weifl und blutete. >Bist du zurtickU schrie sie und schlug
die Arme um ihn. Ihr Kopf drdhnte —
Als sie zu sich kam, war es Abend, Sie klemmte zwisthen Eimer
und Herd. Miihsam, zerbrohen stand sie auf. Brauner Geruch lag
zottig von den Wan den.
Es knallte. Der Kochtopf war zersprungen uber der Platte, die
Pauf Beyer • Mad<£enges<£i<£te
237
von den Flammen gluhte. Sie drehte das Gas aus, goB Wasser auf
die Glut. Bs schrie sie an: »Henni!« Zischend zersprang das Eisen.
So sdmell sie konnte, floh Henni ins Sdilafzimmer. Doch aus Angst,
der Spiegel nidge sie verfuhren, sprang sie uber das Bett zum Wohn-
zimmer. Ihr Haar flog wirr. Die Nadeln zerplatzten zu Boden. Es
wurden mehr. Sdion wudis ihr Klingeln zu hohnischer Musik. Hinter
ihr prallten Geladiter von den Wanden. Sie lief. Das Zimmer nahm
kein Ende. An den Seiten standen Schreibtisdie, unter denen hervor
weifie Pferde glotzten, die den Kern der Zahne aus ihren Lippen
scfaalten. Sie schrie. Die Geladiter rasselten gepanzert dicht hinter
ihr, wie eine Herde riesiger Kellerasseln. Plotzlich senkte sich der
Boden, wurde absdiussig und steil. Sie stolperte. Senkrecfat fiel sie
durdi bronzene Sdiadite. Ihre Kleider zersplitterten. Hart schlug sie
auf grofle Gewinde von Sdiiflistauen, die sidi in halbhellem Raum
unabsehbar hinlagerten. Die regten sich. Redtten sidi hoch wie
Schlangen/ zisditen sie an. Umwanden sie kosend. Sie schlug um
sich. Aber die Taue krochen unbeirrbar um ihren Leib. Fesselten
ihn. Ringelten Bruste und die geklemmten Schenkel ein. Legten sich
sanft um Hals und Ohr. Jetzt fuhlte sie, dab sie nackt war. Da
lagerte sie sich breit zuruck auf kiihle Kissen, die warm wurden,
loste den SchoB und lieB es leise rausdiend mit sich geschehen.
238
JoBanrtts R. BtStr ■ VtrBr&tftrung
JoBannes R. BacBeri
VERBRUDERUNG
NEUE GEDICHTE
I
DER ENTFERNTE. Georg Trakl.
Er geht durcfa Wilder. Lautlos unbewegt.
Wo gar kein Raum 1st in der Luft: zum Schrein.
. . . und wGrgt und wfirgt! Da gem es sdilafend tragt
Ihn, hangt er skh ins Horn des Hirsches ein.
Betaute Wiege. Dodi erwadit er grell.
Matt gieDen Mond und Sonne sidi herein.
Ein wenig platsdiert er im sdvwarzen Quell.
Er sdiiurft berauscht vom bitteren Abendschein.
Seltsam durchmischt verblieben die Gerausche
Aus jener Stadt, die knospet auf im Blut._
Von zweien Kindem ausgebrochenes Kreischen.
Wie Blasen steigend Boiler Festsalut.
Auf einmal dann — : gestreckte Schlote zlschen.
Andante-Bafi der Strafte bunter Ton.
Wo Brullen . . . Haufen schleifen an. Lang Wisdien . . .
Am Ende schlGpft heraus ein Grammophon.
Er geht durdi Wilder. Lautlos unbewegt.
Wo gar kein Raum ist in der Luft zum Schrein.
. . . nur manchmal wie umarmend sdilagt
Den Kopf er bruderlidi ins Moosgestein.
Johannts R. BtSer • VtrSrMemmg
239
n
sOhne
FQr. Alfred Woifautein
Der auf Kotfaurnen naA Gestirnen stampft . . .
Die Mutter kreisAend siA a us der Veranda bQ Ate :
Da zieiut du weg ob blauen DiAern Aoben!
Verkohlte Stidte um das Haupt Am dampfen.
SAeinwerfer Auge to die Runde zOAt.
Parierst mit PalmenfeAer aller Ungeheuer steiferen Tatzenhieb.
Der Sohn wird krumm in StraBen kollerndem Ged&rme hflngen
Gekreuzigt wirbelt er to Mondes Fin gen.
Es sAwimmen um ihn tausend Sdhne breit.
Von Freunde SAultem sAwtogt er siA: zur Fahne!
Urns Handgelenk er quirk der Strdme Bahn.
Ein Kandelaber.
Auf Gehirn sdireit:
». . . Sdhne! O Sdhne! Anditz zerpflQgtes trauft Moor.
Frafl euA bald Finsternis?! Fratze der Vater sAnell?!
AA, niAt Gefilde lelAt tanzend kommen euA hell.
Mit Eiter besprengt nur. SASumen Blut-Leims durAgoren.
Hah! Als uns sAoB ins weiAeste Profil
Maigarten-MadAens duster, o dOster ein Grand.
Lila-SAatten, Quadrate SpdliAt. Zu viel —
Fetzen FrOhling brdAeln SAmetterlinge in den Massensund.
Die Lehrer sAreiten unsiAtbar im Zug.
DaB jener heulend vom Gerttste sprang.
Die BrQder fallen. Ungeflbt im Flug.
BesAnitten. DennoA steil und QbersAwang.
Ja — : tddliA siA Tyrannen spalten vor dem Bug der AttentSter,
VerkroAen in der Menge. Eingespannt und sAmal.
Einst sie enorm gen Ae Azure fedem.
Dann fern wo bog siA firei ein Tal!
Z40 Johannes R. Esther • VerhrQderung
fiametaamiaammmtmmnmmmmeammmmamamammaimanmiwmmmmaimnemjmmmmmmtmmmmmmBmmmmmmmiammmmmmmnmmmmmmmmHmMmmm *
Wer aber stemmt entzwei die Throne der Gesandten?!
Zerreifit die aufgeblahte Brust, der Orden gottlos Firmament?!
1st nodi die Sdiar zu klein?! Und mQfiten neue landen?!
Dafi unser Hauf der Feinde Sdiutzdamm Qberrennt.
Fugt Strophen selben Baus! Uns heimlichste Kokarde.
Ein Platz sdiwelgt rasend Im Trompetenmund.
Durch Haare Waldung kammt der Morgenstund
Gelaut. Saum kohlster Engel nadi verquoUener Fahrt.
So zundet an eudi! Lafit die Hande spielen
Signale endlos durch den Ather hingestreckt !
Aus dem Gymnasium flammt gleich Sonn der Schuler
Geaug. — Ein langster Windflor fegt
Aus Spitzen euerer Finger Manifeste.
Die kurbeln an. Sie sdilagen gell Alarm.
Millionen kehrend heim vom Schlachterfeste,
Versammeln sich im aufgeworfenen Arm.
in
BEILIS. DEN JUDEN
<>, . . du Heiliger gerissen fort, gequalet,
Gepadcet ein in spitziger Widcel Mampf . . ,t>
Das runde Angesidht <ein Apfel) schalt
Sidi in dem Bad aus sengender Gifte Dampf.
Der Rudcen trieft, ein Acker voll Geblute,
Und Schwulstelocher bohren am Gesail.
Kosaken zuditigen ihn mit steifer Rute,
Audi haufend Fladen auf des Hauptes Sdinee.
Ein Sack ihm Polster/ dodi in schwarzer Zelle
Zucket ein Sdiein Jehovas Blitzeslidit !
w
Johannes R. SedSer ■ VerBr&derung
DurA Traume spult von Duften einc Welle
Ein Balsamumwurf seiner nagenden GiAt.
Der Reihe naA ihm winken die Propheten,
Ja Moses tont ein Horn vom Sinai.
Es weilt am Libanon Gesang der Zedern.
Du Zionsvolk ringshin den Garten ziehst.
Jerusalem er sAaut im Aug der Henker,
Der hingesAleudert auf der Folter Bank.
In jedem StreiA Rosinenbrot empfangt er.
Manna und Wein. Die heilige Lade sAwankt!
Aus firemden Stadten winseln die Gewurgten.
Ihr ZeiAen um den Hals der Kette Ring.
Die Strome offnen siA. Gen die Bezirke
Der Vater lenkt Beilis sie. Die Wuste sAlingt
Gluhende Haut Rasende BriiderAristen,
Brut Sarazenen draun im Hinterbalt.
Die Popen sAwenken heulend Kruzifixe.
Des Nebels SAleier um den Feind siA ballt.
Von Hugeln gleiBt dies Heimattal umsAwungen,
Der Palme SAwall streut harzenen MyrrhenhauA.
Die rostigen Nagel in sol A FleisA geAungen
Ein armer Heiland er am SuBhofz kaut!
Und leAt die Steine sAlurfender SpeiAelkusse.
Die RiAter ob dem langen TisAe sArein.
Ein Fliegen-SAwarm stiebt aus gesAwollenen FuBen.
Aus Brust und Nabel dunne BaAe speien.
Beilis! Beilis!.. . Ein Laut s Are At ihn. Jetzt heben
Die von den TisAen siA. Er hoAt ein Lamm.
Beilis ... In seinen Adern Engel sAweben.
Der Hiobleib AuAt aus, ein SAimmelsAwamm,
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241
242
JoBannts R. Bt<£tr • VtrBrM'mmg
Beilis . . . den Namen tragen Botenwinde,
Ihn wiegend sanft, siA vdlbend zum Azur.
Beilis . . . es sduillt! Die grflnen Knedite winden
Den Klumpen SAaAer aus. Auf Treppenflur
a
Der liegt Er rSAelt niAt. Er rauAt! Bin Peuer
Dem Heim zum WohlgeruA auf dem Altar
Des Blodcs. Der Herbste n 5 A tiger Regen sdieuert.
Aus spitz em Hut v§Ast sidi verdltes Haar.
IV
SANG DEN FRAUEN
Fflr Else Hadwiger
Aus Abendr&ten kreisen wir. Ob bunterer Lauben.
Die Fldte spQlt herein mit weiAem Klang.
GesAwarztes MadAen. Steife Haare rauAen.
ZersAlissenes Hemd. Geknetet Brfiste lang.
Um durre Halse Spur des Lila- Strangs.
Wir tollen SAvungs, der Reden sO0 entzaubert!
Gespreitzt zur Harfe knoAeme Griffelhande.
Bin Fistelton . . . Im Antiitz Mortelwande.
Wo ragst du Mann ob schaukelnder Tribflne?!
Die Pyramiden-Stadt sAirirrt jab. Sie loht
Was gilt uns heut noA ein Libellenboot? !
FlaAen von Satnt, gen unsere Lippen grflnend.
Kein Hugel labt mehr. Tief die blanken SAienen
Gebohrt durAs StoAverk unseres Leibs. Das Lot
Wir sAwinden fort in hollisAen Krawallen.
SAutzleute wogen. Haupter Fahnen krallen.
Geist! Unser Retter! So im Bludauf sAGrt!
Gehirn zuspitzt DafiViadukten gleiA siAMuskeln spannen.
< . . . an GrifFen euerer DolAe blOhen Tannen-
Walder . . .> — Geist der uns ballt. Der ftxhrt.
w
Johannes R. B ether • VerhrUderung 243
Dai) unsere Sohne, die Heroen, sammeln
Nationen. Gberstrahlt. Und wir! Und wir!!
KartatsAt die Reih! Von Luften Bleis zemagt!
Die Wenigen sind!! O ungeheuerer Tag!!!
Ja — : Hirtinnen wir grofi in Stadten walten.
Wir Chore. EuA besAwingend zu dem Bau.
Wo Ofen Blitz entzwei den Himmel spaltet,
Der niedersAuttet Berge AsAentaus.
Die wir in Wusten Haine Zedern falten.
EuA zerrten krieAend weg vom Drahtverhau.
Zu Prozessionen wir Plakate sAwenken.
O — : Pauken bliihn aus unseren Kniegelenken.
Wie Fahnen streuen vor wir Manifeste.
Trompete klafft der Mund. Es brullt Alarm.
Aus eueren Gruften, feuAten To ten -Nes tern
LiAtsaulen steigt ihr: dunkler Bruder SAwarm.
Die jungen DiAter schleudern weite Gesten.
Sie sAufen Staat. Ein neuer Ton sAleift warm.
Auf Platzen weinen Burger. Tatowierte Huren,
Die Engeln gleiA mit PuppAen niederfuhren.
Hah! Rhythmus wollen wir, der zu Nationen
Ein mystisAer Strom versAmelzend ubersAlagt.
In Auges Winken no A die Kruppel wohnen.
Europa unseren Stirnen eingepragt!
DaB der GesAutze Tempo, einst Aonen
DurAhammernd knurrend, wolb zum HauA, der tragt
— auf Flammen Rost erbaut und blitzumrandert —
Uns an die BuAt geturmter F reiheits - Lander !
244
JoBannts R. Btt6*r • VtrSr&derung
V
DURCHHELLUNG
R. S. gewidmet
H6I1 reiBen durA sic — : aus Granit die Stflrme.
Ja, Palmcn peitsAen. SArei wie nie zuvor.
Posaune bruilt. Zerprasseln der Gevurme.
. . . und fugtet euA umsonst zum KlageAor . . .
Bh solAer Braus euA niAt vom Aussatz sAor —
ZcrsAmcttemd LiAt aus Hauptem, Kegeln!, gor -
Dann hissen wir uns Segel selbst den Turmen:
Heiliger Fahne straffster Flor.
WelA jubilierend Zueinandereilen!
Ein in siA SAieben! DurA und durA Zerwenden!
Wie neuen Fruhjahrs sAeint der Raum verwOrzt.
Der Sterne DusAe trifft uns aileron.
Die StraBe baumt Stahleme Saite Idiot's.
Umarmend Aeroplane siA im Steilen.
VI
MELODIEEN AUS UTOPIA
Sie dringen langsam sAon heran, bald gleiten
Sie milde Stofie auf und ab im Blut.
Die Adem tonen, Netz gespannter Saiten.
Moorsee des Cellos zwisAen Bergen ruht.
Darob die Inseln der Gestime hangen.
Verweste Tiere bluhn in Waldern auf.
Es steigen Prozessionen nieder in Gesangen.
Der FluB beleuAtet selnen sAwarzen Lauf.
f r > \ rvs
i i U i i i
>
JoBannts R. Be<£tr • VtrBrtidtrung
O Mutterstadt im freien Morgenr aum !
Es flugeln Fenstcr an den Hauserfronten.
Aus jedem Platz erwadhst ein Brunnenbaum.
Veranden segeln mondbeflaggte Gondeln.
Sie kunden Manner an, elastisch sdiwingen
Die durdi der Straflen ewig blaue Scblucbt.
Ja — : Frauen scbreitende! Mit Palmenfingern.
Geoffnet weit wie Kelcbe sufiester Frucbt.
Und Freunde strahlen an dem Tor zusammen.
Wie hymnisdi sdiailt purpurener Lippen Braus.
Nicbt Sohne mehr, die ihre Vater rammen.
Umarmte ziehen, Sonnen, sie nadi Ha us.
Zu wekhestem Park verscfamolzen die Gefilde.
Die Armen sdiweben bunte Falter dort,
Goldhimmel sickert durch der Wolken Filter
Ob Volkern hin. — Lang drohnender Akkord.
246 G fosse n
*****!§************************* ********************************************************************** ******************************************
GLOI
Die Landsdaji
des Mafers Tram Marc
Wie treib ich unbehelligt von den Schweren
sinkenderNadit, und schweige! Ichempfinde
den weichen Fernendrudc der neuen Winder
an Ufem brGllt cs auf a us niedem braunen
Her den.
A us schwarz von Rauch umstobenen Bahn*
hofen,
crhellt als schon das Tor des Paradieses,
erstehn zuWoIkcn,sto6en,schreien Mowen.
Idi zittre vor dem Huschen eines Wiesels —
Zu Ungeheuem ausgeweitet, bauen Ar*
beitskihne
die Horizonte meines Kupferbootes.
dicht schlieBt die Luft, nur Sdiatten sind
die SchwSne,
blau im Gesang des Friedens und des
weiteo Todes,
Was jagt vorbei: flammendes Pferd? ge*
fleckter Sdiatten eines Hundes?
SGBe Erinnerung des Tages und vergeB*
nen Lasters —
da fiberweht die Muskeln meines Mundes
GeruchderTiefe, fauligerHaudi des Wassers.
EntrGdct der Zeit, zerstoben schon die
Stunden
sdiwerfarbig hin. Und aber kommt ge*
wohntes
Anschaun blutender Nacht im Licbt des
schweren Mondes.
Rudoff Leonhard.
i S E N
Der Sinn des Kampfes.
(Geschrieben 1906.)
Neue Erobcrer, der Menge nicht be*
kannt, doth fortschreitend in alien Werken
der Erde, sind unter die Volk er getreten, un*
sichtbar und af fgegen wirtig / ihre Sdbiffe be*
gegnen tin an der in alien Hafen undMeeren/
wie Qber Plane von Schlachtfeldern ncigen
sich ihre Blidce Qber die Festlander zwi-
schen den Ozeanen / sie schatzen die kGnf*
tigen Emten unter den sengenden Sonnen
aller Zonen/ sie kennen die ReichtQmer
alier Kohlenlager, Eisenberge, goldhaltigen
Gewasser, die Mengen von Kupfer und
Zinn/ bis in die Urwaider und WQsten
hailt das SchieBen des ununterbrochenen
Krteges, den sic erhalten wie Jiger, die
eine Schlinge legen/ ohne es zu wissen,
sind allc Volker ihnen tributpflichtig/ un*
sichtbar wirken sie im Rate der FQrsten,-
ihre Gberwundenen sterben unauffallig wie
von einer ratselhaften Krankheit gezeichnet,
die (eise das Leben aufsaugt/ doch ihre
feinsten Siege sind jene, bei denen un*
sichtbare Schflsse, aus den lichten Unend*
Hchkeiten des Geistes und Gedankens fai*
lend, mit Leichen alle Femen bedecken.
Jeden Schritt ihres Weges und ihrer Traume
begleiten geheimnisvolle Skiaven auf bei-
den Haibkugeln dcr Erde. Selbst die geisti*
gen Sdiopfer, E Hinder, Besieger der Ele*
mente, KQnstler sind gedungen auf ihren
Feldern. Dem, der die Erde beherrsdite,
scheint auch die Sonne zu dienen als eifer*
r\ ?
i
Gfossen 247
i4/////// // ***** ************************************************************************ m* *****************************************************
suchtiger Hu ter des Werkes der Wolken
und Winde.
Aber jede, wie ein Aufschrei in die
Tiefen des Lebens drohnende Kraft er-
wedkt tauseode triiumende Krafte. Gegen
diese Macht, daran durdi Aonen die Hande
der Toten arbeiteten und deren einzige
tragisebe Schonheit die ist, dafi in ihr der
Mensdi zum ersten Male die gesamte Erd-
kugel mit dem glfihenden Netze seines
Wilfens umspannte, tritt gerade der so
geheimaisvoiie allgegenwartige Feind auf.
Die Massen, durch Jahrtausende demfitige
Teilhaber der Pracht und des Brotes, haben
sich geruhrt. Im ersten Frostschauer des
Entsetzens, der einer jeden neuen Wahr-
heit Begleiter ist, beginnen wir zu ahnen,
daft an unseren Scbmerzcn und Freuden
Wesen den groBten Anteil haben, die wir
im ganzen Leben nicht erblicken, und daB
wir von Schlagen betroffen werden, ohne
die Hand zu kennen, die sie uns versetzt.
Das Geheimnis der Ein heit strahlt aus
den Tiefen des Stoffes/ die Wcite hort auf,
Weite zu sein/ das Leiden, das sich sei-
ner Allgegenwart auf Erden bewufit wird,
verwandelt sicb in eine Naturkraft, die an
der Umwandlung alles Lebens mitwirkt.
Der Geist, im Dienste der Sieger gefangen,
erhebt sicb gegen sie. Im gluhendsten
Feuerherd des wirtsebaft lichen und sozia-
len Kampfes handelt es sicb um geistige
Dinge, um ein anderes Verhaltnis des
Herzens zu Millionen von Herzen, um
eine andere Betrachtung der Freude und
Schonheit. Ein neuer Mensch kundigt sicb
auf Erden an. Der Landwirt, der von
Grenzstein zu Grenzstein sein Gefilde
uberbliett, sieht alle Ebenen und Gebirgs-
zflge vor sicb, mit alien Meeren, Reich-
tflraern, Brudervolkern und Stadten. In
den Tiefen der Geister ist sebon sein Reich
und eine andere Ordnung der Dinge vor-
bereitet/ und daraus, daB die innere Wahr-
heit in Millionen Menscben eine andere
ist als die Wahrheit der sichtbaren Wirk-
licbkeit, entsteht die Trauer und beun-
ruhigende Schonheit der gegenwartigen
Zeit. Der Mensch hebt vor den Horizon-
ten, die bei jedem Schritte vor ihm sicb
erschlieBen gleidi Halluzinationen/ er ist
erschreckt durch das majestatisebe Schwei-
gen, darin sein Entsetzensscbrei sicb ohne
Ant wort veiliert/ er zittert, ungewohnt,
vor den Winden, die Gesang von alien,
plotzlicb erschlossenen Meeren zu ihm tra-
gen, von alien Landungsplatzen und Werk-
statten, und die Dufte, die den Urwaldern
entrauchen und tiber Aquatorialsecn ziehen.
Wie bei heftigem Aufstieg stock t sein
Atem im sQflen Weben des Athers, der
von der fliegenden Erde Bewegung an
sein Gesicht scblagt. Durch Aonen zu Mifl-
trauen und Kampf erzogen, bebt er vor
den unerwarteten Beruhrungen von Mil-
lionen Geistern, deren gluhende Gegcn-
wart er selbst in jenen Tiefen seines
Wesens zu verspuren beginnt, wo sein
geheimster Gedanke allein zu sein ver-
meinte. Er scblieBt sein Auge, aber gegen
seinen Willen dringt die aufreizendc Sonne
durch die gesdblossenen Lider zu ihm. Wo
den Horizont seiner Vater die Ho hen der
Heimat begrenzten, sieht er die funkeln-
den Spiegel ferner Flusse und Festlander
hinter Ozeanen. Sturme, die um die Erd-
kugel kreisen, schutteln Funken aus ver-
brannten fernen Stadten auf das Dach
seines Hauses. Das Schweigen der Ge-
fangnisse und Hinrichtungsstatten dringt
zu ihm von der anderen Seite der Erde
durch den brodelnden Glutkern ihres In-
nern. Der Aufschlag der Balken aus dem
fallenden Geruste des geheimnisvollcn
Baues und die Hiebc der Axte rauben
ihm den Schlaf. Verwandelt hat sicb die
248
Gfosstn
t
NaAt in fare SAreic von Fragenden and
aus unermeBUAer Feme Antwortendco.
Aber Ac Lebensleidens Aaft war niemafs
so tragisA gewaltig, mit heftigen Wellen
dieVdlker verrQckend / niemals offenbarte
si A Ac Illusion dcs Lebcns den Enterb-
ten blendendcr, das GesAenk des Ordens
und der Lust kostbarcr, der KSrper reiAer
und bewunderungswOrdiger, die in der
Sonne reifenden Trauben sGBer und be-
gehrliAer. AIs ob alter Glanz die Erde
strahlend Qberflutetc und Funken sAlftge
aus Gewlssern, Blflten, Wolken und
BliAen. Aber mit der gleiAen Starke, mit
der in den Volkern die LeidensAaft fQr
die Erde w2Ast, wiAst das BewuBtsein,
daB ohne die Mitarbeit von Millionen nie-
mand die FrOAte aus Aren verborgenen
Glrten verkostet. Die hdAste Wollust
der Erde, Ae BerausAung am Siege der
Bruderkraft, Ae Freude Qber die Frcudc
der BrQder, bleibt unbekannt und unzu-
gingliA. Der Kdrper dcs MensAen 1st
von der Vergangenheit geformt worden/
ganze Gebicte in seinen Sinnen, die der
NaAt des Kosmos zugewendet sind, sind
bis jetzt von unserem LiAte niAt erreiAt
worden/ Ae EmpfindliAkeit fQr hdhere
Formen der Liebe, Ae siA der Freude
alter als ihrer eigenen bewuBt wflrdc, 1st
unentwiAelt geblieben. Mit Bangigkcit wie
vor Wesen aus einer andern Welt sind
Ae Massen vor dem sQBen Willen der
Heiligen zurfldgewiAen, deren Herzen
gteiA FrQAten an der Sonnenseite des
Gartens frQher gereift sind, als die Herzen
der Qbrigen Mehrheit. Dem Kinde, der
Frau und dem Volke wenden si A die Hoff*
nun gen der Rassen zu. Es ist notig, den
Kdrper im unterbewuBten Gebiete zu er-
weitem, zu vergeistigen, reiner, wider-
tonender, hellsiAtiger zu gestalten. Und
mit einem sAraerzliAen Instinkt, der das
gehdmnisvolie Gesetz des Reifens auf Er-
den ausdrQAt, beginnt siA der MensA
bewuBt zu werden, daB alles, was auf doe
Umwandtung unserer WirtsAaft mit stoff-
liAen Dingen abzieft, auf Kraft, ReinliA-
keit, Einhdt und Frciheit der Sinne, dne
geistige Anstrengung ist, der Kampf urn
Ae SAdnheit, der letzte, in dne unabseh-
bare Zukunft weisende Kampf auf Erden.
An dieser Arbeit am neuen MensAen
ist die Kunst auf ewig betdligt/ sQB und
selbstverstindliA wie die Sonne, dieWoll-
lust und der Tod. Was dem sAdpferisAen
Geiste siAtbar wird, ist es nur im LiAte,
das dem hoheren Leben im Kosmos ent-
strdmt. In den MarAen der Urzdt, in
MyAen, in der geheimen Wissensdiaft and
in so zarten und unglaubliAen TrSumen,
daB, sie von ferae deuten zu konnen, dne
besonderc SpraAe von Symbolen, Musik
und Formen gesAaffen werden mufite, cr-
hielt die Kunst jahrtausendelang die Hoff-
nung an die BehcrrsAung der Elemente
durA die gQtige MaAt des Geistes auf-
reAt. Allgegenw5rtig in tiefer SehnsuAt
naA PraAt, iegtc sic wie cin Gartner
untcr alien Sonnen G5rten an fQr die Lie-
benden und spann an dnerld Webstflblen
das Kleid der Frauen und gottesAenst-
liAe Gcwlnder, NiAt einmal vor dem
Tode hielt sie inne und strebte, aus dem
SAweigen seiner gesAlossenen Lippen Ae
Antwort zu erraten. Sie war der allgegcn-
wartige AnkQndiger der Fciertagc, der
ArAitekt der Lebensillusion, der Meister
der Stifle, darii. das RausAen der Gestirne
zu hSren ist, der SAopfer h6herer SAmcr-
zen und der Erde bitterer RiAter.
Aber die SA6pfung der SA5nheit ist
niAt bloB auf Werkc bcsArankt, die In
BQAern, Bildera, Statuen und GebSudcn
erhaften sind. Sie liegt ira ganzen Plane
des Lebens/ sic ist die allgegenwirtige
i
Gfossen
249
Empfindlichkeit far die magnetischen Pole durdi. Die sOfte Heftigkeit der Frflhlfnge,
der geistigen Erde, und ein Kunstwcrk ist
sowchl die Scbopfung einer Sprache wie
die Grundung eines Reiches. Unausgesetzt
ist in jedem Menschen ein verborgener
Kunstler wirkend/ im Funkeln der Augen-
blicke wie unter den Blitzen des schfipfe-
rischen Meiflels arbeitet er an der Einheit
der Personlichkeit Das Leben des Helden
und des Heiligen erwachst wie ein jedes
Kunstwerk aus der Inspiration/ die die
Entscheidung in einer hoheren Sphare des
Lebens bedeutet, wo mit dem Tode nicht
mehr gerechnet wird, und aus dem harten
Wege des vom Glanze des Zieles hypno-
tisierten Willens. DerTraum dcs Lieben-
den, des Gefangenen, des Schiffers, des
Nordianders und des Glaubigen ist ein
Gedicht und hort nicht auf, eines zu sein,
da es im Scfaweigcn verklang. Ein ununter-
brochener Fruhling der Liebe verwandelt
dieBewegungen der Madchenkorper in Mu-
sik, und unzahlige namenlose Schauspieler
und Schopfer neuer Gesten finden unbe-
wuflt neue plastische Symbole far die kos-
mische Sprache des Willens. Unbekannte
Musiker formen die Sprache um, und fiber
das Bett ihres Kindes sich neigende Frauen
suchen immer vollkommenerc Kfisse in der
schopferischen Unzufriedenheit ihrer Liebe.
Ein jedes Starke Geffihl ist immer und
Qberall kfinstlerisch schdpferisch und laftt
uns im Inncm Gegenden von bislang un-
erreichter Pracht ahnen.
Aber nichts ist nebensachlich fur den
schopferischen Geist/ die Dinge und Wesen
dringen mit threm unsichtbaren Odem bis
in die verborgenen Orte, wo unser Werk
keimt. Unsere Gedanken farben sich mit
der Zartheit der weiBen Wolken, mit alien
Blumen der Wiesen, mit dem Blute der
Rosen, und sie gehen wie Komer durdi
das glfihende Sicb der Sonnenstrahlen hin-
die bewegte Reinheit des Azurs, die ge-
heime Sprache der Farben, die Weihc der
Gewasser, Hohen, der Unendiichkeit, ar-
beiten ununterbrochen in unserem Unter-
bewuBtsein und nahren ubermensch liebe
Sehnsfichte in uns. Der geringste atheri-
sche Bestandteil jedes unsres Atemzuges cr-
frischt die Wurzeln des Herzens, die ge-
schwacht sind durch der Erde allzu schweren
Salt. Jedes Wort, das bis in die lebcndigen
Tiefen unsres Innern gefallen ist <und oft
dauert dieser Fall Jahre), kampft, not-
wendig, nach einem Gesetze, das uralt ist
wie der Anbeginn der Welten, um seine
Korperwerdung. Doch der Weg von dem
neuen Traum zu seiner Verwandlung in
die Geste und in die Opferung des Lebens
ist schwer und schmerzlich, denn es ist
notwendig, ihn fern von den hundert-
jahrigen Bahnen einzuschlagen, und in dem
Brote, womit wir uns nahren, schlummert
die Sonne des Vorjahrs. Aber selbst der
bebende, sdiwache und unsichere Traum
wird zu einer Kraft von der Heftigkeit
des Sturms, wenn er gleichzeitig in Mil-
(ionen Herzen aufflackert. Die Menge hat
nicht nur Augenblidce, wo sie kopf fiber
um Jahrtausende zurfidkzufliegen scheint,
sondem auch bange Lichtzeichen und einen
warnenden Instinkt far die Gefahr hinter
dem Horizont, wo sie hellsichtiger als die
Propheten wird und sich far eine Gerech-
tigkeit, so erschreckend und unfaBIich wie
die Natur, zu entscheiden weiB.
Wo das Leben des Volkes auf hort in
der Sphere der Schonheit schopferisch zu
sein, ist dies ein Zeichen, dafi das Volk
an seiner Kraft leidet. Eine Sklaverei, die
die Arbeit freudlos machte und ihre Ge-
fangenen entkraftet, mit erloschenen Augen
in ihre Hohlen entlaBt/ die der Frauen
SchSnheit verwustet, die Mutterschaft ge-
250
Gfosstn
**S**4***£***i0***MMM* ******* ******** • * WW//W//////W//W###J#W#/WW##//##/VWJIWW/W#^»WW###/#iyiaW»/^#W|WW^|y#/
fGrchtet gemadit hat and far Millionen Judentum ausgetrctenc. Ihr Erstaunen ent-
Menschen zum Feindc und Mordbrcnner
den In rosigcn Wolken nahcnden Morgen
verwandelte, arbeitet an der Verderbnis
der Rasse. Denn die Liebe in alien Ge-
bieten wird aus Kflssen und dem Reich-
turn freier Umarmung empfangen/ der
Sklavc, der den Glauben an seine Befreiung
verloren, hat keine Kraft mehr, die Schdn-
heit zu sehen und zu schaffen. Die Schon-
heit ist eine BlQte aus dem GberschuB
gesteigerten Lebens, cin Leugnen des
Todes/ sie ist der Weg nach dem ge-
hdmnisvollen SOden, eine stetig glGhendere
Sonne, ein leichterer, die Erde kaum be-
rGhrender, doch alle ihre Gesetze beherr-
schender Schritt, die hdcfaste Menge von
Energie beim geringsten Verluste/ sie ist
eine stille, unglaubliche Sicherheit, die ein-
zige Sicherheit auf Erden, das in alien
Sonnen zittcmde, unablassige Lacheln, wel-
ches von der Erde aus gesehen in seiner
sQBen Blendung immer eine gewisse Me-
lancholic besitzt, aber selbst da die un-
ermeBliche Stille einer unaussprechlichen
vorbereiteten Herrlichkeit ahnen l3Bt . . .
Otokar Brezina .
<Deutsch von Otto Pick.)
Brief an einen Juden
lim hier zu sagen, was ich sagen will,
muB ich nach einem Brief zurfldcgreifen,
den ich an einen befreundeten und bedeu-
tenden Juden zu schreiben hatte. Es war
leider — aus GrQnden der bcsseren Ver-
stSndlichkeit — nicht moglich, alle persSn-
lichen Bemerkungen aus diesem Brief zu
streichen.
Sehr geehrter Herr . . ,
Sie sind allerdings gut unterrichtet
worden: ich habe mich, vor kurzem, fQr
»konfessionslos« erklart, ich bin »aus dem
spricht dem far Sic <pers5nlich> Unerwar-
teten dieses Schrittes, aber Ihre Vcrurtd-
lung nicht seinem Motiv.
Sie haben den Einwand gebraucht: eine
solche Handlung ware heute schwerwiegen-
der als Je. Das ist richtig, Aber Sic stel-
len sie einem »Verrat« gleich, ich einer
Mahnung.
Scit dem Krieg weiB ich, daB jede Hand-
lung eine Mahnung ist/ insbcsondere aber,
daB eine Handlung eine notwendige Sache
ist, nicht eine QberflQssige. Die Prage, das
Entweder-Oder, war fQr mich unentschie-
den und ungeklart, solang es nicht in eine
noch so geringfQgige Handluog einmOn-
dete. Heute aber — um es gleich zu
sagen — zweifle ich nicht, daB das Juden-
tum eine Zukunft nur mehr hat, wenn
seine religiose Absicht endgQltig getrennt
wird von seiner pofitischen. Dieses ist das
Entweder-Oder. Entweder ist das Juden-
tum eine Religion — und sonst nichts/ wic
das Christentum oder der Buddhismus.
Oder es ist eine nationale Sache. Die Be-
jahung: daB es eine nationale Sache sei,
bleibt eine immer leerer werdende Ge-
wohnheit, solang die Vemeinung des an-
deren sie nicht zur Aktivitat, zur Hand-
lung, aufreizt. Schon diese Verneinung
wQrde erste Handlung sein.
Erlauben Sie mir, das zu erlSutera.
Das Judentum steilt sich heute als eine
immer mehr sich trQbende Zusammenmi-
schung verschiedenster GefQhle und Qber-
legungen vor. Es ist 1 angst nicht mehr eine
Glaubenssache: die BemQhungen seit Theo-
dor Herzl, daraus mehr als eine Glaubens-
sache zu machen, steigerten sich zu immer
ernsthafterer Bedeutung. Die Energie dic-
ser Bemuhungen wird aber ungewohnlich
beschwert durch einen rQckhaltenden Ballast.
Solang nicht alles rein GefahlsmaBigeausge-
Gfossen
251
sAaltet, abgekettet und fallen gelassen wird,
bleibt das Judentum verurteilt, seine Ange-
horigen zur Ents Aeidung unfahig zu ma Aen.
Alles niAts als Religiose im Judentum
maAt es zu einer durdhaus passiven, wenn
Sie wollen, philosophisAen Angelegenheit,
wie der Buddhismus etwa heute nur mehr
eine religios-philosophisAe ist. Soli es
diesen Weg nehmen? Dann sind die poli-
tisAen VersuAe, die es seit Jahrzehnten
maAt und in der Zeit dieses Krieges zu
einem Resultat zu fuhren drangt, nur Tru-
bungen seiner Agonie/ wie Renan ein-
mal von Frankreich sagte: »ne troublez-
pas son agonie«: man mftBte die gleiAe
Forderung an Sie ricbten.
Ich sehe es aber niAt in einer Agonie,
sondern in Fesseln, die seine AufriAtung
verhindern. I A sehe es stark, nur einge-
sperrt, durA siA selbst, in diese Mauern
der Orthodoxie, zumindest der Riten ge-
stellt. I A glaube: niAt nur die zionistisAe
Aspiration erfordert diese Entkerkerung,
sondern jede politisAe Aufraffung die
Herausfuhrung des Volkes aus seiner Reli-
gion als einer NiAts-als-Religion, Nur,
wenn Sie miA ganz miBverstanden, wQr-
den Sie meinen, iA forderte, daB alle Ju-
den unreligiSs werden sollten. Nein. Dafi
sie religios sind, hat niAts damit zu tun:
daft man die GemeinsAaft: niAt mehr als
eine ReligionsgemeinsAaft auffassen moge.
Es ist eine Art Trennung von Staat und
KirAe, die iA meine, diese Trennung auf
dem Gelande des Judentums selbst. Wenn
es je etwas wie einen judisAen Staat geben
kann, von dem die Zionisten spreAen, der
eine offentliAe und politisAe Angelegen-
heit werden soli, muB die Religion, als
eine private und gefuhlsmafiige, zunaAst
zurudctreten.
Man kann an das Judentum als an ein
Volk von MensAen glauben, deren Fahig-
keiten groB sind, deren vitale Kraft Mog-
liAkeiten zu unerhorten Erneuerungeu
gibt — : aber ob man dabei auA an den
*judisAen Gott« glaubt, ist hier ohne Be-
deutung, ja, es ist sogar besser, daran
uberhaupt niAt bei dieser Qberlegung zu
ruhren, weil es nurwiederverwirren konnte.
Und es darf niAt mehr als eine Bedingung
gelten, in die judisAe GemeinsAaft ein-
zutreten. Nur so sAeint es mir fur die
Zukunft judisAe M5gliAkeiten zu geben,
dafi die Juden zu einer religiosen Toleranz
gelangen, wie die anderen Volker.
Sie werden einwenden: das sei ein un-
fruAtbares Paradoxon, solang es keine
jfldisAe Fahne gebe. Sie irren, iA weise
Sie auf Irland. Es gibt ein irisAes Volk,
aber es hat keine irisAe Fuhrung, es steht,
staatsreAtliA, auf englisAem Boden. Es
mufl siA die Freiheit und SelbstherrliA-
keit auf seinem Boden erst erkampfen. Der
Jude hat ebenso beidcs niAt: weder die
Fahne noA nominell den Boden, obgleiA
er, wie der Ire, seinen uberlieferten Boden
hat. Diesen, Palastina, wollen die Zionisten
ihm als anerkanntes Heimatland erringen.
Aber was brauAt der Jude Jerusalem, so-
lang man ihm niAt Klarheit daruber gibt,
daB der Tempel in jedem Land durAaus
niAt sein heimatliAer Boden ist. Dann
brauAt auA niAt erst der Tempel das Zu-
sammenhaltende zu sein : er ist im ubrigen
seit jeher nur eine lose Zusammenhaltung
gewesen, und iA kenne zahlreiAe Juden,
fur die er niAt einmal ein KompromiB
mehr war. NaA Palastina kann die groBe
Masse des judisAen Volkes nie kommen,
solang sie ihre Tempel uberall in Europa
als Residenzen baut. Und die unbedingte
EntsAeidung: was in der heutigen MensA-
heit judisA fOhlt, wird durA den
Tempel nur versAoben und bos ver-
sAleiert. In dieser VersAleierung zu
17 Voi. m/i
/
II
252
leben ist cine tragischc Aufforderung, und
Sie we r den immer ofter auf Menschen
stoBen, die Ihnen nicht mehr folgen kon-
nen. Wenn der Augenblick der zionisti-
schen GrOndung je kommt, wird er ohne-
dies die Kl5rung erzwingen. Sie kdnnten
dann vor einer crschQtrernden Enttausdiung
stehen, denn Sic haben versaumt, das Volk
auf seinen Staat vorzubereiten. Heute ha-
ben Sie das Volk, nicht auch den Staat,
Sie werden dann nur mehr den Staat ha-
ben und die Fahne: und so wenig Volk
dahinter, denn es wird sich alles fast an
sdnen Tempel lehnen und damit begnugen.
Weil Sie die jQdische Frage immer nodi
eine religiose sein lassen, versaumen Sie,
der Staatbildung, die Ihnen in Schleiern
vorschwebt, einen ROckhalt aus Ziegeln zu
bauen.
Ich versichere Ihnen, es liegt mir nicht
daran, dab alle Juden aus dem Tempel
austreten sollen — , aber, wenn es einige,
gerade vorbildliche Juden taten, an die das
jQdisdie Volk als an groBe Juden glaubt
— der Gedanke klingt Ihnen jedenfalls
absurd, denn Sie lesen ja diesen ganzen
Brief mit der Zugesperrtheit eines Mannes,
der die Geschichte der Jahrhunderte auf
seiner Seite wciB und daher nidit zuhoren
braudht t wenn also ein paar vorbild-
licfae Juden, wie Sie, aus dem Judentum
austraten, wQrdc eine so klare Handhmg
das StaatsbewuBtsein dieses jGdischen Vol-
kes ungewohnlich verscharfen, vielleicht
Gberhaupt erst weeken, beunruhigen/ in
eine linbefriedigung und Sehnsucht ver-
wandeln. Wie bei den Iren nichtssosehr
das StaatsbewuBtsein wachhielt, als daB
es zu einer gewissen Form von Martyrium
notigte. Glauben Sie mir: ohne dieses
StaatsbewuBtsein, immer nur in der weichen
Polsterung der Religiositat ruhend, oder
gar — was wir Ihnen besonders, aber
aus seelisch-geistigen, nicht aus jfidischen
Grflnden, verdanken — gar also in den
tiefen,vollkommen abgewandten und dunk-
len Schachten der jGdischen Mystik lebend,
werden Sie nie zu etwas kotnmen, und
ich wiederhole, daB es dann schon vicl
besser ist, das Jfldische als eine nicht mehr
aktive, als eine religids - philosophische
Sadie dort ungestort, unaufgescheudit zu
lassen, wo es jetzt ohnehin weilt, im Gei-
stigen, im Herzen, in der Seele, je nach-
dem/ und bei manchem Christen.
Ich beeile mich, Ihnen noch ein Beispiel
vorzutragen. In den westeuropiischen
Staaten haben sich zunachst die Juden von
dem Begriff der Nation losgesagt, sie
suchten sich zu assimilieren mit den Na-
tionen, auf deren Land sie leben. Beob-
aditen Sie aber den Osten, zum Beispiel
Polen, da ist die Sadie lehrreich und das
Beispiel. Da bilden die Juden noch ge-
sdilossene Kontingente, die Assimilation
ist schwer oder unmdglidi, und der Wider-
stand der Christen groB, weil auch die
Reibungsfladien breit sind. Nun, auch diese
besondere polnisdi- jfldische Frage kann,
wie idi glauben muB, nur gelost werden,
wenn die Juden sich aus den dort noch
stSrkeren Ummauerungen der Religion, gar
Orthodoxic herauskampfen zu einer >welt-
bQrgerlichenc Vemunft und Lebensauf-
fassung, zu einer sachlichcn und gereinig-
ten Eingliederung in die BegrifFe: Volk
und Volker. Diese BegrifFe sind namlich
politische, nicht religiose: diesen Unter-
schied wollen Sie nicht anerkennen.
Sie haben mir, im Gegenteil, das Bei-
spiel eines Sltercn Sdiriftstellers einmal
erzahlt, der vor ein paar Jahrzehnten, aus
»Bekennerenthusiasmusc erst aus der Tem-
pelgemeinde austrat, und dann, als die
Pogrome in RuBland immer bdser wurden,
wieder Jude wurde: er kam sich als ein
Gfossen
253
Verrater vor, er fand, daft »die einfache
Trcuc immer nodi groBer ist, als alle
Thcoric und redliche, lebendige ruckhalt*
lose Teilnahme an der Not dcs eigenen
Volkes grofler, als alle Politik*.
Idi wage den Einwand: wie dieser Herr
die Pogrome durch «redlidie Teilnahme
an der Not* milderte? Ich frage im Gegen*
teil, ob das nidit eine leere und konven*
tionelle Wendung ist, wie Sie sie sidi
sonst nidit erlauben/ denn worin bestand
diese »redliche, lebendige and rQckhaltlose
Teilnahme an der Not*? Bestand sie in
der Zeichnung groBerer Summen, die nadi
RuBland fQr die Juden geschidct wurden,
so hat das nichts mit Religiositat zu tun/
bestand sic in einem verdoppelten Tempel*
besuch, so ward den Juden drOben in
nidits geholfen. Geholfen im Gegenteil
wire ihnen vielleidit worden: wenn ihr
StaatsbewuBtsein schon frOher geweekt
worden ware, und wenn dieser Herr jahre*
lang an dieser Wetkung, nidit aber an
einer »einfachen Treue* gearbeitet hat te.
Angenommen, diese Arbeit wurde ihm
durch oftmalige Kontemplation in Gott
erleiditert, so ist er ein religioser Mensch,
aber das bfeibt seine eigene Angelegenheit.
Sie durfen uberhaupt dieses Beispiel
nidit verallgemeinem. Die Bekennerfreu*
digkeit dieses Herrn entsprach seiner Zeit;
er wollte, vermute ich, zeigen, daB er ein
Atheist ist. So etwas vergeht einem fQh*
lenden Menschen bald. Sein Austria und
sein Wiedereintritt in das Judentum — da
er nun wieder zu glauben anfing — war
cine theologische Qbung und eine Sache,
die er fQr sich, nicht fQr das Judentum tat.
Ich sdilieBe schon. Lassen Sie midi nur
nodi versichern, daB die *einfache Treue>,
die Sie so hervorheben, unfruchtbar macht,
Treue muB getan werden/ Treue halten
ohne Tat und BcwuBtsein, ist bequem und
immer gehalten, audi wenn man sie ver*
gifit. Treue ist nicht >einfach«. »Einfache
Treue* ist jene Litanei, die Sie und alle
um Sie nicht aus dem Sdilaf kommen lafit.
Theodor Tagger .
Das erste Voffi Europas . . ,
Es bleibe unvergessen, dafi diese den
ersten SchuB des ersten Aufzuges dort am
Balkan gelost haben. Dazu spielten sie,
damals im Oktober 1912, ihre nationale
Hymne und erwarteten uber den schwar*
zen Bergen aus dem Osten ein slavisches
Morgenrot. Und nun haben sie, als erstes
Volk Europas, in dem Besieger ein edles
Gefuhl vorausgesetzt/ ruhmvoll die er*
hobenen Waffen gestreckt.
Der Klau des rauberischen Falken, kampf-
begeistert und kampfgewohnt, wehrfahig
und wehrtdchtig vom Knabenalter bis zum
Greisenalter, haBerzogen und haBgewohnt,
Feldpredigten gewohnt,Bundnisse gewohnt,
diese Indianer des europaischen Volker*
museums, diese Leute des ererbten Sdiiefl*
gewehres haben uns eine erste Qber-
raschung beschert. Wenn auch verspatet
selbst zur rechtglaubigen Weihnadit/ viel*
leicht, daB es in dieser Beziehung von Gott
nicht so genau genommen wird. Das ge*
bildeteBelgien, von Serbien ganz abgesehen,
hofft noch immer auf neue Taten, die nicht
kommen wollen. Und Montenegro? Euro*
pas Religionsquelle hat fur diese Phano*
mene einen treffenden Ausdruck: Der
Stein, von den Bauleuten verwor*
fen, wird zum Eckstein.
*
Der Stein, der sich vom Lovcen los-
gelost hat, ruhmvoll auch den Ostreichern,
wie man noch spater einsehen wird, dieser
Stein kann, muB und wird auch (seid
dessen gewifl!) weithin ins Rollen kommen.
254 Gfosstn
Der Stein, den die Festungsleute vom
Lovcen ausgefassen habcn, er wird zum
vcrbcsserten Haager Bau gel an gen, und
wir wollen uns indea hler oben in harter
Eiszeit des nodi so besdbeidenen Find-
lingsblocks freuen. Eine kleine rauhe Stdn-
wfiste mit Ihren halbwilden Bewohncrn,
<S<hafdiebe und Rauber geoannt, ehe sie
zu tapfern Feinden aufrGdcten) sie 1st plotz-
fich zum Theater Europas gcworden mit
jenem ersten wieder politisdienV olke Eu-
ropas, das ruhmvoll eingestand: nicbt alles
den Waffen schuldig zu sein, und daB das
Wohl des Vaterlandes audi nodi anders
als durdb bewaflhete Fauste und durch das
Schwert ,bis zum letzten Haucfc' gefdrdert
werden kann . . .
Nadi sdion unvordenklidien Tagen, wo
es kdne Meinung als die rein militarische
gibt, belehren uns diese primitiven Krieger
fiber den deutsdien Clause witz: Der Krieg
als Mittel, also audi als Nidit-Mittel
der Pol it ik. Gelobt sei auf hundert Jahre,
wer diesem kleinen Konig Nikolaus zum
ersten Male jencn Gedanken Ins Herz gab,
dessen sich grdBere Kdnige und Nikolause
ihrer Staaten nidit zu schSmen hatten. Es
1st jener fiberrasdiende montenegrinisdie
Gedanke, daB die strategische Ehre, oder
wie dies sonst fachlidi heiBt, ffir den Gene-
ral wohl der hodiste Begriff ist/daneben aber
audi nodi alle anderen Begriffe anderer
Berufe des Vaterlandes, Geisteswerke,
Christen turn, Handel und Wandel, ja um
vor dem Geringsten nidit zurfidczuschrecien :
selbst das Leben der Volksgenossen irgend-
wie bestehen mussen!
Dieses Volk von wenigen Hunderttau-
senden hat drei Jahre lang gekampft, ge-
blutet, gehungert, firemden Hunger und
*
vcrbfindeteGier unterstfitzt, und cin Dritteil
oder mehr seiner Manner auf dem Felde
der Ehre verlorenl Es hat VertrSge ge-
sdilossen und Vertr&ge gebrodien und ge-
brochen gesehn. Es hat sdion beim ersten
AktsdbluB vor Skutari die ganze Gemein-
hdt der Gcwalt, der grdflern Zahl, er-
fahren und sie dunhsdiauen gelernt. Es
hat der Gemeinheit ganz ebenso wohl wic
dem unverdaditigsten Patriotism us Genfige
getan. Man stelle sidi vor: der Bdse, jener,
den der deutsdie Simplizissimus <der alte,
nicht der Erfinder des »dunkelsten Deutsch-
lands«) be! der Westfilischen Friedens-
botsdiaft belauscht, dieser Geist emphnge
also jetzt die Nadiricht von seiner Festung
Montenegro. Wer auBer Grimmelshausen
wollte seine Ausbrfidie einer diabolisdien
Soldateska anhdren! Aber da sagt eio
kleines Teufel then dem Obersten Bosen :
»Ma)est5t, was wollen Sie, Ihrc Monte-
negriner haben Ihnen genug getan Ic
Hingegen,$o sagt wohl ein anderer Geist,
herrscht Freude bei den Engeln fiber einen
reuigen Sfinder und mehr gewiB als fiber
Tausende von umgefadenen Friedlidien.
Und es bleibt auf lange gewiB, daB das Land
mit den rauhen sdiwarzen Bergen nodi cher
durdis Na del 6 hr geht, als die GroBen und
Reidien unter den Reidien Europas in den
Frieden jcnes Reiches, das ffirwahr nidit
von ihrer Welt ist. — Ruhm sei darum den
tapfern Montenegrinern, der Ruhm jener
Tapferkeit, die der groBten europaischen
Eisenfresserei von heute ins Gcsicht zu
schlagen wagte ! Ruhm sei ihnen ffir ihren,
seiner Verantwortung bewufiten Patriotis-
mus, der sich von keiner montenegrinischen
Pr esse verleumden liefi ! Sie, die Montene-
griner, Europas erstes krieger isches sowie
erstes firiedfertiges Volk, sic werden von
nun an eine bcvorzugte Stellung in jenen
europaischen Blattern genieBcn, die man
nodi immer nadi lang verlottertem Braucfa
von der feilen Klio mit ihren goldenen Buch-
staben redigieren liBt. Sie, die bis jetzt
Gfossen
2 55
nur in unscrn obszonsten Witzblattern
sdilechte Figur maditen, sic macbcn fort*
an in dcr Gesdiichte cine unsterblichc Fi-
gur: die Figur dcs ersten Reumuti-
gen, dcs vcriorcncn Sohnes, an dem
sicb nocb mandber, der heute das Gleich-
nis fQr cin Argernis halt, sehr genic
cin Bcispicl nehmen wird, Dicsc Monte-
negriner wollen heute wieder ein kultu-
relies Volk, wieder ein diristliches Volk
sein, das mit seinen Nadibam kunftig audi
wieder auf Bisenbahnen und nicht bloB
durch Flugzeuge und »belegte Stationen«
verkehren will. In dieser Zeit der abscheu-
liAsten MythenmiBgcburten: wie daB im-
mer das eine Volk das andere zu Gber-
fallen und abzusdiladiten gedenke, in dieser
Zeit ist von heut an (mag audi was immer
den unverantwortlidien Konig wieder von
seinem Lande trennen), das armc Volk
Europas Gberall an seinem Werk einer
s <h 6 n e n Mythe : von diesem anstandigen
Volke der tapferen Montenegriner, von
ihnen, deren Opferfreudigkeit und wirklidie
Opfer die grofiten waren, und die sich trotz-
dem als Erste zur Besinnuog zurGcfezu-
finden wuBten.
Auch aus Montenegro kann Mensdi-
lidies kommen, und es scheint dieses nicht
ganz unverwandt mit jenem Guten, das
die Heuchler einst nidit von Nazareth er-
warteten. Montenegro hat mit seinem Ent-
schluB nidit bloB Gber den Vierverband
gesiegt, wie mancher glaubt, sondern audi . #
Nun, eine jede vaterlandische Geschidite
wird das ja in spatern Zeiten objektiv
feststellen.
Pauf Adfer.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
MecBtifcf Lictinowsfcy:
AUSSENSTEHER
I.
Tore sind und breite Treppen uns versdilossen.
Spat nadi Mitfernadit bewegt uns unverdrossen
Mensdiensdieu, rasdi, unser letzter Gang
Qber Strafienleere, die man friscb begossen.
An den vollen Hausem dieser Stadt entlang.
Einer Stadt wie dieser sieht es niemand an,
Dafl die Hauser Grufte sind mit Folterkammem.
Einer Stadt wie dieser sieht man es nidit an,
DaB sie soviel Angst verbergen kann,
Soviel lachelnd unterdrucktes Hassen, Jammem.
Aber — es bedruckt uns nidit davon zu wissen.
Da wir selbst nidit ohne Furditen sind . . .
Es betrubt uns nidit, ein Gluck zu missen.
Das sie findet/ uns bleibt ja der Weg/ und blind
Sind wir nidit — erblassen nicht vor Hindemissen.
In den Hausem schlafen Mude einsam meist,
Selten paarweis' mit begluckt vereinten Handen.
Der nur wadit, der aufgesprung'nes Leid verbeiBt,
Den Bedrangnis immer neu aus Trummem reiflt,
Und ein Hoffen, dafl sich Sdiidcsalspfeile wenden.
Wir sind, die im Freien einzeln, dunkel stehen.
Warum klagen wir, die wir im Freien stehen?
An den Lampen sdieint es hell und lebt sich hart.
Wo die Leute offen uber Treppen gehen,
Stolz im Glauben, dafi sie uns genarrt.
258
MtdbtiHd Li&nowsHy • AufienfieBtr
Tore sind und breite Treppen uns verschlossen,
Spat nach Mittemacht bewegt uns unverdrossen
Menschenscheu, rasch, unser letzter Gang
Ober Strafienleere, die man frisch begossen.
An den vollen Hausem dieser Stadt entlang.
n.
Weifie Fensterkreuze leucbten auf dem stumpfen Hintergrunde
von Gardinen,
die kein Lampenlicht mehr rotet,
und es drangt kein Rauch sicfa aus Kaminen
in die Abendstunde,
wie aus andem Hausem . . . dieses sdieint getotet,
sdieint verwunschen, mieterlos und unbesessen . . . Unser Fragen
dringt durdi Mauem, sdieu, wagt sich an fremde Sachen,
veil wir fuhlen, eig'nem Leids gedenkend, wie sie mancbes sagen
mochten, Mensdienliebe hoher zu entfodien.
Sdion beginnt das Herz dem kalkbeworf'nen Stein sidi zuzuwenden,
weifi entzQckt verwandt sidi seinen stummen Raumen,
mochte segnend die gesdhloss'nen Turen streidieln, mit den Handen
liebevoll ein Ding ergreifen, ohne Saumen . . .
denn Versaumtes kann uns mahnend strafen undverdrangt dieFreude.
Zogem wird Verbrecben, wenn die Regung Gute
zeugen wollte, und ein angstlidi tlberlegen, man vergeude
sich, den warmen Herzschlag anhielt im Gemute.
Und ■wir sturmen innerlich . . . versuchen trostende Gebarden,
Worte uns'rer sprungbereiten Nachstenliebe.
Uns berauscht ein Trunk, der alle Himmel faflt auf Erden.
Ofihe dich! Wir varmen deinen Flur . . . uns bliebe
das Gefuhl, daB wir ein winzig' Stucklein Ich an deinen Toren
lieBen, ein Gewicht aus uns'rer eingezwangten
Brust ... In Licht verwandelt sich der Blidc, den wir an dir verloren,
als cfeine Einsamkeit heut' Nacht, und unser Schweigen sich vermengten.
Ruhrt es dich nicfat? . . . Nein . . . Du nennst uns AuBensteher . . .
Mecf/tibf Li&nowsiy • Aufien feeder
#
259
Alles siehst du, doth verleugnest es, tust weher
als die Menschen, die uns nidit verschonten
in der Zeit, da wir bei ihnen wohnten . . .
m
Mudes Haus! Willst nicht von uns ergriffen werden . . .
Du erwiderst unser Werben
nidit mit Blidten . . .
Ladest uns nidit ein, zu sterben
an den jdngstverlass'nen Herden . . .
Weiter! Herz! Audi daran wirst du nidit erstidcen.
m.
An den Baumen blieben die Gespradie hangen,
die sie fuhrten: der in namenlosen Femen,
der in sdilimmster Nahe mit sich selber
MuB, der einsam sidi, bewuBt aus Rosenhangen
forttragt, mufi cr leben, Jungsein neu erlernen?
Audi der Budienwald wird gelb und gelber.
Grausam, Zeit, vergeudest du didh zwischen Halten
und Gedulden armer Menschen/ raderst Willen,
die zu Taten sich gesammelt hatren.
O — du zeigst dann irgendwelche Zauberspalten,
darin sie besdieiden ihren Hunger stillen,
Wartezellen fur die Nimmersatten.
Ja . . . an Baumen blieben die Gespradie hangen.
Tonen sie nidit — schon verzerrt — von dorten
uns entgegen? Klingt es nidit wie krankes Adizen?
wenn die Kronen aneinander drangen,
sich den unverstand'nen Sinn von Mensdienvorten
muhsam, wie aus Rabenkehlen zuzukrachzen ?
260
Mt&tifd Udbnowsiy • Der Brdutigam
Tief verwandt, Melancholia, winkt die S A wester
deinem Nebelbild am Rand der LiAtung.
Spannt dein Mund zum LaAein siA in stiller Feier,
warum bohrt dein Auge sAmerzvolf siA in RiAtung
eines ungeseh'nen Ziels ? . . . Die Hand am S Aleier
knotet auf und zu und sAlingt ihn fester.
DER BRAUTIGAM
Einmal als Mann wirst endliA Du Ihr begegnen,
tiefblauer Glockenton, der Du von drGben Sie riefst.
Indessen wird ein Jahrtausend langsam in Tagen verregnen,
bevor, erzsprengend, der Ton im neuen Mantel Ihr naht.
Ober den Hohen, im atemlosen Biinken der NaAt,
am windstillen SAlaf der Fluten im ruhenden Hafen
erkannte glaubig diA Eine vom sAeuen GesAleAt
der MadAen, die einsam, nur mit den Blumen gesAlafen..
EndliA als Mann wirst Du zu Ihr singen,
kindheitsferner Ton, den Ihr Ohr so gesuAt,
traumhaft vervielfaAt, entsteigt Melodie Deinem Klingen,
in frommer Erwartung hat Sie jede Pause gebuAt.
Du steigst dann hemieder, voll Erz noA, sAon warm
vom gleiAen Blute wie Sie, verwehrst Ihr weitere SAritte^
ergreifst Sie . . . ZartliA beruhrt Ihr Haupt Deinen Arm/
nun weilt entratselt Ungreifbares in ihrer Mitte.
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UNIVERSITY OF
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HEINRICH LAUTENSACK:
DAS GELQBDE
S CHAUSPIEL
IN VIER AUFZQGEN
<Den Bohnen gegenOber a(s Manuskript gtdrudtt)
DRAMATIS PERSONAE
P. Burkhardus Schmitt, Guardian
P. Konradus Biumenstingl
P. Edmundus FeiAt
P. RoAus Zitzelsperger
P. Bruno Pilstl
P. Oswaldus SAeibenzuber
P. Evaristus AblaBmeier
P. Felix Graf (Horst) von Hilgartsberg
GrSfin Helmtrudis, seine Frau
Oberleutnant Freiherr Karl von RuAti, Helmtrudis' Bruder
Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger
Hermine, dessen Frau
Justizrat Dr. Kreidle
Frater Max
Die Fratres MiAael, Anian, Martin und Ludvig. Viel Batauer BOrgcr,
Bfirgerinnen, junge MidAen und alte BetsAwestcm. Ein Zimmerkellner vom
Batauer Wolf. Ein Postbote.
Der BisAof samt Geleite. Die Oberin des Nonnenklosters. Nonnen. Novizinncn.
Die Eltcrn und die Obrigea vier Brfldcr Helmtrudis' sowic noA einige Anvcrwandtc.
Einc Arabertruppe auf dem SAub.
1. und II. Aufzug: Kapuzinerkloster Maria - Hilf bei Batau. III. Aufzug —
vierWoAen spater — : Hotel Batauer Wolf. IV. Aufzug — naA einetn Jahr
und zwei Tagen — : Frauenkloster Niedemburg Batau.
Das Spiel endigt kurz vor AusbruA des Kricges.
Hein rid Lautensad * Das Gef&Bd* 265
ERSTER AUFZUG
Das Refektorium des Kapuzincrkfostcrs z u Maria-Hilf.
Vorzeitiges elcktrisAes Li At, wo drauBen noA FrQhsommersonnenuntergang.
Das Gebet naA dem Abendessen ist soeben beendet.
ERSTER AUFTRITT
P, Edmundus, P. RoAus, P. Bruno, P. Oswaldus, P. Evaristus, P. Felix,
Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger, Frater MiAael, Frater Anian,
Fratcr Martin, Frater Ludwig.
(Die Fratres MiAael, Anian, Martin und Ludwig steben vom unteren TisAende
auf und gehen hinaus, wobei sie ihre EBgerate, Speisenuberreste und TrinkgcfaBc
gleiA selber mitnehtaen.)
ZWEITER AUFTRITT
P. Edmundus, P. RoAus, P. Bruno, P. Oswaldus, P. Evaristus, P. Felix,
Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger. Bald darauf Frater Max.
(Hingegen Ae Herren PP. Edmundus, RoAus, Bruno, Oswaldus, Evaristus und
Felix streng naA ibrer Anzicnnitat hergezahlt und am oberen TisAende auA
ebenso platziert — bleiben sitzen: der Herr Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger
als Gast, welAer den far solAe Falle bestimmten Ehrenplatz einnimmt: zuoberst
neben dem freiliA noA unbesetzten Stuhl und unbenutzten GedcA des Herra P.
Konrad us, dcs Altesten in der Rangfolge, der bisher irgendwie noA niAt Zeit
zum Kommen gefunden hat.
Was den P. Guardian, den Pater superior anbetrifft, so ist der verreist, wie wir
bald genug horen werden . . .>
Frater Max <trta ein>.
<Die vier Fratres vom ersten Auftritt, die in ihrem Gehaben bauerisAen Dienst-
boten niAt unahnliA sAienen, sind, wie sAon gesagt, nun glQAliA samtliA fort,
als Fratcr Max mit einer Ffille frisAen Stoffes ansAwirrt und — bis auf das bereits
erwahnte GedeA des P. Konradus, welAes zu verbleiben hat — air die Teller und
SAdsseln vom oberen TisAende abtragt.)
Frater Max <also wieder ab>.
<InzwisAen brennen si A Ae Herren PP. — jeder vor seinem Bier — ein jeder sein
RauAzeug an: Zigarre oder Virginia und P. Evaristus sogar eine Pfeife, daft der
BesAauer fQrAtet, die vielen langen B&rtc konnten in Feuer aufgehen . . . Einer
r.V.V.V.V.V
Heinrid Lautensad • Das Grftifide
nur ausgenommen : der Herr Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger, der in dem
Scfcweigen, welches herrscht, ffihlt, dafi er reden soli — und dabei dcxb v6llig aus
dem Konzept gebracht ist von dieser Kleinigkeit, namlicb, dafi er seine Sdnkadores
im Mantel gelassen bat . . . Atb! und sein Mantel, der hlngt weit entfemt von
diesem Refektorium draufien im Sprechzimmer. — Endlicfa>:
Pfaffinger <in einer Art Galgenhumor) : Also eh' die hochwftrdigen
Herm Patres, die mir ja einfach einen jeden Wunsdi bisher von den
Augen abgelesen haben, allmahlich stutzig werden und sidi womog-
licb lang firagen, was ich denn eigentlicb hatte oder nodi besser was
mir eigendidi fehlt — da meld' idi's lieber gleich selbst: ich hab'
meine Zigarren draufien in mein'm Ulster stecken lassen!
P. Edmundus <gibt mit diesen seinen Worten quasi das Signal — jedocb
keineswegs belustigt, sondern mit tSdlicfcem Ernst in jedem Ton seiner sdiwindelnd
tiefen Bafistimme) : Aber Herr Bezirksgeometer — wenn's weiter nichts ist — !
<Und da sind sie ohne Ausnahme samtlicb bereit und prasenticren ibre meist dick—
gefOKten Etuis aus Leder, Pappe oder Bast, und wir konstatieren freundlicbe An-
erbieten wie>: »Darf ich Ihnen eine offerieren — ?c — aWoll'n Sie sidi
nidit bei mir bedienen — ?« — »EntschuIdigen Sie nur vielmals — !«
— »Aber gerne, Herr Bezirksgeometer — !c <Und P. Evaristus strcckt
seinen Tabaksbeutel entgegen und meint) : *Idi hoi' Ihna meine andere Pfeif n !c
Pfaffinger <nimmt von dem ibm zunScbst sitzenden P. Edmundus und wehrt
dann die Gbrigen ab) : Sie sind wirklidi zu liebenswurdig ! — Danke/
danke/ i' dank scbd' — i' bi* versorgt — <Man bietet ibm von mehreren
Seiten Feuer an, und da beeilt er sidt denn mit dem Vorgenufi, den er sonst bei
iedem neuen Gfimmstengel mdglidist lange auszukosten pflegt, und versidwrt unterm
Anraucben, wobei er mit den Lippen schmatzt wie ein kfeines Kind): Idlleide
. . , sonst . . . absolut nidit an . . . Vergefllidikeit . . . Aber
heute bin ich in der Tat . . , aufgeregt . . . wie nur als junger
Hodizeiter . . . <Und da nun das Kraut brennt und scbon inn die Gewobn-
heit zu unterdrQdcen , es kenneriscb auf seine Quaiit3t zu
bltt gar sdion, Nachsicht mit mir —
taxieren) : Hab'n Sie,
<Stille. Raudien.)
P. Edmundus <nach einem abgrundtiefen Riuspern): Ich mdchte Sie
ubrigens dringendst ersuchen, Herr Bezirksgeometer, sich unsertwegen
absolut nidit zu inkommodieren —
Pfaffinger <versteht nidit).
P. Edmundus: Ich meine: falls es Ihnen — nach diesem unserm
HetnriS Lautensadi • Das GeftlBde
267
'A
•mm
Essen
irgendwie Erleicfaterung verschaffen konnte, so machen Sie
sich's ruhig etwas bequem.
Pfaffinger: Ah SO — ! (Aber er fafit es ncxfc nicht.)
P. Edmundus: Ich will sagen: wir — wir haben keine Westen,
die sich ein etwas offnen lassen. Nichtsdestoweniger konnen wir das
andem nadhfuhlen!
Pfaffinger (mSdite es immer nodi nicht so redit fflr moglich halten. — Da
hat er plotzlich eine Idee/ und ohne sie im mindesten zu Oberlegen, sagt er> :
Ich habe in der Klosterregei des heiligen Benedikt geiesen, dab alle
etwa ankommenden Gaste von den Monchen sollen so wie Christas
aufgenommen werden. Das ist . . . wunderschon. Aber mir scheint,
dab sich die Fremden, die in so ein Kloster kommen und das doch
wissen mussen — dab sich die dann auch einigermaben so wie
Christus benehmen sollen, der ]a in ihnen aufgenommen wird.
(Fast ausbrediend) : Ich kann mir unsern Herrn und Heiland nun ein
mal nicht gut mit aufgesprungenen Westenknopfen vorstellen
P. EvaristUS (samt seiner Pfeife — jung zwar, so dodi gleichfalis, wenn
audi ein wenig gemacht, baBtief) : Unsern Erloser, der ein von seiner
l
l
gottlichen Mutter gewirktes nahtloses Gewand getragen hat
Pfaffinger (sofort wieder auf dem Quivive/ zu P. Evaristus): Sie meinen
den heiligen Rode in Trier? — Ich hab' den heiligen Rode in Trier
besucht!
Das ist freilich schon seine zwanzig Jahre her.
<Zu
P. Edmundus) : Aber jetz' kommt es mir fast so vor, als hatt' ich mit
meiner Replik vorhin
ja, grad, als wie wenn ich mit dieser
meiner Replik vorhin den hochwflrdigen Herrn Pater Edmundus
widerwillens beleidigt hatt'
P, Edmundus: Mich?
Pfaffinger (dem P. Edmundus, den er Qbrigens am meisten in sein Herz
geschlossen hat, fest in die Augen schauend): Ja
Sie,
Und das tat'
mir wahrhaft leid. — Denn jetz' fuhl' ich erst, welche Liebe zu
unserm Herrn und Heiland Sie manifestieren wollten, indem Sie
i
mich aufforderten, ich solle es mir in ein etwas bequem machen
<Da aber wird redit wie aufs Stidiwort, ohne dafi P. Edmundus nodi das ge-»
ringste zu entgegnen vcrmSchte, die Tflr aufgerissen und herein kommt P. Konradus.
Sehr eilig.)
is vat. ni/i
268
Htinn'S Lautensadi • Das Gtf&Bde
DRITTER AUFTRITT
Die Vorigen. P. Konradus. Ab und zu Frater Max.
P. Konrad US <auf semen Platz zu, ab halt' ihn ihm einer genommen).
P. Edmundus <zum Ankommenden): Pater Konradus, erlaub'n Sie,
dafi ids Ihnen unsem lieben Gast, Herm Bezirksgeometer Pfaffinger,
vorstelle.
P. Konradus <bez2hmt. Mit einem Organ wie eine Riesenglodte) : An*
genehm.
Pfaffinger <der sld» erhoben hat): Ganz meinerseits.
P. Evaristus <untergebenenhaft besorgt): Bruder Konradus, weiB es
der Maxi bereits?
P. Konradus: Idi danke dir, Bruder Evaristus. — <Und dann riditet
er, die Serviette entfaitend, eine Frage an afle, nur nidit an P. Edmundus): 1st
der Pater Guardian bereits zurGckgekommen?
P. Bruno: Nein, lieber Bruder.
P. Oswaldus: Er kdnnt' aucb kaum sdion den Berg heroben sein,
selbst wenn er mit dem Sieb'n-Uhr-Zug gekommen ware.
<Da bringt der Maxi, Frater Max, den ersteo Gang und versdhwindet sogieich
wieder.)
P. Konradus <betet ein stifles Gebet erst und macht sich dann fiber sein
Essen her).
<StiiIe.)
P. Edmundus <der mit P. Konradus seit Jahren sdion — nodi dazu in
diescr Klosterengc — in Feindschaft lebt, weldie aber seinerzeit von dem letzteren
ausgegangen war): Herr Bezirksgeometer Pfaffinger 1st fest entschlossen,
nidit nur in unsern Orden einzutreten, sondern audi nocfa mit dem
Studium der Theologie zu beginnen und sidt zum Priester weihen
zu lassen.
P. Konradus <zu Pfaffinger): Darf idi fragen — verzeihen Sie,
aber es lafit sidi diese Erkundigung nidit gut umgehen — wie alt
der Herr Bezirksgeometer sind?
Pfaffinger <dem dies wirklidi ganz und gar nidit unangenehm bt) : In
dritthalb Monat'n — im August — werde idi zweiundsieb'nzig.
P. Konradus: War'n der Herr Bezirksgeometer — jemals —
verheiratet?
Pfaffinger (zieralicfa belustigt): Verheiratet? — Das bin idi sogar
269
HeinriS Lautensad • Das GefUSde
gegenwartig noth. <W»eder ernster): Aber meinc Frau hat nkfcts gegen
diesen meinen wohluberlegten Sdiritr.
P. Konradus fsingend): Dann ist vielleidit Ihre Frau Gemahlin
nocb recbt jung an Jahren?
Pfaffinger (strahlend uber das ganze Gesidit vor Heiterkeit): Mein, nein.
Die ist sogar sdion redit alt an Jahren! Ja. Die is' bereits zutiefst
im kanoniscben Alter!
P. Konradus <nadidem er ein jedesmal bisber fehlgetroffen hat): Nun,
nun, man kann doch nie wissen. Idi datbte — vielleidit, dafi eine
unverhaltnismafiige Altersungleitbheit zwisdien Ihnen und Ihrer Frau
Gemahlin —
Pfaffinger <geht sofort fiber diese Taktlosigkeit hinweg) : Aufjahrund
Tag genau darf idi das Alter meiner Frau naturlidi nicbt verraten:
das hat sie mir sdion vor ftinfundvierzig Jahren an unserm Hodi-
zeitstag verboten. <Er ist immer weiter vergnQgt): Adi ja.
<Dodi da wendet sidi P. Konradus wieder ganzlich seinem Essen zu. Futtert eine
kleine Weile, was das Zeug hilt/ sodann sdiiebt er den Teller weit von sidi und
unterhalt sidi auf ein neues mit dem Gast.)
P. Evaristus <der den Moment abgewartet hat, geht zur Tflr, offnet und
ruft gedampft hinaus): Maxi - — ! <Und begibt sidi wieder an seinen Platz.)
Frater Max (koramt auch bald darauf mit dem zweiten Gang).
flndessen):
P. Konradus: Es ist absolut nidit gesagt, dafi — so wie in
Ihrem Fall — die Ablegung des Ordensgelubdes sowohl als audi
der Empfang der Priesterweihe ein Ding der Unmdglidikeit ware,
nur weil eine Ehe nodi besteht. Eine Ehe ist an sidi kein Hinder-
nis/ blofi darf die Ausubung der ehelichen Freuden naturlidi nidit
fortgesetzt werden, denn diesem steht fortan ja das Keusdiheits-
gelubde entgegen, und ist uberhaupt eine Trennung von Tisdi und
Bett notwendig. Ein jeder verheiratete Mann kann — aber nur mit
ausdrucklidiem Wissen und Willen seiner Ehegatlin — in ein Kloster
eintreten und audi das heilige Sakrament der Priesterweihe emp»
fangen. Jedodi die Ehefrau selbst mul) ihrerseits gleichfalls das Ge-
lubde der Keusdiheit ablegen oder wenigstens eine soldie Garantie
bieten, dafi die formlidie Leistung des Keusdiheitsgelubdes bei ihr
nicht mehr erforderlidi ist. Das heifit: befindet sidi die Ehefrau da-
270 Heinric6 La u ten sad • Das GeftiSde
i: - - - / :. ^ .VV.V/T V_V777T77777
bei bereits in cinem entspreAend hohen Alter ... in einer ausge-
sproAen hohen Anzahl von Lebensjahren , so gfaubt man ihr auf
ihre bloBe VersiAerung hin, und sie mag danaA ruhig drauBen in
der Welt weiter leben. — I A weiB niAt, ob Sie diese meine zarte
Andeutung restlos verstehen . . .
Pfaffinger <eifirig): Oh, gewiB! FreiliA — freiliA!
P. Konradus: Denn in einem solA hohen Alter besteht fur die
Frau ja absolut keine Gefahr mehr, wortbrOAig zu werden, und
es wird mit gutem Grund angenommen, daB ihr die Erfullung des
VerspreAens der KeusAheit — selbst in der Welt da drauBen voller
Verlockungen des Bosen — leiAt fallt.
Pfaffinger (noth immer eifrig/ grad an seiner Zigarre saugend): Mm — !
P. Konradus (der fortwihrend mit Tranchieren beset iftigt ist eines GeflOgels,
das wohl auct bereits das kanonisebe After bat): , , , Ein anderes ist es,
wenn die Frau siA noA in einem jugendliAen Alter befindet. Da
existieren AusspruAe von Aposteln und KirAenvatern mehr als
genug/ ja, unser Herr und Heiland selber hat es einmal trefFend
gesagt: »Der Geist ist willig — aber das FleisA ist sAwaAlc <Und
er schiebt pfdtzlich den Teller weit von sicb und scbmeiBt noth dazu das Bestedc
hin: — ein Zeithen nebenbei fQr P. Bvaristus, Sbnlich wie vorhin den Maxi her-
qeizuzitieren.) — Und so verlangt unsere heilige KirAe in diesem Fall,
dafi auA die Frau in ein Kloster geht — auBer bei mehreren Kin*
dern, wo eine Dispens eintreten kann aber sonst muB auA
die Frau in ein Kloster und da bei ihrer Binkleidung eben die*
selben feierliAen Ordensgelubde ablegen wie ihr Mann. — AhnliAe
Bestimmungen weiB das KirAenreAt, wenn der Mann etwa ohne
Wissen und daher auA ohne Willen seiner Frau ins Kloster ge*
gangen sein sollte.
Pfaffinger (interessiert): Ohne Wissen und Willen — ja, gibt es
denn so etwas auA?
P. Konradus: Warum niAt? — Nehmen wir zum Beispiel ein*
mal an, daB der liebe Bruder Felix —
P. Bdmundus <drohend>: Du — ! LaB den »lieben Bruder Felixe —
P. Konradus: DoA nur ein angenommener Fall —
<Aber da kommt zum GlOck Maxi, Fratcr Max, herein.)
P. Konradus <mit unterdrflektem Zorn): Ja, sag/ amal. Maxi — soil
He in rid Lautensad) • Das GefUBde 271
sicfa das amend aucfa nodi a' Ess'n nennen durf'n? — Haut und
Knodien — !
Frater Max (dgensinnig) : Das kann vorkommen! Von den an-
dem Herm Patres hat gar keiner was gesagt! (Ausfallend) : Sowie
unser hochwurdiger Herr Pater Guardian einmai einen Tag lang
oder zwei nicht da 1st, fuhrt der Herr Pater Konradus das Regi-
ment! <Er padct — sdmippisdi — die SdiOssel und geht damit hinaus.)
(Sdiier gleidizeitig) :
Pfaffinger (der natQrlidi durcfi die vorige fast offen-hSmische Anspielung
aufmerksam geworden ist, neugierig ru P. Edmundus): Was ist es mit dem
hochwurdigen Herm Pater Felix?
P. Edmundus (pacfct ihn am Arm und drfldtt ihn): NichtS, Herr Be-
zirksgeometer ! Nix — wirklidl nix! (Und nun, damit man aber den kriti-
scfien Augenblidi mfiglidist hin weggleite , stimmt er, mit seinem Kruge dabei an
das Glas Pfaffingers anstoBend, die Frage an wie einen Gesang): Lieber Herr
Bezirksgeometer, wir sind alle ein bisserl neugierig ... Ist die Frage
erlaubt, wieso Sie eigendidi dazu kommen, sidi so spat nodi derart von
Ihrer Frau Gemahlin zu sdieiden und lieber in ein Kloster zu gehen?
Pfaffinger: Sie haben ganz vergessen zu erwahnen, da6 idi dodi
audi nodi Theologie studieren will!
P. Edmundusi Nun ja —
Pfaffinger: Aber idi weifi sdion, worauf Sie hinaus wollen —
P. Konradus: Nun?
Pfaffinger (langsam wiederholend) : Auf die Art midi so spat nodi
von meiner Frau zu sdieiden. Ja, meine Herm Patres, Sie kennen
die Ehe dodi alle nur aus der Theorie.
P. Konradus (nun soli ihm seine Listening dodi nodi gtQdsen): Idi bitte!
Einer von uns — eben der Pater Felix — war, worauf idi vorhin
bereits anspielen wollte — in der Tat verheiratet!
P. Edmundus (dem alien sogleich die Spitre abbrediend): Jedodi hat
er seine Frau bereits auf der Hochzeitsreise verloren. Bei einem
groBen Sdiiffsuntergang. Im Golf von Aden.
Pfaffinger (ersdiflttert) : Auf der Hodizeitsreise! Das tut mir leid.
(Stille.)
Pfaffinger (jammemd): Oh Gott, oh Gott —
(Wieder Stille.)
272
HeinriS Lautensadi * Das GefuBdc
Pfaffinger <behutsam neubeginnend) : Also einer von Ihnen sogar
einmal verheiratet gewesen. Wenn auch — barmherzigcr Himmel!
— nidit allzu lang. Idi will also meine Behauptung von zu-
vor dahin formulieren, dafi den geistlidien Herren — aus der Seel-
sorge zumal — wohl alleKonflikte einer Ehe gelaufig sein mdgen. . .
Aber eine Ehe, meine hodiwurdigen Herren — eine Ehe, die so
ewig (ange schon dauert, dafi es uberhaupt's keine Konflikte mehr
gibt — ? Dies gegen's Ende zu einfadi vollig Stagnierende einer
Ehe — ? Wenn beide Teile durdi den fortwahrenden gegenseitigen
Ausgleich endlich so »gut« geworden zu sein glauben, dafi ihnen
eine Weiterentwiddung zum Guten letztlich ganz und gar nimmer
moglidi scheint — 1 Meine hodiwurdigen Herren Patres: an einer
soldien Ehe kann Gott selbst keine Freude mehr haben! Da ist
sdiliefilidi ein Kompromifi zustande gekommen — und der beruht
auf Selbsttausdiung — und das nenn' idi Heuchelei. Philemon und
Baucis: Sie kennen die beiden? Wohl: deren tragisdier Untergang
ist ruhrend/ aber audi nur der! Sehen Sie, meine Herrn, sdiau'n S':
meine Frau und idi sind beide durdiaus gesund . . . und so kann es
nodi ein Jahrzehnt und d'ruber dauern, bis Gott das eine von uns
zweien zuerst abruft und jene letzte Sensation einer Ehe gesdiieht,
namlich, daB das eine mit einemmal nicht mehr da ist. Idi liebe meine
Frau . , . aber wie seit langem, ja wie seit ewig sdion ganz gleidi-
maBig, in rein nidits mehr zu iiberbieten. Und das is' net gut, wie
auf die Dauer nix gut ist,- und so ist es besser, wenn idi midi von
ihr trenne, denn das wird einen Absdhiedssdimerz geben, und dann
. . . und dann werd' idi sie aus der Feme mit einer Sehnsudit lieben,
die die Nahe unmoglidi kennt. Ja, idi hab' die glucklidi madiende
Uberzeugung, dafi meine Frau und idi uns nodi mehr lieben werden,
wenn wir nidit mehr beisammen sein werden, und dafi also auf die
Art — auf unsere alten Tage! — dodi nodi eine Steigerung unserer
Gefiihle moglidi sein wird <Und cr trinkt. D. h. er sudit seine Zufludit
beim Bier.)
Frater Max <bringt einen neuen Gang).
P. Konradus (macht sich daruber her).
Pfaffinger: ... Aber — ich seh's an Ihren Gesichtern, dafi midi
diese Grunde nidit einmal bereditigen, in ein Kloster einzutreten.
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v
s nninsi
Heinrich Lautensad * Das GefUBde
273
geschweige denn gar Priester zu werden! Nun denn: man spricfat . . .
man spottelt in bezug auf mein Alter gem von einem Johannis-
trieb. Und es mufi gewiB was Wahres dran sein an diesem Gerede
und Gespott
denn ids spur' ihn ! Aber dieser Johannistrieb riditet
sidi in meinem speziellen Fall nidit auf eine Frau, sondem gerade-
ausaufGott! — let — idi — idi liebe eben Gott mehr noch als
wie meine Frau — ! <Er flflAtet naA diesem Bekenntnis wieder zum Bier.
Aber er trinkt niAt, sondern er weint): Idi kann nun einmal nidits Gott
Wohlgefalliges darin erblidcen, dab meine Frau und idi weiter so
dumpf dahinleben wie sdion seit meiner Pensionierung. Idi will vieU
mehr aufg'ruttelt wer'n! Idi will uns beide aufrutteln! — <Er bekampft
siA> : Idi nehm' auch bereits lateinische Stunden bei unserm Herm
... <Er laAelt) : Idi hab' mir's sdi werer — viel sdiwerer
Benefiziat Obst
vorg'stellt
• • •
<Er laAt fast) ; Er braucht lang net soviel rote Tint'n,
als er sidi 'denkt hat, der Herr Benefiziat...
<Sd(le.
Darin tut
P. Roth US zum ersten Male vernehmliA den bSrtigen Mund auf): Eine
Frage, die idi mir gestatten modite: War'n der Herr Bezirksgeo-
meter von jeher gut katholisdi? Fromm und gewissenhaft glaubig?
Sind Sie stets in die Kirdie gegangen und haben um die osterlidie
Zeit nidit nur aus Zwang gebeiditet? — Idi meine: ob nidit etwa
erst recht spat aus Ihnen ein Paulus geworden ist? Etwa erst seit
einem ganz bestimmten Datum: namlich seit eben dem Tage Hirer
... Pensionierung!? <Aber niAt etwa Pangsionierung. Sondern Aese Figuren
spreAen sowas bayerisA aus : so wie's gesArieben steht . . .)
Pfaffinger: Das ehrt den Psychologen in Ihnen. <Mit Heiterkeit):
Aber Sie durfen ganz beruhigt sein, Hodiwurden.
(Und nun wieder Stille.)
P. Felix (eine Saite in Am klingt an. Er erhebt sein Clas): Icfa trinke
auf Ihr Wohl, Herr Bezirksgeometer. So wie auf das fern ere Wohl-
ergehen auch Ihrer tapferen kleinen Frau. <Er trinkt.)
Pfaffinger <tut ihm — wortlos — BesAeid).
P. Konradus: Sie haben nie Kinder gehabt, Herr Bezirksgeo-
meter?
Pfaffinger: Einen einzigen Sohn, der nadi dem Willen meiner
274 H tin rids Lauttnsadi • Das GtfUSdt
Frau GeistUcher werden sollte. Aber der 1st, feaum daft er die nie»
deren Weihen empfangen hatte, gestorben.
(Wieder elne Stilie.)
Frater Max (kommt mit der Nachspeiie und versieht dabei gieidizeltig ein
jedesma! - das mufi er stfcon to im Griff haben — die Anwesenden mit neoem Stoff).
(Sodann) :
Pfaffinger: Hochwurdiger Herr Pater Felix, id) modit' Ihnen
naturlidi net weh tun. Also Sie brauchen mir nur ein einzig's W orterl
zu sag'n — und idi hor' sofort wieder damit auf. Es 1st fast rein
nur aus Mitgeffihl, dafi ich's frage/ aber ich hab' vorhin einen Ort
nennen horen — Sie haben Ihre liebe Frau verloren?
P. Felix (unterm Anraudien einer frisAen Virginia}: Wir befanden uns
auf der Hodtzeitsreise. Ich war bayerischer Offizier. Es war am
dreizehnten Tag unserer Ehe. Wir wollten — meine Frau war
reich — eine Reise um die Welt machen. Von Genua aus. Idi hatte
vom Re'ment einen halbjahrigen Urlaub vor mir. Da — im Golf
von Aden — verunglfidcte unser Sdiiff. Versank nach wenigen
Minuten. Meine Frau befand sich mit andem Frauen zusammen in
dem einzigen Rettungsboot, das klargemacht werden konnte. Es muft
gekentert sein. Id) war von jeher ein guter Schwimmer. Aber in dem
Sturm — Es stand spater in alien Zeitungen, dafi, abgesehen von
zwei Matrosen, idi der einzige Qberlebende war. Ich wadite an einer
Klippe am Ufer auf. Quer fiber einem Balken liegend, der wohl
meine Retrnng bedeutet hatte. Unweit von mir ein Schwimmgfirtel.
Von dem Leder dieses Gurtels hab' idi zweieinhalb Tag' gelebt, wie
der Hunger wiedergekommen war. Darf idi Ihnen eine Vir»
ginia anbieten?
Pfaffinger <*<bon aus MitgefQhl): Idi bin SO frei. <Nimmt. Dannuntenn
Anraudien} : Also doth . . . im Golf . . . von Aden ! — 1st das ein so
gar gefehrliches Wasser?
P. Felix: Idi weiB nidit ... Es war Sturm ...
Pfaffinger: Ndmlich eben diese geographische Bezeichnung war
mir so bekannt vorgekommen, sdion gleich wie Herr Pater Edmundus
es vorhin erz^hlt hat — Idi hab' namlidi vorgestem und auch heute
wieder — zweimal hintereinander — von einem grofien SchifisunglQdc
in eben diesem Golf von Aden gelesen. Es ist aber kein Name
275
HeinrfS Lauttnsadi ♦ Das Gtf&Bde
genannt. Weder vom Schlff, nodi von der Frau, die vor adit Jahren
damals davongekommen ist — und deren Rettung erst in diesen
Tagen bekannt wurde,
P. Felix: Vor adit Jahren? — Nein. — Es war vor neun Jahren.
— Und unser Sdiiff hieB Gloria.
Pfaffinger: So. — Dann muB es eben doth eine gefahrliche
Passage sein, wenn gleidi ein Jahr darauf schon wieder ein soldies
Ungludc —
P. Felix: Das Jahr darauf war kh bereits im Kloster. Aber das
weiB ich genau — umso mehr, als idi zu der Zeit immer nodi die
Zeitungen gerade in bezug auf SchifEskatastrophen durdig'les'n hab' — ,
daB ein Jahr nadi unserm Untergang kein Ungluck in eben der
Gegend statrgefunden hat.
Pfaffinger (East eigensinnig) : Idi hab's aber vorgestem in unserm
Wol father Amts- und Wodhenblatt g'les'n und noth lange mit meiner
Frau darQber gesprodien. Und heute beim Aussteigen auf dem
Batauer Bahnhof hab' ich mir eine hiesige Zeitung gekauft fur
den Fall, daB Sie's int'ressiert: ich hab das Blatt noth drauBen in
mein'm Ulster stecken ! — Warten Sie, idi werd's hereinhol'n —
<Er steht auf.)
P. Felix: Vor adit Jahren
P. Edmundus (verblrgt seine Angst, in dem er zu P. Felix tritt und dun
desscn GrQbeln und Besorgnis auszureden versucht) : Es kann verdrudct sein
. . . Oder der Herr Bezirksgeometer irrt sidh amende doth . . .
Pfaffinger: Das wer'n mer ja gleidi seh'n!
P. Felix (entsddossen) : Idi geh' mit Ihnen, Herr Bezirksgeometer!
(Die beiden — Pfaffinger und P. Felix — gehen hinaus.)
VIERTER AUFTRITT
Die Vorigen. Ohne Pfaffinger und P. Felix.
(Nadi einem kurzen Sdiweigen):
P. Evaristus (an seiner Pfdfe stopfend) : Wie Pater Felix glei' mit
'raus rennt — !
P. Edmundus (der, stehend, socben getrunken bat, wild den Krug nieder-
setzend): Wie die angeborene Falsthheit und eingesthworene Gehassig-
keit sogleidi wieder ihre Glosse dazu machen muB — ! (Es tmbt dm
276
Heinrid Lautensadi • Das GefuBde
uraher. Er wirbelt wie Laub im Herbst . . . Und als P. Bruno aucb nod) leise hamisdh
ladit): Wenn der allmachtige Gott nur einmal ein Sdiiff voil von Eudi
ubereinand' untergehen lassen mochte — !
PP. Evaristus, Bruno und Oswaldus: Hoho! — Holt stad
a wengerl ! — B ruder Konradus — ! (Die Ausrufe der ersten beiden
warnend, drohend, mutig, fast raaflustig/ der [etztere — von P. Oswaldus aus-
gestoBen — scbier angstlldi, feige, hilfeflehend.)
P. Rodius (steht nun gteictfalls auf>: left lasse midi nidit in euere
Feindsdiaft mit hineinziehn! Icfa sdiliefie midi davon aus! — (Zu
P. Edmundus): Umso unparteiisdier aber kann idi Sie fragen, Pater
Edmundus: Was haben Sie denn eigentlidi? Wenn heut abend
irgend nur das geringste vorgekommen war', so mufite idi dodi aucb
etwas davon gemerkt haben! Sie sind rein von dem bissel Gerede
dieses absolut manisdien Herrn Bezirksgeometers ja nodi weit schlim-
mer aufgeregt als wie der Pater Felix selber! — GewiB!
(Tut sicb was darauf zugute, obwohl er's natflrlkfa so gleitbgQltig ja verScbtlid)
wie mSglidi vorzubringen sucht): Idi hab' diese Zeitungsnotiz ubrigens
bereits gelesen —
Alle: Wo?!
P. Rodius: In der heutlgen Nadimittagsausgabe unserer Donau-
Zeitung, zu deren gemeinsamen Lekture wir heute abend nur noth
nicht gekommen sind, indem wir diesen — idi wiederhole es! —
diesen sdileditweg manisdien Herrn Bezirksgeo meter zu Gast haben !
— Dort auf der Vorlese-Kanzel liegt das Blatt ja.
PP. Evaristus und Bruno (stQrzen darauf hin, so daB P. Edmundus zu
sp3t bommt, und tragen die Zeitung zu P. Konradus an den Tiscb).
P. Evaristus: Wo steht's denn?
P. Rodius (wahrend er sudit): »Irrfahrten eines weiblidien Odysseus*,
so heifit's, glaube idi. — Vielleidit eine edite Zeitungsente. Kein Wort
daran wahr. Nur rein aus den journalistischen Fingem gesogen. Ich
erinnere midi vornehmlidi deshalb — na, wo steht's denn glei' wie-
der? — , weil idi emport war, dafi unser Zentrumsorgan sidi nicht
entblodet, etwas Derartiges seinen christkatholisdien Lesern — Halt!
Da steht's! slrrfahrten eines — «
P. Evaristus: »Irrfahrten eines weiblidien Odysseus — «
P. Bruno (zu gfeicber Zeit mit> P. Evaristus: *Bei einem grofien
Schiffsungluck vor nunmehr adit Jahren im Golf von Aden — «
277
Heinrid) Lauttnsadi • Das GtC&Bcft
P. Konradus <miBbilligend> : Na na na!
P. Bruno <oinmit die Zeitung an sidi. Fangt nodi einmal von vome an vor-
zulesen und begibt sidi dabei mehr und mehr auf die Vorlese-Kanzel):
»Irrfahrten eines weiblichen Odysseus.
Bei einem groBen Sdiiffsungluck vor nunmehr adit Jahren im Golf
von Aden, wobei die gesamte Besatzung sowie die samtlidien Pas-
sagiere urns Leben kamen, wurde — wie sidi jetzt erst herausstellte —
eine junge Frau, die sidi nodi dazu gerade auf ihrer Hodi-
zeitsreise befand <diesen kleinen Relativsatz liest er mit immer grSBerem
Erstaunen, und ein paar Mondie wiederholen ihn !> wohl ais einzige Qber-
lebende an die arabisdie Kuste ausgeworfen und von einem wilden,
dort gerade umberstreifenden Araberstamm nadi dem Lande Hadra-
maut und von da bis in die Sandwiiste Roba al Chali gewaltsam
versdlleppt. (Wieder werden Worte wie » Araberstamm* und >gewaltsam ver-
scbleppt* wiederhoit und klingen wie sebadenfrohe Echos.) Und zwar wanderte
die junge Frau, die nebenbei bemerkt eine Deutsdie war, auf diesem
Wege von Stamm zu Stamm, indem immer ein Sdbeik sie dem an dem
zum Gesdienk madite. Bis sie endlid) Gnade in den Augen eines
dieser braunen Wustensohne fand. Nadi fangen, langen Bemuhungen
gelang es der Bedauernswerten, den deutsdien Konsul in Aden zu
benadiriditigen, der sofort bei der turkisdien Regierung energisdie
Sdiritte zu ihrer Auslieferung tat. Aber hatten sie so viele andere
arabisdie Sdieiks vorher nidit gesebenkt gemodit, sondern sie immer
wieder an den Nadisten zum Prasent gemadit, so forderte dieser
Letztere nun ein ungeheures Losegeld, indem er pro Haar auf dem
Haupte der Frau einen wohlgezahlten turkisdien Piaster
verlangte. — Wie wir erfahren, befindet sidi die junge Frau nun
nadi ihrer jahrelangen Odyssee gluddidi auf dem Wege nadi ihrer
Heimat . . .«
P. Edmundus: Unglaublich — !
P. Rodius <eifemd> : Ja — nidit wahr? — wie das Zentrumsblatt sidi
nidit entblodet, eine soldie Boccaccio*Decamerone-Ges<hidite
dem diristkatholisdien Leser vorzusetzen — !
PP. Evaristus, Bruno und Oswaldus (feixen, bis ihre hamisdie
Vergnugtheit in lautes Ladien Gbergebt. Da offhet sidi die Tfire und alles ist so-
fort mausdienst ill. Aber es ist vorlaufig nur Maxi, der da hereintritt. Und erst
hinter diesem zeigen sidi Pfaffinger und P. Felix).
278
HtinriS Lautensadi • Das GefOSefe
FQNFTER AUFTRITT
Die Vorigen. Frater Max. P. Felix. Pfaffinger.
Frater Max <tritt — aufgeregt — herein) : Der Herr Pater Guardian
ist soeben angekommen ! (Mit leeren GefaBen wieder ah.)
Pfaffinger <mit einer gefilllten Tfite): So. Jetzt darf ich midi aber
bei den hodiwurdigen Herren Patres wohl endlidi revancbieren? <Und
er bietet Zigarren an.)
P. Felix <ist gleidifalls eingetreten).
P. Edmundus (sogleich auf ihn zu): Bruder Felix, was sagst du zu
dieser Notiz in der heutigen Nacbmittagsausgabe der Donau-Zeitung ?
P. Felix <verbirgt das von drauBen mitgebrachte Blatt im Armel. — Er ist
seltsam blafi, soweit das Gesicbt nicbt durch den Vollbart bededrt ist): Es ist
alles so ungewifi gehalten.
P. Edmundus: Aber die Erwahnung der Tatsache, daB die Frau
auf der Hodizeitsreise begriffen war?
P. Felix: Das kann ja audi eine frivole didhterisdie Freiheit des
raffinierten Feuilfetonisten seinl
P. Edmundus <mit einem plotzlidhen Einfall): Befanden sidi auBer eudi
etwa nodi hodizeitsreisende Passagiere an Bord?
P. Felix <schflttelt stumm mit dem Kopf),
P. Evaristus: Wieviel ist ein turkisdier Piaster indeutsdiem Geld?
P. Bruno: Frag' dodi lieber, wieviel eine junge Frau — noth
dazu auf ihrer Hodizeitsreise — Haare auf dem Kopfe tragt?
P. Felix <mit Absicbt ein venig laut): Die W ahrsdieinlidikeit, daB es
sidi um meine Frau handeln konnte, ist deshalb gleidi Null, weil
ich dodi — auf dem Wege fiber meine Sdiwiegereltern — eher etwas
von allem erfahren hatte als wie diese Korrespondenz <er deutet auf
das andere, noA herumliegende Zeitungsexeraplar), die diese Provinzblattchen
versorgt !
P. Edmundus: Das kannst du nun audi wieder nidit behaupten —
P. Felix fstutzt): Wieso?
P. Edmundus: Sogar angenommen, deine Sdiwiegereltern hatten
dich seit Monaten mit Telegrammen und Briefen bombardiert — wer
sagt dir denn, ob nidit unser Pater Guardian von der allerersten
Zeile an von unserm Pater Provinzial a us strengste Weisung hatte,
es dir vorzuenthalten ? — Das ist . . . die Klausur! — Wissen die
279
HeinritB Lautensadi ■ Das Gtf&Bdt
Eltem deiner Frau uberhaupt, dafl du langst nidit mehr in Muncben
bist, sondem hierher auf Maria-Hilf versetzt?
P. Felix: Das wissen sie . . . nidit! — Von mir aus wenigstens
nidit!
P. Edmundus (wenn audi sehr schweren Herzens): Na also! — Und
vielleidit war der Pater Guardian gar deinetwegen die drei Tag'
in Mundien!
P. Felix (steht cine Weile vollig unschlGssig),
P. Edmundus (liebevoll dringend): Wir wollen nodi ein bisserl im
Garten drunten auf und abgehn. — Komm!
P. Felix (entsdilossen) : Idi will zum Pater Guardian. — Er ist doth
zuruck — ?
P. Edmundus: Der Pater Guardian wird mude von der Reise
sein, daB er nidit von selber langst herein'kommen is'.
P. Oswald US (der seit mehreren Minuten sdion den Zeitungsartikel brocken-
weise ein zweites Mai vorliest, erhebt seine Stimme, als er eben bei dieser Stelle
anlangt): >Aber hatten sie so viele andere arabische Scbeiks vorher
nidit gesdienkt gemodit...< Hm. Sollte die Frau so absdieulidi
sein oder was — ?
P. Konradus: Nein. Aber standhaft war sie wohl, solange es
irgend ging. Standhaft zur We hr wird sie sidi g'setzt hab'n, so daB
keiner mit ihr so recht was anz'fangen g'wuBt hat und sie einer um
den andern, sdiliefllich uberdrussig geworden, immer an den nachsten
we iter zum Prasent madite.
<Er spradi das anscheinend harm (os. So gar mit einem gewissen Ernst, )a Pathos.
Woftlr ihm die andern mit unterdrudrtem Ladien danken.)
P. Edmundus <zu P. Felix): Komm' doth!
P. Felix (reiBt siefa zusammen, soldatisch fast, und dann gemadit laut): Gute
Nadht, Herr Bezirksgeometer. Bis morgen fruh. Schlafen Sie gut. Und
traumen Sie ein wengerl von Ihrer Frau!
Pfaffinger (steht auf, Ergreift P. Felix' Hand und h2lt sie sehr fest. Wie
ein Ertrinkender) : Sie sind so gut zu mir g'wes'n. Und jetz' hab' ich
eine soldie Unruhe fiber Sie bringen mfissen!
P. Felix: Hat nidits zu sagen, Herr Bezirksgeometer. Nein —
wirklich !
Pfaffinger: Hat dodi etwas zu sagen, HodiwOrden Herr Pater
HtinriS Lautensadt • Das GtlUbdt
280
Felix! — Denn sdion der Gedanke daran — und venn's hundert-
mal die Frau von einem ganz andem ist und gar nidit Ihre eigene!
— aber sdion der Gedanke daran: unter Muselmannern! — Unter
Muselmannern!! — In deren Augen ein jedes veiblidie Wesen
ein Mensch zweiter Klasse ist! Dabei vermag sich so ein Mo-
hammedaner sein Para dies hinvlederum uberhaupt nicht anders
vorzustellen als voll lauter holdseliger Huris! Voll Huris! Was
ist das dodi fur ein Widersprudi!
P. Felix <mad»t'» Nun also — gute Nadht!
P. Edmundus: Gu' Nacbt, Herr Bezirksgeotneter !
P. Edmundus und P. Felix <ab>.
<Stflle.>
Pfaffinger: Na? Dann verd' icb midi eben audi dem heidnisdien
Morpheus in die Arme werfen. <Zu sidi selbcr. Sdion mchr im Sdilaf.)
P. Oswaldus (ausbreAend) : Lieber — lieber — lieber sah' idi ihn
gradaus morgen in aller Fruh' sdion als Heiligen Vater auf St. Petri
Stuhl in Rom — eh' idi ihm das vergonnen modit' — eh' idi ihm
das vergonn'
(Vorhang.)
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HeinricB Lautensadi ♦ Das Gefutde
281
ZWEITER AUFZUG
Das Amtszimmer des Pater Guardian.
Regale vol! Akten und Butbern. Betstubl. Heiligenbilder. Scbreibmastbine
und Telephon.
Vormittagssonne, von vrelcber der diesem Maria-Hilf gegenuberliegendc
St. Georgsberg mit der Straffeste Oberhaus erglanzt.
ERSTER AUFTRITT
PP. Burkhardus Guardian und Edmundus. Gegen Ende: Frater Max.
P. Guardian <der soeben zum vlerten Male eine telephonische Verbindung
mit dem Hotel Batauer Wolf anstrengte/ mit dem Amt sprechend): Wie? <Aber
dann nicfat im mindesten wutend. Vielmehr mit einer wahren EngelsgeduJd) : So?
Besetzt !
P. Edmundus <sitzt in einer Edce und liest sein Brevier).
P. Guardian <sein Auf- und Abgehen fortsetzend und dabei weitererzahlend . . .
So recbt von einer Reise zuruck. Voll noth von seinen Erlebnissen): Dieses
Innerarabien ist bis auf den heutigen Tag nodi vollig unerforsdrt.
So war unserm lieben Bruder Felix seine Frau Gemahlin also der
erste Europaer, der den FuD aus diesem dunkelsten alter Erdteile
. . . gludtlicb . . . gliiddich wieder herausgesetzt hat. Denn auf ahnliche
Art und Weise gewaltsam hineinversdileppt worden zu sein: dieses
Schidtsal mogen bereits vor ihr weldie erlitten haben. — Bei dem
letzten arabischen Stamm, bei dem sie an die dreieinhalb Jahr' auf-
gehalten war, hat sie ubrigens etwas wie die Wurde eines weib-
lichen Sdieiks bekleidet. Blofi, dafl sie aufierdem eben auch nur wieder
»die weifie Trophae« war, wie sie sie nannten, und weldien Namen
ein Stamm vom andern mit ihr ubernommen hatte.
P. Edmundus <aber wciterlesend) : >Die weiBe Trophaec?
P. Guardian: »Die weiBe Trophae«. Ja. Dabei ... dabei ist sie
nach unsern abendlandischen Begriffen heute nodi so braun wie
Bronze! Alles, was ihr gestern abend in der Zeitung iiber sie ge-
lesen habt, ist auf das parteipolitischste entstellt. Sie hat sich gestern,
wie wir zusammen von Alt-Oetling hieherfuhren, nodi maBlos dar-
uber geargert. Als ob sie nur ein — wenn audi recht widerhaariger —
aber eben doth nur ein ... ein ... ein .. . ein Betlhase gewesen
ware — ! Sie: die Generalmajorstochter — geborene von Ruchti —
282
HtinricB Lautensack • Das GefUBde
vereheliAte Grafin von Hilgartsberg — ! Naturlidi hatte sie auA
— milde ausgedruckt — HaremspfliAten. HaremspfliAten.
P. Edmundus <aber weiterlesend) : HaremspfliAten !
P. Guardian: HaremspfliAten. — Das hinderte aber niAt, daB
die braunen BursAen sie gleiAzeitig ais einen weibliAen Bis mar A
oder Cecil Rhodes verehrten! Und gerade deshalb, weil sie unter
jenen ewig kriegerisAen Leuten von modemer Strategic sowohl
etwas verstand, als auA in Friedenszeiten ein wenig staatsreforma-
torisA zu wirken versuAte: eben deshalb hat der letztcre Haupt-
ling dann auA ein so rasendes Losegeld verlangt. Und siehst du:
weil diese TatsaAe auA unsem deuts Aen , bislang ja noA gemafligten
FrauenreAtlerinnen ciniges Wasser auf ihre Muhle sein kdnnte,
darum haben die Zeitungen das alles vodig totgesAwiegen und ver-
breiten lieber diese einzig und allein naA einem arabisAen Haremszelt
duftende GesAiAte! (WQtcnd) : Dieses ... dieses MarAen aus ... aus
— grob gereAnet — dreitausendundeiner NaAt! — Das Regierungs-
organ, die BayerisAe Staatszeitung, hat diese Legendc am allerersten
aufgetisAt . . . und so AuAen's naturliA selbst auA unsere Zentrums-
blattl'n naA! <Stehcnbldbcnd> : Aber i glaub gar, du liest in dein'm
Brevier, wahrend i’ dir das all's erzahl' — ?
P. Edmundus <ohnc aufzusehcn) : IA lese den fur heute bestimmten
AbsAnitt aus unserer KirAengesAiAte. — Das . . . das . . . das ver-
leiht mir immerhin ein wenig GegengewiAt !
P. Guardian (stark akzentuicrend) : Sie hat es mir selber erzahlt:
* Als der SAeik einsah, daB niAts miA mehr bei ihnen halten kdnnte . . .
als es mir naA unsagliAen Anstrengungen gelungen war, Qber den
deutsAen Konsul in Aden die turkisAe Regierung zu benaAriAtigen
und endliA, endliA die Unterhandlungen eingeleitet wurden — : da
forderten sie das Losegeld in einer solAen niAt auszudenkenden
Hohe, um mir auf ihre Art zu beweisen, wie unendliA wert iA
ihnen geworden war!« Eine eAt morgenlandisAe Auffassung von
Kavaliertum! Aber das war dann wieder niAt unsympathisA von
den Herren Muselmannem : als endliA der eine von den funf Brfldem
der Grafin mit nur einem einzigen Regierungsvertreter in seiner aus
eigenen Mitteln zusammengeworbenen, ziemliA militarisAen Kara-
wane ankam, um seine SA wester abzuholen, da wollten die W listen-
HeinriS Lautensadi • Das GeCuBde 283
sohne nicht einmal eine Summe in einer Hohe von ihm annehmen,
wie man sie fur eine dreieinhalbjahrige Pension hier bei uns im
Okzident selbst in jeder kleineren Stadt uberall hatte bezahlen mussen !
Im Gegenteil : man fiberhaufte die Scheidende mit Absdiiedsgesdienken,
und sie scbleppte wohl zwanzigmal mehr Gepack mit in ihre Heimat,
als sie einst auf ihre ausgedehnte Hochzeitsreise um die ganze Welt
mitgenommen hatte! Wenn man ihren eigenen Angaben glauben will,
— - und sie will ja auch das meiste Mitgebrachte bayerischen Museen
uberweisen, — so muB ihr Zug dann zuruck durch die Wuste an-
nahernd dem der Konigin von Saba geglichen haben! <Und da aber
geht cr ans Tefephon und lautet, und es meldet sith auch sofort das Amt): Bitte
schon... Vielleicht gelingt's uns jetzt endlich/ zum funften Male...
Ich mothte die Nummer vom Hotel Batauer Wolf . . . Numero
sieb'nzehn/ ganz recht . . . Es wird namlich nachgerade auBerst
dringend . . .
<StilIe. Dann) :
P. Guardian: Wie? — Also ... is' dort der Batauer Wolf? —
Hier Pater Guardian vom Kloster Maria-Hilf. Ich modite die gnadigste
Frau Grafin von Hilgartsberg sprechen. Ja — ja — eben die Dame,
die idt gestern abend zu Ihnen ins Hotel 'bracht hab'. 1st sie schon
auf? Nun, das will ich meinen! Ich danke schon — ja, ja — ich
warte hier solange am Apparat —
(Wieder Stille.)
P. Guardian: WeiBt du net, ob dieser alte Herr Bezirksgeo-
meter Pfaffinger bereits aufg'stand'n is'?
P. Edmundus <immer wdterlesend) : Nein .. .
P. Guardian <behalt den Horer am Ohr, aber bededst die Sprecbmuscfael
mit der Hand. Und unwillkQrlicb leiser als zuvor): Ihr erster Gang, kaum
daB sie mit ihrem Bruder in Munchen bei ihren Eltem angekommen
war ... ihr allererster Gang war ... zum Zahnarzt — ! Das glitzt
nur so von lauter Goldplomben in ihrem Mund! - — Ich weiB das
von ihrem Bruder, der gestern mit in Alt-Oetting g'wes'n is', daB
sie nicht eher unter die Leute — ja, nicht einmal zu ihren nachsten
Verwandten zu bringen war, als bis daB ihr GebiB wieder tadellos
in Ordnung — <Er horcht.)
P. Edmundus <unterm Lesen) : Schonheitspflege . . .
is vol m/i
284
P. Guardian <rifrig>: Sie ist schon! Wie ich sie zum erstenmal
sah, da dacht' ich: den Mund voiler lauter Goldklumpdien hatte ihr
wohl einer ihrer arabisthen Hauptlinge — und set's unter Anwen-
dung von Gewalt! — anfertigen lassen. — Na ja — mir war doth
so, a!s hatt' ich einmal gelesen, daft sich schon die alten Agypter auf
die Kunst des Zahnplombierens verstanden hatten — <Er horcbt wieder.)
P. Bdmundus <l5dieJt>: Hm. (Aber liest writer.)
P. Guardian: In unserm Kloster in Mundien, in das unser lieber
Bruder Felix seinerzeit eingetreten ist, da ist die Grafin vergangenen
Samstag in Begleitung eines Gerichtsvollziehers erschienen — (Aber
da mill) er rasdi die vorhaltende Hand von der Sprechmuschef nehmen): Ja, hier
Pater Guardian. — Gnadigste Frau Grafin selbst? — Guten Morgen,
gnadigste Frau Grafin! Wie steht Ihr wertes Befinden? (MitfQhlend) :
Das kann ich sehr wohl verstehen! Wie? (Nickend): Ja, ich lasse Ihren
Herrn Gemahl zu mir kommen, sowie er fertig mit Messelesen ist.
<Gelaut drauBen) : Soeben lautet's bereits heilige Wandlung. <Er be-
kreuzigt si<b und sdilagt drrimal an die Brust. P. Edmundus flbrigens desgtridicn.
— Sodann): Konnen gnadigste Frau Grafin das Glockenzeichen nicht
durdt den Draht hindurdh horen? <Bedauernd>: Ad» ja, hier sind ja
die Fenster zu. <S<bflttelnd> : Nein, nein/ Ihr Herr Gemahl weifi nodi
von nidits. Nein. <Freudig biiligend): Das will ich meinen! Also —
bitte — bitte sehr — idi bitte recht sehr auf Wiedersehen.
<Er hordit nodi etwas und sagt dann, eh' er den Hdrer abnimmt und anhangt) :
Schlufi . . .
(Wieder kurzes Gelaute. Die beiden scblagen wieder dreimat an die Brust und
bekreuzigen sitb.)
P. Edmundus <zutiefst von innen heraus und aufstehend dabei): Idi bin
seinerzeit beim Bruder Felix seinem ersten heiligen MeOopfer dabei-
g'wes'n ... ich war' zu gern auch bei diesem seinem — seinem letzten
zugegeng'wes'n — !
P. Guardian <mit Bestimmtheit): Ich habe dich dazu ausersehen,
Bruder Edmundus, die Grafin zu empfangen. Sie hat mir ubrigens
grad g'sagt, es ware nicht eins von den beiden Mietsautos, die's
drunten in der Stadt gibt, aufzutreiben. Sie will mit einem Zwei-
spanner heraufkommen.
P. Edmundus <in der Nahe eines Fensters): Aber . . . was hast du
285
Heinri<£ Lautensadi • Das GefuBde
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g'sagt? Sie war' in unserm Munchener Kloster in Begleitung eines
Gerichtsvollziehers — ?
P. Guardian: Ja. — <Lustig>: Aber — wohlgemerkt — erst, nach-
dem sie sich die Zahne vollstandig plombieren hatte lassen! <Wieder
crnster): Nun — als das uberhaupt erste Lebenszeichen von da
drunten irgendwie durdi den deutschen Konsul oder was weiB idi
zu ihren Eltern nach Munchen gelangte, da erfuhren wir vom Kloster
noch kein Sterbensworterl von allem. Und der Bruder der Grafin
befand sidi langsl sdion in Konstantinopel oder wo, a!s der Herr
Generalmajor es endlich fur notwendig eraditete, ein paar wenige
Zeilen an seinen Schwiegersohn zu riditen, die man aber unserer-
seits fur eine pure Mystifikation gehalten hat. Eine sehr . . . sehr
geraume Zeit darauf kamen Telegramme von der Grafin selbst von
da drunten irgendwo an ihren Mann per Adresse Kapuzinerkloster
Munchen — und diese Depeschen beforderte der Herr Pater Guardian
in Munchen sogleich an den Pater Provinzial in Alt-Oetting. Kurz und
gut : nadidem all die Depeschiererei nidits gefruditet hatte und selbst
dann nodi nidit die mindeste Antwort vorlag, als die Grafin bereits
in Mundien eingetroffen war — da ging sie von ihrer letzten Sitzung
beim Zahnarzt stante pede zu Geridit. Sie beantragte eine Fesu
stellungsklage gegen unsern Orden/ eine Klage auf Wiederherstellung
der Ehe gegen ihren Gemahl/ und drangte auf — zumindest —
eine einstweilige Verfugung. Und da sie ja erstens einmal eine nidit
einmal so weit entfernte Nichte des bayeriscfien Justizministers ist und
zweitens niemand von unserm Orden auf eine noch so eilige Ladung
reagiert hatte, so fuhrte man irgendeinen ganzlidi uberflussigen Ge«
richtsbeschlufi herbei und gab ihr obendrein noch einen GerichtsvolF
zieher mit auf den Weg. Sie dachte ubrigens, noch als sie in Neu~
Oetting ankam, ihr Mann wiirde von unsern Oberen irgendwie
mittelalterlich festgehalten . . . umso grofier war ihre Verw underung,
wie ich ihr sogleich auf'm Bahnhof g'sagt hab: ,Er weiB uber»
haupt no' vo' nix!‘
P. Edmundus: Seit wann ... weiBt du davon?
P. Guardian <(a&elnd>: Seit ... dreizehn Monaten!
P. Edmundus <soviel wie mogiich an sick haltend): Das is' wahrhaftig
ein Stuck Mittelalter von euch g'wes'n, die Klausur in bezug auf
286
HfinriS Lautensad • Das Ge&bdt
sol die Briefe oder Depesdien so peinlidi streng gehandhabt zu
wissen —
P. Guardian: Der Pater Provinzial wollte — und das war sein
gutes Recht! — den Lebend-Beweis angetreten sehen ... das heiBt:
die Graft n sollte mit leidit zu besdiaffenden Papieren selbst kommen,
und dann hatte sie ihren Mann in derselbigen Viertelstunde in aller
Gfite ausgeliefert erhalten! Und auBerdem hab'n wir unsem lieben
Bruder Felix auf die Art vor einem langen, bangen Herwarten
versdiont — bis er eben vor der vollendeten Tatsathe zu stehen
vermag!
P. Edmundus: Idi glaub' aber eher, daB sidi Bruder Felix lieber
langsam darauf vorbereitet hatte —
P. Guardian: Nein! Sondem der war' auf die erste unverbQrg-
teste Nachrkht bin mit dem nadisten Blitzzug nadi der Turkei
'nunterg'saust — wie du audi in seinem Fall — und so wie idi —
und wie ein jeder! — So lebte er in seinem Gottesfrieden weiter...
bis sie nun kommt und sidi'n holt ... Idi dadite ubrigens, sie ware
unbesdireiblidi glfidriidi daruber, daB sidi alles derart gefugt hat, daB
sie ihren Mann die ganzen neun Jahre fiber als in einem Kloster
aufg'hob'n g'wes'n vorfindet. Wo sie ihn dodi uberhaupt's tot
glauben muBte, bis ihr Bruder mit der Freudenbotsdiaft kam: er lebt!
Aber mir sdieint im Gegenteil, wie wenn's ihr lieber g'wes'n war',
er hatt' sidi ... ein zweit's Mai verheiratet. Na ja — unberecfaen-
bar wie so Frauen eben sind . . .
P. Edmundus (denkt erst fiber das Gehorte nadi. Dann): Idi glaub',
ich kann's versteh'n —
P. Guardian <oberrasd»t) : Was?
P. Edmundus: Nun, eben dieses WunschgefQhl ihrerseits, daB
ihr Mann annahemd so etwas erlebt haben modite, als wie sie
selber zur Genuge und fiber Genuge durdigemadit hat. Sie mddite
lieber, daB ihr Mann wenigstens einmal mit einer andern verheiratet
g'wes'n war — wo sie, wenn audi gezwungenermaBen, mit so viel
andern Mannem — . <Er befreit sicfa von dem Gedanken) : Jede zweite Ehe
ihres Mannes, denkt sie, war' ja In dem Augenblick dodi ungfiltig,
in weldiem sie als erste Frau wieder auf der Bildfladie ersdieint.
P. Guardian: Aber ... aber ... und wenn sie mit ganz Arabien
HeinricB Lautensadi • Das Gef&6de
in dieser Zwischenzeit — gezwungenermafien ! — etwas g'habt hatt',
so ware das immer dodi nur purste force majeure g'wes’n, und ihre
Ehe wurde vor jedem deutschen Richter nichtsdestoweniger als immer
nodi zu Redit bestehend anerkannt werden — uber diesen Punkt
hat sie sich wohlweislidi ebenfalls zuvor genau erkundigt!
P. Edmundus: Immerhin ergibt sich fur mich daraus, dab sie ein
lebendigeres Gefuhl fur diesen Zwiespalt hat, als wie der Riditer,
der nadi dem toten Budistaben des Gesetzes urteilt: sie fuhlt sich
sdiuldiger, als wie sie die Meinung aller andern halt!
Frater Max <tritt ein. Unter GlockengelSute) : Die Messe ist aus.
P. Guardian: Hast du's ihm scfaon ausg'richt’t?
Frater Max: Herr Pater Felix geht soeben in die Sakristei.
P. Guardian: Dann aber lauf'. Max!
Frater Max <ab>.
P. Guardian: Ja also lieber Bruder Edmundus, du begibst
didi am g'scheit'sten sogleich auf dein'n Beobaditungsposten. Kannst
ruhig audi dort dein Brevier weitefles'n. Und — sowie du den
ersten Zweispanner die Strafi'n herauf erblidcst ... ein Auto, hat
sie g'sagt, war ja nicht aufzutreib'n ... <Er geht mit P. Edmundus zun»
andern — bis her nodi nicht benutzten — Ausgang.) W ie gsagt : der erste Ein*
spanner — oder Zweispanner . . . <Sie sind an der TQr.> Bruder Edmundus,
tut's dir denn gar so sehr weh, deinen Freund Felix verlieren zu mussen?
P. Edmundus <steht im Rahraen derTQr — in der Rlditung sum Ausgang —
also mit dem Rfldken zum Zuschauer. Er antwortet nicht. Aber da zudcen seine
Sdiuftern ein paarmai, and man hort ein lelses Schlucbzen — nur ein einziges —
und er faBt nach der Hand des P. Guardian und drOckt sie fest, ohne sich noch
einmal umzukehren, und geht hinaus).
ZWEITER AUFTRITT
P. Guardian. Bald darauf: P. Felix. Zwischenein: Frater Max.
P. Guardian <ist zu einem Betstuhl gegangen, der auch hierherinnen nicht
fehfen mag, und hat sich hingekniet und srirkt nun, wie er ein stilles Gehet mit
hochgefalteten HSnden betet, wie die Abbildung eines KlosterheiUgen. Dodb da
hort er etwen kommen und steht auf)-
Frater Max <erscheint mit Kaffee in schonem Porzellan, mit Br8tchen,
Butter, Honig und Marmelade. Stellt's auf einen Nebentisch und sagt): Ich hab’
Frater Michael nach der Sakristei geschicfct. <Und geht wieder.)
288
Heinri<6 Lautensadi • Das GefuSde
P. Guardian <dem es jetzt erst einfallt, nach nodi etwas zu fragcn, ruftnadb):
Max! <Aber cr resigniert eigentlich unterm Rufen sdion. Und in der Tat: er bleibt
ungehort.)
<StiIIe.)
P. Felix <tritt ein>.
P. Guardian <schncidet ihm jede Anrede ab>: Hast du nix g/hort
ist der Bezirksgeometer Pfaffinger sdton aufg'stand'n? <Und geht ihm
nun entgegen und gibt ihm die Hand): Ja also — du sollst dein/n Kaffee
hier bei mir trink7n. <Und beinah' fuhrt er ihn wie einen Knaben zum Neben-
tisch): So . . .
P. Felix (setzt sidi aber nicht, sondern gieBt sidi stehend Kaffee aus der Kanne
in die Tasse und tut auch weder Mildi no<h Zucker dazu, sondern trinkt das so
heiB wie es ist in einem einzigen Zuge aus.
Sodann): Du hast
• «
diese
Nadiricht da in'n Zeitungen . . . naturliefi ebenfalls bereits g'les'n?
P. Guardian: Sdion vorgestem. In Alt-Oetting. Aber genau die
gleidie Notiz. Sie geht durch alle moglicben Blatter.
P. Felix: Und . . . amiisiert . . . ! Was? Anders, als wie nur
eine blofie Anekdote. Sie geht einen irgendwie an, meint man, nidit?
Man wird wider Willen irgendwie mit hineingezogen, ja? Eben sehr
g'sdiickt g'madit, net wahr? Oder . . . oder hast du dem Zeugs etwa
audi nur einen Aug'nblick weitere . . . na ja, auf midi bezuglidie Be-
deutung beig'legt?
P. Guardian: I' hab's selbst net g'fund'n. I' bi' eig'ns drauf hi'*
g'wies'n wor'n. Durdi Pater Willibald — Auwarter, glaub' i', sdhreibt
er si'. Du kennst'n. Ihr zwei seid's mitsamm' eingekleidet wor'n. Und
der nun hat sogleidi an didi denken mussen, wie er's g'les'n hat.
Und es hat ihm einfadi kei' Ruh' mehr g'lass'n.
P. Felix: Genau so hat sidi bei mir nun einmal
seit dem
gestrig'n Ab'nd — dergleichen in'n Kopf g'setzt. <Er gieBt si* wieder
ein und trinkt.) Dafi es vielleicht doth moglidi sein konnte — ! Mit
ein'm Mai hat da etwas ang'fangen, sidi rein wie auszukristallisier'n
. . . idi kann's net anders nennen ... <Er setzt die Tasse klirrend hin.)
Denn . . . das mufit du dodi selber sag'n . . .: Kann die Klausur
nidit ausnahmsweise einmal so streng gehandhabt wer'n, dafl es
wirklidi moglidi sein konnte, dafi mir zum Beispiel nun einfadi alle
diesbeziiglidi'n Briefe oder Telegramme seit Monaten vorenthalten
wurden ?
Heinrich Lautensach • Das Gef&Bde 289
r f • * r < - r * - / r a r / ^ r* ’ i / ,■ ,r ■ /#« / ■ • . . / ■ / m / z » * / ■ / • - / ' ^ ^ r ' r. ryr
P. Guardian: Ausnahmsweise? — Das heiBt: in einem beson-
dercn Fall? — Na naturlidi!
P. Felix: ... Oder aber: mein Sdiwiegervater hatte es bis jetzt
nocb nidit fur notig befunden, midi audi nur das geringste davon
wiss'n zu lass'n!
P. Guardian: Hm.
P. Felix: ... Oder diese dritie Moglidikeit: meine Frau selber
wuBte langst, daB idi gleidifalls damals mit dem Leben davon'kommen
bin. Nur ... sie wurde sidi einfadi nidit im mindesten mehr um
midi kummern.
P, Guardian: Oh! Da konntest du aber fein auf Wiederher-
stellung der ehelichen Gemeinsdiaft klag'n!
P. Felix <sdiweigt eine Weile. Dann>: Ja also . . . das ist's, was idl
von dir erfahren wollte. Meine Vorbereitung auf den Priesterstand
ist damals — nidit zuletzt auf meine eigene Bitte — ziemlidi eilig be*
trieben wor'n. left war — idi hab' audi danadi gebuffelt! — in nodi
nidit zwei Jahr'n ausgeweihL Durfte midi unser Orden nun auf keinen
Fall langer einbehalten, falls — nur bloB angenommen! — meine
Frau plotzlicb wieder z'rudtkame und mich ausdriiddidi fordern wurde?
P. Guardian: Nein. Da durfte didi unser Orden auf gar keinen
Fall audi nur eine Minute langer einbehalten.
P. Felix <liBt siefa niefats anmerken, sondern schweigt nur einen AugenbUdt.
Sodann) : Namlich . . . Bruder Edmundus und idh hab'n gestem abend
noth uber dicsen Punkt g'sprodi'n und ... idi war zu wenig unter-
riditet . . .
P. Guardian: Hat Bruder Edmundus gestem abend nicht audi
fast in einem fort nodi in didi hineingeredet, du sollst gleidi heut'
in aller Fruh' ein Telegramm nadi MOndien aufgeb'n oder besser
nodi deinen Sthwiegervater direkt antelephonier'n?
P. Felix: Ja... aber wie wurde das aussehn! <Fest>: Nein!
P. Guardian: Namlidi... eben war Bruder Edmundus nodi ein-
mal hier bei mir: — wenn du nidit wolltest, sollte idi es aus eig'ner
Initiative tun!
P. Felix: Und... du hast's getan?
P. Guardian: Sowas wurd' idi mir ohne deine Einwilligung nie-
mals erlaubt hab'n!
290
Heinrid Lauttnsadi • Das GttUBde
P. Felix: Idi... danke dir...
(Btsher sprach und dachte er nidit ohne etoigen ROdchalt : dafi dun dor Pater
superior vlelldcht dodi irgendetoe Erfiffnung macben wQrde. Nun aber vergeht ihm
diese Erwartung, die soviet HofEnung als Befartbtung in sidi barg, and er wird
offener und gibt mehr von seinen Gedanken her): Bin wenig Unruhe <er
gieBt sidi nodi einmal ein und trtokt's wihrend des Polgenden) hat mir diese
gestrige Zeitungsnotiz aber doth verursadit: Das geb' ith zu.
P. Guardian <etwas sdiarf): Das gibst du also zu?
P. Felix: Aber nidit wie du etwa denkst. . . nidit dab kh dadite,
dab diese Frau da gerade meine Frau sein mflbte. Nur blob: wenn
das dieser irgendweldien Frau da, von der gestem in der Zeitung
zu les'n war, widerfahren sein konnte: ja warum denn dann der
meinig'n net ebensogut — ?!
P. Guardian: Ah so. Und... dab die deinige vielleicht heut' no'
da drunten sdimaditet — ?! <Steht auf): Und so hast du didi g'fragt,
ob du nidit vielleidit heut' nodi hinunterreis'n sollst in d' TOrkei und
nadi ihr forsdi'n?
P. Felix (adrfhtelt — mehrere Male — ganz langsam mit dem Kopf): Nadi
ihr forsdi'n? Das kam' heut... bei meiner Frau... viel z'spat Es
ist eine Frau anders wie die andere. Bs ist nidit jede Frau so als
wie diese da. Es ware nidit jede so kurzsichtig, in ihrer bloben end-
lichen Befreiung eine ausreichende Genugtuung fur so viele Jahre
Schmaditen in Sklaverei zu sehen ! Es gibt solche und solche Frauen.
Diese Frau da <er zleht die Zeitung aus seinem Armel hervor, schlagt die be-
wuBte Stelle auf und klatscht das Ganze veriidbttidi auf den Tisdi) ist vielleicht
geneigt zu glauben, das Phantom einer endlichen Befreiung konnt'
die Tatsache einer achtjahrigen Sklaverei vollig ungeschehen machen!
Wie wenn uberhaupt's gar nix g'wes'n war — ! <Er halt far eine Heine
Welle tone xind spricht dann erst welter): Die meinige . . . die hatt' sidi
auf'm Weg vom ersten Scheik bereits zum zweiten ... an ihren eig'nen
Haaren ... an einer Kamelleine . . . oder an einer Zeltschnur . . .
erwQrgt!!
P. Guardian (starrt ihn ratios an).
P. Felix: . . . erdrosselt!!
P. Guardian: So glaubst... du?!
P. Felix <unersdiQtterIicfa) : J a. — Und siehst du, B ruder Burkhardus
HwinriS Lauttnsadi • Das Gef&Sdt 291
. . . daB es mit dem alleinigen Tode des Ertrinkens, den sic doch
unbedingt vor Augen gehabt hatte, fur sie vielleicht nid»t genug
gewesen sein sollte — daB das Meer sie nodi einmai lebend aus-
warf, um daB sie dann, kaum erst gerettet, in nod) viel unbarm-
herzigerer Weise gar Hand an sid) selber legen muBte: Siehst du,
Bruder Burkhardus, daruber hab' ich fast kein Auge zutun konnen
diese ganze Nacht.
<Er zittcrt — vie ein Pfcrd — aber scion brim bloBen Ermessen der Strccke, die
er so oft and oft darchlief und nun nidit mehr erkennt, rin soldi' grausiges Ziel
bat sicb ibm fiber eine Nacbt anfgebaut) : DaB id) sie zweiTode hinter*
einander sterben lieB — <Aber nidit herausgescbrien, sondern wie von
unertrfigiichen Listen fiber ibm und in ihm erpreBt.)
P. Guardian (entsetzt): Du — ?! <Fa6t sicb wieder): Was hast du
getan — ? <Im Ton ermutigenden und hocbricbtenden Zusprucfas): Was red'st
du da — ? Felix — !
P. Felix {bart, bekenneriscb) : DaB id) auf die Art doppelt scbuld
an ihretn Tode bin.
P. Guardian <es treibt ihn hocb. Er geht zu ibm>: Bruder Felix —
P. Felix <voll ebensoldier Antriinahme / versicbernd) : Es weiB es nie»
mand. Keiner weiB es. Gar keiner . . . gar niemand . . , AuBer dem
Pater Guardian in Munch en, dem idi's einst gebeiditet hab . . . <Mit
scbmerzlicber Sribstironie) : Aber beruhige did) dod) ... Id) hab' meine
Frau nicht etwa vom Leben zum Tode befordert — so — mit der
geballten Faust . . . Es war viel heimlicher — und unheimlicher . . .
es is' viel hinterlistiger g'wes'n — viel feiger . . . Es war vielmehr
auf eine Art, wie sie in keinem Strafgesetzbud) vorg'seh'n is' . . .
Kein weldicher Richter hatt' mi' lang ang'hort, wenn ich mit meiner
Selbstanldag' zu ihm 'kommen war' . . . Nur uns're geistlichen Ober'n
hab'n mi' verstand'n . . . Es war namlich Mord — so — in
Gedanken — <Weh>: Ja, da schaugst', was?
P. Guardian: Lieber Bruder Felix —
P. Felix <mit wie nach innen gericbteten Augen): ... I' weiB net, WO i
war, wie unser Schiff den StoB . . . den TodesstoB empfangen hat,
den wir alle langst unabwendbar vor uns g'seh'n hab'n. Wir war'n
allemiteinander langst alarmiert g'wes'n/ es war'n lauter kleine ver-
zweifelte Gruppen von Zusammengehdrigen/ und am allerverzwei-
292
Hetnri<£ Lautensadi • Das GefuBde
'WWW m w w m w w W ' ' 4 I -
. / . y . . «44. 4..
feltsten hat sidi meine Frau an micfa 'klammert g'habt. Y weiB, wie
g'sagt, net, wo Ich in dem Augenbiidt der GewiBheit des Unter-
gangs g'wes'n bin, i' weiB bloB, daB i' da nimmer bei meiner Frau
g'wes'n bin . . . daB i' ihr davo'g'Iauf'n war. Und !<fi hab' midi audi
spater nur erinnern kdnnen, daB ich da grad ein Gelubde getan
hab' . . . aber weldier Art freilich, das kann ich nicht sag'n. Vielleicht
ein Gelubde, ein ganz bestimmtes/ vielleicht aber audi ffinfzig in
einem einzigen Atem/ vielleicht sogar hundert. — Jedenfalls lafit
sich fiber die Notwendigkeit eines Gelfibdes in einem solchen Augen-
blidc streiten, und es war einfach schon feige von mir, daB ich in
meiner Todesangst ein Gelubde getan hab' . . . oder hundert . . .
oder tausend, statt in dem Augenbiidt bei meiner Frau zu sein . . .
Dann horte ich mit einem Mai: »Die Frauen und Kinder in die
Rettungsboote . . !« Ich lief und lief. Ich lief, getrieben von dem plotz*
lichen SchuldbewuBtsein, daB meine Frau ohne midi niemals in ein
solches Boot gehen wurde. Ich lief — hdrst du? — , um meine Frau
in ein solches Boot hineinzuzwingen eventuell. Aber bei diesem
Gedanken angekommen, teilte sich's in mir schon wieder. Ich sah
zwei deutlidi verschiedene Moglichkeiten , wenn ich meine Frau in
das Rettungsboot zu anderen Frauen hineinzwang. Ich sah die eine
Moglichkeit, daB sie auf die Art mit dem Leben davonkame. Aber
mir tauschte sich audi — vielleicht gleichzeitig — die andere Mog*
lichkeit vor, dafi ich meine Frau dadurch loswfirde und mich dann
allein... selber ... besser zu retten vermdchte. — <Er 1st mit seinem
Urteil fiber sich fertig): Na, und wer als Mann solche Gedanken
gegenuber einer Frau aufzubringen vermag —
P. Guardian: Aber Bruder Felix, du zerstorst dich ja mit diesem
unvemunftigen Klugeln — ! Eine solche Zwiegeteiltheit hat jeder von
uns, wofern er nur einmal in einer soldi' lebensgefahrlichen Situa-
tion war, schon verspurt. Das ist ja gar keine Gedankensunde, sondem
das sind blofie . . . blode . . . auBerste ... bis zum Auflersten irritierte
Spiele des Selbsterhaltungstriebs. Das ist doch kein sGedankenmordc.
P. Felix: Ah — du! — Jeder ungebildete Matrose tut in diesem
Augenbiidt rein — ganz unverfalscht — das, was einzig eines Mannes
wfirdig ist. Und aber ich — ein koniglich bayerischer Offizier — unter-
lag derlei unwurdigsten Versuchungen. — Ein jeder Schiflsjunge
HeinriS LautensacB • Das GefuBde
293
kriegt's wohl sdion eingelemt, was er im Augenblick einer solchen
Gefahr... ganz medianisdi . . . zu tun hat: namlidi die Frauen und
Kinder zuerst in die rettenden Boote zu lassen. Aber idi — idi mufi
es heute wenigstens nachtraglidi annehmen — ich hab' von Anfang
an unbewufit mit dem verbrecherisdien Gedanken gespielt, weldie
Vorteile sidi fur midi daraus ergaben. — Ja, idi werd' es dir be-
weisen, Bruder Burkhardus, daB idi langst zuvor eine ganze Reihe
von Verbredien, von Gedankenverbredien, von Gefuhlsverbrechen,
wenigstens unbewufit, sdion begangen haben muflte.
P. Guardian <der immer mehr erleicbtert aussieht von seiner anfinglich ge-
hegten Furdit): Idi bin wirklidh begierig — auf den »Beweisc.
P. Felix: ...Wie idi horte, das Boot mit den Frauen und Kin-
dern — es konnte nur ein einzig's abgelassen werden — sei soeben
fort, da siegte das bessere • Gefflhl in mir und idi wunsdite ihnen
von Herzen glucklidie Fahrt. Aber das war vielleidit audi nur
wieder aus reiner Heudielei, aus purem Vor - mir - selber -sdion-da-
stehen-wollen, weil idi namlidi nodi mitten in der Todesgefahr
schwebte, ja weil sie fur midi nun erst eigentlidi riditig anging. —
In diesen voraussidhtlidi allerletzten Augenblick en meines Lebens —
ja! — da war idi »gut« ! war idi keines bosen Gedankens mehr
fahig! wunsdite idi der bereits Davongekommenen keinen Tod mehr
nach! war keine Spur von Neid mehr in mir daruber, dafi die viel-
leidit gerettet wurden Idi sprang dann selbst ins Wasser . . .
und rang und rang ... idi wurde mude . . . wurde muder und muder
und... ich darf wohl sagen: ich sdilief auf den Wellen ein, so
ohne Arges einem jeden andem zu wunschen, wie ein kleines
Kind — . Aber wie ich dann, aufs Land ausgeworfen, aufgewacht
bin — wie ich midi besann — midi dem Tode entronnen fand —
neu das Leben in mir spurte — : da hab' idi nidit bloB so im all—
gemeinen uber alle andem triumphiert, die sidierlich ertrunken waren,
sondem im besondem audi iiber meine Frau, namlidi, daB ich diese
so bald wieder nach unserer Hochzeit los und ledig sein
sollte — . Nidit so ausgesprodien zwar. Nicfat so ganz mit diesen
Worten. Aber dem Sinn nach war's jedenfalls genau dasselbe. —
Und wie idi dann in Aden erfahr'n hab', idi war', abg'sehn von
zwei Matrosen, tatsadilidi der einzig' gerettete Passagier: wieder ein
294
HeinriS Lautensadi • Das GefUBde
paar aussetzende Herzschlage lang dieser Jubel in mir — dieser
Wunsch, dafi es so sei — diese... ich kann's net anders sag'n als
wie... scblimmer nodi als wie morderische Sensation: Idi bin der
Einzige, der davon'kommen ist — Magst du mir auch deine Freund-
schaft aufkundig'n: icfa hab's dir sagen muss'n, Bruder Burkhardus.
P. Guardian: Ich seh darin immer den Mord nodi nidit, dessen
du dich bezichtigst.
P. Felix <s*ler grimmig): Dann werd' ich eben nodi deutlidier
werden mussen: wie damals in meiner Beicht' zum Munchner Pater
Guardian. — Idi hab' mir spater, wie sidi endlich das Gewissen in
mir meldete, alles rekonstruiert, was bereits wahrend unserer
dreizehn Tage Flitterwochen in mir g'wes'n war und gesturmt
hat te, eh' dann das Sdiiff unterging. — Ich bin zutiefst — im Aller-
innersten — nie glOddidi g'wes'n uber meine Heirat. Nie selig, wie's
so die Flitterwochen verlangen. Ich bin in meincm Unterbewufitsein
sicher schon am Morgen nach der Hochzeitsnacht zu dieser schauder-
haften Einsidit gekommen, da6 sich in mir alles emporte gegen diese
Institution der Ehe. — Im Unterbewufitsein, wohlverstanden . . . Na,
und wie besonders erst gegen diese ganz entsetzliche Elnrichtung
einer sogenannten Hochzeitsreise ! Na, und unsere Hochzeitsreise
sollte ja noch dazu gieich eine Reise um die ganze Welt sein.
P. Guardian: Das ist auch ein bisserl eine lange Hochzeitsreise
so gieich um die ganze Welt... (MiBbilligend.)
P. Felix: Ich hatte erstens einmal einen so langen Urlaub be-
kommen, weil ich im Dienst mit dem Motorrad Ungluck gehabt hatte.
Und zweitens sollte es
auf militarischen Befehl
zugleich eine
Studienreise sein/ das heifit, ich sollte bei meiner Ruckkehr einen
ausfuhrlichen dienstlichen Bericht mitbringen.
P. Guardian: So so. Na ja. Aber... (dozierend s*ier>: eine Reise
um die ganze Welt ist genau auf Tag, genauer: auf Stunde, ja
genauestens: auf Minute ausgerechnet von der untemehmenden
Schifiahrtsgesellschaft . . . nicht? Und da man ein Gieidies niemals mit
einer Hochzeitsreise tun soil, so soli man sich eben als Hochzeits-
reise niemals eine Reise um die ganze Welt vomehmen!
P. Felix (grObelnd zugebend): Dazu der unerhorte Luxus . . . in alien
Hotels... und wie erst auf'm Schiff... <Leise>: Und alles das auch
295
HeinriS Lautensadi * Das GefuBde
nodi vom angeheirateten Geld meiner Frau . . . Ja also, idi glaub',
idi fiab' sie gehafit — icb wunschte ihr sdion damals den Tod
unbewufit Und erst nadi d£r Sdiiffskatastrophe, und nadi-
dem sicb endlidi mein Gewissen regte, kam's mir zum Bewufitsein.
P. Guardian: Und diese Beidit' da hat der Pater Guardian in
Mundien von dir ang'nommen?
P. Felix: Und hat midi absolviert, indem er midi nodi dazu ge~
segnet hat, daB idi infolge von alien meinen Gewissensbissen den
fur mich einzig moglidien W eg gesucht und gefunden habe: namlidi
den ins Kloster.
P, Guardian <immer erregter — zurudtgehalten emporter) : Du bist also
ins Kloster 'gangen, ’weil didi dein inneres Benehmen zu deiner
Frau so sehr bedruckt hat, als wie wenn du sie gradaus ermordet
hattest?!
P. Felix: Ja. Und nidit etwa, weil idi damals auf dem SdiifF in
hodister Todesgefahr irgendwie ein Gelubde getan hab'. — Denn
das haben unsere Oberen nur so unter unsere Bruder ausgestreut,
dafi idi ins Kloster gegangen war', weil idi damals auf dem Sdiiff
zu Gott gebetet hatte: »LaB midi mit dem Leben davonkommen
und idi will kunftig ganz und gar dein Diener sein.c
P. Guardian <nach rinigen Sekunden Nachdenkcns) : Du weiBt, Bruder
Felix, dafi idi midi einigermafien mit Psychologic beschaftige.
P. Felix: Ja.
P. Guardian: Wenn idi dir's nun sdhwarz auf weifi zeigen
konnte, dafi man in der Psychologie soldi seltsame »Todes*
wunsdie«, wie sie genannt werden, langst kennt und ihnen aber
bei weitem nicht die Bedeutung zumifit, die du ihnen untergelegt
hast — ?! Wenn idi didi nun erst, lieber Bruder Felix, ganz und
gar freispredien konnte von dieser deiner vermeintlidien ver*
bredierisdien Tat — ?! Nicfats weiter als ein Assoziations*
zwang ist das auf der Hodizeitsreise von dir g'wes'n — !!
Weiter nix — !!
P. Felix <sdiuttelt sturam den Kopf).
P. Guardian: »Wenn der Bergsteiger mit einem Begleiter auf
steiler Hohe steht und in die jah abstiirzende Tiefe hinabsdiaut, so
kann er haufig den Gedanken nidit bannen, mit einer Beruhrung,
296
HeinriS Lauttttsad • Das G*(&6<ft
der man die Absicht kaum anzumerken brauchte, den Genossen in
den Abgrund ZU StoCen . . .*■ <Dai zitiot er — mit *ehr viel bayerizAer
Klangfarbe — von einem AmtsgeriAtsrat Dr. EriA Wuifen. Und writer): »Es
handelt sich hierbei um eine meist blitzartig aufleuditende Vor-
steliung, die sidi zum unbewuflten oder bewufiten Wunsdi nidit
immer verdichtet . . .« <Mit erhobener Stlmme): »Aber so zwingend kann
diese Gedankenverbindung auftreten, dafl der Freund neben dem
Freund . . . , der Gatte neben der Gatlin . . . , der Sohn neben dem
Vater die Vorstellung nidit auszusdialten vermag. Ja, es werden
Falie beriditet, daB Bhegatten auf der Hodizeitsreise diesem
Assoziationszwange beiderseitig — beiderseitig! — unter*
lagen.
Und das nennst du SGnde, Bruder Felix? Und de$
wegen bist du hier??
P. Felix: Leg's nodi einmal so wissensdiaftlicb aus: es bleibt
Sflnde. Bleibt Todsunde. Es 1st Mord. Und deswegen bin idi hier
und bu6e.
P. Guardian: Frei fuhlen sollst du dich von dieser vermeint-
lidien Scbuld! Laut ausschrei'n modit' idi diese deine vollige Un-
sdiuld! — Auf der Hodizeitsreise einen einmal gehegten selt-
samen Todeswunsdi, den sdireibt er
er naditraglidi in das
schwarzeste Budi und will dafur ein Leben lang bflBen
1
Ja'
weiBt du denn, wie oft vielleidit deine Frau neben dir g'leg'n is'
in den dreizehn Tagen — denselbigen Gedanken unbewufit hegcnd
und ihn dann mit einem gesunden Verlangen nadi einer neuerlidien
Umarmung einfadi abtdtend? — <Er empfindet gar niAt, daB cr damit
sAier vcrrit, daB er Ae Frau kennt !> — Aber idi geh' SOgar nodi einen
Sdiritt weiter.
Dieser einfache selfsame »Todeswunsdi«, den du
da hegtest, entstand aus weiter nix als aus deinem SelbsterhaU
tungstrieb! Durdi die Hodizeit sahst du didi als Individuum ge-
fahrdet. Die Flitterwodien kamen dir sdiwindelnder vor nodi als wie
der hodiste Berg und der gahnendste Abgrund. So glaub' mir doth
ein wenig, der idi ein bisserl was davon versteh'! — Und daher
der Assoziationszwang — ! — <Klagend>: Ja, warum hast du midi
denn net fruher in dieses dein vermeintlidies Verbredien eingeweiht — ? !
<Er sieht siA um. Als ob er erwaAte. Er sAaut auf die Uhr. Er kehrt wie zuruck
zu der TatsaAe, daB der Zweispinner mit der Grlfin langst auf dem Weg srir
HeinriS Lautensad • Das Gef&Bde
297
t************** * *+*+*0*0*****+*w0*+*+0*+*+*++w***++*0***4m0*+*am*9****sm**mm****+9+*+s*m*+*++s*s*****4*s* ******
kann — langst auf dem Weg sein mufi!): Und heute nadit — nadi dieser
gestrigen Zeitungsnotiz — hast du didi neu gefoltert — hast dir
dieses Bild gemalt, dafi deine Frau, wenn ihr Ahnliches begegnet
ware als wie der da in der Zeitung, . . . dab die sidi dann an ihren
eigenen Haaren erwurgt hatte.
P. Felix <stanv unbeugsam): Erdross'lt. Auf dem Weg vom
ersten Scheik bereits zum zweit'n. — An ihren eig'nen Haar'n —
an einer Kamelleine — oder an einer Zeltsdinur.
P. Guardian: Und selbst dieses hast du heut' die ganze Nadit
nur wieder auf Konto deines einstmalig'n seltsamen Todeswunsches
setzen zu mussen geglaubt.
P. Felix: Ja. Dafi, wenn's so war, wie's da steht, ...dab idi sie
dann gar zwei Tode hintereinander erleiden g'madit hab.
P. Guardian: Mit andem Worten: Du hast dieses unser Kloster
und dein Darinnensein fur nidits als ein freiwilliges Gefangnis
angesehn — ?!
P. Felix: Man soil doch das Kloster nidit mit ubeln Monisten-
traumen verwediseln. Sondern ein jeder von uns begab sidi irgend-
wie hinter diese Mauern, um Irdisches zu stihnen und sidi dadurdi
einst Himmlisdies zu verdienen.
<Da: Ein Auto hupt. Ganz nah. Fast umnittclbar untcr den geschlossenen Fenstern.
Es muB also drunten im Klosterhof sein/ muB durch das stets offene Tor dieser
groBen Wallfahrtsstatte hereingekommen sein, und die beiden Patres haben es nur
nidht hereinfahren horen, dieweil, wie gesagt, die Fenster geschlossen waren. —
Aber nun hupt es geradezu aufdringlidi.)
P. Guardian <no<h immer ahnungslos): Das mussen Fremde sein. —
Abcr denen wer' ich^S zeigen ! <Er geht an das eine Fenster. Offnet. Stutzt
aber wahrend des OfFnens schon. Und tritt dann schnell zuruck. Stammelnd):
Allmaditiger Gotr — !
(Man hdrt drunten eine Frauenstimme rufen. Es ist die der Grafin Helmtrudis):
*Horst!«
P. Felix: Wer rief da?
P, Guardian <zu Felix, auf dessen Stelle weisend, fast wie zu einem Hund):
Du bleibst dort!
P. Felix: Lafi mi' ans Fenster!
(Wieder Frauenstimme): *Horst!c
HeinridS Lauttnsad • Das GtfaSd*
P. Felix: T h5r' aber . . . tnein'n Namen! <Er admit in plstztt&cr
tranmhafter Erkmntnii anf. Wte ete Tier.)
(Fraucnztimme antwor tet) : »Horst! — Horst!*
P. Felix <zu einem viehUdicn Sprung anaetzend): Lieber B ruder Burk-
hard us —
(Fraoenztimme) : »Horst!<
P. Guardian <die Fenater dec kend): Du bleibst, sag' i' dir!
<Frauenstinune> : »Horst!«
P. Felix <eflt anf den andern zu/ rasend): Meine Frau is's — die
tnlt'm Auto kommen is' — !!
P. Guardian <den Anapnmg abprallen madtend): Na also — ja —
aber sie wollt' mit einem Zweispinner herauffahr'n.
<Sk iaaaen vondnander ab. So geknkfct geateht daa eratena eternal der Pater
aupcrior, and ao verrwdfelt erkitegt zwdtena von ncoem die Frauenatteune) :
»Horst! — Horst!*
P. Felix <irr, mit den Am nen fa<htelnd, wte dn Brtrinkender, wte nor bd
jeocm Sdiiffirantergang im Golf von Aden): Frau Grdfin von Hilgarts*
berg — 11! (Und er hat dte Arme writ aasgeworfen, wte zmn feterlichen Bmp-
fang, and dnen Augenblid Gber sdnem Kopf zusammengehalten — - gotisd* — so
wte dn Spitzbogenfenster. Nan sdil> er die Hftnde vor die Stirn and bedeckt
dann damit sefn Gesi<htr and es dardudiOttelt dm, and er weint, and er fitagt in
ganz xbweren Atemstftfien zu wdnen an. Sddodizt)
P. Guardian Ohm sttirzen ebenfalls dte TrSnen ans den Aagen): Gott
1st mein Zeuge, daB kb dacbte, es wzire nodi Zeit, um es dir all*
mahlicb , • . schonend beizubringen ... Ich mufite ja annebmen, daB
sie wirklicb mit einem Zweispanner kommt . . ♦ Sie bat's mir ja vorhin
nodi telephoniert . . .
P* Felix (gebt ans geftibete Penster. Man h5rt — aber non berths im Innern
des Haases: »Horst!« Und zwar das crste Mai wte herauf aos dem Keller.
Das zwdte and dritte Mai auf der gewonden emporfObrendca Stiege gedadit
Das dritte Mai — s<hon nah — den bailenden Korridor her.)
Pa Guardian <derwed zu P. Felix am Penster): Riditig die HSlfie der
Andacbtigen durcb den L&rm vom Auterl und so welter aus der
Kirch'n berausgelodct — ! I<h bin dodi dafQr verantwortlidh — !!
<Br sditebt P. Felix sadite zurfick und sdilteBt das Penster): So • • .
(Man b6rt Raas<hen von einem mondlnen Fraaenrotk. Man b6rt Trappsen
aadi von zwd M6nAssandaIen aaf (fen Pliesen. Die Tflr — vom allgemdnen Auf-
Heinrich Lautensack : • Das Ge(&Bde
299
tritt — offnet sidh* Man unterscheidet viellclAt noch ein ehrerbietigcs) : »GnadigSte
Frau Grafin . . .< (welches P. Edmundus sagt. Sodann stcht im Rahmen der TQr
Grafin Helmtrudis von Hilgartsberg.)
DRITTER AUFTRITT
Die Vorigen. Grafin Helmtrudis von Hilgartsbcrg. P. Edmundus.
Grafin Helmtrudis von Hilgartsberg <scbreit noch einmal):
Horst — ! <Aber das schrie sie no<h, ohne ihren Mann gesehen zu haben. Dann
aber gewahrt sie zwei bartige Monche in braunen Kutten und erkennt vorerst nur
den P. Guardian und orientiert sich gewissermaBen an ihm wie an einem Weg-
weiser. Also soil der andere wohl ihr Mann sein — *? Und da erst empfindet sie
das ganze tragische Gewidit dieses Wiedersehens. Sie steht wie gebannt und spricht) :
Auf einen soldi7 groflen Vollbart an dir war idi nidit vorbereitet,
— Wie ein fremder Mann . Idi hab' didi nur immer vor
Augen g'seh'n, wie du als Brautigam warst. Jetzt kann icb mich audi
daran nimmer erinnern — (Glaubig, vertrauend): Und dodi — —
bist du's.
P. Felix (starrt): Ja — idi. — <Die Starrheit lost sich. Mit ungeheurcr
Wildheit): Aber jetzt gleicfa sieben auf einmal von diesen semU
tischen Sdiweinehunden vor meiner Klinge haben — !! <Das war im
Kasernenton. Und er steht da wie ein Sabelfedbter. Und die Kutte flattert.)
Helmtrudis (aufschreiend) : Du bist's!! <Daran hat sie ihn wieder-
erkannt. Das schmeichelt ihr. Das tut ihr wohl. Das offnet allc ihre Schleusen in
ihrem Innem. Und sie fliegt in seine Arme und kufit seinen Mund. H&ngt an
seinen Schultcm und kQfit, wo sie nur hintrifft. Fafit ihn am Kopf und kufit. Biegt
ihn hintenuber und kQfit. Liegt auf ihm und tfber ihm — sozusagen — und kufit.
Und kufit alfemal, wohin sie grad mit ihren Lippen trifft.)
■<P. Guardian und P. Edmundus haben beim ersten Kufi schon gemacht, dafi sie
fortkamen.)
VIERTER AUFTRITT
Helmtrudis. P. Felix. Ohne P. Guardian und P. Edmundus.
Helmtrudis (sieht sich uni/ zieht ihren Geliebten bis zu einem Stuhl und
drangt ihn, Platz zu nehmen/ setzt sich dann auf seinen Schofi und kQfit, noch
einmal von vome anfangend. Holt sich dann einen zweiten Stuhl herbei, setzt sich
auf diesen ganz nah zu ihrem Mann, biegt seinen Oberkorper heruber-herunter
und kufit. — Aber alles stumm, ohne etwa zu keuchen. Stumm yielmehr so wie
eine Arbeit oder ein Geschaft, und mit eben demselben Ernst . . . Schliefilich be-
freit sich P. Felix sachte und steht auf und gcht ziemlich weit von ihr weg.)
20 Voi. m/i
300
Heinrid Lautensad • Das GefuSde
Helmtrudis (aber nidit girrend): Du hast midi nod) kcin einzig's
Mai wiedergekuBt! <Sie konstatiert's hochstens cin wenig verwundert, — sie:
die ausgetrodcnet ist wie Sand in der WQste und hier zu ihrem Quell zurfldc-
fand — / aber aucb nidit etwa gleidi die Gestrenge hervorkehrend.)
P. Felix (ruhig) : Bedenke das Kleid, das id) trage.
Helmtrudis <und audi hier wieder nur Frau. Aber ohne Pantoffel): Den
Bart laBt du dir heut' nodi abnehmen.
P. Felix <zu«kt zusammen).
Helmtrudis <so vie cben eine Dame ihresgleidien) : Und wir bleiben
heut', morg'n und ubermorg'n nodi hier in Batau im Hotel Wolf.
— Denn das wirst du mir wohl zugeb'n, daB du erst wieder einiger-
maBen reprasentierfahig g'madit wer'n muBt . . .
P. Felix <«tarrt).
Helmtrudis <ihn immer nodi ansehend): Was icb alles Kapuziner
in den letzten Tagen g'sehen hab' — ! (Sie geht wieder zu ihm hin, wie
um sidi zu vergewissern, ob er’s aucb sei. HeiB verlangcnd) : Kuss' midi ! Du !
So kuss' midi dodi ! Oder . . . oder hab' icfa mir das nidit einiger*
mafien . . . verdient — ?! (Das letztere war immerhin wie ein Sdirei.)
P. Felix: Denk' dodi an mein Gewand, das ich immer nodi trag'.
Helmtrudis (ihn ansehend. Tief): Entsdiuldige , bitte. — Aber ...
selbst nidit ein einziges Wort des Bedauems hast du bis jetzt fur
midi gefunden.
P. Felix (wider Willen ein wenig strenger): Es sind noch keine zehn
Minuten her, daB idi erfahren habe, daB du mir uberhaupt nodi lebst. —
Also sei kein kleines Kind, das bedauert sein will. — (Ebenso wider-
willig nun ein wenig weidner, fast zartliA): Idi freu' mid) nur idi freu'
midi, Helmtrud fur d idi wie fur einen jeden Menschen —
— und aber naturlidi noch viel mehr fur dich. — (Es ist da eine sdiier
unendliche Sdieu, die er erst bezwingen mull. Wie zu einem Kind): Na, und
— ja — naturlidi naturlidi bedauer' idi dich auch —
Soweit man sidi als Mensdi sowohl freuen als in diesem Falle
auch bedauern darf Gleidiwohl muBt du bedenken, daB
Gott dir die Prufung schickte — das mussen wir alle bedenken. —
(Und jetzt erst reidit er ihr die Hand): Nun also — — liebe Helmtrud
wie geht's dir — ?
Helmtrudis: Ich ... danke dir. (Sie drOckt seine Hand. Kampft ganz
Heinricf) Lautensadi • Das GefuBde
301
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siAtliA dagegen an, mehr zu tun oder zu verlangen, das ihr gctan werde/ kampft an
dagcgcn, si A ihm an den Hals zu werfen oder umgefaBt zu wcrdcn. Und fangt
nun doA zu weincn an. PlotzliA. Wie cin Fruhlingsregcn.)
P. Felix: Seit wann ... bist du zuruck ... von da drunten?
Helmtrudis <weint noA mchr. Vcrbirgt wcincnd ihr GesiAt).
P. Felix: Bist du heute morgen erst hierher nadi Batau ge-
kommen? — Idi . . . idi . . . ich . . . ich weiB dodi nodi von gar
nix — !
Helmtrudis (sicht ihn unter hcllem Weinen an>: Gestern abend . . .
Von Alt-Oetting ... Mit deinem Freund, dem Pater Guardian . . .
<SAIuAzend.>
P. Felix: So so. Gestern abend sdion. Und von Alt-Oetting. —
Vom Pater Provinzial?
Helmtrudis (weint niAt linger, sondern suAt viclmchr die Tranenspurcn
zu tiigen, indem sie ins geknOllte TasAcntQAlcin hauAt und es dann vor ihre Augen
preBt) : Du hast nie . . . nidit eins der Telegramme von mir be-
kommen?!
<Da klopft's.)
FQNFTER AlIFTRITT
Helmtrudis. P. Felix. Frater Max. Bald darauf P. Guardian.
Felix: Salve.
Frater Max <trit t ein>: Herr Pater Guardian
P. Felix <weiA>: Sag' ihm. Maxi, wir erwarten den Herrn Pater
Guardian.
Frater Max <als ob er jetzt erst erfuhre, dafi das ein Graf ist — mit solAen
Augen ab. Stille. Eine GIoAe sAlagt).
P. Guardian <kommt zuruA): Verehrteste gnadigste Frau Grafin
Sie hab'n ja also doth noth ein Auterl bekommen. — <Zu
P. Felix): Lieber Bruder Felix... Idi hab', dab deine Frau Gemahlin
lebte, vor soviet Monaten sdion erfahr'n . . . Aber ich durlte nidit
spredien . . . Mir war nidit weniger Gehorsam auferlegt, als wie sie
von dir verlangt haben, ohne daB du uberhaupt's was g'wuBt hast.
P. Felix <forsAt in des Andern GesiAt): Ich versteh’, lieber Bruder
Burkhardus. — (Er betont diese drei Worte der Anrede. Er zumt niAt.)
P. Guardian: Und nun, Bruder Felix, es ist alles bereit fur dich
. ..zum Umzieh'n . . . Bruder Edmundus erwartet didi in deiner Zelle
r
T
Htinrid Lautensadi • Das GefQ6cft
. . . Deine Frau Gemahlin und ich haben's so miteinander besprodi'n,
daB dein eigener Anzug von vor neun Jahren dir doth nicht mehr
passen durfte . . . Aber er ist da/ er ist vom Kloster in Mundien
g'sdiickt wor'n . . . Nun haben deine Frau Gemahlin und ich zu-
sammen einen nadi meinem Mafi gestern noch in Alt-Oetting ge*
kauft . . .
P. Felix: ... in meiner Zelle, sagst du war' alles — ?
<P. Felix ist bereits im Gehen. P. Guardian geht ein paar Schritte mit.)
P. Guardian: Ja, Bruder Felix <Er bleibt stehen, wie wenn er
nidit weiterkSnnte. Und sdiier ausbrecbend) : Bruder — !!
<Sie reichen sicfa die HSnde.)
P. Felix <geht, ohne einen Blick auf seine Frau).
SECHSTER AUFTRITT
Helmtrudis. P. Guardian. Ohne P. Felix.
P. Guardian <zu Helmtrudis): Ich will namlich, daB er sich erst um-
zieht, eh' er Abschied vpn den Brudem nimmt ... Es ist da, wie
idi Ihnen, gnadigste Frau Grafin, schon einmal im Vertrauen sagte,
eine kleine Parteienspaltung . . . Einige von den Brudern — Gott
mog' es ihnen vergeben ! — wollten ihm in ihren Herzen nie so recht
wohl ... V ielleidit weg'n seiner hohen Abstammupg . . . llmso gludc-
licher schatzte idi midi . . . schatzten Pater Edmundus und idi uns,
ihm Freund sein zu durfen . . .
Helmtrudis <ihm die Hand reidiend): Idi danke Ihnen, hochwurdiger
Herr Pater Guardian.
SIEBENTER AUFTRITT
Die Vorigen. Nacheinander: P. Konradus. P. Bruno. P. Osvaldus.
P. Evaristus. Ein wenig spSter: P. Edmundus.
P. Konradus <tritt ein. Sonor): Gelobt sei Jesus Christus,
Helmtrudis: In alle Ewigkeit, Amen.
P. Bruno <tritt ein): Gelobt sei Jesus Christus.
P. Oswaldus (tritt ein): Gelobt sei Jesus Christus.
P. Evaristus <tritt ein): Gelobt sei Jesus Christus.
<AlIe drei ein wenig gleicfareitig. Mit ihren Stimmen untereinandcrlautend.)
Helmtrudis: In alle Ewigkeit, Amen . . .
P. Guardian: Gestatten Sie, gnadigste Frau Grafin . . . <Er stellt
303
HeinricS Lautensadi • Das GeftiBde
<vor: Herr Pater Konrad us — Herr Pater Bruno — Herr Pater Os-
waldus — Herr Pater Evaristus Frau Grafin von Hilgartsberg,
die Gemahlin unseres lieben — bisherigen — Bruders Felix.
Helmtrudis <neigt das Kopfchen).
P. Oswaldus <rauspert sich erregt unterm Verbeugen).
P. Edmundus <kommt herein).
P. Guardian <lieber — zur Vorslcht — ncxh einmal miteinander bekannt
macbend) : Herr Pater Edmundus.
Helmtrudis <geht auf ihn zu, reicht ihm die Hand herziidi und schier ein
wenig ostentativ): Aber wir kennen uns ja bereits. — <Sie sieht ihm in
die Augen): Haben Sie nodi einmal Dank, hochwfirdiger Herr Pater,
fur die treue Freundsdiaft, die Sie <Sie vollendet den Satz nidit)
<PP. Konradus, Bruno, Oswaldus und Evaristus: die sehen angestrengt weg.)
P. Guardian <man hat den glanzenden Prediger zu merken, nur dab er hier
schier ein biftchen militarisch spricfat): Lieben Brfider. Von einem der Unse-
rigen heifit's Abscbied nehmen. Unerwartet fur Sie. Unsere Oberen
haben es so gewollt, dafi Sie von nidits erfuhren, was seit langem
spielte. Ja, nidit einmal derjenige, den's am meisten anging! Aber
gerade er hat Gehorsam gehalten, wie er gelobt. Und uns kommt
es zu, ein Vorbild zur Nacheiferung in ihm zu sehen. Und idi darf
wohl behaupten, er war uns uberhaupt immer ein Vorbild gewesen.
Schon allein durdi die Art, wie ihn Gott zu uns hereinsdiickte und
ihn all die Jahre fiber — in Demut — hier mit uns leben hiefi. Der
Herr hat ihn uns gegeben! Der Herr hat ihn uns nun wieder ge»
nommen! Der Name des Herrn sei gelobt!
P. Edmundus <ais Einziger, stark): Amen.
P. Guardian <sid> umsehend): Wo 1st Pater Rodius?
P. Felix (tritt ein).
ACHTER AUFTRITT
Die Vorigen. P. Felix. Bald darauf: P. Rochas.
P. Felix <wohl noth im Bart. Aber im Zivilanzug, und zwar scheint er docfa
seinen eigenen von vor neun Jahren angezogen zu haben, der ihm aber nun nicht
etwa grotesk zu klein sein darf. Sondero er muB nur einen etwas aus der Mode
geratenen Zuschnitt — von 1904 — aufweisen/ dafflr aber typisch fOr einen Offizier
sein, der sicfa — im BegrifF, eine reiche Ehe einzugehen — fOr eine ausgedehnte
Hodizeitsrdse equipiert... Dazu tr5gt er den 1913 grad aufgekommenen »Schiller-
kragenc, der Hals und schier aucfa Brust freilafit . . .)
304 HtittriS Lauttnsadi • Das GeftlBde
Helmtrudis <sd>reit auf>: Ich kenn' doA den Anzug — ! Von da-
mals — ! Vom SAiffsuntergang — ! Das Einzige, was du gerettet
hast — ! Den hast du ang'habt — !
P. Felix <geniert fast. Zu seiner Frau und zu P. Guardian) : Den ihr zwei
gestem in Alt-Oetting fur miA gekauft habt <Er is&elt. Zu P.
Guardian): Verzeih, lieber Bruder Burkhardus (Und wieder zu
seiner Frau): Und er paflt mir ja auA no A.
P. Guardian: Den SAillerkragen , den neumodisAen, den hab'
aber iA niAt gewahlt, — <Er sagte das : feicht humorist isd> protestierend.) —
Das war SaAe deiner Frau. — Ja, den hat sie sAon aus MunAen
mitgebraAt. — <Heiter): Zumal einen sol A heidnisAen, ja bei-
nah' siindigen Kragen, den hatten wir ja auA in dem ganzen frommen
Wallfahrtsort Alt-Oetting auf gar keinen Fall fur diA bekommen.
P. Felix (sinnend): Er sAeint mir ja selber auA ein bisserl zu »frei«.
Helmtrudis <versd>Smt. ErglQhend. Braut): Ja, aber . , , wie sollt* iA
denn... jemals... deine Kragennummer . . , deine Halsweite so
genau g'wuflt hab'n
P. Guardian <(adit, so redjt gutmfitig).
P. Felix <um es kurz zu madten): Also. Lieben Brflder. Allen euA
ohne Ausnahme meinen Dank. Der iA doA, reAt betraAtet,
hier nur ein Eindringling war in euerer GemeinsAaft. Meinen
Dank dafur, da8 ihr miA geduldet habt. Obwohl, wie siA's jetzt
erst herausstellt — obwohl iA niemals gultig zu euA hergehorte.
Ihr mOfit eben bedenken, Bruder, dafi Gott es in seinem unerforsA-
liAen RatsAluB so gewollt hat Und darum: zurnt mir niAt naA,
wofern iA euA, gewiB unsAuldigerweise, ein Argemis gegeben
haben sollte.
P. RoAus <ist bei den allerersten obigen Worten von P. Felix, eingetrcten)
P. Edmundus: Vielmehr ein Beispiel, lieber Bruder Felix, warst
du uns von je. Und solltest es uns auA von Gott gegeben ge»
wesen sein.
P. RoAus <drangt si* vor): Eine Frage, die mit dem ferner'n Seelen-
heil unsers ehemaligen Bruders — Felix — zusammenhangr.
P. Felix (vorstellend) : Herr Pater RoAus — meine Frau.
P. RoAus: Angenehm.
P. Guardian: Was fur eine Frage, Pater RoAus?
305
HeinriS Lautensadi • Das Gef&Bde
P. Rod) us <ewig dabd an seiner groBen Hornbrille rQckend): Id) mddite
gem ohne weiteres annehmen, daB unser ehemaliger Bruder Felix
von selber weifi, unter welchen Sonderbedingungen er sein wieder-
aufzunehmendes ehelid)es Zusammenleben mit seiner Frau fortzu-
setzen hat.
(Alle wissen's. Und man merkt's, daB sie's wissen. Mit Ausnahme vom Betroffenen :)
P. Felix: Id) weiB von nid)ts.
<PP. Konradus, Bruno. Oswaldus und Evaristus stedeen die K6pfe zusammen.)
P, Rodius: Id) kam soeben ein wenig zu spat. Idi dad)te, daB
die so notige Aufklarung bereits stattgehabt hatte. Erlaube mir aber
vorsidttigerweise dodi nodi einmal zu fragen. Wir konnen unsern
ehemaligen Bruder Felix so nid)t ziehen lassen. Sie, Herr
Graf, waren nicht nur so ein bloBer Bindringling. Sondem Sie
waren nun einmal Priester und Mdnd), Und so bleibt infolge
Ihres einmal getanen Gelubdes ein Rest von Bindendem. <Denn doA
einen Augenblick unsidier): Aber id) dad)te, der Herr Graf als ehemaliger
Pater Felix wuflt' es.
P. Edmundus: Bruder Felix hat seine geistlidien Studien da-
mals in zwei Jahren voll fiebemder Arbeit und Qberarbeit vollendet.
Mir ist jener Passus aus dem . . . Kircfaenrecht wohl gegenwartig.
Aber id) glaube, es genugt ein bloBer Hinweis, daB Bruder Felix
die betreffende Stelle nadisdilagen soil! — Er wird fortan von ganz
alleinig wissen, was er zu tun und zu lassen hat.
P. Felix: Id) weiB ... von nix! Ich . . . erinner mid) aud) garnet.
P. Rochus: Es geht urns Seelenheil unseres ehemaligen Bruders
Felix. Unkenntnis sdhutzt aud) in diesem Falle nidit vor Strafe.
Wir machen uns zu Mitsthuldigen, wenn wir den gunstigen
Augenblick ungenutzt vorObergehen lassen. Denn zum groBen Gluck
ist auch seine Ehefrau soeben gegenwartig. <Besdiworen<l> : Ja, Hen-
Pater Edmundus, wie konnen Sie es zulassen wollen, daB der ehe»
malige Herr Pater Felix — Ihr bester Freund! — sefcon in der
nachsten halben Stunde vielleicht strauchelt und in Todsunde
fallt — ?! — Id) habe mid) vorhin verspatet, weil id) das Bud) sudite.
Id) fand's aber in der ganzen Bibliothek nirgends. Dabei hab' idt's
vor einigen Tagen nod) zum Nachschlagen g7habt. <Er hat fortwahrend
am BQdierregal gesudit): Hier ist es! — <Er blattert. Er findet gar bald die
306
Heinrtd La u ten sad • Das GtfiiSde
Strife. Er spriAt's auswcndig): Dicsc beiden Bheleute durfen sonst zwar
leben mitdnander wie zwe i andcre Ehelcute auch. Hicr steht's: Nur
darf dcr Mann als ehemaliger Pricster und Mdnch den ehelidien
Verkehr wohl leisten — nicht aber fordern
P. Felix <stcht da, siA gerade noA beherrsAend. Ansonst w3r' er diesem
P. RoAus wohl an Ae Kehlc gesprungen).
Helmtrudis (sieht wic in einem Traum um siA).
P. Felix <der Zorn legt si A. Er kommt wieder zur Vemunft. Er hegrrift den
vorgriesencn Passus, an den er siA nun doA a us der Studienzeit erinnert. — Wie
meAanisA): Nun . . . <wic zu lauter SAwerhorigen) : lebt wohl, Bruder — ! !
<Er gibt erst P. RoAus die Hand. Dann P. Konradus, P. Bruno, P. Oswaldus
und P. Evaristus. Hierauf P. Burkhardus, der An an siA zieht und erst auf beide
Wangen und dann auf den Mund kGBt. Zuletzt P. Edmundus, der laut aufweint.)
Helmtrudis (vcrneigt siA vor alien mit cinem einzigen Neigen).
P. Felix (ftihrt Helmtrudis hinaus).
P. Edmundus <sAreit laut).
NEUNTER AUFTRITT
Die Vorigen. Ohne P. Felix und Helmtrudis.
P. Guardian <befehlend>: Betet, ihr Bruder, far Bruder Felix betet,
der uns verlafit. Bruder Edmundus, hebe dein Herz auf zu Gott.
Betet, ihr Bruder. Fur unsem Bruder Felix.
(Alle Ae PP. naAeinander ab. Zuletzt P. Edmundus. Nur P. Guardian bleibt.)
P. Guardian <geht erst ans Tefephon. Nimmt bereits den Horer ab. Aber
dann legt er ihn doA wieder hin. Es zieht ihn zum Fenster. Auto fahrt hupend ab).
P. Guardian <geht sAwer — wie ein Kranker — wieder zum Tefephon.
Nimmt den HSrer ab. EnAiA meldet siA das Amt) ; Ein Ferngesprach, Frau*
lein Hier Kloster Maria-Hilf, let mochte eine Verbindung — sehr
rich tig — wieder einmal mit Alt^Oetting . . .
(Man hort sonor das Gebet der MonAe. — In der offenen Tflr ersAeint Fratcr Max.)
P. Guardian (mit dem Amt spreAend): Wie? (Er gewahrt Frater Max.)
Frater Max: Der Herr Bezirksgeometer Pfaffinger.
P. Guardian (wahrend er ihm mit der Hand abwinkt/ spreAend): Ja?
(Sonor das Gebet der MonAe.)
(Vorhang.)
Htinrid La u ten sad • Das Gefafxfe 307
DRITTER AUFZUG
Wohn-, mit redits anstofiendem Scblafztmmer im Hotel Batauer Wolf.
Mit einiger MQhe sieht man durdi das eine Fenster wenigstens rechts hinten Ober
vollbelaubte Kastanienbaumwipfel, diarakteristische Hausdacber und stadtwahr-
zeicbenhafte KirchtQrme hinweg ein StOcfechen des Kapuzinerklosters auf dem
Mariahiffsberge.
ERSTER AUFTRITT
Grafin Helmtrudis. Justizrat Dr. Kreidle. Ein Postbote.
Helmtrudis (unterschreibt Empfangsbestatigungen. Sucht hastig wo na<b
einem Trinkgeld fQr den Postboten. Gibt>.
Postbote: I' dank' sdio', Frau Grafin. — Adjeh. (Ab.>
Helmtrudis (sieht die Firmenaufdrudce auf einigen Briefen. Erbridit sie Qber-
haupt nicht, sondern legt sie — angeekelt — seitwarts. — Zwiscben Helmtrudis
und Justizrat Dr. Kreidle liegt ein Buch: genau von Format und Didte dasselbe
wie das Kinbenrecbt am Ende des zweiten Aufzugs. Nur dab es ein ganz neues
und ganz anders gebundenes Exemplar ist. — Die Grafin sitzt hofinungslos/ to
Begriffe, alles aufzugeben): Ja, also . . . dann . . . mein lieber Herr Justiz-
rat.. .
Kreidle: Verehrteste gnadigste Frau Grafin — ! — Sie durfen
versidiert sein, wie auf das tiefste midi der Fall beruhrt — mensdi-
licb. Allein — juristisdi gibt's da beim besten Willen nidits zu
machen.
Helmtrudis (ringt im Geiste die Hande) : Nidits.
Kreidle: Beim besten Willen nidits. — Idh kann wohl sagen, dafi
idi midi seit meiner Examenszeit nidit mehr mit dem Kirdienredit
befafit habe. Aber . . . das ist mir vielleidit jetzt erst vollstandig klar
geworden, wie bei aller Resignation des kanoniscben Redits in bezug
auf die notgedrungene Anpassung an das Staatsredit da dodi nodi
ein Rest geblieben ist — ein Restcfaen — ein ganz unsdiein-
bares — in Form eines wie nebensadilidien Zusatzes — ein...
ein . . . ein . . . ein einziges kleines Staubkom, ein versdiwindendes,
sozusagen in der grofien Wustenei des katholisdien Kirdienredits . . ■
denn das ist zum groflen Teil heute Wuste — Trummerstatte —
unfruditbar gewordene . . . und mit einem Male erweist sidi dieses
Staubkom von einer Gewalt wie ein Wall, ein hindemder, wie eine
unuberwindlidie Wehr ja, es ist sdilediterdings wie ein gott-
308
Hemru£ Lautensad ■ Das GefUBdt
lidies Wunder gan z danadi angetan, einen schlimmstenHeiden
plotzlidi zum alleinseligmadienden Glauben zu bekehren. — Icfa werde
versuchen, midi etwas nuchtemer auszudrudten. — Ihr graflidier Herr
Gemalii ist in der irrtumlidien — Gott sei Dank irrtumlidien! —
Meinung, daft Sie, gnadigste Frau Grafin, todlidi verungluckt seien,
Ordenspriester geworden. Das heiflt: er hat die drei Gelubde — das
heilige Verspredien der steten Keuschheit, der freiwilligen Armut
und des vollkommenen Gehorsams — abgelegt, die fur einen jeden
ewig bindend sind, sofern keine wissentlichen oder auch unbewuBten
Hindemisse vorliegen. Da stellt es sich mit einem Male heraus, daft
gnadigste Frau Grafin nodi am Leben sind . . . und da nun gibt selbst
das kanonisdie Redit zu, daft das abgelegte Gelubde dadurdi illu-
sorisdi wird und der Ehemann, der ja der Herr Graf in diesem
Falle immer nodi ist, nadi dem geltenden Staatsrecht seine Ehe mit
seiner Ehefrau wiederherstellen muft. — Das ist — vielleidit! — idi
weifi midi im Augenblitk nidit so sehr daruber orientiert das
ist vielleidit eine nur notgedrungene Konzession des katholisdhen
Kirdienredits gegenuber dem StaatsrediL Vielleidit aber audi nidit . . .
Ich bin wahrhaftig nidit so sehr darin besdilagen . . . Jedenfalls indes
— ob die katholiscfae Kirdie nun einen eidlich erklarten Priester-
und Ordensmann freiwillig aus den Klostermauern ziehen laflt oder
nidit freiwillig! — sieht da das katholisdie Kirdienredit eine kleine
Klausel vor — eine versdiwindend kleine — sdieinbar ver-
schwindend — und doth von grofiter Tragweite — einen Ruf —
h allend — direkt dem mensdilidien Gewissen in die Ohren
knallend — : »Gut. Du hast nidit wissen kdnnen, dafi deine Frau
nodi lebt. Nun ist sie wieder erschienen. Setze also pfliditsdhuldigst
deine fruhere Ehe mit ihr fort. Aber einmal — und wenn audi
drauften vor der Welt ungultig — hast du dodi unter anderem das
heilige Verspredien der steten Keuschheit abgegeben. Wir mussen
didi nach dem obwaltenden Staatsgesetz von diesem deinem Keusdi*'
heitsgelObde entbinden. Aber wir appellieren niditsdestoweniger an
dein Gewissen. Und — ja, sag' einmal — hast du nidit unter
anderm audi uns einstmals vollkommenen Gehorsam gesdiworen?!
Also: Dein Gewissen ist nidit frei. Ist es wenigstens nidit
mehr. Nidit mehr so ganz. Deshalb auferlegen wir dir: Setze du
HeinriS Lautensad • Das GefuBde 309
ruhig deine fruhere Ehe mit deiner Frau fort. Aber unter diescr
eincn Bedingung: Du darfst deine ehelicfien Pfliditen deinem Weibe
gegenuber wohl erfullen, jedoch nicht fordern. Mit anderen
Worten: Du hast insofern aliem staatlidien Redit zum Trotz
deiner gelobten Keuschheit auch fernerhin treu zu bleiben
— insofern als du didi niemals unterstehen darfst, deinem eigenen
fleisdilichen Trieb nachzugeben. Sondern du hast unter alien Urn-
standen dich solange eines jeden solchen sinnlichen Genusses zu ent-
halten — solange es deine Frau nidht von dir verlangt. Nicht aus-
gesprodien von dir verlangt, « — Das ist — war' ich personlidi ein
weniger frommer Christ und nidit gleichzeitig Gemeindebevollmadi-
tigter, aufgestellt von der Zentrumspartei — , so wurde idi beinah'
sagen, dafi dieser katholischen Bestimmung etwas Jesuitisdies in-
hariert, was man so gemeinhin Jesuitisches nennt und unter dieser
Bezeichnung verachtlidi madien will. — Aber andererseits ist diese
Bestimmung, wie sdion gesagt, einfadi wundervoll ausgesonnen
vom katholischen Kirchenredit.
Helmtrudis <wie Marmor,- und auch so bleich): Finden Sie — ?
Kreidle <unbeirrt>: Na, und ob idh das finde, verehrteste gnadigste
Frau Grafin! — <Triumphiert, mit dem Buch in dcr Hand): Nehmen Sie
nur selbst einmal an, gnadigste Frau Grafin: einen Mann —
Month — Priester. — Der hat nun unter anderm das Geliibde . . .
das heilige Verspredien der steten Keusdiheit abgelegt. Das ist..
das ist ein Ehrenwort!
Helmtrudis: Ja aber — — <piotzlidi hervorsturzende Tranen. Ein Auf-
sdiludizen, ein Herausschreien — nur sekundenlang, wie die tapferste Frau auf der
mittelalterlidisten Folter plotzlidi doth einmal, wenn auch, wie gesagt, nur sekunden*
lang, aufsdiluchzt und heraussdireit) : — er war doch Ehemann — und
blieb's — und blieb's — — <Vorbei>
Kreidle (um so hartnadciger, eiserner): Er gab sein Ehrenwort. —
Was das noch iiberdem gerade in bezug auf Ihren graflidien Herrn
Gemahl heifien will — der, adelig, sogar Offizier war —
Helmtrudis <fur si<h>: Ich — — kann — — nicht mehr — —
Er gab doch auch mir — vor'm Traualtar — das Ehrenwort —
Kreidle: Ich wollte sagen: welch' eine unendlich weise Vorsorge
das von seiten des katholischen Kirdienrechts gegenuber dem gultigen
310 HtinriS Lauttnsadi • Das Gtl&Bde
Staatsrecht ist. Das Kirchenrecht erlaubt dem ehemaligen
Priestermoncfa die von der Ehefirau geforderte Erfullung der ehe-
lichen Pflicht! Sie gestattet ihm die Ausubung, sobald sie auf aus-
druddiches Verlangen des weiblichen Teiis gesdiieht! (ElndringliA) :
Ja, nehmen Sie nur einmal an, verehrteste gnadigste Frau Grafin,
das Kircbenrecht vurde dem freigegebenen Pri ester oder Month das
strikte striktissime verbieten — ! Was ware denn dann — ? Ha!
Dann kdnnte doth die Frau, die — unbefriedigte — , sofort hingehen
und vor dem weltlidien Richter Sdieidung der Ehe verlangen,
indem der Ehemann die geforderte ErfOllung der ehelichen Pflichten
versagt — ! Ein Sdieidungsgrund, wie er sdioner und effektiver uber-
haupt gamicht gedadit werden kann! — Dann freilich — haja! — war'
das Kirchenrecht im linrecht — und hatte budistablich verloren —
Helmtrudis <mit sAier abennensAfiAer — flberweibliAer Anstrcngung) :
Ich danke Ihnen jedenfalls — Herr Justizrat — fur Ihre so grund-
lithe Auslegung und Belehrung —
Kreidle (abwehrend) : Gnadigste Frau Grafin haben midi eigens
nur zu diesem Zwedt rufen lassen. — <Da wird dn MensA aus ihm
Ich bin mir wohl bewuBt — und es prefit midi im vorhinein sdion
fast zu Boden nieder ich bin mir wohl bewufit, welchen Hoch-
verrat ich an meiner eigenen Religion begehe, wenn ich sage, was
ich jetzt sage, verehrteste gnadigste Frau Grafin —
Helmtrudis <bang>: Nun?
Kreidle: Es gibt einen Ausweg. — Wieviele katholisdie Priester
sind in einem halbwegs ahnlidi schweren Fall sdion zur protestan*
tisdien Religion ubergetreten !
Helmtrudis <es treibt sie hoA>.
Kreidle: Ich selbst kenne Ihren graflichen Herm Gemahl als
Prediger: — Bestimmen Sie ihn irgendwie, dafi er aus der katho-
liscfaen Kirdie austritt/ dafi er uberlauft, wie sdion so mancher/
und all' der grofie gegenwartige Konflikt ist dahin —
(Pause.)
Helmtrudis (allmShliA das Letzte, Geheimste ausplaudernd) : Er sucht
nadi einer Stellung, wie er mir immer sagt —
Kreidle (aAselzuAende Bewegung).
Helmtrudis (weiter): Ich hab' ihm Spione nadigesdiickt — hier
311
Heinrich Lautensack ■ Das GefOBde
vom Hotel aus Ich weifl sicher, er war in den ganzen vier
Wochen, die wir nun schon hier in dem Gasthof wohnen, nie-
mals wieder oben im Kloster. — Aber — trotzdem — er ist
nidit von hier fortzubewegen. — Ich weiB auch, er hat niemals in
diesen ganzen langen, bangen vier Wochen . . . niemals einen von
den Kuttentragern von da oben hier unten in der Stadt irgendwie
heimfich getroffen. — Aber vielleicht ist ihm das blofie Hinauf-
schauen-konnen ... druben-drunten vom Inn aus ... schon genug
und mehr als genug na<h da droben. — Man kann das verhalite
Kloster ja selbst auch von hier — von einem unserer Fenster aus
— ganz gut sehen — da droben —
Kreidle (tritt ~ als langjahriger Einwohner und Bflrger dieser Stadt — zuerst
ans falsdie . . . und dann erst ans riditige von den beiden Fenstern im Hinter-
grund und sdiaut Kinauf. Langsam): Ich hab' selber einmal — in einer
entsetzlich schweren Stunde — die vielen vielen Stufen dieser hohen
Wallfahrts- und Bufiertreppe da knieend hinaufgebetet/ in einer ent-
setzlich schweren Stunde —
Helmtrudis <interessiert) : Na, Und — ?
Kreidle <Ieise>: Es hat nix g'holf'n . . .
<Eine Hotelglodce lautet, wahrend ein Wagen tsef drunten — wie unterirdiscb —
anfahrt.)
Kreidle: Das ist das Zeichen, dafl der Munchener Zug gekom-
men ist . . . <Er sieht auf seine Tasdhenuhr>: Ganz richtig . . . Und gna-
digste Frau Grafin erwarten doch wen mit eben diesem Zug...
Helmtrudis: Meinen Bruder ... ja . . .
Kreidle <si<t empfehlend): Na also... Juristisch ist Ihr graflicher
Herr Gemahl nicht zu padcen... Es tut mir uberaus leid, da8 ich
das Vertrauen, das verehrteste gnadigste Frau Grafin in midi ge-
setzt haben, so wenig hab' reditfertigen konnen ... Ich darf mich
also wohl empfehlen . . .
Helmtrudis: Ich danke Ihnen, Herr Justizrat... <Sie reidit ihm die
Hand) : Und Ihre Liquidation . . . ?
Kreidle: Schicke ich mit Ihrer gnadigen Erlaubnis noch heute im
Lauf des Vormittags . . . Empfehl' midi bestens . . . < Verheugung.)
Helmtrudis: Adieu, Herr Justizrat...
Kreid.le <ab>.
312 HeinriS Lautensadi • Das GefiiBd*
• r // i T f fitiT tt f i iT.ViYiVi /i
ZWEITER AUFTRITT
Helmtrudis. Bald daranf: Zimmerkellner mit Oberieutnant Freiherrn
Karl von Ruditi.
Helmtrudis (steht da. Sieht das BuA liegen. Nimmt's. Tragt's langsam ins
Sddafzimmer. Kommt wieder heraus/ gcwahrt die Briefe/ offset welche/ liest kaum
and Jegt sic aacb sdion wieder hin> : Ah — ! <Sodann, wie sie etwa das Gerausdi
eines Lifts und hemacb vora Teppich gedampfte Scbritte — a us welcben Sporen
herausklirren und ein Sabel singt — auf dem Korridor hort, uberkommt sie fast
nodi einmal ein sofcber Anfalf des ptotzlidien Hervorsdiludizens und -sdireiens,
den tie aber diesmal Oberwindet.)
Zimmerkellner <lifit, nacbdem er geklopft bat und ihm von Helmtrudis
ein) sHerein !« (geworden ist, den Oberieutnant Freiherrn Karl von Rudtti
eintreten).
Oberieutnant Freiherr Karl von Ruchti <na«hdem siA Zimmer-
kellner sofort wieder zurfldtgezogen hat): Grub di/ Gott, Trudel . . .
Helmtrudis: Grub Gott, Karl... <Und als ob er ihr soeben kon-
dolicrt hatte) : Irh dank dir audt recht sdion . . .
von Ruditi: Na also, nur net gar so traurig, Trudel... — <Er
greift erregt naeh seiner Brusttasche und holt hervor wie ein Gesdienk): Ein paar
Briefe — sdiau'! — hab' idi dir mit'bradit —
Helmtrudis <auf die eingangs dieses Aufzugs erhaitenen Briefsathen zu):
Und wieviel Briefe — sdiau'! — habt's ihr mir heut' wieder nadi-
sdiicken lassen — ! Briefe — Briefe — und nodimals Briefe —
von Ruditi: Idi hab' audi nodi eine Visiten- und zwei Ge-
sdiaftskarten da —
Helmtrudis <emport sidi immer mehr): Briefe — Briefe — und nodi*
mals Briefe und Visiten- und — und Geschaftskarten —
von Ruditi: Sie laufen uns ja das Haus ein in Mundien — !
Helmtrudis: Briefe — Briefe — und nodimals Briefe! — Un»
versdiamte Angebote von Direktoren: idi soil auf ihren Varietes
auftreten. — Womoglich nodi ehrenruhrigere von Budh- wie Zeitungs-
verlegern: idi mocfat' meine Memoiren sdireiben. — Und dann: einen
jeden Tag wieder eine OfFerte von wieder einer andern groften
Filmfabrik: idi mocht' meine Erlebnisse verfilmen lassen und gleidi
selber die Hauptrolle spiel en. — Ja, diese Herren madien mir in
danisdier, franzosisdier, italienisdier, amerikanisdier wie in sdilediter
deutsdier Spradie den Vorschlag: der Film sollte — mit mir in
Heinricf) Lautensadi • Das GeftiBde
313
der Hauptrolfe
an Ort und Stelle aufgenommen werden
drunten inArabien
und versichern mir einer um den andern.
daB die Schiffskatastrophe im Golf von Aden in groBtem Mali*
stab in mdglichster Naturtreue aufgezeigt wiirde
von Ruditi (peinliA beruhrt): Na also, Trudel — <Er hat siA sAon
ein paarmal sAeu umgesehen. Jetzt endtiA — leisc — Ja, is"' er denn gar net
da? Was?
Helmtrudis <hat si A gefaBt. Und nun trostet sie ihrerseits) : Er muB den
Augenblick kommen . , . Ich hab' ubrigens 'dadit, er war' auf'n Zug
auf'n Bahnhof 'naus . . .
von Ruditi (treuherzig) : I' hab'n aber net g'seh'n . , . <Ohne viel Be-
sinncn den Abwesenden sogar verteidigend): Er wird halt audi net grad sehr
erbaut sein, dab i' da plotzlidi komm' . . . Denn so viel Militarisdies
wird ihm trotz seiner klosterlidien Weltflucht im Gedaditnis z'ruck-
'blieb'n sein, dafi man einen einfadien Oberleutnant vom Miindiener
Leibregiment net ausgerechent zum Obersten vom sechzehnten In-
fant'rieregiment nacb Batau heruntersdiickt . . . Ja also, das is' grad
kein so gar g'scheiter Gedanke von dir g'wes'n, Trudel . . . und da
is's ihm natiirlidi sehr peinlich.
Helmtrudis <forsAend>: So... so... genau so wie dir?
von Ruditi <mehr und mehr knabenhaft ungeduldig): Herrgottseit'n . . .
ja — !... na also: jaa — ! Wann er nur scho' dawar' — !
Helmtrudis <geht auf den Knopf der elektrisAen Kiingel zu): Willst nix
essen oder . . . trinken?
von R U dl t i <kraut si A fast am Kopf ) : Trinken . . . ? — <Zu seiner SAwester) :
s' batauer Bier soil net grad sdiledit sein . . .? — Na also: haltst'
mit, so an klein'n Friihschopp'n . . .? — Nur bis daB er endli'
kommt . .
Helmtrudis <druAt auf den Knopf).
von Ruditi <nimmt Platz): Wo is' er denn uberhaupt's?
Helmtrudis (klagend): Oh mein Gott...! — Entweder in einer
der vielen . . . vielen Kir then, oder vielleicfit grad wieder drauBen
in der bisdioflidien Brauerei — !
von Ruditi (durstig): In der Brauerei — ?
Helmtrudis: In der bisdioflidien...! InHadtelberg...! — Da
hab'n s' ihm ja eine Stellung angeboten . . . einen Posten als
314 HeinritB Latttensadi * Das GttiiBde
Brauereiverwalter . . . <Mehr und mehr ausbrechend) : Er will ja nix
annehmen von mir... von uns... von den Eltern...! — Er hat
ja dieser seiner gelohten freiwillig'n Armut no' net ab»
g'sdiwor'n . . . !!
von Ruchti <b!oB verwundert) : Das ist ein Mensdi . . .! — Ein
Mensch ist das . . . !
Helmtrudis: Und aber idi bleib' net hier . . . ! — Das sag' ids
dir! — Das darfist du mir glaub'n! — Ids bin net dazu zu beweg'n,
dab ids hierbleib'! — Er mu6 aus dieser. . . aus dieser Weihrauch*
Atmosphare da . . . 'raus . . . ! !
<Es klopft.)
Helmtrudis <sduer klagend): Herein!
Zimmerkellner <ersdieint): Frau Grafin wunsdien . ,
Helmtrudis: Sie hab'n doth auch Flaschenbier?
Zimmerkellner: Innstadt, jawohl. Tafelbier. Helles.
Helmtrudis: Eine Flas<he oder . . . oder zwei.
von Ruchti: Drei!
Helmtrudis: Also . . . drei.
Zimmerkellner: Sehr wohl! <Ab.>
von Ruditi: Namlidi . . . ftlr ihn auch gleich eine . . . wenn er
kommt . . . Der Papa hat net selber 'runterfahr'n woll'n. Und die
Mama hab'n mer aus Leibeskraften zuruckhalten muss'n. Du wirst
ubrig'ns wohl noch wiss'n, dal) ids von uns alien mit'nander am
allerwenigsten gegen diese deine Heirat mit'm Horst etwas ein*
zuwenden g'habt hab'. Ja, ids hab' dich damals sogar noch unter-
stQtzt bei der Mama!
Helmtrudis: Du bist wirldich ehrlicfa, Karl, — <Sle I5d»tlt>: Du meinst,
wenn idi nix ausriditen kann gegen ihn, dann du noch viel weniger?
von Ruchti (verlegen): Ja — Kreuzseit n — <Er kraut sid» nun wirk-
lich am Kopf): Wo bleibt denn's Bier so lang?
Helmtrudis: . . . Ids hab' mir halt 'denkt: wenn er blob einen
von euch wiedersieht ! — Da mu6 er doth wie endlich
aufg'wedct wer'n aus dieser — dieser denn es ist dodi wirk»
lids schon mehr etwas wie Mondsuchtig»sein von ihm
<Alles das unterdrQckt. Und es arbeitet doth mit alter Macht sldi he raus aus Ihr.)
(Es klopft wieder.)
315
Heinric6 Lautensadi * Z)<75 GefuBcfe
von Ruditi: Herein!
Zimmerkellner (bringt auf einem Tables das Verlangte. Setzt's auf einem
Tistfa ab. Offnet die eine Flascbe und giefit ein, und zwar in zwei Glaser): Bitte
sehr . . . <Geht. Ab.)
von Ruditi (proitend): Auf dein Wohl, Trudel.
Helmtrudis (spridit ihm wie nur medianisdi nacfa): Auf mein Wohl
— <Aber trinkt nidit.)
VOn Ruditi <hingegen nimmt erst einen berzbaften Scbluck und setzt dann
bart ab): Ja, also — was ist denn nadi'er eigentlidi? — Y — i' — i'
— i' mufi dodi sozusag'n Direktiven von dir hab'n, Trudel! — I' —
i' — i' bin do' net ausschliefilich nur zu mein'm Freund 'runter-
g'fahr'n . . . zum Oberleutnant Kinateder ... ah, du kennst'n schon . . .,
der ubrig'ns mit dieser seiner Englanderin eine nodi viel reichere
Heirat g'macht hat als wie Horst mit dir. — Und das mufi idi eudi
ubrig'ns gleidi sag'n: zu Mittag <er betont auf sflddeutsdi die letztere Silbe) :
bin i' fei' net mit eudi zusammen. Sondern da bin idi beim Kame-
rad'n Kinateder und seiner Englanderin eing'lad'n. Die hab'n sidi
das einfach ... net nehmen lassen woll'n . . , Also was is'n eigent-
lidi, Trudel — ? — <Sehr feinfublig): Is' was, das du audi mir anver-
trauen kannst — ?
Helmtrudis: Man sollt' wohl annehmen (Innerer Krampf):
Denn wenn idi's einem mir ganz fremden . . . stockfremden Justiz-
rat anvertraut hab' — — !
von Ruditi <atmet sdiwer. Trinkt): Dann, meinst du, konnt'st du's
auch eigentlidi mir . . . deinem leiblidi'n Bruder anvertrau'n ?
Is's vielleidit so ein ganz juristisdier Fall, der wo sidi auf die aller-
intimsten ehelidhen Angelegenheiten bezieht — ? (Hilflos): Ja also —
Trudel <Fast ausrufend): Trudel !! <Greift sozusagen oadi einem
Strobbalm): Gottseidank, sag' i nur, dafi unsere Mama net gekommen
ist — — <Er giefit sidi, vermutlicb Sdhweifitropfen auf seiner weifi und roten
Offiziersstirn , auf ein Neues ein. Trinkt und setzt womoglich nodi harter ab als
vorbin.)
Helmtrudis <hat sidi fast ein wenig abgewandt).
von Ruditi: Wird's — wird's — wird's — wird's da vielleidit so
irgendetwas als wie mit — mit — mit einer Scheidung — ?! Dafi
namlidh . . . namlidi du die alleinige Sdiuldtragende sein sollst —
21 vot m/i
316
Heinridb Lautensad Das GefQ&de
(Plotzlich Mann/ bayerischer) : Trudel — pafi auf, sag' i dir — — Mit
eincr Scfaeidung wird's nix dazu bin i' da Trudel?
Trudel?? Das sag' i' dir (Immer drohender): Es hat eine ganz
Gewisse gelitten da drunten in Arabien — !! Die hat was leiden
mussen — die hat was aushalten mussen — !1 Da — da — da
gibt's fei' nix — !! Eine von Ruchti is' eine von Ruchti — und die
bleibt's — !!
Helmtrudis (bescfaworend) : Karl — !
von Ruchti: Jetz' braudhst' mir uberhaupt's nix mehr z'sag'n,
Trudel — ! — Jetz' weifi i' schon — ! — Jetz' weifi i' uberhaupt's
alles — !! (Wieder einfach verwundert): Aber das hatt' ich mir von dem
Menschen uberhaupt's net 'denkt — !
Helmtrudis (noth beschworender) : Karl — !
von Ruchti <nadj nocfcmaligem Trinken. Die dreiviertel Liter haltende Flasdie
ist leer. — Fertig): Jetz' is' in mir alles grad — grad gerichtet — bis
aufc minimalste Visier.
<Es klopft hinwiederum.)
DRITTER AUFTRITT
Die Vorigen. Graf Horst von Hilgartsberg (d. i. der frflhere P. Felix).
Beide (Helmtrudis und von Ruchti zugleich): Herein — ?
(Graf Horst von Hilgartsberg — d. i. der frflhere P. Felix — tritt ein.)
(Kleine Pause der Verwunderung, dafi er geklopft hat!)
Horst (ist flbrigens auch fflr den Bcschauer sehr verandert. Denn er ist nun
bartlos und tragt einen immerhin neumodischen Anzug und dazu Platthemd und
Stehkragen und Schlips und einen weichen Lodenhut).
von Ruchti (der immer herzlicher wird): Ja — aber — — gruB di'
Gott — Horst.
Horst (ebenfalls Herzenston): Grufi dich Gott, Karl.
von Ruchti (wieder mehr und mehr verwundert): Ja — aber jetz'
sag' mir blofi einmal: seit wann denn klopfst du denn eigentlich
an — ? (Schier gemacht lustig): Bei seiner eigenen Frau klopft der an
der Tur.
Horst (mit so defer Stimme wie ein Monch): Ich hab' drunten sofort
erfahr'n, dafi du schon da bist, Karl . . . Und da hab' ich mir ge-
dacht, ihr habt's was miteinander zu besprechen . . . (Er kommt nun
HeinriS La u ten sad • Das GefuBde
317
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erst dazu, seiner Frau die Hand zu kfissen. — Nett): Weifit du, wen idl SO-
eben getroffen hab'? Den alten Herrn Pfaffinger, den pensionierten
Bezirksgeometer von Wolfach, . . . icb hab' dir doch von ihm erzahlt
■ • • Br ist nun wirklich Kapuziner 'worden und geht taglich vom
hohen Mariahilfsberg herunter in der Stadt hier ins Gymnasium und
ins Lyzeum . . .
von Rucbti <ein(adend>; Magst' a' Bier, Horst? — Wir hab'n scho'
fur dicfi mithol'n lass'n.
Helmtrudis: Icb zieh' midi jetz' an — fur d'Table d'hote. —
<Sie geht nacfa dem Schlafzimtner, Ab. Sie schliefit die Tur von innen. Man hort
einen Riegel vorschieben.)
VIERTER AUFTRITT
von Ruchti. Horst. Ohne Helmtrudis.
trink'
(nacfcdem er eingegossen hat).
von Ruditi: Na also —
Horst (ergreift das Glas).
(Sie stofien stumm miteinander an.)
von Ruchti (nathdem er getrunken hat): Sdimeckt eigentlich gar net
so nadi Provinz, das Bierl.
Horst: Is' besser wie euer Munchener. Kerniger. G'sunder. Is'
mehr drin.
von Ruditi (ihn ansehend): Sdiaust iibrigens gut aus, Horst. Bist
ja schier dicker 'wor'n — im Kloster. — Mensdienskind — ! —
Sch wager und Kamerad — ! — Wie lang is's eigentli' her, dab wir
uns nimmer g'seh'n hab'n?
Horst: So . . . neun Jahr, Kar!.
von Ruchti: Hast'n Kinateder nie 'troff'n hier in Batau, der die
steinreiche Englanderin g'heirat't hat — ?
Horst: Nein.
(Kleine Pause.)
von Ruchti:... Ja also, der Papa hat selber net kommen woll'n . . .
Der will sich uberhaupt's in gar nix zwischen euch dreinmisdien . . .
Der will weder was von dir hor'n, nodi will er was von seinem
ehemaligen Lieblingskind wiss'n, von der Trudel . . . Er schaut's
uberhaupt's gar nimmer an . . . Er schaut fur gewohnli' grad an ihr
vorbei... Wie wenn's ein grofies Familienungluck war'... Ja also,
weiflt du, was ich glaub', Horst — aber unter uns g sagt, Horst —
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318
Htinridi Lauttnsadi ■ Das Gtl&6<fe
der modit' sein eigenes Madel wohl lieber tot seh'n als — ais so.
— Aber daran, Horst, daB unser Papa so 1st, bist audi du sdudd!
Horsfc: Idi — ?
von Ruditi: Wir wiss'n's. Wir wiss'n's sogar ganz genau. —
Namlldh — der Papa liest verschwiegens — in aller Heimlidikeit,
wenn wir's net merken sollen — da liest er n ami idi docb all' die
verzweifelten Briefe, die die Trudel tiber didi nacb MOndien an die
Mama sdireibt. — Mit einem einzigen Wort: Papa 1st fast deiner
Meinung in diesem Fall. Er bat beinah' die gleicben Ansdiauungen
wie du. Aber das Schlimme ist, daB du ihn darin nodi bestarkst!
Er war' vielleidit langst — und voller Reue — davon abgekommen,
wie er sidi, wahrsdieinlidi nur ungem und gezwungen, zu seinem
leiblidien Kind verhalt. Aber dann kommt wieder so ein Brief von
der Trudel uber didi — und da gibt er dir, sdieint's, immer wieder
redit. Er hat geradezu einen gewissen Halt an dir! — Verstehst'
midi, Horst?
Horst: Idi glaub', icfa versteh' —
von Ruditi: Aber idi mein', Horst, idi als Bruder, daB in diesem
Fall dodi nix aus unserm sonstig'n Ehrenkodex gilt!
Horst: Du als ... Bruder —
von Ruditi: . . . Das wei8 die Trudel vielleidit gar nidit, daB es
nidit ausgesdhlossen ist, daB du nadi allem Vorhergegangenen viel-
leidit nidit wieder Offizier werden konntest —
Horst: Aber idi will's ja audi gar nidit —
von Ruditi: Aber das redhnet ja audi gar nidit! — Denn du
bist ja — gludklicherweise — scbon langst nidit mehr Offizier! —
Idi meine, wir durfen billig von dir erwarten, daB du diet heute
nidit plotzlidi wieder einzig und allein auf den Offiziersehren*
standpunkt versteifist! — Denn den hast du doth aufgegeben,
indem du seinerzeit ins Kloster gegangen bist. — Icfa meine —
Horst! — Sdiwager! — geh', so math' mir's doth net so sdiwer!
— idi meine, daB wir in diesem Falle an didi appellieren durfen
als an einen ehemaligen Month Als soldier laBt du dodi
wohl diristlidiere Milde walten als irgendein Offiziersehren-
rat. — Der Papa, der ist in diesem Fall freilich, sdieint's, ganz und
gar verknodierter Offizier. Alle wir Bruder aber denken anders!
HeinriS Lautensadi • Das GefuSde 319
Und du darfet eben falls nidit so denken wie der Papa. Und aber
auf schon gar keinen Fall darfet du den Papa, wie gesagt, darin
auch nodi bestarken! Das ist deine Sdiwagerpflidit gegen uns,
denn wir sind und bleiben die Bruder von der Trudel, von einem
denn dodi etwas moderneren Gesiditspunkt aus als wie unser
alter Papa —
Horst (schweigt).
<Kleinc Pause.)
von Rucbti <ihm wie der zupr ostend) : Und nun bitt' idi didi, Horst
— sag', was ist denn eigentlidi zwisdien euch! — Ich modite, dafi
du mir's frei sagst! — Die Trudel hat vorhin net so redit damit
'rausrucken wollen. — Idi selber weifi ja wohl mehr, als idi der
Trudel vorhin eingestanden hab'. — Aber alles weiB idi nidit!
— Idi kann mir denken, daft es eine nur allzu delikate Sadie ist.
— Ja, denk7 doth nur selber einmal an, wie das arme Madel zu-
ruckgekommen ist! — Was die hat aushalten muss'n! — Sdion
wirklich eine reine weiblithe Odyssee! — Daruber steht nix nix
in keinem Kodex, Sdiwager! — Das ist rein nur Sadie als
Mann! — Und du als ihr Mann darfet sie jetzt nidit verstofien!
— Da gibt's keinen Sdieidebrief — !! <Er wurde immer erregter.
Aber dabei auch immer mehr unbedingt fordernd.)
Horst <sieht ihn an): Du bist ein netter Kerl, Sdiwager —
von Rudlti <im Tone absoluter Gemfltlicfakeit Nur dafi dahinter eine un-
geheure Klaue steht): Da irrst du dich aber, Horst. — Idi bin gar
nicht so nett, wie du vielleidit glaubst —
Horst <lei«ht) : So geh', Karl, sei g'sefaeit —
von Rudlti <ganz spitz, ganz kraltenscharf) : Nein, g'sdieit muBt
du sein —
Horst <stutzt vor dieser riesig aufgestandenen Gefahr):Idl — muB ?!
von Rudlti <ganz dnfadi nun wieder): ErlaB mir alle Sentimentali-
taten, Horst. ErlaB mir so wahre Kinderstubenmardien, wie die
Trudel, unsere Sdiwester, nodi klein war, nodi ganz klein. Ich konnt'
dir audi gar net so viel davon erzanlen, weil idi dodi dann bald
ins Kadettenkorps 'kommen bin. Idi hab' sie dodi bloB riditig alle-
mal in den Ferien g'seh'n! Denn die einzelnen kurzen Sonntags-
besudie kann ma' dodi net rechnen. Na, und in den Ferien, da war
320
Htinrid) Lautensadi • Das GtfQBdt
sie allemal schon wieder ein bisserl g'wachs'n . . . Siehst du, das ist
alles, was ich von der Trude! aus unsern Kindertagen weifl. Abet
das ist was anderes, was id) in bezug auf die Trudel fuhle,
audi heute nod), langst im beinah' uberfellig'n Oberleutnants-
alter! — <Er kimpft mit sfA>: Wenn id) das Wort Stbwester in
einer leisesten Geringereinschatzung hore, dann, Horst, kann's sein,
dab id) rabiat werd'. — (LaAelt gezwungen): Also — du siehst,
Schwager, daB idi gar net so »nettc bin —
Horst (wieder das Stutzen von zuvor): Willst du mid) viellekht zu
etwas zwingen — ? — So — so im Namen und Auftrag deiner
ganzen vier Bruder — ?
von Ruchti (sAier weiA): Sagen sollst du mir jetzt endlid) bald
Qberhaupt's was, Horst — Mitteilung macben — gesteh'n —
in Form von Anvertrauen, was du denn gegen meine — gegen
unsere Sdiwester hast
Horst <bridit aus): Id) hab' nichts gegen sie, Karl. — Ich hab'
alles fur sie. — <Zomig) : So erinner' did) doth gefalligst selber dran,
was du nod) vorhin vom Offiziersehrenstandpunkt g'sagt hast —
von R U dl t i : Psst — <er sieht besorgt naA dcr S AlafzimmcrtQr. — Fest) :
Ich erinner' mich genau ... Id) hab' g'sagt, was der vielleicht nach
starren G e s e t z e s buchstaben entscheiden wurde, Horst ... I<h hab'
aber auch g'sagt, daB das fur uns funf Bruder wenigst'ns nicht
gilt —
Horst <kalt>: Es gibt da nod) eine andere Entscheidung, mit der
ich die mdglidie Erkenntnis eines Offiziersehrenrats nur in Ver»
gleich setzen will —
von Ruchti: Und die ware, Schwager — ?
Horst: Das Kirchenrecht!
von Ruchti (sAier eigensinnig): Das Kirchenrecht? — Das kenn'
id) aber gar nicht!
Horst: Ich hab's auch kaum gekannt — Aber es verlohnt, es
kennen zu lemen, Karl —
von Ruchti <wieder naiv): Jetz' bin ich aber wirklich neugierig —
Horst <einigermafien besAwdrend): Behalte dir immer vor Augen —
bei allem, was ich dir jetzt sage, Karl, behalt' dir immer vor Augen,
was ein Offiziersehrenrat da erkennen wurde —
He in rid Lautenxad • Das GetitSde 3Z1
von Ruditi (willig); Also gut —
Horst (sieht sid i am): Na, wo hab' ich denn gleidi das Budi
wieder — ?
von Ruditi: Das Kirdienrecht — ?
Horst: Es mud drinnen im Schlafzimmer sein.
von Ruditi: Na, da g'hort's ja wohl auch hin!
<Sie stehen beide ctrai befangen. — Kleine Pause.)
Horst (geht sdalieSIich entschlossen an die TOr. Klopft): Helmtrud —
Helmtrudis Stimme <von drinnen): Ja?
(Kleine Pause. — Der Riegel wlrd zurOdtgeschoben. Die TQr 6ffhet sidi.)
Horst: Das Kirchenreditsbud), Helmtrud, du weiBt. Es wird bei
dir drinnen sein.
Helmtrudis Stimme: Ja. Gleidi.
(Wieder kleine Pause. — Dann ersdieint ein ganz nadrter Frauenarm, und in der
Hand ist das Budi.)
Horst: Danke schon, Helmtrud. <Er nlmmt's.)
<Die Tor scfalieBt sidi wieder. — Wieder Riegel. — Und nodi dnmal dne kleine
Pause.)
Horst <sdil3gt die betreifende Stelle auf, zrigt mit dem Finger darauf und
gibt seinem Set wager das Budi) : Da . . .
von Ruditi (liest. Mit lautlos sidi bewegenden Lippen. Liest nodi cinmal.
Mit starrem Mund. BemQht sidi zu verstehen. Und versteht glddiwohl nidit):
Wenn itb riditig verstand'n hab', willst du die Trudel . . . ins
Kloster hab'n...? (Die Stirnadern sdiwdlen aligemadi.)
Horst: Ja.
von Ruditi: Na, und du...? — Wollt ihr eins urns andere da
hinein? Willst du vielleicht, daB ihr miteinander abwedis'lt? Erst bist
du drin g'wes'n und jetz' soil sie hinein, obschon sie es eigentlidi
war, die didi wieder 'rausgekriegt hat? — (Ganz hewer):’ Betraditest
du das als so eine Art geistliches Sanatorium?!
Horst: Du sdieinst didi doch etwas verlesen zu hab'n. — Der
Fall liegt so — er steht doth ganz klar da! — daB ich — ith,
Karl — obwohl verheiratet, trotzdem M5nch und Priester bleiben
kann, wenn meine Frau dieselben Gelubde ablegt — !
von Ruditi: Ah so also — du willst eben falls wieder
ZUTUck — ? (Das war ziemiidi gutmOtig. — Nun aber wieder feindlidi): Du . . .
du opferst didi sozusagen fur sie?! — Das heiBt: eh' daB sie
22
322
Heinrich LautensacH • Das Gef&Bde
weiter hier heraufien in der Welt herumlaufen darf und wenigstens
fireie Luft atmen, lieber kehrst du audi wieder hinter die Mauem
zurfidt — ? !
Horst: Ja, sag' einmal — willst du midi nidit verstehen oder
begreifist du tatsadilidi so sdiwer? — Ja, glaubst du denn, idi haft'
nur darauf gewartet, bis sidi mir die Pforten meines Klosters wieder
ofiheten ? — Du kannst dodi unmdglich von mir annehmen, dab idi das
Mondiskleid bloB wie zu einer Karaevals-Redoute angezogen hab' — !
von Ruditi <ers taunt, verwundert) : Also — du wolltest uberhaupt's
gar net wieder 'raus?
Horst: Icb wollt' uberhaupt's gar net wieder 'raus.
von Ruditi: Aber dodi wohl . . . einigermaBen . . . wegen der
Trudel . . .?!
Horst <langsam>: Icb hab' didi vorhin gebeten. Karl, du mdditest
dir wahrend all des Folgenden, das idi dir sagen werde, immer vor
Augen halten, wie ein von dir zitierter Offiziersehrenrat wohl uber
die Helmtrud absitzen wurde.
von Ruditi: Ah so!
Hm.
Und so, meinst du <er sdiligt
auf das Bu<fa>, sitzt das Kirtbenrecht da uber die Trudel ab?
Horst: Das Redit, das idi als Katholik anerkenne! Dem idi midi
mit meinem ganzen Gewissen unterwerfe!
von Ruditi flangsam, voli erw5gend>: Also — aus der staubigen
Wfiste kaum herauss'n: huit (pfcifender Ton>, hinein mit ihr ins reini*
gende Kloster. — <Den Sdbwager anschcnd): Allerdings — jetzt versteh'
idi didi, Horst.
<Mit tief — zuticfst gehoitem Atem>: Arme Trudel
Aus der Gefangensdiaft ins Gefangnis
Aus dem Regen in
dieTraufe — Du sdieinst mir der riditige Fegefeuerwerker, du
Horst: Sdiimpf' midi nur aus.
von Ruditi fauffahrend) : Ja, bin denn vielleidit idi daran sdiuld,
dafi
Horst <gut>: Werd' doch nicht gleich so kleinlidi, Karl. — Ja, geb'
denn idi wem die Sdiuld? — Glaubst du an gar nix Hoheres — ?
Ja, ist denn das nidit ein Weg, gradaus gewiesen von der gott-
lichen Vorsehung? — Idi bin Priester, Karl. Idi bin Mondi.
von Ruditi: Augenbliddich nidit mehr. Sondem das bist du
hodistens gewes'n.
HeinriS LautettsadS • Das GefOBde 323
Horst: IA will's zumindest wieder werden. <Mit echtem Pathos):
Gottesstreiter . . .
von RuAti <erwidert nichts daraaf).
<Pause.)
Horst <nimmt das Buch): Jetzt aber magst du seiber ratcn, Karl. —
Dieses Gesetz da <aufs Budi klappend) ist keln so starrer, toter BuA-
stab'n. Sondem das sieht auA Ausnahmebestimmungen vor. — So
geh' do' her. I' zeig' dir's. — Der verheiratete Mann kann natur-
liA nur ins Kloster gehen oder — trie iA in meinem Fall — ins
Kloster zuruckkehren , wenn erstens einmal die Frau zustimmt und
zweitens sowohl fur das Fortkommen der Frau als auA fur das der
Kinder hinreiAend gesorgt ist. Die Frau seiber aber muB nur eben-
falls ins Kloster gehen, wenn sie noA sehr jung ist.
von RuAti: Ja, aber — die Trudel ist doA jung!
Horst: Na, so sAau doA her. — Die Frau brauAt — aber auA
for den Fall, daB sie noA so jung ist — do A ni At ins Kloster zu
gehen, wenn sie andere VerpHi Atungen — als wie Kinderpflege
zum Beispiel — da steht doA ganz deutliA »Kinderpflege« —
davon zuruckhalten.
von RuAti: Ja, aber — die Trudel und du, ihr habt's doA keine
Kinder! — Oder wo solltet ihr denn auA Kinder herhab'n?
Horst: Da steht doA noA eine Ausnahme, for den Fall, daB
die Frau erstens noA sehr jung ist, und zweitens niAt einmal
Kinder hat: AuA dann kann sie even tu ell von den geistliAen
Obem Ae Erlaubnis erlangen, weiter in der Welt leben zu dGrfen,
unter der Bedingung freiliA, daB sie ein immerwahrendes
— hlerl — da! — ein immerwahrendes KeusAheitsgelubde
ablegt.
von RuAti <stiert in die Zeilen, die ihm fast vor seinen Augen ver-
sdjwimmen. — Wieder ridjtend, wie ein Richter): Also du seiber gibst es
zu, daB sie niAt ins Kloster brauAt. Sondern du verlangst nur —
wie billig von dir! — daB sie wegen ihrer bunten und abenteuer-
liAen Erlebnisse drunten in Innerarabien ein immerwahrendes Keus A-
heitsgelubde ablegt?
Horst: NiAt einmal so sehr for sie — aber for miA doA! for
mi A! — Denn iA will do A wieder ins Kloster zuruA! — Oder
324
Heinrich LautensacA * Das Gef&Bde
was soil ich hier herauss'n anfangen — nach allem V orhergegangenen. —
<Er hat sicfa bezwungen. Wird hart. Er verhJrtet. Wie ein Urtdl): Gleichwohl
mag die Helmtrud selber entscheiden, was ihr gerediter dunkt:
entweder nur das immerwahrende Keuschheitsgelubde ablegen und
dann weiter hier herauB'n in der Welt leben — oder aber lieber
gleidi ganz hinein mit ihr ins Kloster,
von Ruditi (still): Du meinst, sie wird freiwillig das schlim*
mere Los von den beiden wahlen und ganz ins Kloster gehen?
Horst (wie oben): Ich hoffe, sie wird sich fur das Leiditere ent-
sdieiden und in aller Form den Schfeier nehmen. Denn das ist
dodi wohl das Leiditere.
von Ruditi (widerspridit) : Das Sdiwerere.
Horst (unbewegt): Das Leiditere. — (Sonor): Und dabei die
innigere Vereinigung mit Gott. (Lange Stille.)
von Ruditi: Da war' ich nun also nach Batau herunterg'fahr'n,
von meinen El tern und Brudern mit alien nur erdenklichen — ener-
gischen! sdiarfen! — Vollmaditen ausgestattet/ und statt dess'n sitz'
ich nun da und laB midi von dir wie ein Sdiulbub' belehren. —
Hast du jemals daran gedacht, daB du protestantisdi werden konntest? —
Meinet- und unsertwegen sogar protestantischer Pfarrer, wenn dir
die Seelsorge und das Predigeramt gar so sehr in Fleisch und Blut
ubergegangen sind — ?
Horst: Ich lieg' dodi an solcherlei Gesetzen nidit etwa gekettet
wie ein Hund, daB idi nur darauf warte, damit ihr mir die Frei*
heit gebt! — Der, der dies grundlegende Buch gesdirieben hat,
Karl — das ist zufallig ein Abgefallener von unserm Glauben.
Der ist protestantisdi geworden! — Trotzdem ist und bleibt es
das Buch ubers Kirchenredit/ das beste Nachsdilagewerk , das in
keinem noch so kleinen katholisdien Pfarrhause fehlt.
V O n R U dl t i (wieder schwer von Mitleiden) : W as ist denn nadl'er — —
WeiB die Trudel schon, was du mit ihr vorhast? Hast du's ihr
schon g'sagt, daB sie ins Kloster muB?
Horst: Das Buch hat sich vorhin nidit ganz umsonst drinnen bei
ihr gefunden. — Ich glaub', sie hat wer weiB wie oft schon d'rin
g'les'n. — Qbrigens hat sie sich dieses Exemplar durch die Wald-
bauersdie Buchhandlung eigens kommen lass'n.
Hein rich La u ten sad • Das GefUBde
von Rucbti: Hast du sie auf besondere Stellen hingewies'n?
Horst {sdiQttclt stumi
M ■ M
it dcm Kopf)*
von Ruditi <aufgebra«fat> : Sie soil den betreffenden Passus also gar
wohl audi nodi von selber finden
was?
deiner Seite lafit du sie dabei? Ganz
Ohne jede Hilfe von
also wirklidi ganz von
selber soil sie d'rauf kommen? — Du willst sie sozusagen allmah-
lidi reif dafiir wer'n lass'n?! <MerkwOrdig fest): Das kann idi nidit
zugeb'n, Horst — auf gar keinen Fall.
Horst <sdiweigt.>
von Ruditi <sicfa verzweifelt auflehnend): Das arme Madel
I
Kennt sidi heut' vielleidht in einem arabischen Koran nodi eher aus
als wie
aber
<Bezwingt sitfc wieder): Lieber sag' idi ihr's selber, Horst,
aber auf einen jeden Fall muB idi zuerst mit den Eltem
und Brudem spredien. — Du hast midi ja nun wohl <ihn brennend an-
sehcnd) genugend orientiert. — AuBerdem : hat's dir so lang . . . hat's
dir ganze vier Wodien no' net pressiert mit einer diesbezuglidien
Erklarung, so kann's audi noth drei . . . vier . . . oder hodistens funf
Tage lang dauern! <EntsAlossen> : Das Budi da nehm' idi jeden falls
mit, da6 du's weifit!
(Bebend mit alien Fibern): Und dir, Horst,
zwing' idi zuerst nodi die heilige Versicherung ab, dafi du ihr von
nix eher sagst... von nix, Horst, von all' dem.
Horst: Das Verspredien kann idi dir beim besten Willen nidit
geben.
von Rudhti (s<barf): Was?
Horst (ringend mit Atem so wie mit GefOhl): Du modltest jetzt von
hier mit der fur midi wenig stbmeidielhaften Meinung weggehen, daB
idi Helmtrud seit unserm Wiedersehn einer Art Kasteiung unter*
werfe — was?! Und zwar: idi nur sie — !! Einer sowas wie fleisdi-
lidien und seelisdien Abtotung — ?! — Ja, glaubst du denn, idi leide
nidit init ihr mit?!
von Rucbti <zwingt seine Stimme nieder, so sehr er nur kann>: Im ubrigen
find' icb das hundsgemein von dir, mit einer Frau in zwei solcfaen
Hotelzimmem zusammenzuhausen, wenn man auch nur eine Sekunde
lang einen solchen Sdiritt in bezug auf ihr ganzes femeres Leben
vorhat als wie du!!
Horst <ist nidit im mindesten zusammengezudct) : Idi bitie didl um Ent»
326
HeinricB Lautensad • Das GefaBde
schuldlgung, wenn ich didi mit der grobten und bedeutendsten Vor*
bedingung fur mein ganzes weiteres Zusammenleben mit Helmtrudis
nodi nidit bekannt gemadit hab. — (Mirtyrerhaft : der Ausdrudc muB a n-
gebracht seia): Aber jetz' muli's sein. Jetz' hilft keine Rucksicbt mehr
darauf, dab du ausgeredient der Bruder von Helmtrudis bist
Idi hab dir bisher etwas versdiwiegen. — Nun gut: idi werd' dir
ein Merkzeidien einleg'n an dieser Stelle des Bucfaes. <Er geht aufihn
zu. Will ihm das Budi abnehmen, und als der es
streitsflcfatig
zu behalten
versudit, ringt er's ihm eben
reicht ihm die Stelle hin.)
it einiger MQh' ab.
Sodann schl5gt er auf und
von Ruditi (liest/ so ihnlith wie vorhin schon einmal):
Horst <kommt ihm zu Hilfe) : Dab ich einmal das Gelubde ablegte.
das wirkt nacfa.
Wir durfen sonst zwar leben wie zwei andere
Eheleute audi/ nur darf der Mann den ehelidien Verkehr <den Finger
darauf) wohl leisten
nidit aber fordern!
Und das weib
Helmtrudis ! <Diese S3tze kamen immer nodi etwas angstlich'sdineller. — Aber
nun wieder gefafit/ auf alles gefafit): Das ist ih’- bei meinem Absdiied aus
dem Kloster gedruckt vorgehalten worden: so wie du's jetzt sdiwarz
auf weib vor dir siehst. — Aber da von hat sie eudi naturlicfa in
keinem Brief mit keiner Silbe etwas verlaut'n lass'n
was
?
wie
?? hab' idi recht
?!
von Ruditi: Nein. Davon . . . nidits. (Lange Pause.)
von Ruditi (wie man einen Sthlafenden weckt): Horst — jetz' pass’
auf
du mubt endlich fort von hier
I
Ah nein, du.
die Trudel, du, die ist nidit so dumm! Die hat genau heraus-
gefunden, dab du von hier weg mubt! Von hier weg! Vom Kloster!
Aus der Nah' vom Kloster!
Horst: Das kann ich nidit!
Idi bekomm' mein Leben von
hier
(sarkastisch) : ja, vor. hier, von der Nahe! — (Wieder ernst.
Gllubig. Voll sdiier eines kindlicben Vertrauens): Ich war beim Bischof.
Idi krieg' eine Stellung.
Auf einem bisdidflichen Besitz.
Drauben in der bisdioflidi'n Brauerei.
Die geistlidi'n Herni
verlass'n midi nidit — Die lass'n midi nidit im Stidi.
Die setz'n
midi gar bald in Stand, dab idi meine Frau ernahren kann.
Die
haben mir sdion Vorsdiub 'geb'n, denn von was sonst hatt' ich das
Hotel hier bezahlen konnen.
HeinriS Lautensadi * Das GeCtiBde
327
tm 99999 ********
von RuAti: Du kannst von uns
von mir
von Trudcl Geld
hab'n.
Wir brauA'n kein'n VorsAuB von einer bisAdf
liA'n Brauerei
ll
(ratselhaft stair): I A mull aber doA meine Frau aus meinem
Eigenen emahren konnen.
von RuAti <absdmeidend) : Also du kommst mit.
Widerrede mehr. — Auf einen jeden Fall vorlaufig wenigstens
IA dulde keine
kommst' mit.
<S<fceltend> : Das muB denn do A erst untersuAt wer
den, ob diese Stellung da, die du kriegen sollst, auA eine halbwegs
standesgemaBe fur euA ist.
Horst: IA komm' niAt mit!
von RuAti: Das sind vielleiAt alles ganz und gar verstoAte,
hinterlistige, feige, meineidige Ausreden von dir.
Horst: IA komm' niAt mit!
von RuAti <sieht mit einem plotzlidien Einfall auf die Uhr): Himmiherr-
gottsakarement. I A mufi ja zum Kinateder. Es ist die hoAste Zeit!
IA kann doA unmogliA absag'n. Aber — <Er sieht seinen Sdiwager
wieder einmal brennend an): Aber — vielleiAt ist das auA ganz gut so.
So bleibt dir Zeit zum uberleg'n. — (Besorgt, stfcier ersdhrocken) : Nein
— niAt uberleg'n — ! NiAt naAdenken, Horst! VerspriA mir das — !
Du verspriAst mir, daB du mit der Trudel jetz' runter ess'n gehst
zur Table d'hote . . . Die wird sowieso sAon hungrig sein . . . IA
meine, du verspriAst mir, Horst, daB du . . . daB du wart'st, bis
iA wiederkomm' . . . <betonend>: mit allem.
Horst: IA verspreAe dir niAts.
von RuAti: Du . . . verspriAst . . . niAts . . .?!
Horst: Nix.
von RuAti <tangt an zu keucben in seiner Ohnmacbt, die — gar nidit lacier-
lid> — hier rein durdb gesellsAaftlidie RQdssidjtnahme entsteht): Weifit du, was
iA jetzt moAt' —
Horst: Nun? <Erhebt seinen Blick zu ihm.)
von RuAti (sAreiend): SAieBen moAt' iA jetzt auf diA — —
MiA sAieBen mit dir — • — da! — da!! — so! — so!! — (Er er-
hebt den linken Arm): Mit der linken Hand — Auf links sAieBen
moAt' iA miA mit dir — <Der Riegel fihrt zurOck.)
Helmtrudis <sturzt — aber angezogen — aus dem SAlafzimmer).
328
HebtriS Lautensadi • Das GefQbde
FQNFTER AUFTRITT
Die Vorigeo. Helmtrudis.
Helmtrudis: Karl !!
von Ruditi (seiner selbst nicht mehr michtig): Warum hab' idl's nicht
getan — ? — Warum hab' i<b Rindviech statt so vieler guter Vor-
satze nidit einfadi einen Revolver mitgenommen — oder zwei —
Helmtrudis (ihren Mann — Horst — mit ihretn Leibe dedcend): Karl !!
Horst (sdiiebt die Frau leis vor sicb veg): Na SO sdiieB dodi! Du
sollst so oft auf midi abdrudcen durfn wie du nur willst. — Idi
aber ding7 mir als einzige Gegenwehr dieses Bucb da von dir aus.
Helmtrudis: Horst — !!
von Ruditi: Dieses BOcfael — von einem Protestanten — ??
Helmtrudis: Karl — !!
von Ruditi: (vie oben): Diet mu6 man nur unschadlich macben
— dann sind alle Sdiwierigkeiten mit einem Scblag vorbei.
Horst (sdiier eigensinnig): Dann bleibt dodi immer nodi dieses Budi.
von Ruditi (das Letzte versucfcend. Er siebt von jetzt ab seinen Sdi wager
fiber haupt nicht mehr an>: Trudel — bis ich wiederkomm', hast du alles
gepadct! — Du fahrst heut' abend mit mir zuruck nadi Mundien!
— Der . . . Papa will's! — Horst du, Trudel? — Der Papa — !!
Helmtrudis (vie skfc erst langsam erinnernd): Der . . . Papa — ? —
(Ganz einfadi): Der Papa hat kein Recht uber mich mehr. Die Mama
nidit mehr. Du nimmer. Alle nimmer. Ich pack' nidit ein uud ich
fahr' nicht mit dir zuruck. Ich aliein — nidit! — (Ganz kleln. E!n
Kind): Er . . . muB . . . mit. — (Sie drebt sidi langsam um. Wie cine
Puppe, die man dreht. Wie ein abnormer Menscb — moto homo — , den man in
einer Schaubude auf der Batauer Maidult gezeigt hat. So dreht sie sidi langsam
na<h ihrem Mann um): Oder nein: er muB audi nidit mit . . . Idi will
gar nicht . . . Er muB auch nicht mehr . . , Wir zwei bleib'n da . . .
Das ist nichts, dafl du gekommen bist . . . Geh' du nur zu dein'm
Kameraden und seiner Frau ... Wir zwei — wir bleib'n da . . .
(Das letzte re ganz im Tone von: »Wir machen’s uns gemfltlich hier — wenn du
erst nimmer da bist« . . .)
von Ruditi (auf brausend) : Trudel — ! — Jetz' is's wohl aufeinmal
mit dir auch nimmer so ganz richtig — ?
Helmtrudis (einfadi): Geh, Karl... Schau, du kommst doch sonst
329
Htbtrid) Lauttnsad ■ Das GtlUBde
zu spat . . . Und nadi'er komm' wieder her . . . Math' didi bald frei
von dein'm Kamerad'n und seiner Frau . . . Nadi'er red'n wir nocb
einmal druber . . . ruhiger, Karl...
von Ruditi (scbmerzliA) : Trudel — ! — Du weifit, wie gem icb
didi hab' — — <Er nimmt das Kirchenrechtsbudi. Steckt's ein.)
Helmtrudis: Sdio' redit, Karl... Geh', Karl...
VOn Ruditi (ungewollt sSbelklirrend — ab. Ja, eigentlich do wenig so vie
auf sdbeuer Flucht — davon. Man h5rt, als er schon drauBen 1st, nodi seine klim-
pernden Sporen).
SECHSTER AUFTRITT
Die Vorigen. Ohne von RuditL
(Lange Pause.)
Helmtrudis (in einem ganz verSnderten Ton, der auf eine Verinderung Ihrer
ganzen Sinnesrjdbtung sdiliefien lafit Und dodi audi ein ganz kldn wenig beab>
sichtigt, dieser Ton: wie Frauen nun dnmal sind. Jedenfalis eine soldie Frau wie
diese geht da sogfeidi auf eine andere Art zwar als zuvor auf ein Ziel zu . . .
aber das Ziel erweist sidi als das namlidie wie zuerst , . . oder es wir' keine
Frau): Wir bleiben . . . wir zwei . . . Wir ziehen nur von hier aus . . .
aus'm Hotel ... und wohnen uns privat wo ein... Icb kann das
nidit mitanseh'n, Horst, dab sie so mit dir umspringen . . . Das ist
ja beinah' als wie mit m i r . . . — Ja. Sie sdiatzen didi genau so
sehr nur mehr halb ein als wie midi...
Horst (vom vorkergehenden Auftritt und namentlicb von dessen ietztem Ende
e ben so sehr gepadtt als von der Gewalt ihrer sanften Stimme, die wie eine weifte
dufiende Frauenhaut auf ihn wirkt) : Bin icb nidit immer nett zu dir g'wes'n,
Helmtrud? — Hab' idi dir jemals was getan? — Dein Bruder
glaubt, icb maltraitier' dich irgendwie — !
Helmtrudis: Nein, nein. — Nein, icb bin's — icb bin's, der
nocb alles fremd ist. Icb, die sidi nocb nidit eing'wdhnen hat
konnen —
Horst: Nein, Helmtrud. Mir — mir ist alles ebenso fremd.
Oder sogar nocb viel fremder wie dir. — Du — du bist eine
Frau. Und Frauen, die denken einfacb: sie seien wieder da. —
Du bist ja aucfa riditig erst wieder zuruckgekommen. Du bist wie
gewaltsam verscbleppt g'wes'n. Und nun ist dir alles neuge*
wonnen. Du warst sofort wieder vollig eing’lebt, wenn icb nicbt
ware. — Aber icb — icb bin net fortg'wes’n. Wenigst'ns net auf
Heinri<£ Lauttnsadi • Das GefQBde
die g'waltsame Art wie du. Sondern icb hab' mid) freiwillig ver-
bannt gliabt. Idi hab abg'sdiloss'n g'habt mit allem Weltlidien. —
Du hast immer und immer wieder g'hofft, du kamst nodi amal
zurudc. — Idi aber hab' fest und stark vertraut, dab ith nidit
wieder zurudtkommen brauch' — nie wieder zuruddcommen. — Das
ist der grofie llntersdiied, Helmtrud —
Helmtrudis: Idi hab' nie ganz g'giaubt, dafi du tot warst. Idi
hab's nie ganz fur moglich halten konnen —
Horst: So sind die Frauen. Du warst immer nodi hier. Sogar
aucfa tief — tief — zutiefst — da — da — da drunten wo. So
sind die Frauen.
Helmtrudis: Ich hab' immer g'giaubt, dab es nodi einmal an-
fangen mufit' — genau da, wo's auf so elementare Weis' zwisdien
uns aufg'hdrt hat —
Horst: Ja ja — ganz gewifi — idi versteh' didi vollkommen —
Helmtrudis: ... Wie wir von Konstantinopel mit'm Nordsud-
exprefi heraufg'fahr'n sind ... da war hier in Batau Zollrevision . . .
Zwei Herm, die mit uns 'raufg'fahr'n sind, zeigten uns das Kloster,
in dem du bis dahin immer nodi ganz ahnungslos warst . . . Da hab'
idi den Steinhaufen da droben (sie deutet zurtidc durcbs Penster hinaus)
mit seinen flimmemden goldenen Kreuzen auf den beiden Tfirmen
und mit seiner steinemen Stiegen bis 'runter an'n Flufi ang'seh'n,
als ob er mir bereits in mandaem Traum ersdiienen g'wes'n war' . . .
Idi meine, das Bild kam mir so gar net neu vor ... so gar net un-
bekannt . . .
Horst <als ob er cine leissenscbaftliche These bewahrheltet flnde): Ja ja —
sehr rich tig. — <Und aber: dieses wisseoschaftiiche Ergebnis stinde in absofutem
Widerspruch mit seiner Religion, an die er unerschOtteriidi glaobt! . ..>
Helmtrudis: Das ist auch eine Art Giauben, Horst, und eine
Art Glaubensstarke —
Horst: Bei euch Frauen — ja. Bei uns Mannem allerdings kdnnt's
leidht sein, dab es nur ein naditraglidi hineinkonstruierter Fatalis-
mus ware, der sich Gott sei Dank gelohnt hat — das heibt, nach-
dem das Sdilimmste sdion vorbei war und sich alles zum Guten
wendete —
(Pause.)
HeinricB LautonsaeH • Das Gef&Bde 331
Horst <und nun sieht er die Briefe, die daliegen. Und er I iest die Briefe. Das
beifit: er liest einen sozusagen an, wie man etwas aniBt, und legt ihn wieder weg.
Einen zweiten ditto. Ein dritter veriobnt sich ihm sdion nicfat mehr. Es ist ja dodi
immer dasselbe: von Variety direktoren / von Budi- vie Heitungsverlegem, von
Filmfabriken. Er hat sdion offer welche — solcbe gelesen. Er l5Bt das Ganze
wieder sein. — Aber ohne mit einer Bewegung etwas zu verraten.)
Helmtrudis (hat ihm zugesehen. Ebenfalls ganz beruhigt. Und nun so ganz
versohnt und als war' nie ein Sprung in ihrer Vereinigung als wie Glas vorge-
kommen. Ohne die geringste Klage oder Anklage wie audi sdion vorher in all
ihren Satzen in diesem Auftritt. — Wie eine Geige klingt): Ich mufi jetzt oft
daruber nadidenken — es bleibt mir ja jetzt audi so viel Zeit dazu
— hier in so einem Hotelzimmer ich mufi jetzt oft daruber
nadidenken, wie du damals warst Nicbt etwa wie du als Brautigam
g'wes'n bist. Aber wie sicb so die ersten Tage unserer Ehe ge-
staltet haben. Du kannst midi leicht verweisen, als ob das eine Er-
innerungstauscbung von mir ist . . . (Sie sagt das so, als ob er sidi seitdcm
von Grand aus gebessert hatte in einem jeden Betradit>: Ich mufi so oft jetzt
daran denken, wie die wenigen Tage auf unserer so sdinell unter-
brodienen Hodizeitsreise waren...
Horst (hordit auf): — —
Helmtrudis: ... Sdiwankende Bretter. Ewig schwankende. Zu-
erst unter unsem Fufien auf den Sdiienen. Und dann unter unsern
selbigen Fufien auf dem Wasser. Warum bist du ubrigens damals
sogleich von der Bahn aufc Sdiiff? Aus dem Sdilafwagen heraus
— kaum heraus — sogleich auf ein Sdiiff? Von den rollenden
Brettem herunter sogleich auf sdiaukelnde? Ist eine solcfae Unruhe
in dir g'wes'n, dafi du ewig nur dahingleit'n hast woll'n? — Manch-
mat hab' ich mir audi sdion gedacht: er hat sich damit einen Zwang
auferleg'n woll'n: er hat sich nur immer mit mir erst in ein Eisen-
bahnabteil und dann gar auf ein Sdiiff freiwillig eing'sperrt, mit mir
zusammeng'sperrt , vielleidit weil er mir beim allerersten Spazier-
gang im Freien einfach auf und davong'lauf'n war'. — Ich uber-
treib's in der Erinnerung vielleicht ein bisserl. Wir hab'n ja die
Billetts b'reits fest g'lost g'habt zu unserer Weltreise. Aber wir
hatten aufierdem Zeit wie Geld g'habt — (Und da springt sie auf und
hangt sich mit einemmal an seinen Hals): Warum bist du damals SO
g'wes'n zu mir — ? Ich mein', ich halt' ja uberhaupt nie was von
22 VoL m/i
332
HetnricB LautensacG • Das Gtfa&de
dir g'habt — ! Hab' ich das abcr verdient — namentlich auch in
der darauffolgcnden Ze it in den neun Jahren Sklaverei
— und widerwilligstem HaremSleben — ?! Ich mein' grad', ich
hatt' wirklich nie etwas von dir g'habt ich mocht' endlicb was
von dir hab'n und ist es ni<ht deine Pflicht, mir endlicb
einigermaBen durcb deine Liebe Genugtuung zu verscbaffen fur all
die Unbilden, die icb wehrlos erduldet hab' — ?! Warum willst du
jetzt kein Geld von mir annehmen — ? Warum wart'st du auf eine
solcbe — vielleidit niedere Stellung — ? Oder bist du vielleicfat da-
mals vor neun Jahren schon so seltsam zu mir g'wes'n, nur weil's
dich g'reut hat, daB du in mir eine solch Reidhe geheiratet hast — ?!
Horst (ganz hilflos): Idi bitt' dich, Helmtrud, mach's nicht vom
bloBen Geld abhangig — —
Helmtrudis <hdfi>: Idi bau' uns ein Hausel. Du. Ich bau' uns
ein Haus. Ich bau' dir's mein'tsweg'n — Wir bauen uns ein Haus,
ganz nach deinen Angaben. Ich bau' dir's mein'tsweg'n hier auf'n
Berg hinauf: schrag vis-a-vis vom Kloster. Wir richten dir mein'ts-
weg'n sogar eine Zelle ein: denn du lebst doch noch! Bist nicht
ertrunk'n damals, wie mir eine der furchterlichsten Stunden meines
Lebens hat vorgaukeln woll'n! — Du lebst doch noch! — Aber
ich — ich leb' auch noch. — Mein Gott, mein Gott, oh — Horst,
geh', so sei doch vernunftig: ich bin g'fangen g'halt'n wor'n und du
hast dich selbst eing'sperrt — — ja, hatt' denn das nicht auch
gerade umgekehrt der Fall sein konnen — ?! — DaB du
g'fangen g'nommen word'n warst — und ich mich freiwillig ein-
g'sperrt hatt' — ? — Wenn ich d i ch an meine Stelle denke — d i ch ,
Horst — dich — dich — dich — dich — oh was wurd' ich fur
Mitleid fflr dich haben — ?!
Horst (erschottert) : WeiBt du, was ich von dir fordere —
Helmtrudis (allmaUicfi rasend werdend, darum nicht etwa »zweideutig«> :
Du hast kein Recht zu fordem
Horst <verzweifeJt) : Heilige Mutter Maria —
Helmtrudis <sie deutct irgendwo hin, wo sie annimmt, dafi das Bach noch
liege): In dem Buch steht, daB du kein Recht zu fordem hast
Horst: Helmtrud — ! ich bitt' dich —
HcinriS La u ten sad * Das Gef&Bde 333
Helmtrudis: Da steht aud) nichts von Bitten-durfen mchr
drin in dem Budh. — Das 1st dir da alles nicht mchr erlaubt
Horst: Du vcrstehst mid) nidit —
Hclmtrudis (lauft mit einem Male zur Ausgangsttir und sAlieBt sie von
innen ab. Kchrt zurOck und steht da und sieht ihn — hr — an) : Id) — ? —
I<h — ? — Ah — ich will dich ja gar nimmer verstehn. — <Stcht
wieder da und biidrt ihn wie irr an. Und aber sagt wie gan z besonnen): Id) bin
ja keine Frau mehr, wenn ich mir durd) did) — und nur durd)
did) — die eigenen Kleidcr vom Leib reiB'n muB. — (Wieder
emport bis ins Innerste): Das soil id) um mid) vcrdient haben — ??
(Wieder gesA«Lftig): Wart' nod) cin bisserl. — <Sie rennt nacb dem SAlaf-
zimmer, dessen Tflrc von ihrem Auftreten und HerausstOrzen her immer nodi often
stand Sie rennt durdi die offene Tflr und laBt sie auch weitcrhin geBffnet. Und
man hort unter den wiederholten , aber diesmal ungleid mehr nodi wie einen
Monolog gesproAencn Worten): Und das soil id) um mid) verdient
haben — ?? <hdrt man/ wie sie itn SAIafztmmer drinnen erst unvernOnftig an
den Stores hin und herzieht und — sich dann erst besinnend — darauf die iicht*
undurAfassigen Rouleaux rollen madit.)
Horst (steht ratios. Hordit nur).
Hclmtrudis (ersdieint wieder im Tfirrahmen): Id) bin ja keine Frau
mehr, wenn id) mir durd) did) — und nur durd) did) — die eigenen
Kleider vom Leib reiB'n muB. — (Tonlos hat sie das wiederholt
PldtzliA — winselnd): Komm — Horst — — ! (Aber sie hat niAt die
Kraft, ihm etwa voranzugehen. Sondem sie bleibt am Tflrrahmen lehnen, wie
cine Statue, die, einen Augcnblidc zum Lebcn crwaAt, wieder in Starrheit zurGA*
verfSIlt und — im Fallen-wollen — nur no A einen Halt an eben eincm Tftrpfosten
findet. Und sic bleibt so. Und so bleibt sie. Bleibt lehnen. Bleibt.)
Horst (erwartet abgewandten GesiAts, bis sie si A endliA vom TGrrahmen
— ins SAIafzimmer hinein — entfernen wtirde).
Helmtrudis (jedoA bleibt so).
Horst (wendet si A sAlieflliA um. Denkt, daft das ein weibliAes Manover sei,
und resolviert siA, wenigstens ein paar SAritte auf sie zu zu gehen. Er tut's).
Helmtrudis (bleibt).
Horst (geht noA naher).
Helmtrudis (bleibt).
Horst (geht an ihr — durA den TGrrahmen hinein — vorbei. DoA geht er
mit einer solAen naAtwandlerisAen SiAerheit, daB er sic niAt im geringsten streift).
Helmtrudis (ist — mit langst sAon gesAlossenen Augen — ganz HorAen).
HeinriS Lauttnsadi • Das GeftiSd*
Horst (unskbtbar — d. h. ganz ins Sdrfafzimmer hineingegangen — tat driiuten
nodi ein paar Sdiritte).
Helmtrudis dm Ttirratunen — sdiligt die Augen auf>.
Horst (drinnen irgendwo — bewegt sic h nidht mehr. Mit gar keinem ein-
zigen Laut).
Helmtrudis (sdirrit entsetzlich auf und stflrzt von der Offnung zam Scfelaf-
zimmer weg — weg — weg — nur weg — in der entgegengesetzten Ricfctuug ins
Wohnzimmer hindn. Sinkt wo nieder. Mit den Knien auf dem FuBboden. Mit dem
Gcsidbt auf dnem Stub!).
(Lange Pause. — Ohne dnen Laut. — Endlidi ersdidnt):
Horst (ahnlicb wie vorbin seine Frau im TOrrahmen. Aber — — als Tier.
Mit biutunterlaufenen Augen. linartlknliert) : Warum bist du nicht gt*
kommen? Nachdem du mich — endlidi! — endlidi!! — so sehr ge-
rufen hast?! — Idi hatte didi — mittenein — gefragt, was
wohl KuB auf arabisdi heiBt — !! — Sie wohnen in Zelten, die
Araber — ja — ? — Sie gleidien auch heute nodi denjenigen aus
Hiobs Zeit — ? — Seine Wohnung ist das Zelt/ sein Gerat Kamel-
sattel und Wassersdilaudi. — Ids hab' druber nadigelesen. — Sein
Reiditum ist das Kamel und das Pferd. — Sie tragen nur Hemd und
Mantel. — Du muBt wissen, daB idi mir uber sie Literatur ver-
sdiafft habe. — Und soldies wurde mir immer vor Augen stehen.
Wie Feuer vor den Augen. Solcfaes wurde idi didi immer wieder
fragen. — Idi wurde dir dadurdi unser Leben zur Holle
madien, so sehr lie b' idi didi. — Weifit du jetzt, wie
sehr idi didi liebe? Hast du das je gewuBt? — WeiBt du jetzt,
daB idi didi schon darum iieben muBte, daB didi in der
Zwischenzeit statt meiner mohammedanisdie — arabisdie —
semitisdie Hunde geliebt haben?! — Weiflt du jetzt, wie sehr
idi didi liebe, oh — wie sakrilegisdi gern idi deinen Leib
hatte, darum, daB er von andern — in Sand und Staub — in
Wuste und Sonne — gehabt worden ist?! — Weifit du jetzt, daB
idi mit dir auch hinuntergehen muBte — daB idi dir aus an*
hanglichster Liebe selbst folgen muBte — wenn du etwa so
einen vorgesdilagenen Kontrakt von einer Filmfabrik annehmen
wurdest — ?! — Ich selber wurde nicht nur den Mondi in der
Zwischenzeit spielen idi wurde auch die Herren da unten
gern personlidi kennen lernen wollen — !! Ich wurde didi ja keinen
Heinrich Lautensach • Das GefaSde
335
Sdiritt mehr allein gehen lassen konnen unser ganzes
ferneres Leben lang — !! Du muBtest midi den Herren auf ara-
bisch vorstellen midi als denjenigen — ausdruddich denjenigen,
der damals derweil im Kloster gewesen ist — !! Und idi wurde mit
den braunen Kerls Handedrudce tausdien ! ! — Aber du kannst
audi ruhig die versdiiedensten Varietekontrakte unterzeidinen
das gilt mir jetz' sdion ganz gleidi — ! Deine Eltern und deine Bruder
zwar wurden dann nicbts mehr von dir w is sen wollen dafur
aber idi — ! Oh — idi folge dir, wohin du willst! Du kannst ruhig
den ersten Varietekontrakt unterzeidinen, der dir die doppelte Gage
verspricbt unter der Bedingung, dafi idi allabendlidi allem Publikum
s idi t bar in einer durdi die Tageszeitungen bekanntgegebenen, offent-
lidi vorher bezeidineten ganz gewissen Loge sitzen muB — !! Du
kannst das alles von mir verlangen, denn so sehr lieb' idi didi — ! —
Und wenn wir dann gerade einen Monat frei sind, dann kehren
wir in das Hauserl zuruck — zu unserer Erholung in das
Hauserl zuruck, das du mir mit deinem Geld gebaut hast — in das
Hauserl, das wir uns so bauen, hier oben auf'n Berg bau'n, daB
ich, von einer Variety tournee zuruckgekehrt, (aufsAreiend) : immer
wieder schrag vis-a-vis das Kloster Maria-Hilf sehen
kann, darin idi einst gewes'n bin !!!
Helmtrudis (hat zugehort. Hat jedes seiner Worte eingesogen in si&. Hat
sidh keins entgehen lassen. — Erhebt sidi, das Kieid glatt streifend): Also
gut — — kehr' du hinter deine Mauem zuruck — — (ganz ge-
sAaftsmaBig) : — Das heifit soviel als wie — lassen wir uns sdieiden.
Horst: Es gibt keine Scheidung.
Helmtrudis (die Stim runzelnd): Es gibt keine — ?
Horst: Ja, hast du denn das Budi nidit geles'n?
Helmtrudis (bang): Was gibt es denn dann — ?
Horst (stark): DaB du dieselben Gelubde ablegst wie idi — —
Das heiBt: daB du eben falls ins Kloster gehst.
Helmtrudis (begreift langsam): Das soli auf midi zutreffen — ?
Horst (starr): Das ist das Kirdienredit!
Helmtrudis (si A noA unglaubig wehrend): Ich habe nur ein
Gelubde gekannt und getan und gehalten und das
warst du Du bist mein Gelubde
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336 HeinriS Lautensadi • Das GefaBde
. . . . .. . . . J 1 . ^ J - . 1 J * > A O.-* +.A.J. A - - J ^ ^ ^ X /■/-* - -
Horst <erasthaft>: Dein Bruder Karl scbeint tatsacblicb das Budi
mitgenommen zu haben <Er such t.>
Helmtrudis <beide H2nde auf dem Herzen): Dll bist
mein Gelubde
Horst <su<fct ganz ernsthaft — gewissenhaft das Buds).
<Vorhang.)
337
HeinricB Lautensadt • Das Gtf&Bcfe
VIERTER AUFZUG
Vor dem Kloster Niedernburg.
Links Portal dcr Klosterkirche. Man stdgt durdis Portal fiber mehrere Stufen zu
etwas wie einer Vorhalle hinab. — Im Hintergrund sehr fensterarme Mauer des
Nonnenklosters. — Aber rechts im Hintergrund bietct sidb cine freie Aussidit zum
<unsicbtbaren) Innufer hinab und fiber den <glei<hfa(is unsichtbaren) Innflufi hinuber
bis hinauf zum Kapuziner kloster Maria-Hilf. Glotkenrauschen. — Das Portal mit
Blumen festlich gesdimfldct. — Die Bfihne von redits hintcn herein bis (inks vorne
hinaus von doer Strafie fiber quert gedacht.
ERSTER AUFTRITT
Batauer Bfirger/ Bfirgerinnen/ junge Maddien und alte Betsch western , die — zu*
meist von redits hintcn herein, aber etlidie audi von links vorne — zur Kloster-
kirdie wallen. Qber ihnen wiegt sidi's wie Tficher, gewebt aus Glodcentonen. —
Bald darauf — mit etlidien Standes* und Fraktionsgenossen — : Justizrat Dr. Kreidle.
Sowie Hcrmine, die Frau des Herrn Bezirksgeometers a. D. Pfaffingcr, zusammen
mit FrSul'n Theres, dner aiten Betsch wester. — Spater: Die Eltern und die ffinf
Brfider Helmtrudis' — unter den Brfidern Oberleutnant Freiherr Karl von Ruditi —
sowie nodi dnige Anverwandte.
•<Vier oder ffinf Betsdiwestern reden durdieinander. Man versteht kdne einzelne.
Deshalb klingt's — aus dem Glockengewirr — als ob die vier oder ffinf zusammen
in einem ganz dfinnen Chore spradien. Etwa so):
»Wenn alle andern Mietsparteien no' sdilaf'n — mitsamt die
Dienstmagd' ! (die konnen sic namlich alie miteinander nidit ausstehen) — mit*
samt die Dienstmagd'!! — sperr'n wir scfao' die Haustur'n auf: urns
Morgenlauten.e
<Zwei, drei andere — * ganz alte):
»Und wir vom Spital ! — Und wir vom Spital — !«
Eine junge Batauer Biirgersfrau <zu einer andern): Drei soll'n's
sein, die wo heut' d'n Sdileier nehmen.
Andere junge Batauer Biirgersfrau (sdireit enttausdht auf>:
BloB — ?!
(Die vier oder fflnf Betsdiwestern vereinigen sicfa mit den zweien oder dreien ganz
aiten vom SpitaJ):
>Wann alle andern no' sundhaft traumen — woll'n wir sdio' die
Fruhmess' net versaumen.e
Justizrat Dr. Kreidle <zu einem Fraktionsgenossen): HeiB'n soil's,
dafi die Mariahilfer Kapuzinerpatres eben falls herunter zur Einklei-
dung kommen.
338
H*inric6 Lautensadt • Das GeftiBde
f
Batauer Btirger: Na ja. Wo doth der einc seine eigene Frau —
Kreidle: Ich kenne den Fall. Ich hab's vorausgesagt : Das Kirthen-
recht siegt — !
(FOnf Minner bilden dn seltsames Qnintett: Es sind das zwei gan z alte Mann-
Ida und zwei jQngere, weldi letztere wie wahre Todeskandidaten ausseben. Und
der fQnfte, das 1st dn ziemliA dicker, der das blQhende Leben in Person darstellt
— aber der 1st von Beruf Batauer Padctrdger und befindet siA audi )etzt in Uni-
form. Diese fflnf reden durcbeinander. Aber man versteht kdnen dnzelnen. Darum
klingt's — aus dem Glodtengewirr — , als ob sie ebenfalis zusammen in einem
ganz dQnnen Chor sprit Aen. Etwa so):
>Konna ma' jetz' kaum die Einkleidung von die neua Nonna net
awart'n —
heut' na'mittag spiel'n ma' Kart'n —
heut' na'mittag spiel'n ma' Kart'n —
in' Niedermeiergart'n —
in' Niedermeiergart'n — «
<Die Glocken summen fflr dne Welle nur noth: eine akustische TSusAung! — Von
links vorne her kommen H ermine, die Frau des Heim Bezirfcsgeometers a. D.
Pfaffinger und Friul'n Theres, jene alte Betsdiwester.)
Fraul'n Theres <*ehr sAwerhSrig) : Ja so — Sie kommen also net
glei' mit 'rein, Frau Pfaffinger?
Hermine <sehr feines altes Elfenbein — so 1st ihr GesiAt und sind ihre
Hfinde): Vorerst nodi net, Fraul'n Theres.
Fraul'n Theres: Jetz' gab's aber vielleidit grad' no' a' sdid's
Platzerl. In einem Augenblick spater is's auch scho' z'spat. — I' wer'
amal nathschau'n, ob's net uberhaupt's scho' da sind, die Herrn
Kapuzinerpatres !
Hermine: Das war' uberaus nett von Ihnen, Fraul'n Theres.
Fraul'n Theres: I' scfaau' amal nadi. <Sie geht in die Kirdie hindn.)
(Batauer BQrger, BOrgerinnen, Junge MadAen und alte Betschwestern, die — zu»
meist von redits hinten herein — zur Klosterkirdie wallen. Ober ihnen wiegt siA's
■wie TflAer , wie sddene, Ae wie von Handen von Klosterfrauen aus Glocken-
tonen gewebt sind.)
Fraul'n Theres (kommt zurOA, siA noA mit Weihwasser zu Ende be-
kreuzigend und auA Frau Hermine mit sAnipsendem Finger etwas davon ab-
gebend): Pass'n S' auf, Frau Pfaffinger, die Herren Kapuzinerpatres
kommen wieder z'spat — so wie bei der vorjahrig'n Fronleichnams-
prozession. Und die ganze Klosterkirdi'n is' schon so voller Leut'.
339
Htinnd) Lautensad ■ Das GefiBdt
Und vorn sind so viel Plat ze reserviert, die noch halbleer sind. Fur
die Verwandt'n von der graflidi'n Himmelsbraut jed'nfalls. Unser
jetziger Justizminister soil ja audi — und zwar ein gar nidit so weit
entfernter — Verwandter von ihr sein. (Sie seufzt.)
Hermine <<li< Leute kommen sieht, zupft sie ein paarmal am Armel).
Fraul'n Theres: Was woll'n S' denn, Frau Pfaffinger?
<Es bildet slA eine Gasse von Gaffem: Es kommen: die Eltera, Oberleutnant
Freiherr Karl von RuAti und die Qbrigen vier BrQder HelmtruAs', sowie noA
einige Anverwandte. — Offizierssabel klirren. Sporen singen. — Die fdnf BrQder
sind ja samtliA Offbiere und der Vater Helmtrudis' ist gar General. — Aber diese
ganze vomehme Sippe kommt so rut natttrlich sAweigend, aufkr dafi die S3hel ein
venig auf dem Master klirren. Sie treten allesamt in die KirAe. Und Ae Gaffer
ihnen wispernd naA.)
Hermine <Fr2ul'n Theres ins Ohr schreiend): Das war'n wohl die An-
gehorig'n von ihr!
Fraul'n Theres: Vielleidit — dos ka' ma' do' net wiss'n — war
aber von ihm ebenfalls ein Verwandtes darunter. — Auf einen
jeden Fall waren diese samtlichen ja audh einmal verwandt mit ihm.
Hermine: Wieso?
Fraul'n Theres: Na, dafi er sie doch fruhers amal g'heirat't
g'hahl hat.
Hermine <begreift>: Ath so — !
Fraul'n Theres: Jetz' mufi i' mi' aber ge'bald schlaun'n, damit
dafi i' no' a Platzerl krieg'. — Aber grad' schad' is', dafi Sie no'
herauB'n steh'n bleib'n woll'n, Frau Pfaffinger. — I' halt' so gern
g'habt, dafi Sie all's ganz genau g'seh'n hatt'n — den ganz'n feier-
lith'n Vorgang so einer Nonneneinkleidung. — Denn . .. vielleidit
war'n Sie dann doth noch anderen Sinnes 'worn, Frau
Pfaffinger — ! — Denn... i' — i' muefi mi' ja firei Sund' furdit'n,
dafi i' mei' Wohnung zu demjenigen hergeb', was Sie da mit Ihr'm
Mann vorhab'n. — Ja — gibt's denn fur so a' Mannsbild
uberhaupt's was Besseres in dera Welt als wie — er geht in's
Kloster — ?? — Sie laden eine schwere Sdiuld auf sitfa, Frau
Pfaffinger — !! — Unser lieber Herrgott mog's Ihnen und mir ver-
geb'n in seiner Gute, Frau Pfaffinger — ! Und dafur wer' icb jetz'
zu ihm gar andadhtiglidi bet'n.
(Sie geht. Ah in Ae KirAe.)
340 Hffinri(6 Lautensad * Das GefaBde
frr jjjumpmjLi— wiirrrrn f a—
ZWEITER AUFTRITT
Htrmine, die Frau dot Herm Bezirksgeometers a. D. Pfaffinger.
Ohne FrSul'n Theres. Benefiziat Sebastian Obst aos Wolfadi.
Bald darauf die gauze Prozession:
Der Bltdiof samt G,eleite/ die Oberin des Nonnenklosters, Nonnen
und Novizinnen, vorunter GrSfin Helmtrudis von Hilgartsberg.
(Die kletne Klosterkirche fat nun bereits gestedet voll von AndScbtigen — bit in die
Vorhalle heraus, zu der man dunks Portal Gber mehrere Stufen hernieder gelangt.
Immer aber kommen nodi NadbzQgler - to wie eben jetzt wieder. Und unter diesen
befindet sidi der hodiwflrdige Herr Benefiziat Sebastian Obst aus Wolfadi.)
Obst (zirka fGnfunddreifiigjahriger Mann/ ein wenig sebwerhorig, grwahrt
Frau Hermine, tritt grGbend auf tie zu>: Ha b' icb mir's doA gedaAt — !
— Gru6 Gott, Frau Bezirksgeometer !
Hermine: GruB Gott, HoAwurden.
Obst: Aber Sie san' net mit'm Fruhzug 'runterg'fahr'n? — Sonst
hatt' iA Sie ja sehen muss'n. — Ja, iA daAte mir sogar, Sie hatt'n
siA's amend' doA noA anders Oberiegt — !
Hermine: I' bin sAon gestem 'runter. I' hab' hier bei einer Be-
kannten ubemaAt't — Und ein Zuruck, HoAwurd'n, das gibt's bei
mir jetz' n immer.
Obst: Mir aber durf'n Sie, wie iA Ihnen sAon in WoIfaA Aob'n
g'sagt hab', keinen Vorwurf maA'n, Frau Bezirksgeometer. — IA
hab' Ihren Herm Gemahl wirkliA niAt dazu gedrangt, auf seine
alten Tage noA MdnA und Pri ester werden zu sollen. Sondem
er ist damals — iA erinner' miA noA genau — ganz aus freien
Stiicken zu mir 'kommen.
Hermine: Aber wie werd' iA Ihnen einen Vorwurf maAen,
HoAwurden? — War' iA sonst eigens zu Ihnen gegangen und halt'
miA Ihnen auA no A vollig anvertraut, welAen Sthritt iA vor-
habe — ?
Obst: Es ist das eine ungeheuer sAwere Gewissensfrage, Ae
was jeder mit siA selber abzumaAen hat.
Hermine (sdiier ausbrediend) : MiA bringt's aber um, das groBe
Herzeleid — ! — Mir zieht's die FuBe bei lebendig'm Leib immer
mehr in'n Erdbod'n 'nein... IA bring' die gar net so alten FuB'
nimmer weg vom Bod'n... I A kann's nimmer aufheb'n... Wie
sAon halbert in mein'm eigenen Grab drin geh’ iA daher... Er
kann miA doA net ganz und gar umbringen woll'n...
r ^
HeinriS LautensacG • Das GefuBde
341
<Da setzt vcrstarkt Glodcenbrausen ein. — Und cs naht dn fdcrlicfccr Zug, der
von r edits im Hintergrund »um die Ecke«, da, wo std b. die freie Aussidxt bietet,
aus dem Nonnenkloster berauskommt: Zuerst der hodiwurdigste Herr Bischof mit-
samt seinem Geleite. Sodann drei Novizinnen — die mittlere ist die Grafin Helm-
trudis — in WeiB und weiBen Sdileiern, eine jede von einer jftngeren Nonne ge-
fuhrt. Sodann die Nonnen, nacb ihrer Anziennitat, d. h. die jCngsten voraus. Zum
SdiluB die Oberin mit den zwd altesten. Diese Prozession bewegt sidi quer Qber
die Buhne hinein durdis Portal in die Klosterkir&e.
Und ein Orgelspiel hebt an und schwillt. — Und die Glocken sdiweigen.)
Obst <tr itt — dem Zuge nath — ein, zwei Stufen durdis Portal hinein in die
Vorhalle hinunter.)
<Gemurmel unter den letzten hintersten Andacbtigen.)
Obst (fragt etwas und kommt dann wieder heraus zu Frau Hermine): Das
Publikum hat die reservierten Platze — von den Kapuzinerpatres
gesturmt.
(Kirdiengesang ertont von drinnen):
»Veni creator Spiritus...«
Her mine (fast klagend): Wo die Patres aber auch so lang bleib'n
Obst: Die mittlere von den drei Brauten war die Grafin Helm
I
trudis von Hilgartsberg. — Aber so blafl iss gwen. So gar sehr
bleidh .
(Zolibatar): Die Klosterluft hat sie so bleich g'madit — und aso
blaB. Sie is' ja auch schon ein Jahr und einen Tag lang im Kloster.
Genau
heut
ein Jahr und einen Tag. — Sie is" so weifi im
G'sicht — wie der Mantel eines Arabers. — Obrigens: die Araber*
bande, die wo hier erst in Batau 'rumgezog'n is' und gestern gar
bei uns in Wolfach droben ankam, die hab'n s' d'r auf'n Schub
'bracht
daher
I
<Er sieht sic kommen): Aber
Jetz' kommen s' — die Patres
<Er gruBt mit cincm Ncigcn. Geht in die Kirdie.)
da kommen s' ja
DRITTER AUFTRITT
Hermine, PP. Burkhardus (Guardian) Konradus, Edmundus, Rodius,
Bruno, Oswaldus, Evaristus, Felix (d. i. Graf Horst von Hilgartsberg) —
langst wieder mit langem Bart. Frater Coelestin (d. i. Herr Bez irks geometer a. D.
Alois Pfaffinger).
(AHe die PP. und der eine Frater — ziemliefa eilig ankommend. Und zwar vom
— • unsichtbaren — Innufer herauf.)
P. Guardian (erfafit die Situation mit einem Blicfc): Na also — ! Was
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342
H tin rid Lautttisad • Das GeC&Bdt
ha b' t Enk <»Enk«, d. i. Eud>) g'sagt — ? Hab' i's Enk net sdio' auf
der Seilfahr ... hab' i's Enk net sdio' bei der Gberfuhr g'sagt
oder net — ? I' hab' do' no' meine Ohr'n — — i' hab' do' g'hort,
wie d'Glodt'n mit einmal nimmer g'laut't hab'n — ! — Aber — naja
— naja — wenn einige von den Herren Patres zuvor mit der
Brennsdier' hantier'n muss'n — ! 'n Bart kraus'ln, wie wenn's auf
an Ball ging — ! — Gott sei Dank, das ist nun die Strafe dafur.
Namli' — jetz' geht mir keiner von Euch 'rein — denn idi wadi'
daruber, dafi die heilige Handlung drinnen net g'stort wird — durch
unser verspatetes Eindringen. — (Next einmal voller Unmut): Mit der
Brennsdier' zu hantier'n — ! An Bart zu krauseln — ! An Kapu>
zinerbart — !
Hermine <tritt — halbwegs — hinzu): Die Platze fur die hodiwurd'gen
Herm Patres — ganz vom — war'n reserviert —
Frater Coelestin <wie ein nnmogli&er Rekrut): D'Frau Pfaffinger
— mei' Frau — —
Hermine <ohne auf den Ruf Ihres Mannes zu reagieren): Aber vorhin —
grad' vorhin — sind die reserviert'n Platze fur die hodi wfird'gen
Herm Patres von den Andachtigen einfaefa g'sturmt worn —
P. Guardian <sle erkennend/ herzlldi): Frau Bezirksgeometer — !
Frater Coelestin <Qberstr5mend>: Ja — Mini — ! Ja — Minerl — !
Hermine <tausdit mit P. Guardian einen ernsthaften HSndedrudk. Immer nodt
ihren Mann wie vfillig flbersehend) : Darf idi mit mein'm Mann ein paar
Worte sprechen, hodiwOrdiger Herr Pater Guardian — ?
P. Guardian: Ja aber — selbstredend, Frau Bezirksgeometer — !
Frater Coelestin <sidj herzudringend). Minerl — !
P. Guardian <geht von den beiden weg>.
(Hermine und Frater Coelestin nadi vome finks.)
Frater Coelestin <zu seiner Frau): Ich freu' midi, dafi du da bist — !
Idi freu' midi wirklidi — ! <Er drfldct ihre Hand): So eine sdi5ne Feier — !
Idi kann namlith das ganze Rituale von so einer Nonneneinkleidung
auswendig — ! — <Er zerrt sie fast): Komm, Minerl — ! Geh' — ! <Er
will mit ihr nadi dem Portal hin): So geh — ! Idi zeig' dir die Feier — !
Idi erklar' sie dir — ! Ganz genau — !
Hermine (bleibt): Idi hab' mit dir zu reden, Alois — ! <Bes«6w5rend) :
Alois — ! Mann — ! <Sie halt ihn.)
HehtricB Lautensadt * Das Gef&Bde
343
Frater Coelestin: Es entgeht mir viel — ! Es entgeht mir
zViel — ! Es ist doth die Frau es ist etwas Eucharistisdies
es ist doth die Frau von unserm Bruder Felix — !
P. Guardian: Bruder Felix — ! Gib adit — ! Gib adit auf den
Aug'nblidc, Bruder Felix — ! Wir sind fast zu spat gekommen — !
P. Edmundus (bescfaworend) : Bruder Felix — !
P. Rodius <tritt vor >: Audi idi mocht', dab du hineingehst — !
Bruder Felix — ! Hineingehn sollst du — ! Wir bleib'n heraubn — !
P. Felix < wild werdend) : Wer will mir was — ? Wer sagt, dab idi
da hineingehn soil — ? — Idi g'hor' hier heraufi'n hin — ! ! <Er wiHt
sich nieder. Auf die Knie.>
Frater Coelestin <zu Hermine): Also — was willst du mir sag'n,
Hermine? — Wie steht's daheim in Wolfadi? — Wie geht's dir.
Miner 1 — ?
Hermine: Es is' gar bald ausg'sproch'n, was wir zwei mitein-
ander z spredi'n hab'n. — I' bin gestem na'mittag sdio' 'runter*
g'fahr'n, I' hab' bei der Friul'n Theres ubemacht't. Es is' ja jetz'
scho' ganz gleith, wo ma' fiber Nacht bleibt. Es mufi ja nimmer
daheim sein — in der eigenen Wohnung. Ma' kann die Nichte
umeinand' flankeln — bald dort, bald da — ganz zigeunerisdi. —
Es is' ja sowieso kein Daheim mehr. I' halt' net g'glaubt, dab i'
no' amal unstit werden mubt'. Dab i' umeinand'geister', die Nacht'. —
Ma' braucht ja fast kein'n Schlaf mehr als alt's Leut'. Es is' wie
ein langes Herwadi'n auf'n letzt'n Schlaf — auf'n lingst'n — auf'n
ewig'n. — Na also: kurz und gut: i' hab' dir ein'n Zivilanzug
mit'bracht. Er liegt drob'n in der Wohnung bei der Fraul'n Theres.
Er liegt uber'n Stuhl. Du brauchst nur grad' 'naufgehn und ihn
anziehn. — D' Fraul'n Theres ist eing'weiht in die Sadi'. Der Herr
Benefiziat Obst eb'n falls.
Frater Coelestin <b«grdft>: I' soil das geistliche G'wand wieder
ableg'n . . . ?
Hermine: I' tu' einfach nimmer 1 anger mit.
Frater Coelestin: Aber... du selber, Minerl, bist doch mit
allem einverstand'n g'wes'n...?!
Hermine: Ja. Aber jetz' bin i's nimmer. Nimmer linger, Nicht
eine Stunde linger mehr.
344
He in rids Lautensadi • Das Gef&Sde
Frater Coelestin: Aber du hast doch selber das ausdruddidie
Versprech'n geb'n...?!
Hermine: Wenn i's jetz' aber nimmer halt'n mag, mein
Versprech'n — ? <Ganz einfach sagt sie das.) — Wer will mi' denn
zwing'n — ? — Erst einmal sag' ich's dir. Bei der Fraul'n Theres
drob'n liegt dein Anzug. — Wenn das net nutzt — das heiBt,
wenn du mir net glei' folgst — , dann widerruf' ich mein gegebenes
Versprech'n offentlich! Dann blamier' i' Enk alle miteinander!
Dann lafi i' mi' einfach sdieid'n von dir! Dann kommt's zu einem
ProzeB! Dann kommt's zu einem ScheidungsprozeB! Das wird
dann ein feines Wasserl auf die Muhle von andern Konfessionen !
Ich provozier' in aller Offentlichkeit — dos sag' ich dir — einen
Skandal! — Und deine Briefe — alle die wahnsinnig'n, die
du mir 's letzte Jahr uber aus'm Kloster g'sdirieb'n hast — ohne
Wissen deiner Obern diesen ganzen Briefwechsel, den
du poste restante mit mir g'fuhrt hast, den tu' ich in eine libe»
rale Zeitung — in ein Judenblatt'l. Was braudist du mir
soldie aufregenden Briefe z sdhreib'n — ? Als wie >Abalard und
Heloisec — ? — Drob'n in der Wohnung bei der Fraul'n Theres
liegt ein volliger Anzug von dir.
Frater Coelestin: Aber — Hermine! — weiBt du, was das
von dir ist — ? — Das ist ja Erpressung von dir — !
Hermine: Erst hab' idi mir gedacht, ich geh' einfach ins
Wasser — ja ja — ins Wasser geh' idi.
Fratet Coelestin: Mini — !
Hermine: Du muBtest nur einmal sehn, wie in ganz Wolfach
drob'n d' Leut' uber dich lachen, sobald d' Red' auf dich kommt. —
Aber dann, hab' i' mir 'denkt, wer'n s' nix z lach'n mehr hab'n,
wenn i' erst ins Wasser 'gangen bin — und die notigen emsten
Erklarungen dafur werd' ich auf alle Falle zurucklass'n. — <Sieghaft):
Ja, Manderl, du kennst mi' net, was i' fur eine bin — zu was fur
einer i' gewor'n bin. — Also: Drob'n bei der Fraul'n Theres liegt
dei' G'wand. Unser halbes Vermdg'n, was du dem Kloster
uberschrieb'n hast: soil's verloren sein — ! Das setzst d' auf's
Verlustkonto fur deinen dummen Streich, fur deinen dummen— !
Wir langen mit der tibrig'n Halfte schon auch nodi, wir zwei —
345
Heinridb Lautensad • Das GefQBde
denn wir wer'n ja doth keine gar so groBen Sprunge mehr machen,
wir zwei. — Also — <ganz starr): es is' wirkli' all's uberlegt. Und
es gibt gar kein Zurtick mehr von meiner Seit'n. — Komm' mir
ubrig'ns net mit so' Ausred'n, daB du vielleidit blamiert bist, wenn
du jetz' aus'm Kloster ausspringst. Blamiert hast du di<h viel-
mehr — vor alien Leuten — genug und mehr wie genug dadurch,
daB du ins Kloster hinein'gangen bist. Deine einzigste — einzig
moglidiste Ehrenrettung bleibt: du siehst deine Dummheit ein. —
<Hart. SAdtcnd): Lauft der . . . der Tolpel zweimal an jedem Tag
den hohen Mariahilfsberg 'runter ins Gymnasium und wieder 'nauf — !
Weifit du, wie du mir in deinen heimlidi'n Brief n geklagt und ge-
jammert hast uber diese Steigerei — ? — Ja, sind denn net wenigst'ns
deine alt'n Hax'n no' so g'scheit, daB sie dir endli' sag'n, was
du fur eine entsetzlidie Dummheit begang'n hast — ?!
<In diesem Augenblidt hort das Orgcispiel samt Gesang drinnen auf. — GroBe
Stiile. — Alle miteinander treten gespannt naher ans Portal — mit Ausnahme von
P. Felix.)
Frater Coelestin: Jetz' tut der hodiwurdigste Herr Bischof
drinnen die Fragen —
P. Guardian (tritt zu Felix, der imtner nodi kniet/ ihn aufrflttelnd) : Bruder
Felix — ! Jetzt soli deine Frau drinnen — deine liebe Frau drinnen —
das Geliibde ablegen — !
P. Konradus <tut emport): Aber so laBt's'n dodi— ! So laBt's
docfa den Bruder Felix — !
P. Guardian (rottelnd): Bruder Felix — !!
P. Konradus <auf einen Wink zu seinen Getreuen — spricht mit den
PP. Bruno, Oswaldus und Evaristus): »Vater unser, der du bist im Himmel,
geheiliget werde dein Name, zukomme uns dein Reich/ dein Wille
gesdiehe, wie im Himmel, also auch auf Erden/ gib uns heute unser
tagliches Brot, und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir ver-
geben unsem Sdiuldigern/ und fuhre uns nicht in Versuchung, son*
dern erlose uns von dem Gbel. Amen.«
P. Felix <sidi aufricbtend. AufgestSrt wie aus elnem Traum): Was is's — ?!
P. Edmundus <stark>: Rette, Bruder Felix — ! Rette, wie du
kannst — ! — Jetzt erst geht's selbige S<hiff unter, Bruder
Felix — !! In diesem Augenblidt erst — !
346 Hr in rid) Lautensadi • Das GeCQ6de
P. Felix (schrdt wie Irrsinnig auf. Springtauf. Schrdt. Taumelt durdhs Portal.
Die Stufen hinunter. Sdireiend. Teilt die Menge. SAreit): LaBt's midi — !! Laflts
midi zu meiner Frau — !! Helmtrud — !! Helmtrud — !!! Idi will zu
meiner Frau — !! Zu meiner Frau will idi — !! Ida widerrufe — !!
Helmtrud — !!! <Und so — variierend — fort. Immer femer. I miner mehr in
der Kirdie drinnen. — Und dann still. Still.)
P. Oswaldus <die VorgSnge drinnen beobaditend): Sie sdiaut sidi nidlt
amal nadi ihm um. Nidit die geringste Notiz nimmt sie von ihm. —
<Hetzend) : Aber der Skandal — ! Der Skandal — !!
P. Rod) us: Jetz' fallt ihr langes Haar — fallt — unter der Sdier'.
P. Evaristus: Dodi nur eine Lodte, eine einzige. Das ist dodi
hier in der Kirdie — vorm Biscbof und vor alien Andachtigen —
bloB pro forma.
P. Rodius: Na ja. Ganz g'sdior'n wird s' erst nadiher.
P. Bruno: G'sdior'n wird s' uberhaupt net. BloB g'stutzt. BIoB
kurz abg'sdinitt'n.
P. Rodius: Der Ausdruck g'sdioren kommt von scheren , vom
Wort: die Sdiere. — Jetz' gleitet ihr das Nonnengewand, das sdiwarze,
fiber Kopf und Schultem. — Eingekleidet — !
P. Oswaldus <tlef>: Aus !! <Stille.)
Frater Coelestin <lei»e zu seiner Frau): Na siehst, Minerl, wie
die Frau da drin — die Frau Grafin — die junge —
H ermine (efeenso leise): Du dummer Kerl, du dummer du.
(Orgelspiel set zt ein. Volksgesang: »Gro6er Gott, wir loben di A . . .« Er pflanzt
sidi fort. Bis hier heraas. Die Mooche stimmen — zum Tell niederkniend — ein):
»Herr! wir preisen deine Starke,
Vor dir neigt die Erde sidi
Und bewundert deine Werke.
Wie du warst vor aller Zeit,
So bleibst du in Ewigkeit.
Alles, was didi preisen kann,
Cherubinen, Seraphinen
Stimmen dir ein Loblied an,
AJle Engel, die dir dienen,
Rufen dir stets ohne Ruh'
Heilig! heilig! heilig! zu.c
Hein rid Lautensad • Das Gef&Bde
347
w
(SAon glciA bci der zweiten Zeile der ersten Strophe entfernen siA Prater Coe-
lestin und Herminc langsam naA (inks vorne hinaus. Und so vie sie urn A’e EAe
sind — sAneli ab!>
VIERTER AUFTRITT
Die Vorigen. Ohne Frater Coefestin und Hermine. Ein Teil Volks,
BisAof samt Geleite. Die drei soeben eingekleideten Novizinnen,
worunter die ehemalige Grafin Hefmtrudis. Die Nonnen all mitsamt
der Oberin. P. Felix. Die Eltcrn, Oberieutnant Freiherr Karl von
RuAti und die ftbrigen vier Bruder Helmtrudis', sowie noA einige
Anverwandte. Benefiziat Sebastian Obst aus Wolfach. Justizrat Dr.
Kreidle.
(NoA eh' die zweite Strophe verklungen, drangt sAon ein Teil AndlAtiger heraus:
so als ob die KirAe ein Kessel ware, drin endliA das Wasser, das die Glaubtgen
sind, flbersiedet. — Sedan n der Zug der Nonnen, mit den drd soeben eingeklddeten
Novizinnen, worunter die ehemalige Grafin Helmtrudis, an der Spitze und der
Oberin als BesAlufi. — Aber ungefahr auf derselben Hohe wie Helmtrudis treibt
P. Felix wie auBcrhalb des Stromes mit. Nur noA Augen fur seine einstige Frau
— und siA mit den Handen an der Klostermauer forttastend. — Nun trltt aus
dem Portal der BisAof samt Geleite. — Das Orgelspiel ist verrausAt. — In diesetn
Augcnblick droht Grafin Helmtrudis zu sinken: Nonnen stfltzen sie sogleiA und
aber andere Nonnen wehren P. Felix ab, der auf die Sinkende zu wollte, — Der
ganze Nonnenzug stodet! — Der BisAof tritt mitten aus seinem Geleite hervor.
Die Eltem, Oberleutnant Freiherr Karl von RuAti und die fibrigen vier BrOder
Helmtrudis', sowie noA einige Anverwandte, die zusammen mit Benefiziat Sebastian
Obst und Justizrat Dr. Kreidle hinter dem bisAofliAcn Geleite hcrausdringten,
sind gerade noA Zeugen des Auftritts.)
BisAof (emport gebktcnd): Herr Pater Guardian — ! Bringen Sie mu-
den MensAen wieder zur Vernunft!
P. Guardian <*tarr>: Euer BisAofliAe Gnaden
ein MensA!
BisAof: Er entweihte die KirAe! Er lasterte die sakramentale
Handlung!
P. Edmundus <tritt vor >: Er kr5nte sie! Mit MensAtum krdnte
er ist nur
er sie
l
BisAof: IA verhange die sAwersten Exerzitien zur Strafe
uber Sie alie!
(Alle PP. mit Ausnahme von Felix neigen stumm das Haupt.)
Bischof: Ja, idi bin mir noch nicht ganz gewiB, ob icb wegen St5-
w Voi. m/i
uriqinE
348
Htinrfdi Lautensacfi • Das Gef&Sdt
rung einer heiligen Handlung nicbt auA die weltliAen GeriAte
in AnspruA nehme.
(Einige Stille. — Der Zug dcr Nonnen sowohl als auA dcr Bischof samt seinem
Geleite ziehen water. Im Hintergrund credits urn die Edce«, woher sie gekommen.
— Volk flutet aus der Kirche fiber die Bfihne.)
Justizrat Dr. Kreidle (das Volk, das stocken will, nodi antreibend) :
I Den Weg frei — ! Immer
Immer weiter, verehrte Anwesende
weiter — ! <Er grOfit im Abgehen die Herren Patres.)
P. Pelix (immer nodi an der Klostermauer. Unbeweglidi der Entsdiwundenen
nachsdiauend).
(Die Eltern, Oberleutnant Frdhcrr Karl von Ru<bti and die fibrigen vler Brfider
Helmtrudis', sowie nocb einige Anverwandte, die dnen deutlidien Bogen um P. Felix
madien, geraten dabei ziemlich in den Vordergrund r edits.)
Ein Bruder Helmtrudis': Skandal — !
Oberleutnant Freiherr Karl von Ruditi: Pafit's auf, was i'
sag': Unsere Trudel wird auch im geisdiAen Gewand Are Karriere
maA’n. I A seh' sie sAon als Abtissin, wie sie die allerhdAsten
Furstlidikeit'n an der Klosterpforte empfangt — vielleiAt sogar 'n
deutsA'n Kaiser.
(Die ganze vomehme Sippe ab.
leer von allei
Nodi ein Strom Volks,
bis auf samtliche Patres.)
Sodann die Bfihne
FGNFTER AUFTRITT
Nur nodi: P. Guardian, P. Konradus, P. Edmundus, P. Rochas,
P. Bruno, P. Oswaldus, P. Evaristus, P. Felix.
P. Felix (mit geschlossencn Handen. Auf dem Edcstcin im Hintergrund rethta
sitzend): Was hab' iA in meiner Hand? (Er 5ffnet die HSndc): Nix! —
Ni At einmal eine einzige Lo Ae von ihrem Haar in meiner Hand
P. Guardian (zischend zu den andern): La fit's 'n — ! — (Energisch/
aber ebenfalls leise): Kommt S — !
(Die Patres ordnen sidi zum Zug.)
P. Oswaldus (halblaut): Ja aber — wo is'n der Frater Coelestin?!
P. Guardian (gebieterisch): Weiter — ! — Mars A — !
(Alle die PP. bis auf P. Felix ab. Den Weg, den sie gekommen. Nadi redits hinten
zum lnnufer — zur Seilflhre hinab.)
HeirtricB Lautensadi • Das GefuBde
349
SECHSTER AUFTRITT
P. Felix. Zwei Nonnen. Eine Arabertruppe auf dem Schub. Polizei-
diener. Gassenbuben. Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger.
Hermine, seine Frau. Fraul'n Theres.
P. Felix <sicht sich um. Sieht das Blumengewinde am Portal. Wankt darauf
zu. PflQckt sich eine Blume).
Zwei Nonnen (erscheinen von rechts um die Ecke. Mit einer Stehleiter
und einem Korb. Als sie P. Felix gewahren, machen sic furcbtsam Halt).
<Von recbts hinten herein dringt Larm. Wachst.
Eine Arabertruppe auf dem
Schub kommt. Begleitet von Gassenbuben. Zwei Polizeidiener dirigieren den
ratternden Planwagen mit zwei Pferden. Einige zerlumpte arabische Gestalten
schreiten stolz neben dem Gefahrt her. Na<h links vorne hinaus. Voruber . . .)
(Bezirksgeometer a. D. Alois Pfaffinger — der vorige Frater Coelestin — und
Hermine, seine Frau, kommen von ebenda, von links vorne herein, wo soeben die
Arabertruppe hinaus ist. — Pfaffinger ist im Zivilanzug. Tragt ein Bundel. — Dieses
Bundel scheint ein wenig arg sdinell geschnurt, mit dem Mdndisgewand als Inhalt.)
P. Felix:
Arabien vor
Und gaukelt mir ihr Traum
selbst ganz
<Er la<ht fast): Wie kamen die aucb hierher
hierher
nadi der Batauer Stadt
?
Pfaffinger (befangen. Wie ein Knabe): Herr Pater Felix
f
Hab'n Sie die Araber g'seh'n
?
Mei' Frau erzahlt mir grad.
die war'n gestern sdio' bis bei uns in Wolfadi drob'n — — die
san' auf'm Sdiub
P. Felix (erwacht).
Pfaffinger (sieht an seinem biirgerlichen Anzug herunter. Sich en tschul digen d) :
Mei' Frau wollt's nimmer leid'n, dal) idi im Kloster bin. Da bin
\ halt wieder ausg'sprungen. Ein
Abtriinniger! In dem Paket
is' mei' Kutt'n. I' will s jetz' glei' auf d' Post geb'n. Oder nodi besser
durdi einen Packtrager hinaufschick'n.
P. Felix (will buBen, ohne es in der Stimme irgendwie merkcn zu lassen):
Aber idi kann's ja trag'n, Herr Bezirksgeometer. (Er langt nach dem
BOndel.)
Pfaffinger (erschrodcen): Herr Pater Felix
II
• •
Hermine (entsetzt): Aber
hodiwurdiger — Herr Graf
11
P. Felix: Idi geh' dodi sowieso 'nauf auf'n Mariahilfsberg.
(Er bufit): Idi trag's.
(Er nimmt's.)
Pfaffinger (ausbrediend) : Idi schreib' heut' nodi an Brief 'nauf
an 'n Herrn Pater Guardian
warum dal! mich meine Frau nimmer
350
HtinriS Lauttnsad * Das GefUBde
w 7 r r ' r r ^ T . r ' r . • • ~ T
lafit. — <Er sAluchzt. — Er trdstet sidi setber damit) : Aber mein V ermog'n
— das bleibt dem Kloster —
P. Felix <ga nz nQd)t<rn. Als ob Qberhaupt nidits gewesen ware): Adieu,
Herr Bezirksgeometer adieu, gnadige Frau —
Hermine (fast sdireiend): Aber das Paket —
P. Felix (sieht our next einmal zu der sehr fensterarmen Klostermauer auf.
Verwahrt sein Blflmlein. Und sdiwingt dann das Paket flber die Sdiulter. — Er
bat die bdden Person en da, sdidnt's, scfaon wieder ganz vergessen. Er gebt. —
Aber ganz langsam. FuB vor FuB setzend. Wie einer, der Gehen erst wieder lernt.
Nadi redits hinten hinaus).
Fraul'n Theres (komrat aus der Kirdie. Sieht die Besdierung — das will
sagen: sic erblidct Pfaffinger in Zivil): Icfa bin der Beihilfe Stfauldig.
I' hab' eine groBe Sunde begangen. I' hab' mir's uberlegt. I' wollt'
erst zum Herm Dompfarrer geh'n, urn ihm die Sunde gar reuig
zu beichten. Denn der Herr Dompfarrer, der ist in der ganzen Stadt
bekannt als gar viel streng. Aber jetz' weifl ich, was ich tu'. Icfa
geh' hinauf zu 'n Kapuzinern und bei (fat's. Denn die drob'n auf'm
Mariahilfsberg,- die sind nocb viel strenger. Denen beiebt' iefa's —
Paffinger (in der Rkhtung sdiauend, in der P. Felix versdiwunden ist):
Wie gen Kalvari geht er aufi — !! Mit mein'm Paket auf'm Buckel
wie 'r a' Kreuz !
(Die bdden Nonnen haben angefangen, das Blumengewinde vom Portal zu nehmen.)
(Vorhang.)
ENDE,
AfBert EBrenstein • BegraBnis 353
nare Peuscfael! Viermal binnen vierzehn Tagen haben wir es gehabt,
und noth nicbt Schlufi. Freilich, das Kilo kostet siebzig Kreuzer . . .
Hans, der gerade aus der Schule kam, empfing auth im Vor-
zimmer die erschuttemde Trauernathricht vom Joseph. »Welche Tante
Selma ?« iragte er. Denn wir haben noch eine in Kasdiau und eine
Tante genannte Cousine draufien in Hietzing. Die in Kasdiau war
audi alt, aber Gott sei Dank, zu ihrer Leith werd ich nicht fahren
mussen. Die Spesen wiirden zwar nicht den Papa, aber immerhin
die Mama bewegen, midi bei dieser nodi zu erwartenden Trauer-
fesdichkeit auszusthalten . . . Hans stellte fest, die Peusthelportion
sei klein und die Sauce nicht allzu reithlidi vorhanden. »Die Ro2ena
wird draufien alles aufgeliressen haben !c schimpfte er. Es sei ihr von
Herzen gegonnt, wenn sie mir nur morgen die Sdiuh anstandig
putzt . . . Ah, der Papa war audi nicht da. Ja, riditig: die Zeitung
fehlte. Die brachte er immer mittags aus dem Bureau mit. Dafi ith
die Zeitung nitht vermifit hatte! . . . Der Papa war zu einer Leidie
gegangen. Das ist eine seiner Lieblingsbesthaftigungen. Wenigstens
sthnappt er Luft. Am Abend wird er dann erzahlen, wer mit-
gegangen ist und wieviel Kranze waren. Dann wird er den Hans
durdihauen, denn die Auskunft durfte hothstwahrsdieinlich miserabel
ausgefalien sein. Oder nein: diesmal wird er ihn nitht durchprugeln,
weil der Hans etwas im Ohr hat und unlangst erst zwei Nasen-
operationen uberstand . . . Also der morgige Nachmittag wird futsch
sein. Und ich hab mith so drauf gefireut, diese narrischen Zauber-
marthen und Munchhauseniaden vom Lukian zu ubersetzen, den
magischen Esel und die wahre Geschichte. Und hie und da einen
Blick in das Budi vom Baber zu werfen. Ausgeschlossen. Ith mufi
mit. Schon dem Eduard zuliebe. Und der Onkel Ignaz hat mir gewifi
mehr Gefalligkeiten erwiesen als ich ihm. Es schickt sith, dafi ith zum
Begrabnis seiner Mutter gehe. Der Eduard wurde mith vielleitht noth
verstehen, wenn ith nitht kame. Sdiliefilich: wer kann mir's denn
sdiriltlich geben, dafi ith morgen traurig bin? Am Ende werde ith
noth durth mein Benehmen Anstofi erregen, Niemand garantiert mir,
dafi mir nicht beim Begrabnis, beim Kondolieren plotzlich ein ver-
rudcter Einfall vom Lukian durdis Gehirn schiefit und ohne mith zu
fragen den Lathmuskel in Aktion treten lafit . . . Das Schidtsal geht
354
AfBert EBrensttin • Begr&Bnis
furchterlidi mit mir um. Hatte denn die Tante nidit nodi langer leberc
konnen? Wenigstens bis Montag?! Dann •ware die Leidie am Mitt-
wodi gewesen und da hatte ich Vortrag im Seminar gehabt, der
ware unmoglidi abzusagen gewesen, und das hatte midi wenigstens
vor dem Bruder des Ignaz, beim Onkel Siegmund, entschuldigt.
Obzwar idi einen Sdimarren auf ihn gebe. Der Rudolf soil audi zur
Leidie kommen. Es ist ja seine Grofimutter. Sie haben ihm nadi
Bamberg, der tagsuber betenden Stadt, telegraphiert. Idi wette, der
Kommis kommt mit einer goldenen Uhrkette. Sonst ersdiiefie idi midi.
Was? Die Tante ist gestem mittag gestorben! Den ganzen Vormittag
hat gestern die Mama auf die Floridsdorfer gesdiimpft. Auf den
Onkel Siegmund, weil der sie bei der Geldaffare von ihrem Bruder
Heinrich angeblidi hatte hineinreiten wollen. Auf den Onkel Ignaz,
weil der von ihr Geld vorgestredct haben wollte, dabei aber — ent-
setzlidi! — seine Frau, die Tante Risa, in einer Persianerjacke um
dreihundert Gulden gehen liefi. Auf die Sdiwester vom Ignaz und
Siegmund, auf die Charlott, hat sie g'schimpft, daB die ihren »von
Haus aus« gutmutigen Mann durch fortgesetzt hodimutige Behand-
lung zu dem Kartenspieler gemadit hat, der er ist. Und schlieBlidi
auf die Tante Selma selbst, weil die sich nodi einmal verheiratet
hat, und gar mit einem Manne, der so viel Kinder hat. Alles Geld
vom GroBpapa sei in die Floridsdorfer hineingeronnen, und was
hatte man davon? Undank! ... Ich finde, es ist doch selbstverstand-
lidi, daB der GroBpapa die Tante Selma, seine einzige Sdiwester,
unterstutzt hat . . . Idi hoffe nur, das mit der Telepathie ist eitel
Holler, und die Sdiimpfworte von der Mama haben nicht der Tante
Tod mitverursadit? Die Mama hat zwar von der Krankheit ihrer
Tante nidits gewuBt, aber idi hab ihr oft genug gesagt, daB die
Fludie von Verwandten moglidierweise die Kraft besitzen, von Blut
zu verwandtem Blut zu dringen, Und sie selbst hat darauf gesagt:
»Man kann nidit wissen . . .«
Idi konnte mich eigentlidi drin im Speisezimmer niederlegen, die
Maroni sdimedcen mir nur beim Maronibrater, die von der Mama
sind immer viel zu hart. Na, gehen wir. Arbeiten werd idi so wie so
nidit konnen. Idi sollt zwar eigentlidi den Lukian ubersetzen, bevor
der Termin ablauft, und dann habe idi nodi ein Gedidit zu zer-
Hr
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355
AIBert EBren stein • BtgrdBnis
Z . * . . J . . / A . . . / ... . i . . . W . . . « / ’ • . S < . . . /
reifien, well idi midi am Heimweg heute auf einer unbewufiten Re*
miniszenz an den gottseligen Ferideddin Attar ertappt habe. Es
gibt ja sdion so wie so genug Professoren der angewandten Kryp-
tomnesie in unserer Literatur . . .
Gelautet hat's. Das ist entweder die Milch oder ein Kollege von
mir, den idi hinausschmeifien werde. Heute spiel idi weder Schadi
nodi Strohmandel. Erstens ist eine GroBtante von mir gestorben,
zweitens wiegte ich midi zwar noth heute fruh im holden Besitze
von sechs Kreuzem, dann aber kam der Brieftrager und brachte ein
Mahnschreiben von der Bibliothek und nachdem ich einen harten
Kampf dagegen ausgefoditen hatte, dem Mann aus Ironie einen
Kreuzer Trinkgeld zu geben, blieb idi infolge des vom Sdiicksal
verhangten Strafportos in dem Besitze von zve i in einem Stuck ver-
einigten Helletn . , . Gott sei Dank! es war nur der Asdienmann,
Asche von der Fabrik, die bei uns Erspamis halber fiber die glim*
mende Kohle gesdiuttet wird, Wie sich die Mama freuen wird,
dab sie nicht zu Haus war. So hat sie ein Stamperl Sdinaps er*
spart . . . Was soil ich eigendich anfangen? Zeitsdiriften lesen? Den
>Frfihwind« oder den >Nachtraben« ? Das Zeug ist unverdaulich.
DjiB die Mensdien nicht den Takt haben, ihre diversen Verlags-
kritiken in den Inseratenteil zu stecken. Kritiken gehoren fiberhaupt
unter die Annoncen. Ob er nun mit seinem Lob oder Tadel nicht
ganz reinlidbe Tausdi* und Revanchegeschafte treibt, immer macht
der Beurteiler Reklame ffir sidi und seine Weisheit . . . Komisch,
wenn so viele Leute immer wieder auf den Literaturhumbug hinein*
fallen! Was ist eine literarische Revolution? Dickbauche mit donner*
grfinen Krawatten erheben sich glatzenblitzend vom Kaffeehaustisdi
und machen argerlich Leuten mit blitzvioletten Nasenringen Platz, die
laut, lockig und mager langst sdion gierig auf die Melange mit Apfelsaft
der Krawattophoren geblickt batten, Alle dreifiig Jahre Wiederholung
der Vorstellung. Idi verzidite , . . Es lautet schon wieder, Nicht
einen Moment kann man sdilafen! Das Dienstmadchen sagt >KfiB
die Hand*. Das ist ein Attentat auf midi. Da habe ich das Ver*
gnfigen, der alten Tante Fanny die Honneurs zu machen, Leider
ist das Zimmer gut
haben, Gehortes wiederzuerzahlen, was idi uberaus liebe, Schade,
geheizt: also durfte ich ziemlich lang die Ehre
356
A/Bert E Brens t* in • BegrdBnis
******
*****
*
daB die Mama *leider« nidit zu Hause ist — sie und die Tante
Fanny konnen einander gegenseitig nidit ausstehen. Idi hab sie ganz
gem, sie redet sehr wenig, dafur soil man aber audi ihr in einer Tour
erzahlen. Idi: >Sie wissen doth, daB die Tante in Floridsdorf ge-
storben ist.« Sie: >Ja, idi habe die Parte in der Zeitung gelesen.
Weifit du vielleidit, was sie gekostet hat?c »DreiBig Gulden.*
>Unversdhamt.« Dann aber hatte ich genug und erklarte, der Doktor
habe mir infolge eines sdileidienden Brondiialkatarrhs das Reden ver-
boten. »Traurig,c sagte die Tante und liefi es dabei im Ungewissen,
ob sie die Verstorbene damit meine, oder midi. Dann aber konnte
sie sidi dodi nidit enthalten, zu fragen, was wir heut zu Mittag ge-
habt hatten. Als Antwort bot idi ihr Salmiakzutkerln an, sie nahm
und ob sie hierauf gesagt hat: »Sie hat es fibers tanden* oder *die
Arme hat ausgelittenc, ist mir nidit mehr erinnerlidi. Denn in dem
Augenblick kam der kleine Felix ins Zimmer und widmete sich der
Tante, nachdem idi midi mit den Worten »Idi muB lemen gehen<
verabschiedet hatte. Sollte idi vielleidit der Tante Fanny erzahlen,
daB die Tante Selma gar nidit gestorben sei, mir wenigstens jede
ihrer Handbewegungen vor Augen stand, ihr fireundlicher Blick und
jede der Einzelheiten ihres Gesidites? Sollte idi sagen, roh und dock
wahr, nidit ein Jahr mehr oder weniger sollte ein Mensdi leben,
darauf komme es nidit an, sdion weil das Leben nach Jahren zu
zahlen etwas unendlidi Falsdies sei . . . Sollte idi sagen, daB idi
keinen Untersdiied zwisdien Lebenden und Toten madie, da wir ja
von beiden gleidierweise, wenn wir mit uns allein sind, nidits be-
sitzen als eine mehr oder minder matte Erinnerung ihrer Gestalt
und ihres Wesetis, des Klangs ihrer Stimme und der Art ihrer
Gesten, eine Erinnerung ubrigens, deren Intensitat nidit einmal ab«
hangig ist von dem Grade der Zu» oder Abneigung, die wir den
einzelnen entgegenbrachten. Jeder vemunftige Mensdi, der einen oko-
nomischen Gebraudi seiner Zeit zu madien gewohnt ist, wird die
Toten lieber kommen und gehen sehen als die Lebenden. Der sinn-
lidie Eindruck, auf den die meisten angewiesen sdieinen, ist dem
feiner Organisierten entbehrlich, sogar lastig, sonst wurde das langere
Zeit wahrende oder audi nur wiederholte Zusammensein mit den-
selben Personen sie nidit mit jenen Gefuhlen versehen, die man in
AfSert E 6 re n stein • BegrdBnis
357
w 9****m*s**m*mnmamgmmMm*imm***4S*msm**mmmmm*m*m—mm**m****0m****si0*0*0M>
der Umgangsspradie mit >auf die Nerven gehenc zu bezeidinen ge-
wohnt ist. DaB wir genotigt sind, im Grunde ewig dieselben Speisen,
Getranke, Frauen und W ohnungseinriditungsgegenstande uber uns
ergehen zu lassen, ware genug, diese Pein nun noch zu verscharfen,
indem man sidi zwingt, mit anderen Mensdien zu verkehren, deren
jeden man sich ja doch nadi hodistens zweimaliger Beobaditung aus
der Westentasdie zu ziehen und vor sith auf dem Tisdie agieren
zu lassen getraut, dazu gehort die Geduld eines Dickhauters oder
normalen Mensdien. Aber konnte icb das der Tante Fanny er»
zahlen, ihr sagen, daB es meine Art ist, die Lebenden zu betrauern !
Wurden sie und die anderen Mensdien midi verstehen? Kassandra
hat nie den Fall Trojas, ihrer Bruder nodi ihrer eigenen beklagt/
diesen Dingen stand sie vielleidit gleidigultig, ja Oberlegen ironisch
gegeniiber. Jahre vorher bat sie geweint und geklagt — die ver-
ruckte Seherin, die alle Dinge kommen sah und der daher alles
Erleben scbal und gemein ward . . . Die da drinnen und draufien,
die Durchsdinittstanten, ihre Stimme horte idi schon vor Jahren den
Tod audi dieses Mensdien besudeln. >Weldi ein Verlust fur die
Maltsdii! Die ist nun vollstandig Waise und hat nun gar niemand
mehr, weil jetzt audi ihre Grofimutter tot ist!« . . . . Einmal und
kein zweitesmal wieder habe idi alle mir Nahen betrauert, damals,
als idi mit vierzehn Jahren meine UrgroBmutter sterben sah, und
damit es audi wirklidi wuBte und begriff, daB icb und alle sterben
mussen. Denn bis dahin lebte idi in einem Feenlande. Professoren
und Eltern waren mir nur eine herbe Prufung, die zu uberstehen
war, bis idi von Gott und den Maditen, die zwisdien uns und ihm
sind, einer besseren Daseinsform, einer Verwandlung fur wiirdig
befunden wurde. Als die UrgroBmutter starb, sanft, aber eben doth
starb, da rannte idi hinaus und biB ins Gras und walzte midi in
den Pfutzen, weinte und fludite — ohnmaditig. Seitdem starb mir
niemand mehr, und wer dem Ansdiein nadi spater starb, war mir
sdion damals mit der Grofimutter begraben worden. Und von alien
Begrabnissen, die ja doth keine waren, blieben mir nichts als haB-
lithe Erinnerungen. Als der GroBpapa starb, die ganzen Ferien vor-
her betete idi zu idi weiB nicht wem, den Tod nidit mitansehen,
das Begrabnis nidit mitmacfaen zu mussen. Idi beneide alle die, welche
358
A/Bert E> Bren stein • BegraBnis
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Unlogik genug besitzen, bei jedem neuen Tod zu weinen und Trauer-
mienen zu hissen, Diese Leute haben oft Gefuhl, mein Her z ist aber
seit jenem ersten Tod meiner und aller versteinert . . . Was sollen
diese Begrabnisse? Sie sind die Ausdrudcsform fur die Gefuhle der
meisten. Das Weinen ist kein inneres perennierendes, es ist ein
intermittierendes/ das Begrabnis ist der Ruf der Gesunden nach
dieser auf den Einwurf >Tod« erfolgten Funktion des Gefuhlsauto-
maten. Der Ruf (autet: »Punktum, StreusandU , . .
Die Jause. Die Tante war schon fort, hingegen der Papa da. Bei
dem Begrabnis der alten Martinsdiak hatte es drei Wagen, vier Kanze
und funf Tranen gegeben. Dies dacbte ich mir. Als idh aber horte, das
einfadie Begrabnis babe zweihundertundfunfzig Gulden gekostet
mein Gott, die Pfaffen sind sdiredrfidi teuer
verhundertfachte ich
die Anzahl der Tranen. Von den Poppers waren die Sdhne, wefdie
die Alte aus gutem Herzen und nidit etwa ge gen bar erzogen
hatte, nidit dabei gewesen. Und den anderen mufite erst der Papa
»Sdiliefilidi beten wir dodi alfe zu einem Gott« sagen, bevor sie es
mit ihrem Judentum fur vereinbar hielten, zur Seelenmesse zu gehen.
Nach der Jause Zeitung, Baber, Lukian und dem Felix meinen letzten
Kreuzer, weil er sidi auf dem Eis Zuckerln kaufen wollte. Aus
Berechnung: er mufite mir dafur verspredien, nidit mit den Sesseln
im Zimmer umeinanderzufahren, wenn idi nebenan arbeite. Wenn
ich blofi lerne, geniert midi das nidit, aber audi nur einen vernunf-
tigen Satz bei dem Gesdiarre und Gerutsdie sdireiben zu mussen,
ist gehirnzerruttend. Am Abend ersudite ich den Papa, morgen da-
hinzuwirken, dafi wir nidit etwa aus Mamas verfluditen Erspamis-
rucfesiditen bis zu der Dampftramway fahren und irrsinnigerweise
uber die windgeliebte Brudce gehen mussen. Er sagte, wenn idh mir
das Geld fur die Dampftramway verdient hatte, solle ich mit der
fahren, sonst nidit. Ich bin aber sidier, er wird mir der Mama gegen-
uber morgen die Stange halten. Es ware audi zu bldd, wegen sedi-
zehn Kreuzern mehr einen von uns krank zu machen, der nidit die
robuste Konstitution meiner verehrten Frau Mama besitzt. Spat
abends kam sie, und war in der bittern Kalte allein von Florids-
dorf zu Fufi nach Hause gegangen. Sie sagte mit geheimer Schaden-
freude, die sie als Mitleid maskierte: >Die Charlott sieht elend aus.
359
Af&trt EBrenstiin * BegraBnis
Icb glaube, die Arme hat wirklich Tuber kulose . . . Und jetzt wird
die Maltschi nicbt mehr die Grafin spielen und Hute um zwolf,
funfzehn Gulden tragen, wo icb mir alle zehn Jahre einen um zwei
Gulden mach'. Der Alte hatt' sie am liebsten gleich heute hinaus-
gesdimissen. Gerecbte Strafe Gottes, dab jetzt alles in seine Kinder
erster Ehe hineinrinnt und der Ignaz und der Siegmund es nicbt
speisen. Denkts eucb nur: im Testament steht, daft der ubertebende
Teil Universalerbe ist, und jetzt hat der Alte sie uberlebt und
kriegt alles.*
★
Gestern nadit lag icb trotz des sonst einschlafemden Bades bis
in die Fruh wach. Da war das Begrabnis der.alten Bluska, die
dreiBig Jahre lang beim GroBpapa in der Fabrik gearbeitet hat, bis
sie Typhus bekam, und von der Grofimama und mir zum Grab
begleitet ward. Dann der Tod der UrgroBmutter, die uns immer
Madeiratrauben gegeben und vor der Mutter beschutzt hat. Einmal
scbenkte sie mir auch einen Funfer von dem Wenigen, was sie hatte,
ohne zu ahnen, daB er langst auBer Kurs gesetzt war. Vielleicht scbenkte
sie mir ihn dafur, daB icb sie fuhrte, wenn sie mit dem Eigensinn
des Alters heim nacb dem viele Stunden entfemten Werbotz gehen
wollte und mud nach einigen Schritten umkehrte,- vielleicbt aucb wollte
sie micb eingefleiscbten Romanleser aneifern, ihrem Rate: »Lies lieber
Schiller und Kotzebue* zu folgen . . .
Und einige Zeit spater sprang icb hinunter in das Wirtshaus unten
und sagte meinen Freundinnen, den drei Maddien, stolz, wie trium-
phierend auf eine eigene Leistung: >Mein UrgroBvater ist gestorben.
Siebenundacbtzig Jahre ist er alt geworden.* >Heilige Dreifaltigkeit, so
alt!« Und als icb im Sommer wieder in das slovakische Dorf kam,
war der Betstuhl des UrgroBvaters schwarz ausgescblagen und der
GroBpapa betete auf einem anderen Platz. Die Mama aber feierte
einen hygienischen Triumph, denn nun lodcte micb niemand mehr zu
sicfa, um mir einen Loffel des stark mit Rum, Wein oder Kognak ver-
setzten Tees zu geben, und eine Bezugsquelle von Kircfatagskreuzern
war nun aucb versiegt . . . Ein Sommer kam, icb hatte meine usuelle
Nachprufung, o Mathematik! — aber der GroBpapa war schwerkrank.
Oft, wenn er aufmerken und am Tischgespradi teilnehmen wollte.
360 Albert Ebrenstein • Begrabnis
******* ******************
wurde er sdilafrig und sein Kopf glitt an der aufgestutzten Hand
nieder zur Tisdiplatte . . . Und dann im Herbst die Fahrt zum Be-
grabnis mit meinen Cousins, den Hoisenfelds, die als die Alteren mich
trotz meiner Trauer in Lundenburg leicht uberredeten, ebenso wie sie
mir zur Zehnuhrjause von den wundersdionen Trauben zu kaufen,
wofur idi midi noch heute ohrfeigen modite . . . Denn das Abschied-
nehmen von dem Toten, das Ihn-um-Verzeihung-bitten . . . und
drauBen vor dem Haus das Gesdiimpf der Sdinorrer von Motsdiid-
Ian, die, weil jeder nur eine Krone bekommen hatte, sdirien: »Jadi
hab geglaubt, es ist dos e groiBe Firma, de Singers von Maltsdi,
daweil . . . nidit erleben sollen se!« ... und das Gesdirei meiner
Mama und ihrer Sdi western am Grab: *Mein lieber, siiBer, guter
Papal* dies ailes ist uber midi hingegangen, und wurde aufgenommen
von einem kalten, seibstsGditigen Herzen, tranenlos, weil nidit sdilecht
genug, Tranen erpressen zu wollen, und dodi mitfiihlend. Nur fuhlte
idi alles, wie ein sdion langst Erlebtes, und fuhlte wenig, weil idi,
wie stets, benommen war vom Sehen. Idi sah und horte GroB-
papas Kompagnon weinen und schludizen — es war niemand mehr
da, den er ahnlidi betrugen konnte,- idi sah den Sohn weinen —
wer wurde ihm jetzt die Sthulden zahlen? Und ahnlidi teilte und
erforsdite idi den Sdimerz eines jeden, wie ein groBer Spiegel, der
wohl jeglichen Liditeindrudt empfangt, aber bei seiner rezeptiven
Tatigkeit nie dazu kommt, er selbst zu sein. Ein Spiegel, ein Gram-
mophon! Ein jeder Hall und Schall grub sidi in mein Gedaditnis
ein, idi selbst stand nah und war doch weit, weit weg und doch am
selben Ort: und sah das Begrabnis meiner nodi lebenden GroBmama!
Damals war es, daB idi midi vor mir zu fiirditen begann. Etwas
Grauenvolles lebte in mir, mit mir. Idi lebte, fuhlte, hofite, weinte
und ladhte und nun war audi nodi etwas auBerdem da, das jeglidhes
innere und auBere Gesdiehnis bald fluditig, bald weitsdiweifig, bald
kunstlos, bald pointiert in das keines Widerstandes fahige Gehirn
sdirieb. DaB es mir gegeben war, ohne dies zu wollen, tief in den
geheimsten Gedanken der mir Bekannten zu wuhlen! Und nidit das
allein, idi wufite die Zukunft eines jeden von ihnen. In ihrer An-
wesenheit, wahrend sie mit mir spradien, begrub oder verheiratete
idi sie, je nadi ihrem Alter. Und ging bei ihren Begrabnissen mit.
Afbert E Bren stein • BegraBnis
361
wenn sie tnir eine Zigarette anboten, und verheiratete sie bei ihren
Promotionen . . .
Wie dcr Vormittag voruberzog, weiB icb nicht. Vermutlich ging
icb in Gedanken mit Eduard nach dem Begrabnis spazieren, wie
gewohnlich. Ja, es ist nicht ausgeschlossen, dafi ich ihn um seine
Meinung bat uber ein oder das andere Buch, von ihm drohenden
juridischen Prufungen sprach, besorgt, wie es sich fur einen Cou-
sin geziemt. Vielleicht audh fragte ich ihn, der seine GroBmutrer
verloren halte, ob ich ihm den im Erscheinen begriffenen Roman
Babenbergs fortsetzungsweise oder erst, wenn er vollstandig sei, zu-
kommen (assen solle. So bin ich, ich kann nicht anders. Der Onkel
Ignaz, der mich gut kennt, sagte mir einmal: »Wer da mit Menschen-
und mit Engelszungen redete, und hatte der Liebe nicht, so ware
er ein tonend Erz oder eine klingende Schelle.« Nidits nutzt mir
dieses sein Mich-Erkennen, nicht schutzt es mich vor meinen Ge-
danken: Da ist mein Wissen darum, daB die Tante Risa den Rudolf,
den Kommis, fragen wird, wieviel Gehalt er hat. Und ich sah schon
die Maltschi mit ihm eine zartlich-traurige Gruppe bilden, die zarte
Schwester an den starken Bruder gelehnt . . . Mich Elenden sehe ich
stumm und befangen umherirren, bald mich verkriechend, bald die
Worte dieser oder jener Gruppe schluckend. Es muBte mit dem
Teufel zugehen, wenn ich nicht irgendeine peinliche Szene hervor-
rufen sollte. Und innerlich werde ich mich bald schamen, bald uber
irgendwas wutend sein, sicher uber den Rabbiner, nach aufien
aber immer gleichgiiltig wie nur noch der dritte Sohn der Tante
Selma, der dicke Moritz aussehen kann — durch zusammengebissene
Zahne und verlegenes Schweigen eine Art Trauer markieren . . . Zu
Mittag gab es einen Diskurs uber die Kleidung, weil ich mich nicht
bewegen liefi, eine Winterhose von Joseph statt meiner schleifiigen
zu nehmen. Dann gab mir der Papa ausnahmsweise, ohne sich darum
bitten zu lassen, et/was Geld, woruber die Mama zu schreien und
zu gestikulieren begann. Bauchgrimmen von den Kohlruben im Herzen,
machte ich mich auf den Weg. Ich hasse Begrabnisse und andere
Familienfestlichkeiten. Nun gar noch verbittert durch die Anwesen-
heit der Mama. Es kam, wie ich es geahnt hatte: wir fuhren zur
Dampftramway. Und in der Elektrischen focht die Mama mit Blicken,
362
Afbert EBrensttin * BegraBnis
„„f,f„tt„f,„t,9,„i9999f9JJ9?J909900009J0J9**9*9*9*9*99J09999900009099009000000999900000090000000049099900000J*0000*0J0930009m0*0*90+0090
Gesten und kleinen RippenstdBen dagegen, daB der Papa dem Kon-
dukteur cinen Kreuzer Trinkgeld gab . . . He, ich hatte midi im Traurig-
sein zu uben. Einmal hab ich im Gymnasium so intensiv Zahn-
sdimerzen geheudielt, daB ich wirklich welche bekam. Ein andermal
Trauer iiber die Sdiarlacherkrankung der Melanie so vollkommen
in Erscheinung zu bringen gewuBt, daB mich ein Professor, der midi
sonst absolut nidit goutierte, trosten zu mussen glaubte und mir
Jahre hindurdi keinen Funfer gab. Einmal aber hab idi zu gemeinsten
Zwecken Trauer geheuchelt, um Trauer zu meudieln. Einem Dienst-
maddien war die Sdi wester gestorben. Wir sind allein zu Ha us ge-
wesen. Sie weinte, idi versuchte sie zu trosten. Sie lehnte sidi er-
mudet an midi und idi streidielte sie, und schlieBlidi, obgleidi sie bis
dahin mich absolut nidit gemodit hatte, glitten wir in ein Land, das
gewiB nidit an diesem Abend zu betreten war. Nadi der raffiniert
gemeinen Ausnutzung dieser psychologisdi interessanten Situation und
Seelenstimmung bin idi mir damais recht damonisdi vorgekommen . . .
Der Joseph remonstrierte, aber es half nidits: »Eine Strecke gehen,
eine Strecke fahren« sagte die Mama, und hatte dabei furs Gehen
die windige Strecke uber die Donaubrucke ausgesudit, weil namlidi
die Dampftramway um zwei Kreuzer teurer ist als die StraBenbahn.
Ein an die Adresse meines Brondiialkatarrhs geriditeter Sturm und
infolgedessen an uns vom Papa ausgeteilte Bemzudterzelteln, die,
Aussage der Mama, nach Urin schmedcten und niditsdestoweniger
gierig von ihr begehrt wurden, das waren die nadisten Ereignisse.
Naher und naher. Idi bekam Herzklopfen. Vermisdit mit Gewissens-
bissen. Denn idi beging eine unehrenhafte Handlung, wenn idi dort,
wo idi hodistens meines Todes halber eine Art Trauer hatte auf-
weisen konnen, aus Eitelkeit und *Was -wurden -sonst-die-Leute-
sagen« Bewegungen, Mienen und Worte der Trauer machte. Ver-
steinert ist meine Seele und fuhlt mit keinem Mensdien, nur hie und
da mit einem Tier oder gleich mit ganzen Volkem Mitleid.
*Wieviel Leute es da gibt,« sagte der Papa und sdirieb mir vor, wem
idi kondolieren solle, und daB ich namentlidi dem alten Onkel und
der kranken Charlott beim Weggehen sagen solle *Gott troste Sie«.
Ah, Rabbiner sind auch da, Dort in der Ecke sitzt der alte Raubvogel
und hinterbliebene greise Gatte. Allen nahen Verwandten der Toten
363
A/Bert EBrensttin • BegraBnis
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die Hand gegeben und mein Beiieid ausgedruckt. Nur vie ich zur
Charlott kam, trat ich in der dunkeln Nisdie auf den nicht bemerkten
Sarg und in meiner Wut und Verlegenheit gab ich dem Eduard,
den sie mir foigen hiefi, nicht die Hand. Tat auch wahrend des
ganzen Begrabnisses nichts dergleichen. Als ob wir ganz unbekannt
miteinander waren. Denn dort, wo du nicht mitfuhlen kannst, heuchle
nicht unnotig. Und wenn ich mit ihm gesprochen hatte, irgendein ver-
ruchter Witz ware mir do<h entschlupft und am Ende gar eine lite—
rarische Reminiszenz. Also lieber nicht. Einen groBen, gutmutigen
Schnurrbart hat er ubrigens bekommen, seitdem ich ihn nicht sah,
einen Altmannschen , ahnlich dem vom Ignaz. Er sieht aus wie ein
Mann . . .
Ein offener Sarg, die Tote im Bett aufgebahrt, das hatte sicher
auf mich gewirkt. Aber eine schwarz ausgeschlagene Kiste muBte
doch durch die vielen schwarz ausgeschlagenen Menschen, ihre mannig-
faltigen Gebarden und Korpergerausche in Schatten gestellt werden.
Jetzt freilich, wo ich allein bin, verblaBt das andere, es verschwindet
das Gesicht des Onkels Ignaz, auf dem gesdhrieben stand: »Man kann
da leider nicht helfen«, vergeht das Gesicht des abgemagerten Siegmund,
unsichtbar wird der Ballgehrock des Kommis, der vermutlich jetzt
tanzen lernt, wie weggeblasen ist die Goderljudin, die der Robert
geheiratet hat, samt ihm, der mir auf meine Phrase eine andere
herausgab — da ist nur die Tote mit ihrem Haametz, den breiten
fast noth schwarzen Augenbrauen, der so gar nicht entstellenden
Warze seitwarts unter den merkwurdig auseinandergeworfenen
Lippen, sie bietet mir Badcereien an, und wenn ich nicht irre, spielen
wir Lotto . . .
Gleich nach den Kondolenzen — ist die Maltschi wirklich so a b»
gemagert, oder macht es das schwarze Kleid? — verschwand ich,
genet unter fremde Damen, die sich im Vorzimmer aufgestellt hatten,
als hatten sie keine Ahnung davon, dafi jemand Kohlriiben gegessen
haben konne. Und gleich nadhher lang marschiert sei. Ah, es sind
die vom Geschidc gerade hierher gesandten Manaden, die mich dafur
bestrafen, dafi ich nicht an ihren Trauermysterien teilnehme... Wie
die Charlott schlecht aussieht! Und die kleine Martha hustet auch
noch von ihrer Rippenfellentzundung her. Die Mutter, die Charlott,
« voi. m/i
364 A f Bert E Bren stein * BegraBnis
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ist tuberkulos, ob da wirkliA a At Stunden tagliA SAuIe bei der
ToAter angezeigt sind? Lernen soli sie auBerdem noA und im Ge-
sAaft und in der WirtsAaft mithelfen. Bei wenig Bewegung und ohne
Sport kann das niAt gut tun. NiAt sAleAt sieht sie aus, trotz-
dem, das ist wahr. Aber kein Arbeiter wurde es si A heutzutage
gefallen lassen, so lang eingespannt zu sein. DoA dem eigenen
Kind tut man's an. Da werden Verordnungen gegen Kinderarbeit
erlassen, die Geistesfabriken aber sperren niAt fruher ... IA
werd mit dem Eduard einmal ein Wort dartiber reden . . . Jetzt
singen sie drinnen. GelegentliA werde iA einmal einen dieser
zwiAerbehangenen Briillaffen ersAlagen. Was haben die dabei zu
tun? NaAstens verwandl’ iA in einem MarAen einen unbarm-
herzigen Professor in die Chevra KadisAa! Die Tante soli, bevor
sie si A zu Bett (egte, oft und innig gebetet haben. Hat sie am
Ende gewufit? Dann hatt' sie siAer das Testament abgeandert . . .
Man geht sAon. Der Eduard stiizt seine Mutter, die Charlott,
und weint. Urn seine Mutter oder weil die GroBmutter aus ihrem
Haus getragen wird. Der Rudi hilft ihm stiitzen, der BursA war
von jeher ein Aff. Wie ihm gesagt wurde, sein Vater sei tot, hat
er stundenlang monoton geheult, und das Gewein war no A dazu
Imitation. VielleiAt hat er gemeint, man erwarte solAes Dauer-
gejammer von ihm . . . xqveqoio e^ojqoe yooiol
Nein, von Blut war in diesem Weinen niAts gewesen, Es kam
aus dem Kehlkopf . . . Da hinter mir erzahlt einer im Zug von
Kampferinjektion und Sauerstoffzufuhrung. Und redet noA von
sanftem Tod. Allerdings ist es trotzdem mogliA: iA glaube, es ist
der Arzt der Tante, der Doktor Regenwurst, der hinter mir . . .
Jetzt rieA iAs erst: mein Herr Bruder, der Joseph, hat siA heut
naAmittag der LeiAe zu Ehren mit MosAusseife gewasAen. Na,
wenn iA der Herrgott war, konnt iA's auA niAt anders einriAten:
der eine freue siA an MosAusparfiim, der andere an ahnliA pene*
tranten Einfallen . , . Ah, der Spieler, der Mann von der Charlott,
ladet uns zum Mitfahren ein. Er sieht aber gar niAt iibel aus, von
Trauer keine Rede. Rote Backen. Mir sAeint: bei mir hat der Verstand
die Seele aufgefressen, bei ihm hat das GesAaft der Verdauungstrakt
besorgt. LeiAenhalle. Die Frau SAarmann, die Stiefmutter vom Rudi
AfBert Ehrenstein • Begrafittis
365
und der Maltschi, spridit midi an. Ob idi sie nodi erkenne? »Aber
natiirlidi.c Aus wem rinnt denn noch der belanglosen Reden Strom
wie aus einer Bassena? Des Affen geistige Mutter. Oh, die zu FuB
gehenden nahen Verwandten kommen sdion. Was ist das? Richtig!
Drei symmetrisdi ausgestreckte Muffe,- der sdiabige gehort der Mama,
die andern der Risa und der Goderljiidin. Sdirecklidi: der Rabbiner
wird reden. Sein Tonfall ist so idiotisdi, als ob er ein ehemaliger
Professor von mir war. Jetzt singen sie auch nodi. Haltjegugu. Was
ist denn das? Richtig, unlangst war idi beim Koschatquintett und der
Judizer stieg wieder auf in meinem Gehirn, durdi einen ahnlidien
Triller der Judenbuben erweckt . . . Beim Tod von meinem GroB-
papa hat auch so ein Korybant eine Rede gehalten. Wenn idi da-
mals einen Revolver gehabt hatte, idi hatt' den taktlosen Hund im
Tempel erschossen. Gefressen und gesoffen hat er dann fur zehn.
Da reden nodi die Leute von Entwicklung. Die Elite vielleidit kommt
vorwarts, aber audi das Volk, die Materie? Wetten mocht idi, der
mitanisdhe Priester, der dem Ar*Tisup taglidi Zwetsdienknodel ge-
opfert hat, der Chinamann vor fiinftausend Jahren in Han-Tscheu-Fu,
er hat ahnlidi gesalbadert . . . Wenn ein GroBfiirst durdi die StraBen
fahrt, briillt es Hurra, wenn der Affenkonig Hanuman endlich aus
dem Ramajana hier eintrafe, gebe es ein ebenso groBes und eine
Galavorstellung in der Oper, Die Azteken haben es auch sdion so
gehalten . . .
So, jetzt werden sie nodi einmal weinen und ein Hauferl Erde
auf den Sarg werfen . . . Beim Riickweg vom Friedhof ins Trauer-
haus haben wir keinen Wagen gekriegt, und idi bin so schnell ge-
gangen, daB ich Lungenstechen bekommen hab. Das ist die geredite
Strafe Gottes! Der Mama werde idi sagen, es ist von dem Wind
bei der Donaubriidce. Das Stedien laBt nidit nach. Wenn idi aber-
glaubisdi ware, sagte ich: die Tote zieht midi nach, weil ich ihr auf
den Sarg getreten bin. In Wahrheit mogen in soldien Fallen Angst
und Gewissensbisse das ihrige getan haben. GewiB ist es aber, daB
sidi schon viele bei Begrabnissen erkaltet und iibergessen haben.
Oder an Alkoholvergiftung gestorben sind . . . Jetzt werden doch
hoflFentlidi nicht mehr die Frauenzimmer das Vorzimmer unsicher
madien. Gott sei Dank, nein! Das war eine Erlosung! . . .
366
Albert Ebrenstein * BegraBnis
Man sitzt scion Sdiive. Dann werden sie die Gebete spredien. Der
Eduard kommt und fragt midi, wie er sich zu verhalten habe. Idi als
Kauhen, Priester, Nachkomme Aarons musse das doch wissen. Ich sag
ihm, er soli verschwinden, er tut's aber nidit. Die Gebete sind aus.
Essen soil idi? Keineldee! Ich habe zwar seitMittag nichts gegessen,
aber hier mufite midi jeder Bissen toten. Sie sehen es alle nidit, wie
die Tante nodi aus dem Grab kommt und die Speisen mit notigenden
Worten herumreidit . . . Jetzt glauben die Leut, es ist aus, und sie
dGrfen wieder ladien, Sie haben gar keine Ahnung davon, daft mit
jedem Toten, der ihnen stirbt, audi ein Stuck ihrer selbst ins Grab
fallt. Er ist sdion da, der Moment, den idi so gut kenne: das Gebift
lodcert sidi sozusagen, die Mienen ersdilaffen, die erzwungene Trauer
fallt ab und der ganze Rhythmus der Gesichtszuge wird ein anderer . . .
Audi der Eduard preftt nidit mehr die Lippen so heftig aufeinander.
Hat er vielleidit daruber geweint, daft er nidit weinen kann? Und
erst drauften in der Kudie die Tante Risa! Die (adit mit dem Rudolf,
der richtig einen Augenblick mit der Maltschi eine zartlidh-traurige
Gruppe gebildet hat.
Sie lehnte sich an ihn . . . Idi hatte es gewuftt: die erste Frage,
die meine verehrte Frau Tante Risa an ihren ehemaligen Ziehsohn
Rudolf stellte, war: »Wieviel hast du Gehalt in Bamberg?* Es hatte
allerdings audi so ausfallen konnen/ die Tante Risa fragt ihn: »Wie
geht es dir?« und er sagt: »Danke. Idi hab zweihundert Mark
monatlidi.* Leider besitzt er keine goldene Uhr, oder aber er stellt
sie nodi nidit vor. Immerhin, er steckt in einem Ballgehrock, so und
soviel Mark Macherlohn — das ist eine Kompensation und idi braudie
midi also eigentlidi nidit zu erschieften. Gegenwartig sagt der Sdiar-
mann nidht »nein«, sondem »neec, Als er aus der Sdiweiz zuruck-
kehrte, gebraudite seine Zunge dortigen Dialekt. Kame er aus China,
wohin er sowieso mit seinen Sdhlitzaugen und seinem sdiwarzgelben
Teint hingehort — audi von dort kame er als Abklatsch seiner Urn*
gebung retour . . . Warum eigentlidi die Tante Risa in einem fort
ladhte? Sonst sieht sie doch eher wie eine angehende Meduse aus.
Wenn idi midi unanstandig benehme, das dringt nidit nadi auften
und extradem ist es nidit dasselbe, wenn jemand nie zu seinen
eigenen Gefuhlen kommt, weil er unwillkurlidi den anderen Leuten
AfBert ESrenstein • BegraSnis
367
in der Seele herumstiert, und wenn jemand auch soldier Entsdiul-
digung verlustig ist . . . Idi traf die Tante Selma die seltenen Male, da
idi sie sah, stets im Sonntagsgewande. Hatte die Tante Risa andere
Erfiahrungen gemacht, dann konnte idi gleidi mit meiner Psychologie
einpacken. Gewib ladit sie aus purer Verlegenheit. Moglicherweise
war aber nur die Reaktion eingetreten und das Stimmfuhrende in
ihr sdirie »Punktum. Streusandc. Adieu. >Es hat mich sehr gefreut,
es war sehr schon* werden viele Trauergaste gesagt haben. Sdinell
nodi den Trauemden die Hand gegeben. Dem Alten sage idi ab-
solut nidit »Gott troste Sie«. Dieser Mensdi hat ja gar keinen Gott.
Der Charlott sage idi es audi nidit, die weib vom Eduard, dab Gott
nodi immer nidit an mich glaubt. Er mub was Scfaones von mir gedacht
haben, der Eduard, aber er wird sdion noch erfahren, warum ich den
Maulkorb angelegt hab. Bei mir ist es so : entweder idi red gar nidits,
und das ist gewohnlicfa der Fall. Meine Lieblingsbesdiaftigung. Wenn
idi aber zu plappem anfang, dann hore idi erst dann auf, bis idi wirk-
lich etwas zu sagen habe . . . Das Seitenstedien hat nidit nadigelassen.
Gott sei Dank hat mir der Alte, bevor wir weg sind, eine Krone ge-
geben. Dab mir immer so was passieren mub: bis zum Friedhof Bauch-
weh, nadiher andere Schmerzen. Wodurdi dieTrauer an Naturlidhkeit
gewann . . . Die Mama sagt: »Gott sei Dank, dab die Floridsdorffahrten
jetzt aufgehort haben. < Dabei geht sie immer. »Der Eduard hat einen
sehr sdidnen Winterrock gehabt. Ja, er verdient!* Das ist, weil ich
keine Stunden gebe und der Eduard welche gibt. »Qbrigens ein Gluck,
dab die Tante zuerst gestorben ist/ war der Onkel zuerst gestorben,
hatten wir auch zu dem Begrabnis mussen: wegen der Tante. Wegen
dem alten Gauner werd idi kein Geld ausgeben, das soil er mir
noch wert sein! Nicfat genug, dab alles Geld, das der Grobpapa
hergegeben hat, jetzt die uns gar nicht verwandten Altmanns kriegen!«
Idi gestatte mir die Meinung, dieses Leidiengesprach unterscheide sidi
in nidits von denen, weldien sich *das Volkc hinzugeben pflege.
>Und wenn? Modit man nicfat meinen, eine Heilige ist gestorben?
Was hast du davon: wie die selige Tante Selma nodi Witwe war . . .
aber, was sag idi dir soldie Sadien, du erzahlst es dann dodi sofort
bruhwarm deinem Freund, dem Eduard.c Dann hatte idi genug von
Mamas Leidienrede und sprang in die gliicklidierweise gerade vor-
368
AfBerl E ft re n stein * BegraSnis
00000000 0*0 0**000 00000000000 0000*00 00000000 000000040000*0 00000 000 000 0000 0 00000000000000000 00+00 000000000000000* 00 00 900000000000 0 000000 000000000
beifahrende Dampftramway. Es wird zwar wegen dieser gefahrlidien
Verschwendung langere Zeit zu Haus Skandal geben, aber Abwedis-
lung schadet dem Repertoire der Mama durdiaus nidit. Justement
geb idi dem Kondukteur einen Kreuzer Trinkgeld. Er soil ihn mit
dem Brieftrager teilen, dem idi gestern keinen gab. Oh, das ist ja
mein alter Freund, der Tramwaykondukteur mit dem Globus an
der Uhrkette. Er leidet an Grofienwahn, dieser Romantiker. Wenn
er nodi Revisor bei der transsibirisdien Bahn ware! Aber so?! . . .
Am Sdiottenring ging idi in eine Konditorei. Nein, heute esse idi
keine Indianerkrapfen. Glacierte Maroni. Fraulein! Sie mussen midi
nicbt so ansdiauen. Erstens habe idi nidit so viel Geld bei mir,
zweitens durfte idi etlidie Zeit zu keiner Peri gehen. Seitdem sidi
nadi dem letztenmal der Herr stud. phil. Jakob Wardener drei
Wodien unniitz geangstigt hat, und nidit nur himverbrannterweise,
um sidi quasi sidierzustellen, nadi Verkauf mehrerer Lehrbudier
einige Staatslose erwarb, ja sogar sdion entsdilossen war, sidi taufen
zu lassen, um nur ja dereinst Aufnahme in der neuen Landesirren-
anstalt zu finden — seitdem ist es fur einige Zeit Rest . . .
♦
Jetzt liege idi sdion den dritten Tag. So ein verflixter Katarrh.
Am End bin idi audi demnadist sanft gestorben. Es war mir pein-
lidh, auf der israelitisdien Abteilung des Zentralfriedhofes zu liegen.
Und nodi dazu mufiten wieder andere Leute sidi meinetwegen mit
Trauer bestreidien ... fur kurzeste Zeit. Die Begrabnisse soil der
Teufel holen. Wirklidi wahr: ich gch' zu keinem mehr. Nidit einmal
bei meiner eigenen Leich geh idi mit. Ich wurde zu sdilechte Witze
dabei machen. Und midi hodistwahrscheinlidi taktlos benehmen . . .
A/**V'
Gottfried Senn • Karyatidt
Gottfried Bentt:
KARyATIDE.
Entrucke did) dem Stein! Zerbirst
Die HShle, die did) knecbtet! Rausche
Doth in die Flur, verhohne die Gesimse :
Sieh: durch den Bart des trunkenen Silen
Aus seinem ewig uberrauschten
Lauten einmaligen durdidrohnten Blut
Trauft Wein in seine Scbam.
Bespei die Saulensud)t: todersdiiagene
Greisige Hande bebten sie
Verhangnen Himmeln zu. StOrze
Die Tempel vor die Sehnsudit deines Knies,
In dem der Tanz begehrt.
Breite didi hin. Zerbluhe did). O, blute
Dein weicbes Beet aus grofien Wunden hin:
Sieh, Venus mit den Tauben gurtet
Sid) Rosen urn der Huften Liebestor —
Sieh' dieses Sommers letzten bfauen Haud)
Auf Astermeeren an die fernen
Baumbraunen Ufer treiben, tagen
Sieh' diese letzte Gluck-Lugenstunde
Unserer Sudlichkeit,
Hothgewolbt.
MS***
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372 Eduard Bern fie in • Vdffier zu Ha use
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VOLKER ZU HAUSE
ERINNERUNGEN
III.
EIN BOSER WINTER IN CASTAGNOLA
DER Winter 1878/79 war fur die Verhaltnisse von Lugano und
Umgegend ungewohnlidi hart »Tanta neve! tante neve!« rief
Prudenza Prati nicht selten aus, wenn sie uns das Essen brachte,
und versicherte dann jedesmal wie entsdiuldigend, daB Castagnola
so starken Schneefall, wie diesen Winter, seit langem nicht erlebt
habe. Aber es schneite in Castagnola nicht nur ganz gehorig, es
gab eine zeitlang viel Frost und Eis. Am Rande unserer Bergstrafie
firoren die kleinen Lachen zu, weldie das vom oberen Teil des Berges
unter dem Schnee herabrieselnde Wasser bier und dort bildete. Gber
das Eis hinweg flofi dann das Wasser mittags auf die StraBe, firor
zur Nachtzeit dort zu Glatteis und machte damit den Weg, die
StraBe abwarts, ziemlich halsbrecherisch. Fur uns unangenehm genug,
da wir reichlidi Grund hatten, so oft als moglich hinunter in die
Stadt zu laufen.
Das hing mit der Tatsadie zusammen, daB der Winter 1878179
fur uns audh unter anderem Gesichtspunkt sidi sehr hart anlieB. Wie
sdion beilaufig erwahnt, hatten Karl Hochberg und ich uns kaum in
Casa in Valle hauslicfa eingeriditet, als die Nacbridit eintraf, daB das
vom Reidistag in dritter Lesung angenommene Ausnahmegesetz
gegen die Sozialdemokratie die Zustimmung des Bundesrats erhalten
habe und sofort verkundet worden sei. Die nachsten Tage unter-
riditeten uns von einer Anwendung des Gesetzes, die unsere
sdilimmsten Befurditungen ubertraf. Nicht nur wurden alle in sozial-
Eduard Bemftein • VolSer zu House 373
demokratischen Verlagen erschienenen Brosdiuren, wie gemaBigt ihr
Inhalt auch immer sein mochte, ohne weiteres verboten, nicht nur
verficlcn die sozialdemokratischen Zeitungen, obwohl sie ihre Hal*
tung dem Gesetz anzupassen versucht hatten, ohne Gnade dem
Verbot, es wurden auch die Blatter unterdriickt, die, von den sozial*
demokratischen Druckereigesdiaften an Stelle der verbotenen Zeitungen
herausgegeben, farblos gehalten waren und sich auf einfache Wieder*
gabe von Nachrichten beschrankten. Wohl hatte bei der Beratung des
Gesetzes der Staatsminister Graf Eulenburg am 14. Oktober 1878 von
der Regierungsbank aus erklart:
»Wenn in der Tat die sozialistischen FQhrer und Journalisten, die Herren
9
Liebknedit, Most und wie die Herren heifien, wirklich kGnftighin in friedlicher
Weise ihre Tendenzen vortragen wollen, warum bedurfen sie dann derselben
Zeitschriften wie bisher? Es wird ein viel sicfieres und deutlidieres Kenn-
zeicfien sein, wenn sie andere Organe mit friedlicher Tendenz grunden, und
dem steht nichts im Wege.<
Aber diese Worte blieben leerer Klang. Nun das Gesetz da
war, half keine Berufung auf sie. Von ganz wenigen Orten auBer-
halb PreuBens abgesehen, kummerten sich die maBgebenden Behorden
in keiner Weise urn die Erklarung des Ministers. Ebenso erwiesen
sich gewisse juristisdie Sicherungen, die der von Eduard Lasker ge-
fiihrte linke Flugel der Nationalliberalen, unterstutzt durch Zentrums-
partei und Fortschrittspartei, in das Gesetz hineingebracht hatte,
als vor der Polizeipraxis wirkungslos. Nach der ursprunglichen Re*
gierungsvorlage z. B. hatten alle Vereine, Druckschriften usw. dem
Verbot verfallen sollen, in denen auf die Untergrabung der be-
stehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen
in einer »den offentlichen Frieden gefahrdenden Weise« zutage treten
wurden. Lasker und Genossen hatten der willkurlichen Auslegung
dieser Satze dadurch einen Riegel vorzuschieben gesucfat, daB sie den
dehnbaren Begriff >auf die Untergrabung gerichtet« durch den
bestimmteren Ausdrudc »auf den Umsturz gerichtet* ersetzten.
Aber was vor ihrer Juristenlogik als eine Mauer gegen das Verbot
der Propagierung sozialistischer Reform erschien, erwies sich vor der
Logik der Polizeibehorden als bloBes Spinngewebe, das man mit einem
leichten Besen wegwischt. Den von sozialdemokratischen Geschaften
herausgegebenen farblosen Zeitungen gegeniiber half die Polizei sich
374
Eduard Bern fir in • Vo flier zu House
einfadi damit, daB sic sic ftir Fortsetzungen der vcrbotenen Zei-
tungen erklarte und deshalb vcrbot.
Auf diese Weise wurde die verfolgte Partei nicht nur ihrer Lite-
ratur und PreBorgane beraubt, es wurden aucb die muhsam mit
Hilfc von Ersparnissen der Arbeiter gegrfindeten Druckereigenosse n »
sdiaften kurzerhand zugrunde geriditet und die in ihnen besdiaftigten
Personen brotios gemacht Die materielie Schadigung ward noth be-
deutend gesteigert, als im November 1878 plotzlicb ohne jedes Vor-
kommnis, das auf Unruhen hatte schlieBen lassen konnen, der im
Gesetz vorgesehene sogenannte kleine Belagerungszustand uber
Berlin und Umgegend verhangt wurde und in groBer Zahl Mit-
glieder der sozialdemokratisdien Partei, die meisten davon Familien-
vater, aus Berlin und Umgegend ausgewiesen wurden.
Man kann sicb leicht denken, in welcbe erregte Stimmung uns,
die wir Mitglieder der Partei waren, in unserem einsamen Welt-
winkel die von diesen Vorgangen erzahlenden Telegramme versetzten,
und mit weldier fieberhaften Spannung wir Briefen und Zeitungen
aus Deutsdiland entgegensahen, die uns genaueres fiber sie beriditen
sollten. Die in Lugano selbst ersdieinenden Zeitungen lieBen uns in
dieser Hinsidit ganzlidi im Sti<b. Professor *P . . . i's Republicano«
war ein rein ortlidies Kampfblatt, und die einzige tagliebe Zeitung
Luganos und, glaube ith, des Kantons, die »Gazetta Ticinese«, ein
bescheidenes Blattdien in kleinem Folioformat, gab die wenigen Na<b-
richten aus dem Ausland, die es bradite, in konzentriertester Form
auf ein paar Zeilen reduziert wieder.
Mit den Sendungen aus der Heimat halte es nun seine eigene
Schwierigkeit. Es war die Jahreszeit gekommen, wo die Gotthard-
strafie zeitweise durdi Schneefalle unpassierbar gemadit wurde. Da
lagen denn mancbmal die fur uns bestimmten Bdefe und Zei-
tungen tagelang auf irgendeiner Poststation jenseits am Fufie des
Gebirges und harrten der Zeit, wo Arbeiter einen Weg durdi den
Schnee gebahnt haben wurden. Rief uns in soicher Zeit der Brief-
trager, der nur einmal taglich nadi Casa in Valle hinaufkam und
von uns sehnsfiditig erwartet wurde, sein >niente per voi, il Gottardo
<biuso« zu, so blieb uns, wollten wir nidit in Geduld abwarten,
ob der nadiste Tag etwas bringen werde, nichts ubrig, als nadtmittags
375
Eduard Bern fie in • Voder zu House
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hinunter nach Lugano zu gehen, dort auf der Post nachzufragen,
ob nicht inzwischen doch etwas fQr uns gekommen sei, und dann
im Cafe Terreni den Mailander *SecoIo« und das »Joumal de
Geneve* nach Meidungen aus Deutschland durchzusehen.
Es waren fast nur Hiobsposten, die wir dort fanden: neue Ver-
bote, neue Ausweisungcn und noch dazu Verhaftungen. Nidit
wenige der Ausgewiesenen und teils geschaftlich schwer Geschadigten,
tells geradezu brotlos Gemachten waren Leute, die uns ganz be-
sonders nahe standen. Was sollte aus den so schwer Betroffenen
werden? Und was aus den Drudcereien? Eine Zeitungsdruckerei,
der man plotzlidi den Drudc jeder Zeitung untersagt, wird dadurch
fast vollig entwertet/ ihre groderen Maschinen sind plotzlidi nur nodi
altes Eisen. Das trugen uns die Briefe vor, die wir so sehnsGchtig
erwarteten. Von alien Seiten vernahm man nur Schilderungen fiber
eingetretene Notlage der einen oder der anderen Art.
Es lag in der Natur der Dinge, dad unter soldien Umstanden
an einen Mann wie Hdchberg, der den eingeweihten Parteimitgliedem
als begfiterter Gesinnungsgenosse bekannt war, allerhand Gesuche
um Hilfeleistung kamen. Zur Ehre der Partei darf hinzugefugt
werden, dad es ihrer nidit allzuviele waren. Fur die Ausgewiesenen
wurden an Ort und Stelle in der Arbeitersdiaft nicht unbetrachtliche
Summen gesammelt, die ausreichten, der dringendsten Not zu steuern,
und die Ausgewiesenen selbst taten mit wenigen Ausnahmen ihr
Bestes, der Partei sobald als moglidi die Sorge um ihre Existenz
abzunehmen oder mindestens zu erleiditem, wobei sie von den Ge»
nossen an den Orten, die sie nun aufeuchten, nach Kraften gefordert
wurden. Die an Hodiberg gelangenden Gesudie betrafen meistens
Geschaftsunternehmungen — sei es der Partei selbst oder von Partei-
mitgliedern in exponierter Stellung. Da handelte es sich dann aller-
dings gewohnlidi um grodere Betrage, was indes fur Hodiberg kein
Grund war, seine Hilfe zu versagen.
Man konnte sogar sagen: ganz im Gegenteil. Es fiel mir bald
auf, dad Hodibergs Bereitwilligkeit auszuhelfen mit der Grode der
verlangten Summe wuchs. Ging ihn wer um ein kleines Darlehen
an — sage von 50 oder 100 Mark — so lief er leidit Gefahr, ab-
gewiesen zu werden. Kam aber ein Gesudi oder Antrag auf einen
376 Eduard Bemftein • Voffier zu Ha use
S*0*****—***01**W*9**W*—*— 999*91* *9*9— *9*—***— **************— ************************ *** ************* ********************
VorsthuB oder cin Darlehen von 5000 oder 10000 Mark, dann
war die Wahrscheinlidikeit ebenso groB, daB diese Summen ohne
langes Zaudem bewiliigt wurden. AIs ich Hodiberg einmal fiber
diesen ansdieinenden Widersprudi befragte, antwortete er mir mit
nicbt unebener Logik: *Leute, die kleine Darlehen haben wollen,
kommen gewohnlich zu mir, wenn sie sich auf andere Weise helfen
konnten, die grofien Summen werden fur ernsthafte Bedurfnisse er-
beten, und da mag ich die Verantwortung fur die Abweisung nicht
auf midi laden. « Im allgemeinen traf er damit wohl das Riditige.
Audi hing seine Abneigung gegen Darlehen an Einzelpersonen
damit zusammen, daB er uberhaupt ziemlidi pessimistisdi von den
Mensdien dadite. Obwohl vier Jahre jfinger als idi, was in unserem
damaligen Alter ein ins Gewidit fallender Unterschied zu sein pflegt,
war er mir in bezug auf Weltkenntnis entsdiieden fiberlegen. Idi
war zwar in der Hauptstadt geboren und aufgewadisen, aber von
dem, was man »die Weltc nennt, wuBte idi bloB theoretisdi etwas.
Der Beruf meines Vaters — Lokomotivfiihrer — hatte es mit sidi
gebradit, daB wir immer nur am auBeren Rande der Stadt wohnten,
und da das Einkommen redht sdimal, der Kindersegen aber groB
war, so konnten wir nur in Hausern fur »kleine Leute« wohnen.
Dadurch hatte idi wohl enge Fuhlung mit den armeren Volksklassen
erhalten, aber um meine Mensdienkenntnis blieb es dodi redit mangel-
haft bestellt. Mein Urteil war ein rein geffihlsmaBiges, wahrend Hodi-
berg die Mensdien meist rein verstandesmaBig beurteilte. Das war
einer der Grfinde, weshalb wir uns, ohne jemals in Konflikt zu ge-
raten, lange Zeit seelisch nicht naherkamen. Ein anderer Grund war
die Versdiiedenheit unserer Weltauffassung. Idi hing der materiali-
stisdhen Weltauffassung an und wollte von keiner Religion etwas
wissen, Hodiberg aber, der philosophisdier Idealist war, raumte den
metaphysisdien Weltvorstellungen und Religionen mehr als bloB
historische Bereditigung ein. Wir waren vielleicht daruber zu einer
Verstandigung gelangt, wenn nidit Hodiberg zu meinem groBen
VerdruB meine wiederholten Aufforderungen, mir seine Ansdiauung
einmal im Zusammenhang genauer zu entwidteln, stets mit der Be-
griindung abgelehnt hatte, ihn zu verstehen erfordere eine philo-
sophische Vorbildung, uber die ich nicht verfuge. Idi wollte das nidit
Eduard Bern fee in * Vofder zu House 377
gelten lasscn, da nadi meiner Ansicht mindestcns die Grundgedanken
einer philosophischen Auffassung so darstellbar sein miifiten, dafi
audh ein leidlich gebildeter Niditphilosoph sie erfassen konne. In-
des blieb Hochberg bci seiner Weigerung, und so endeten unsere
Unterhaltungen, sobald das Gesprach auf dieses Thema kam, stets
mit einem Mifiklang.
Aus einem mir bei spaterer Gelegenheit zu Gesicht gekommenen
Brief Hochbergs an Richard Avenarius, mit dem er befreundet war,
habe ich ersehen, dafi jener damals, von Berkeley und Kant ausgehend,
zu einer Philosophic gelangt war, der sich die Welt als eine Summe
von Empfindungen darstellte. Dies mit einer Begriindung, der Ave-
narius, der Kritiker der reinen Erfahrung, starke Einwande ent-
gegensetzte.
Dafi wir in der Beurteilung der irdischen Dinge fast umgekehrt
zueinander standen, wie in der theoretischen Weltauffassung, ver-
anlaflte beilaufig Hochberg eines Tages, als ich beim Offnen einer
Buchersendung meiner Begeisterung uber Freiligraths Gedichte Aus-
druck gab, zu der diesen Widerspruch beleuditenden Bemerkung:
»Sie sind viel religidser als ich.c
In der Tat kann man sicherlich in einer gewissen Gegnerschaft gegen
die kirchlichen Religionen ein religioses Moment entdedeen. Bei mir
war jene Gegnerschaft bis dahin so stark gewesen, dafi midi jahre-
lang kein Mensch, keine Rudcsicht auf liebe Personen dazu hatten
bringen konnen, einem kirchlichen Akt beizuwohnen. Es ware mir
in zweifacher Hinsidit als eine Unwahrhaftigkeit erschienen: Un-
wahrhaftigkeit vor mir selbst und Unwahrhaftigkeit vor den Glaubigen.
So dafi, als einmal jemand, bei dessen kirchlidier Trauung idi hatte
Trauzeuge sein sollen, mir die Sache mit der Erklarung sdimadchaft
machen wollte: »Tun Sie es doch, wir« — er, Braut und Familie —
»glauben ja audi nichts«, er von mir die Antwort erhielt: >Dann
tue ich es nur um so weniger«, was eine kleine Katastrophe zur
Folge hatte. Erst in Castagnola sollte ich nadh vielen, vielen Jahren
wieder einmal eine Kirche betreten. Und dies ging so zu.
Eines Tages erhielten wir die Einladung zum Mittagessen beim
Dorfpriester, dem Bruder unserer Prudenza Prati. Schon Wodien
vorher hatte Prudenza uns von jenem bevorstehenden Ereignis vor-
378 Eduard Bemjiein * Vo flier zu House
*09*9*9**99* **9* / ****** M* *S990099090*9990******909****0****09***9*0099*90 99***00090999099099*999999099*9 #//!/### 0
gesAwarmt. Es wurden vier oder funf andere GeistliAe beim
Priester zu BesuA sein — Prudcnza brauAte, wenn sie von ihrem
Brudcr spraA, nie den Ausdrudc »mein Bruderc, sondem sagte
immer nur mit EhrfurAt >il prete«. Wohl oder ubel hatten wir die
Einladung annehmen mussen, aber im (etzten Moment lieB siA
HoAberg entsAuldigen und bat miA, allein hinzugehen. IA tat es
niAt ohne allerhand Beklemmungen. Mit einem halben Dutzend
katholisAer GeistiiAer zusammen speisen, was wurde das abgeben?
Wie sollte iA miA zum Beispiel bei den wahrsAeinliA unvermeid-
liAen Gebeten verhalten? Byrons »Er heuAelte mit 40-Pfarrerkraftc
ging mir durA den Kopf. Aber meine BefurAtungen erwiesen siA
als unbegrOndet. Es ging beim »prete« ganz unkirAliA zu. Vom
Beten bei TisA war keine Rede, man unlerhieit siA von alien
mogliAen Dingen, nur niAt vom HimmelsgesAaft. Mir zur ReAten
saB eine altere Patrizierin aus Graubiinden, die mit ToAter und
SAwiegersohn eine niAt weit von Casa in Valla gelegene Villa
am Berge bewohnte. Unterhalb des Gartens ihrer Villa bildet der
Berg eine SAluAt, und von der erzahlte die Dame mir, als iA die
malerisAe Lage der Villa pries, daB sie ein Brutnest von SAlangen
sei. Die Kinder ihrer ToAter seien, wenn sie im Garten spielten,
jedesmal in Gefahr, von Nattem gebissen zu werden, und so musse
man stets Gegenmittel gegen Natterngift im Hause haben. Nun
griff ein mir zur Linken sitzender GeistiiAer in die Unterhaltung
ein und erzahlte uns, wie er als junger MensA haufig SAlangen,
die naA einem Regen aus dem Gemauer herauskroAen, um siA
zu sonnen, durA einen kraftigen Hieb mit einem StoA auf den
Kopf getotet, ihnen zu Hause die Haut abgezogen und sie dann
gebraten habe. Sie hatten ihm jedemal ein gutes, wohlsAmeckendes
Abendbrot geliefert. AuA sonst erzahlte der Mann, der offenbar
aus den armeren Klassen stammte, allerhand uber die Art, wie er
siA in jungen Jahren billige Genusse versAafft habe. Er spraA ein
ziemliA gutes DeutsA, das er deshalb betrieb, weil er vorhatte, auf
einige Zeit naA Einsiedeln zu gehen, jenem vielbesuAten Wall-
fahrtsort im Kanton SAwyz, der den Glaubigen wegen des Klo-
sters des heiligen Meinrad und des dort aufgeriAteten Standbildes
der sAwarzen Muttergottes, den Unglaubigen als Geburtsort des
Eduard Bern fie in * Voder zu House
379
WMJ MMVMW//W//1
bahnbrechenden Mediziners und mystisdien Naturphilosophen Theo-
phrastus Paracelsus von Hohenheim ehrwurdig ist.
Erst na<h Beendigung der Mahlzeit ward mitgeteilt, dal? in dem
neben dem Pfarrhaus gelegenen Kirchlein der Nachmittagsgottesdienst
beginne und es in jedes freie Wahl gestellt sei hinuberzugehen. Ich
entschloB mich, der Einladung zu folgen, da man bei mir als Landes-
fremden und Nichtkatholik nicht im Zweifel sein konnte, daB der Zweck
des Besuches nur der war, einer Zeremonie als Gast beizuwohnen,
indes: aliquid haerebat. Im Dorf am Berge mit seinen zerstreuten
Hausern und einer Bevolkerung, ftir die geistige Anregung so gut
wie nicht existierte, schien mir die Kirche weniger sinnwidrig als in
der Hauptstadt mit ihrer Folle von Moglichkeiten rationalistischer
geistiger Erhebung und Kirchenbesudiem aus reinem Konventiona-
lismus.
Kehren wir aber nach Casa in Valle zurfick. Aucfa die von Karl
Hochberg herausgegebene Halbmonatsscfirift »Die Zukunft* war sehr
bald auf Grund des Sozialistengesetzes verboten worden, obwohl
sie lediglich der Darlegung und Entwiddung der sozialistisdien
Doktrin gewidmet war, diese obendrein auf ethisdie Prinzipien zu
begrOnden suchte und jede Behandlung von politisdien Ereignissen
und Fragen des Tages vermied. Mit dem Verschwinden dieser Zeit-
sdirift ware der groBte Teil der Tatigkeit, fur die mich Hochberg
hatte kommen (assen, weggefallen, indes trat an die Stelle der Re-
daktionskorrespondenz nun die Korrespondenz mit Genossen in den
Zentren der Bewegung uber die Linderung der Wunden, welche
das Gesetz Individuen und Geschaiten geschlagen hatte und noch
fortwahrend schlug. AuBerdem aber war Hochberg nicht gewillt, das
Verbot der Zukunft unbeantwortet zu lassen. Von der als Berufungs-
instanz gegen VerfQgungen der Polizeibehorden auf Grund des Ge»
setzes eingesetzten sogenannten Reichskommission war eine Auf-
hebung des Verbots freilidi nicht zu erlangen. Die Mitglieder dieser
Kommission aus dem hoheren Richterstande schienen nur zu dem
Zwedce da zu sein, fur die polizeilidien Verbote die juristischen
Argumente zu linden. Lediglich als ein ubereifriger Polizeigewaltiger
sogar des schwabischen Professors und ehemaligen osterreichischen
Staatsministers A. E. Schaffle Schrift »Die Quintessenz des Sozialis-
m voi. m/i
380
Eduard Bern ft* in • Vdffter zu Ha use
mus« verboten hatte, machte die Reichskommission diesen Genie-
streich gut und hob das Verbot wieder auf.
Die Schafflesche Schrift war eine im Jahr 1874 zum Gebraucb
des gebildeten Publikums abgefafite objektive, wenn auch nicht durch-
gangig zutreffende Darstellung der sozialistischen Lehre, wie sie da-
mals verbreitet wurde. Keine Apologie oder Empfehlung, aber trotz
einiger kritischen Zwischenbemerkungen auch keine feindselige Kritik.
Hochberg, dem ganz besonderes daran lag, in den Kreisen der
akademisch Gebildeten Anhanger fur den Sozialismus zu werben,
beschlofi nun, dies durch eine Massenverbreitung von Schaffles Ab-
handlung zu besorgen , Menschen mit entwidceltem Gerechtigkeits-
gefuhl brauditen nach seiner Gberzeugung nur den Sozialismus
naher zu kennen, um sich fur ihn zu erwarmen. So bestellte er denn,
nachdem er Schaffles Zustimmung eingeholt hat te, bei dessen Ver-
leger nicht weniger als 10000 Exemplare der »Quintessenz des
Sozialismus*, und die haben wir dann unter Benutzung von AdreB-
kalendern aller Art an angehende und amtierende Juristen, Medi-
ziner, Lehrer usw. in ganz Deutschland versenden lassen. Allzu-
viele Konvertiten werden sie kaum gemacht haben, aber bei einem
Teil der Empfanger diirfte das Samenkorn doch auf guten Boden
gefallen sein, und jedenfalls war hier ein erster Schritt zur Wieder-
aufnahme der sozialistischen Propaganda unter dem Ausnahmegesetz
geschehen. Nicht zufrieden mit dieser Verbreitung des Schaffleschen
Werkchens in Deutschland veranlaBte Hochberg auch Benoit Malon,
auf seine, Hochbergs, Kosten mit Hilfe seiner Frau die »Quintessenz«
ins Franzosische zu ubersetzen. Fur das deutsche Publikum grundete
er nun eine wissenschaftliche Zeitschrift, die er unter dem Titel
»Jahrbuch der Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, herausgegeben
von Dr. Ludwig Richter* in einem Zuricher Verlag erscheinen lieB,
und die, kaum daB der erste Halbband heraus war, auch sofort dem
sozialistengesetzlichen Verbot verfiel. Hatten die Gewaltigen, die
das Verbot erlieBen, das Buch etwas genauer und mit einigem Ver-
standnis durchgelesen, so wurden sie es sich sehr uberlegt haben,
ehe sie es auf den Index setzten. Denn es enthielt Zugestandnisse
an die Kritiker der Sozialdemokratie, die gerade im sozialistischen
Lager groBe Verstimmung hervorriefen.
Eduard Bernftein • Vofker zu House 381
Alles das war nodi im Werden, als Hodiberg Anfang Januar
1879 cine Rcise nach Deutschland madite, um die Zustande an
Ort und Steile zu studieren, Es sollte ihm eine Belehrung werden,
auf die er nidit vorbereitet war. Er hielt sidi einige Tage in Berlin
auf. Am zweiten oder spatestens am dritten Tage erreichte ihn be*
reits eine Verfugung des Polizeiprasidiums, dafi er auf Grund des
§ 28 des Sozialistengesetzes aus Berlin ausgewiesen sei und die
Stadt binnen so und so viel Stunden zu verlassen habe. Der be-
zeichnete Paragraph unterstellte die Ausweisung:
»Personen, von denen eine Gefahrdung der offentlichen
Sidierheit oder Ordnung zu besorgen ist.«
Der ruhige, vollig ethisch geriditete Ideologe eine Gefahr der
offentlichen »Sicherheit oder Ordnung« der Hauptstadt!
Nun war Hodiberg mit dem damaiigen Polizeiprasideqten von
Berlin, Herrn von Madai, der vordem Polizeiprasident in Frankfurt
am Main gewesen war und es nidit verschmaht hatte, Einladungen
zu den Diners der Frankfurter Bankiers recfit haufig Folge zu geben,
auf soldien Gesellschaften bekannt geworden. Er suchte ihn also auf
und verlangte zu wissen, wie man dazu gekommen sei, ihn aus-
zuweisen, welche Handlungen gegen Gesetz und Ordnung er in
Berlin begangen haben sollte, um diese Mafiregel herbeizufuhren.
»Oh«, ward ihm zur Antwort, »direkt ordnungsfeindliche Handlungen
haben Sie freilidi nicht begangen. Abcr Sie sind mit den Herren A,
B und C zusammen gewesen, und das sind Leute, die wir als
Sozialisten kennen, und die dem fruheren Mohrenklub angehort
haben und vielleicht nodi angehoren.« »Mohrenklubc nannte sidi eine
Gruppe von Sozialisten, die Mehrzahl davon Studierte oder Stu-
dierende, die sidi im Winter und Fruhjahr 1877/78 wodientlidi in
einem Lokal in der Mohrenstrafie zu geseliiger Unterhaltung und
offers audi zur Besprediung theoretisdier Fragen zusammengefunden
hatten, und von denen einige audi nadi Verkundung des Gesetzes den
in keiner Weise strafbaren Verkehr untereinander fortsetzten. Weil
also Hodiberg, der wiederholt Gast im Mohrenklub gewesen war,
seinen Besuch auf einzelne dieser Leute ausgedehnt hatte, die selbst
nidit fur genugend gefahrlidi eraditet wurden, um der Ausweisung
zu verfallen, ward er ohne Untersuchung und Urteilssprudi kurzer-
382
Eduard Bern fie in • Voder zu House
hand mit dieser MaBnahme bedacht und der Presse als aus det
Hauptstadt Verwiesener bezeichnet. Ein Polizeistuck, das wahrschein-
lich von dem Gedanken eingegeben war, den wohlbabenden Sozia*
listen fur die Unterstutzungen zu strafen, die er der geachteten
Partei zukommen liefl. Die Rapporte uber Hochbergs Verkehr abcr
hatte zweifelsohne ein Student geliefert, der spater als der Polizei
verkauft entlarvt wurde,
Nach Hochbergs Ruddcehr aus Deutschland stellte sich bald heraus,
daB wir nicht mehr lange in Casa in Valle wurden hausen konnen.
Sein Gesundheitszustand versdilechterte sich zusehends, die Krafte
nahmen unter der Wirkung seiner Hungerkur immer mehr ab. Da
kein Zureden half, ihn von ihr abzubringen, versuchte ich es schlieB*
lich mit einem Staatsstreich. Eines Tages kam Hochberg mit einem
Telegramm in der Hand auf midi zu und sagte erregt: »Um Gotres-
willen, mein Bruder kommt nadi Lugano. Jetzt mufi idi sehen,
sdinell mit alien Mitteln zu Kraften zu kommen, in diesem Zustand
kann ich ihn nicht empfangen.« Ich stellte midi nach Moglichkeit
uberrascht, hatte aber in Wirklichkeit nur das Gefuhl der Genug-
tuung. Ein Brief von mir an Dr. Karl Flesdi, worm idi diesem den
Stand der Dinge auseinandergesetzt und Abhilfe fur dringend not*
wendig erklart hatte, war nicht ohne Wirkung geblieben. Flesdi
hatte sich mit Hochbergs jQngerem Bruder in Verbindung gesetzt
und dieser sofort den EntschluB gefaBt, unter einem sdiiddidien Vor*
wand — eine angeblich notig gewordene Geschaftsreise nadi Mai*
land — selbst nach Lugano zu kommen. Sein Besuch hatte denn
auch zur Folge, daB Hochberg wenigstens zunachst die Lebensweise
etwas anderte. Und dann fing er an, emsthaft die Frage einer Orts-
veranderung in Betracht zu ziehen. Das Klima Luganos hatte sidi
nicht als so milde herausgestelit, wie er vorausgesetzt hatte, die
postalische Abgeschlossenheit aber sidi als um so storender erwiesen.
Eine Gbersiedlung nach einem Ort in der Schweiz, der bessere
Postverbindung mit Deutschland bot, sollte in Kurze vor sich gehen.
Mir kam das nicht sehr erwQnsdit. Idi hatte midi nach und nach
in die italienische Sprache so weit hineingearbeitet, daB einige Mo*
nate langeren Aufenthalts im italienischen Sprachgebiet ausgereidit
hatten, mich zu einem leidlichen Gebraudi der Sprache zu befahigen.
Hr
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383
Eduard Bern ft ein * Vofker zu House
Jetzt plotzlidi abbrechen hiefi dagegen das wenige, was idi mir an-
geeignet hatte, audi nodi gefahrden, und diese Furcht hat sich als
nur zu begrundet erwicsen.
Auflerdem ruckte nun das Fruhjahr heran, und die sdione Vege-
tation Luganos brach sidi mit zunehmender Kraft Bahn. Sdion gegen
Ende Marz fingen die Kamelien im Freien an zu bluhen, in dem
terrassenformig aufsteigenden Garten der Villa Riva standen Kamelien-
busdie von einer fabelhaften Grofie in Blutenpracfit. Ebenso fingen die
Obstbaume auf den unteren Abhangen des Monte Bre an Bluten
zu treiben, was den Reiz des Anblicks von Casa in Valle aus uber
Berg und See sehr erhohte. Etwa 50 Meter unterhalb seiner ward
mit dem Bau einer Villa begonnen, Lastkahne brachten Kalk und
Steine dazu von anderen Ortsdiaften her ans Ufer, und Arbeite-
rinnen sdileppten das Material in Kiepen auf Serpentinwegen den
Berg hinauf. Beim Aufstieg schritten sie naturgemafi mit ihrer
schweren Last Sdhritt fur Schritt, still und geduckt. Ging es aber
mit den leeren Kiepen abwarts, dann sangen sie meist Verse irgend-
eines der in langgezogenen Molltonen auslaufenden Volkslieder, und
sie dabei leichten Trittes in Schlangenwindungen den W eg hinab-
wandem zu sehen, gewahrte einen sehr fesselnden Anblick. So ver-
einigte sidh vieles, mir den Absdiied von Castagnola schwer zu machen.
Ein Trost war, daB es hiefi, wir gingen nadi Gent. Aber ith
dachte dabei nidit an die landschaftlidien Schonheiten der Umgebung
Genfs und erst in zweiter Linie an sein regeres politisches Leben,
sondern ganz grob utilitarisdi vor allem an die Moglichkeit, midi
wenigstens in einer anderen Fremdsprache, dem Franzosischen, ver-
vollkommnen zu konnen. Indes audi das sollte nidit sein. Wohl
reiste Hochberg eines Tages nadi Genf, um dort Quartier zu suchen,
wahrend idi zu Ha use Kisten und Kasten zur Qbersiedlung bereit
madite. Dann aber kam plotzlidi ein Telegramm: >Wir gehen nadi
Zurich, kommen Sie sobald als moglich dorthin.« Idi war wie nieder-
gesdimettert. Gegen Zurich hatte sich mir als Folge der beilaufigen
Bemerkung eines Kenners ein lacherlidies Vorurteil eingenistet, idi
ahnte nicht, dafi mir die freundliche Limmatstadt so sehr ans Herz
wachsen sollte, so dafi sie nodi heute als die zweite Heimat in mir
lebt. Es gab jedodi keine Wahl, und da der Gotthard wieder ein-
384 Eduard Bemjiein • Voffier zu House
mal fur den Reiseverkehr — diesmal durdi Fruhlingsschneefall —
gesperrt war, ging es uber Mailand, Turin und Genf nadi Limmat-
Athen, das nun auf neun Jahre mein Wohnort werden soilte. Ich
betrat es mit einem ahnlichen Gefuhl, wie es der Erzvater Jakob
empfunden haben mufite, als er die Rahel zum Weibe haben wollte
und die Lea bekam.
Gfossett
385
GLOSSEN
Predigt.
Sage mir einmai, welches Recht hat er,
dir gegenuber zu tun, als wenn er dein
Herr und Gebieter sei? Er ist weiter nichts
als dein Mitburger. Warum muB er sich
gegenGber dir ein Gbergewicht anmaBen
wollen? Welche Grunde hat er, die ihm
erlauben, dicfa zu tyrannisieren ? Sieh, ich
habe die groBte Muhe, das einzusehen,
und es ist mir ferner ganz unbegreiflich,
weshalb du ihm mit so wenig Festigkeit
gegenubertrittst. Du solltest im Verkehr
mit ihm einige Entschlossenheit zeigen/
das ware ftir dich sowohl wie fur ihn ein
groBer Vorteil. Vielleicht plagt und qualt
er dich nicht viel starker mit seiner Herrsch*
sGchtigkeit, wie du mit deiner Nachgiebig*
keit ihn, denn man kann unter Umstan*
den auch mit Sanftheit und Mattigkeit
quafen. Du scheinst mir in seiner Gegen*
wart gleich nur immer von Beginn an
mutlos zu sein, und vermutlich argerst du
ihn damit, denn es kann nicht anders als
Srgerlich fur ihn sein, dich stets so zu er*
blicken, als raube dir sein Anblick sogleidh
alien Frohsinn. Ich glaube, daB du dich in
dieser Hinsicht in acht nehmen muBt,
weniger vor ihm als vor dir selber. Ich
mochte dir empfehlen, ihn eine Zeitlang
zu meiden. So wie du jetzt mit ihm ver*
kehrst, sieht man dich bei jeder gering-
fugigen Gelegenheit angstlich zu ihm hin*
springen, gleichsam wie um dich erkun*
digen zu gehen, ob es ihm nicht beliebe.
dir ein paar Ungnadigkeiten, Gbeflaunig*
keiten und VerdrieBlichkeiten anzuwerfen.
Das ist deinerseits ein ganz falsches System.
Mit Lastigfallen erwirbt man sich weder
Respekt noch Liebe. AuBerdem wirst du
immer dann einen VerdrieBlichen vor dir
haben, wo du zeigst, wie du das befflrch*
test/ und immer dann einen gestrengen
Herrn, wo du zeigst, wie dich seine Meinung
bekummert.
Warum druckt und unterjocht er dich?
Offenbar deshalb, weil du ihm Gelegen*
heit gibst, dich mit durchaus verwerflicher
Ungerechtigkeit zu behandeln. Glaube mir:
der, der ungerecht ist, kann und muB fast
ungluddicher sein als der, der Ungerech*
tigkeit schluckt. Es befiehlt dir aber nie*
mand, dich ungerecht behandeln zu lassen,
und so handelst du recht eigentlich un*
gerecht, deswegen, daB du Unrecht hin*
nimmst, wozu du keinen Grund hast. In
dir ist ein Mangel an Lebendigkeit/ du
schlafst, und man muB dir lebhaft zu*
rufen: wadi auf!
Solange du dich gegenuber ihm als Folg*
samen gibst, nimmt er dich auch als solchen,
aber es ist fur ihn keine Frcude, sondern
es ist ihm eine Pein, dich immer wieder
so und nicht anders nehmen zu mussen
oder nehmen zu sollen. Du laufst zu ihm
hin mit Tranen, prasentierst ihm immer
ganz ungeniert dein MiBgeschick. Das ist
deinerseits ein Staatsfehler, und du ver*
dienst dann auch, daB er dich schlecht be*
handelt. Bevor man zu Menschen geht.
386 G fosse n
**************************§********************************************,
ordnet man sowohl scin Aufteres wie sein
Inneres, einc BemGhung, die in wenigen
Minuten bei einigem Fleift und einiger
GesAidcfiAkeit beendigt 1st. Man geht mit
seinem GleiAgewiAt und mit seinem
SAmudc unter Leute, nicht aber mit den
Zerzaustheiten und Aufgeregtheiten. Wer
eincm Kummcr naebsinnen oder einen
belngstigenden Gedankcn verfolgen will,
der bleibt hGbsA zu Hause. Das ist zu
ein fa A, als da6 irgend jemand es in Frage
stellen konnte.
Zugegeben, daft er dein Tyrann ist/ du
aber gibst dieser sAmShliAen und un-
feinen Tyrannei bestandig Nahrung, du
bist Ernahrer und Erhalter der Unfreiheit.
Sei einmal aus dir heraus firei/ geh' mit
deiner Freiheit, deiner Befreitheit zu ihm/
cr wird sicb dann sicber vie! zarter be-
nehmen. Du mit deiner rasenden Zartheit
besAworst immer Unzartheiten herauf.
Sei ein wenig barsA, und du wirst bald
sehen, wie er seinerseits zarter und be-
hutsamer wird. SArei ihn meinetwegen
einmal tGAtig an, was ihm cinfalle, an
was er denke usw. Das kann dir und ihm
niAt sAaden. Der HerrsAer stutzt dann.
Man mufi die Regenten stutzig maAen.
Geh mit deiner Zufriedenheit, mit deiner
Genugtuung, mit deinem Stolz, mit deiner
Ehre zu ihm, niAt aber mit dem Kummer,
den du durAaus niAt das ReAt hast, bei
ihm abzuladen, als wenn er der Sammel-
kasten, Eimer und Kdbel fGr deine Be-
sorgliAkeiten, NaAdenkli Akeiten und Mifl-
vergnGgtheiten sei. Nimm RGdcsiAt auf
ihn/ alsdann muft auA er auf diA Ruck-
siAt nehmen. Zeige ihm ein heiteres Ge-
siAt/ alsdann wird auA er dir eine heitere
Miene zeigen, und iA glaube niAt, daft
er es dann an HofliAkeit und Freund*
liAkeit noA wird fehlen lassen. Er ist
kein unfeiner MensA.
*********************************************************************
Du leidest unter ihm und hast zugleidi
Mitleid mit ihm, und das wirst du mir
erlauben, eine reAt sAIeAte, toriAte Ver-
fassung zu nennen. Erstens hast niAt du
ndtig, unter ihm zu leiden, und zweitens
hat niAt er notig, siA von Ar bemitleiden
zu lassen. IA fGr miA sehe niAt das ge-
ringste BemitleidenswGrdige an ihm. Das
ist mir, wiederhole iA, der reAte nette
Zustand: auf der einen Seite peinigen und
dazu Mitleid herausfordern, und auf der
andern Seite Gepeinigtsein und dazu Mit-
leid mit dem Peiniger haben. Das ist mit
einem Wort Krankheit, aber iA halte Aese
Krankheit bloft fGr einen Mangel an Ge-
sAickliAkeit und fGr einen Mangel an
BemGhen, siA daraus hinauszuwinden. Es
ist eine Lust am Ungesunden, Roman*
haften und ein Mangel an Fleift, den ge-
sunden und guten Zustand herbeizufGhren.
Wenn du glaubst, daft das Unheil und
der Unsegen interessanter und erlebens-
werter seien als Heil, Friedfertigkeit und
Segen/ wenn du denkst, daft gebildete
Leute naA etwas Feinerem, Vornehmerem
und Hoherem zu streben haben als naA
ihrer Seele, Herz und Brust, Zufrieden-
heit und Ruhc, so bist du ein grofies Kind,
aber iA will glauben, daft du niAt so
kindliA bist, und somit Lebewohl.
RoSert Wa/ser.
Lazarett.
I.
Sie liegen in einem grofien Saal mit liAt-
blidcenden Fenstem, burgunderroten Holz-
wanden und vielen weiften Betten. Die
Betten stehen steinstumm wie Eisbaren am
Meere da. Leise vorsehend gehen die Kran-
ken in weiftblauen Kitteln.
Sie sind alle zusammengekommen, ernste
Kopfe in braunem Bart und tiefsuAenden
V
V
G fosse n
Augcn. Junge GesiAter, die Leben in der
Hand halten, als trugcn sie erstgeborene
Vogel Aen. AuA gibt es altere, die goU
dene Reifen am Finger tragen. Aber alle
fuhlen den uneroffneten WunsAkasten der
Heimat in sich. Als ware der SAlussel
verloren.
Den Morgen fiber warten sie. Warten
auf den Arzt. Der kommt in weifiem Kittel
wie mittelalterliAe Engel. Er hat kluge,
sAwarze Augen. Sieht sie an, als betraAte
er Kunstwerke.
Die Kranken stehen still. Da oder dort
sAarrt ein FuB. Ein eigentoniges Klappern
im groBen Saal.
Alle warten auf Freibeit. Sehen suchend
in die Klugaugen des Ar2tes.
Dort steht ein Junger und zeigt die
Wunde. Seine Blicke sind blau wie Korn-
blumen.
Die Klugaugen des Arztes betraAten
die Wunde.
Der mit den Kornblumenaugen halt den
Atem an. Wird er befreit aus den Mauern?
Die andem beugen sich.
Der Arzt gieBt feinstrahliges Chlorathyl
auf die Wunde, dafi sie erkaltet. Und die
andere Hand sAneidet mit silberglitzern-
dem Messer:
»Nur ganz ruhig — noA dieser kleine
Schmerz — dann werden Sie befreit. «
Der Jungkranke atmet den ArztgeruA
des Chlorathyls und laAelt im SAmerz.
Er sieht niAt auf sein Blut, das weiBe
Watte saugt.
Viele blicken zu ihm, der Freibeit sAon
um siA ffihlt. Denn die Hauser drucken
sAwer auf ihre Seele. Und Freifuhlen ist
alies . . .
II.
Des NaAmittags aber kann man durA
die liAtblinkenden SAeiben groBe Wolken
sehen. Mit den helleren Wolken kommen
MensAen, um die Kranken zu tr5sten. Es
gibt jedoA auA soIAe, die keine T roster
haben- Viele sind aberglaubig und lassen
siA Karten legen. ManAe sitzen freude-
los in den Betten. VersuAen flimmernden
Auges zu lescn. DoA ihre Gedankenbilder
sind niAt im BuAe. Sie sind in der Hei-
mat. Bei dem allem, das sie liebgewonnen
haben. Das sie selbst gesAaffen haben.
Und es ist so vie! SehnsuAt naA liebenden
Treuhanden in ihnen. Irgendwer beginnt
wie ein Boheme mit sAwarzem Haar die
Klange der Harmonika zu rufen:
»Und war iA in der Heimat,
bei allem, das mi A liebt . ..«
Die andern horAen auf.
Das ist es, was alle bindet: die Heimat —
Und immer starker, starker wird Aes
Singen . . .
». . . bei allem, das miA liebt . . .«
NaA diesem Aufsingen sAweigen sie
pldtzliA.
Einer ist unter ihnen, der keine Beine
mehr hat. BleiA sieht er aus wie ein Hei-
liger. Und der hat keine Heimat mehr.
Seine BrQder sind alle gefallcn —
». . . bei allem/ das miA liebt . . .«
III.
Des Abends brennen die groBen Gas-
lampen in dem Saab Sie brennen dunkel,
daB die Wande blafi aussehen. Die weiBen
Betten gelbliA wie sterbende GesiAter.
Die Kranken sitzen an den Betten mit
grofien Verbanden gleiA den Ohren eines
Tieres. FremdlandisA. Mit breiten Be-
wegungen werfen sie die Spielkarten.
Erzahlen. Vom Kriege. Der Heimat.
Einer nimmt das Bild der Seinigen.
Gemurmel beginnt. Die Warter, in
weiBen Kitteln, ahnliA heiligen WaAs-
kerzen, gehen durA den Saal.
Stimmen kommen aus der Ecke. Werden
Oriciir
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Gfossen
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388
diAer, All die Kopfe. Die leben crfQlIten
Gesi Ater. Die Knabcnkopfe s Aauen si A um.
Sie werden unruhig wie flieBendcs W asser.
Gehen, die Hande auf dem Rtidcen, um»
her- Die burgunderrote T ur oflhet si A. Da
kommt einer. Tragt das Essen herein. Die
weiBen N5pfe im Gestcll. Sie eilen herbei.
Greifen ihren Napf. Setzen si A an ihr Bett-
Die Loffel klappem.
Das Essen ist in ihrem Leben eine
Grofitat. Denn sie sind mfide von dem
da drau&en.
Dann aber kommt der sAwere SAlaf.
Und vide gibt es, die im SAlafe stohnen,
als l5ge ihre Seele allzufem dcr Heimat.
Kar( LoewenBerg.
Berfitter Treie Sezession.
llm das herrfiAe Kunstwerk, das wir
»Natur« nennen, zu vollenden, gebrauAte
sein SAopfer die drei Dimensionen der
H6he, der Lange, der Breite/ gebrauAte er
unzlhlige Stoffe in ewigen Mis Aungen : harte
und weiAe, runde und kantige, spitze und
gesAmeidige KSrper/ unendliAes LiAt und
ausldsAende Finstemis/ Farben, die glGhen
und versinken in unersAopfliAcm Leben.
Und alien kostbaren ReiAtum breitete der
groBte Kunstler niAt nebendnander aus,
sondern dnes stellte er in das andere:
KorperliAkeit, Farbe, Leben der Ober*
flaAe, LiAt und — sein letztes Mittel! —
Bewegung- Qber alles sAlieBliA wolbte er
den unendliAen Him m el, der den Dingen
den metaphysisAen StaAel gibt, ihre End*
liAkeit aufhebt, sie zu grenzenlos gewal*
tigen Zeugen maAt des »Seinsc!
MensAen, die mit Pinseln auf einer Lein*
wandflaAe dasselbe leisten, die beweisen,
daB man als homo sapiens ganz AhnliAes
zu liefern imstande ist sAon mit zwel
Dimensionen und mit der einen einzigen
Substanz der Olfarbe, nennt die vox populi :
»K0nstler«. MensAen, die zu ehrfurAtig
sind vor der ersAtttternden GroBe der
Natur, als daB sie Lust empfinden kSnnten,
sie zu zcrstfldceln, zu verdunkeln und sie
starr zu maAen, sAimpft Ae vox populi:
« AsAeten* !
Dieses MiBverstandnis ist nur mogliA,
weil der Allgemeinheit das Gefuhl fQr den
kosmisAen Charakter der Natur ab*
ha n den kam. Den letzten Generationen
war Natur eine Sammlung von Gegen*
standen. Sie ubersahen das UnendliAe-
Weil sie mit Begriffen, statt mit dem Ge*
fdhlc lebten, drangten sie allflberall zu
Fixierungen/ denn das GefQhl ist wohl
beglOdit im Wandel, im SAweben/ aber
der Begriff will stabile Treppenstufen. Be*
griffsmensAen konnen die Natur niAt
lieben, wenn sie sie auA malen. Denn
Natur ist ein ewiges Werden. Verbal von
»nasci« (entstehen) abgeleitet, ist sie ein
unablassiges Bauen, ein kosmisAes Er*
eignis. Was im MensAen noA als Rest
besteht von seiner kosmisAen Heimat, das
lebt in dcr hoAsten aller KOnste: der
ArAitektur. Sie ist von alien Kflnsten Ac
natur*ahnliAste-
Sonne, Mond und Sterne sind niAt das
Thema wahrerMaler. HattenThoma,Kalk*
reuth, Hagen, Trubner jene Innigkeit, jene
EhrfurAt vor der Natur, die ihnen naA*
gerQhmt wird, so wurden sie sie niAt »ver*
malenc. Besitzt Thomas ganzes Werk nur
den tausendsten Teil der ruhrenden An*
mut, die ein Zweiglein, ein BaumAen,
eine Blute hat? Besitzt Trflbners ganzes
Werk den tausendsten Teil der GroBe, Ae
ein aus dem Dunkel leu A tender Stem hat?
Sie konnen niAt. Denn zum Erlebnis *Stem«
gehort die unenAiAe Weite. Es ist das
biBAen Gelb auf Blau die auBerliAste seiner
ErsAeinungskrafte. Die W uAtdes tausend*
V
V
G fosse n
389
//w ** *********** ft * ** ********* //^//////^// /////// //////// ///////////w///^////////y///////////////////////#////^//////////#/////^W/#r
faltigen, des unausdeutbaren Scins — das
ist die Natur, ein Universum, ein »A1U!
Mft dcr Devise »Auge urn Auge«, die
unter Liebermanns Selbstbildnis in der
»Freien Sezession* stehen konnte, wird
man ihrer Wunder niemals inne.
Baumstamme braasen aus der Erde wie
maAtige Wellen. Der Wald steht da wie
ein grofies Tier mit weidiem Fell. Man
kann die Rinde eines Baumes begreifen,
aber niemals begreift man sie. Eine Span-
nung zwisAen Nahe und weitester Feme,
zwisAenFremdheit und innigster Vertraut-
heit macht das Herz poAen. Aber Thoma
setzt »Staflfage« in seine »LandsAaften«
mit dem ausgesproAenen ZweAe, die
Stimmung der Natur im MensAen zu
wiederholen, was monistisA ganz hubs A
ist- DoA die Natur hat gar keine Stim-
mung. Sie ist von ihrem SAopfer niAt als
Vorlagewerk fur sentimentale Maler ge-
meint, sie ist uberhaupt niAt malerisA,
sondern vollig: ArAitektur.
Ein Teil der Jugend empfindet, daft die
mensAliAeLeidensAafteinsAdneresThema
der Malerei ist. NiAt die meine iA, die aus
AuBerliAkeiten groberer Vorbilder »mo-
derne* Knitter-, Watte- und S Aa Atelbilder«
rezeptmaBig herstellen, sondern jene, die
T emperament,Freiheit und Phantasie haben :
Artur Degner, der zum ersten Male rein
und gluckliA strahlt, Klaus RiAter und
Magnus Zeller, Ernst Altmann f, Rohlfs,
Baugerter, den Plastiker Honig. Sie und
die sAon bekannteren Heckel, KirAner,
Otto Muller, Kolbe sind frei vom Zwange
einer Formel. Ihre Arbeiten haben den
Charakter des Gcsanges, wahrend die
meisten, allermeisten Bilder mehr oder min-
der deutliA »reden«. Curt Herrmanns freie
Isarbilder nehme iA davon aus.
Acfoff Be fine.
„lBr seid Mens den"
*Vous etes des hommes« heifit das Ge-
diAtsbuA. Ein Franzose, P.-J. Jouve, stoBt
den lauten SArei des MensAen aus. Eine
Widmung dr in, fur uns: >Aux freres en-
nemis.«
Es gibt niAts ErsAutternderes. Eben-
so ungeheuer klar, so riesig weit uber die
Mitwelt gebogen, so aufstaAelnd prokla-
matorisA sind die GediAte. Paris 1915,
Verlag der »Nouvelle Revue Fran^aisec.
Ehre diesem Verlag. Obwohl fast gewifi
ist, daB Jouve und sein Verlag wahrend
des Krieges fur diese Zeilen hier die Be-
sAimpfungen der Routiniers des Hasses
erleiden werden, soli dennoA niAt ge-
sAwiegen sein!
Einmal geht dieser Krieg zu Ende. Es
ist Zeit, daB wir endliA wissen, wer auf
seiner Fahne das Bild des MensAen tragt.
Denen Dank, die unsere gottliAe Geburt
niAt vergaBen.
Wo waren wir! WelAes RcAt hatte
denn dieses halbe Jahrhundert zum Leben!
Denn langer als fdnfzig Jahrc sind Leser
und DiAter gutgelaunte Privatwesen, sub-
tile Amuseure des IA. Hohepunkt der
EntgottliAung des MensAen, der Geogra-
phielosigkeit des Bewufitseins, der Ent-
irdisAung der Erde: das verantwortungs-
los eingekapselte Gestaltertum. In Frank-
reiA, in DeutsAland, die feierliAen Kreise,
in denen Symbole auf Maggiwurfelkonzen-
tration gepreBt werden,* immer noA die
wertvollsten Teilnehmer der Zeit. Aber
welA einer Zeit! Ihre DiAter BesAauer
des Historis Aen ,* und nur urn des SAauens
willen, sogar ahnungslos (!) Bejaher von
Organisationen,* sAon formal die gestren-
gen Musikmeister heutiger Armeen. Eine
Welt ohne Entfalter, ohne Mens A, ohne
SAopfer.
390
Gtossen
Als hatte nie die Erde sich geoffnet!
Aber erscholl nicht aus dem Mund der
Erde die Stimme des Menschen? Vor
einem halben Jahrhundert auf amerikani-
sdben Boden zum ersten Mai des Dichters
Walt Whitipan ungeheure Liebesstimme
far den Menschen.
★
Jouves Gedichte sind nidbt zum Be-
scbauen da. Sie sind da, um den schwachen
Menschen zu andern, zu starken, zu heilen.
Seine Verse sind nitht fur die Plastik der
Museen oder die Seltenbeit der Bibliophilie
gemacbt. Reimlos, alexandrinerfem / Zeilen
sind Scbreie in riesenhafte Volksversamm-
lungen/ Rhythmen stoBen hell in uns hin-
ein, unsre Knochen zu starken.
Der Mut dieses Mannes, seine Unab-
hangigkeit, seine Liebe far die Welt! Der
Mensch ist gebeugt, Jouve richtet ihn auf.
Der Kricg geht ja flber die ganze Erde.
<Er schUgt mit dem Meer bis nach Pata-
gonien). Drum gilt es das Leben der
Menschen miteinander aufderganzen
Erde. Politik. Der politische Diditer kommt
herauf (wieder, seit Whitman). Der Krieg
hat das nicht gemacbt, er hat es nur ver-
deutlidit. Einige von uns, und drum miB-
achtet, fordern die politische Dichtung seit
Jahren. Die Forderung wird immer mehr
erfalft. In kurzem sind die andern mift-
achtet, die uns hdhnten: die Beschauer,
die Gestalter von langst Gegebenem, die
Vermittler von Gefahlen. MiBachtet sind
sie als armliche Feiglinge, jammerliche Be-
ruhigte, gottverlassene Beitreiber von Alibis
fur eine verurteilte Zeit.
Die Welt wird ihren Dichtern danken,
den politischen Dichtern. Sind sie wirklich
heute noch mifiverstanden? weiB man wirk-
lich nicht, daB ihre Themen nur Mittel
sind? Die Satire bei Sternheim, dem ersten
politischen Dramatiker der heutigen Zeit
(keine Psychologic, kein Lyrismus/ es geht
um Ideen!). — Die Musik in den zehn
Banden von Romain Rollands »Jean-Chri-
stophe* <Einen bloBen » Roman* machte
jeder kleine Pariser Reporter geschickter.
»Jean-Christophe« ist aber kein Roman,
sondern eine riesenhafte Proklamation fur
unbedingtes Menschentum !) Doth es gibt
schon einen immanenten Dank derWelt:
vor dem politischen Dichter enthullt sich
alles Reden von *Wortkunstc als SchwindeL
Der politische Dichter ist in alle Sprachen
der Welt ubersetzbar. Er braucht nicht
»Qbertragen«, umgefuhlt, umgedacht, um*
gedeutet zu werden. Noch im eisenbahn-
fernsten, grenzseitigsten Ausdrudc ist er
ganz da, Gewalt des ersten Tages / schaffend.
>Pour l'Europec ruft Jouve auf. Uns
fur Europa:
»Ein Sang far Europa!
Singen fQr Europa, hoffen fQr Europa!
Ich bin nur geringfagig Ze He/ irgend-
einer Europas/
Aber wer singt ihn — singt ihn denn
die Kehle eines Gewaltigen? ~
Wer will ihn singen, tat es nicht ich, den
stummen Schmerz in alien anderen?
Wer will, tat es nicht ich, auffangen
Die Seelc, herrschmSchtige oder erbarm-
liche Seele der Lebenden und der Toten?c
★ * *
Keine Beschreibung von Zustanden. Un-
sere Forderungen an einen solchen Dichter
werden auBerordentlich, nach der Hohe
seines Willens. Mit ihm kampfen wir schon
um die Riditigkeit seines Ziels <dagegen
mit einem bloBen Lyrikler hochstens um
die Sicherhcit seines Ausdrudcs). Vom po-
litischen Dichter wissen wir: das Ziel ist
nicht die Menschen zu ruhren, sondem sie
zu fahren. Ihn fragen wir: >Was sollen
wir also tun?«
V
v
Gfossen
J #/////////////> ///////////W/W/W/// //////#/////###W/#,#/i//i//////////////////i///////////W///////////y///4/#W/Wy//W//»#>/
>Qye faut-il faire?« heifit das SdiluB*
gedkht des Budhes. Jouve ist von wildestcr
Glaubigkeit fur die Volker. Abcr ihn
haben alle Sauren des Sdireckens gebrannt,
er ist ein Wisscnder. Der feindlidie Bru*
der, dem die Widmung gilt — ist audi
der Skeptiker, der in VerheiBungcn mit
der Resignation ewiger Gesetzc der Er*
fahrung einbricht. Nur ungeheuerlidier En*
thusiasmus kann hier siegen.
auras
darauf,
Wort,
ganz still, sein letztes, sdidnstes
halb sdion gemurmelt Qber Vergangen*
heiten, und ganz sidier:
3 . . . Tais*toi, tais-toi, va, allons en*
scmbleU Wie stark: ein Wort der Ge*
meinsamkeit schlieBt das Buch.
it it ★
Abcr zu uns! Diditer Jouve, Politiker,
Mensdi, mein Bruder,
Wenn wir miteinander sprachen, gab es
namenlos MiBverstandnisse!
I <fi sprache gegen die Kunst <und fur Sie !>
Aber Sie wurden nur aus Hoflkhkeit das
Wort zurudchalten :
Ja, veil Ihr Deutschen die Kathedralen
zerstort
Oder Sie, Sie sudicn einen machtigen Re*
frain, der die Massen auf den StraBen
vorwarts treibt, und Sie finden ihn.
Aber idi wGrde Ihr Wort nur fur eine
sch6ne Phrase halten,
Denn bei uns sind die sefadnen Worte fGr
Dinge da, die es sdion gibt.
Sie wurden glauben, ich sei teilnahmslos
oder brutal.
Ich wurde glauben, Sie seien ein Hohlkopf.
Wir wurden uns entzweien und einen
neuen Krieg brauchen, um wieder Brfl*
der zu werden!
Nein.
Es kommt nidit auf MiBverstandnisse an.
Es kommt darauf an, daB wir nidit an*
einander zweifeln.
Wir wissen, dies ist. der Freund. Seien
wir Partei fureinander:
Seien wir Mensch!
Jeder von uns treibt grauenhaften Irrtum.
Jeder Irrtum, den wir nicht sahen, hat
Mensdien getotet.
Diditer, Bruder, Volkermensch !
Ich weiB, daB es wahnsinnige limwege gibt.
Ja, wir werden uns lieben, einander un*
bekannt <wir lieben die Bilder, die wir
uns voneinander machen!)
Aber trafen wir einander in Wahrheit und
sagte ich : Auch Sie glauben nodi zu oft
Ihren Kriegszeitungen, wie idi den mei*
nigen. Aber ich weiB, daB wir beide
es wohl irgendwie nicht anders konnen,
Dann wGrden Sie mir eine gespitzte Ant*
wort geben. Und idi wGrde Ihnen das
nidit verzeihen,
Darum : es tut not, wir fassen es nidit so
weit kommen.
Jeder von uns beiden ist ganz gewiB und
denkt doth, er sei der cinzig Sidbere.
Aber ist es nidit viel wichtiger, daB wir
beide gemeinsam wollen?
Das Sein ist wichtiger als die Beschiftigung
mit dem Sein.
Gemeinsam wollen!
Eines Tages ist der Krieg zu Ende.
Ludwig RuSiner.
INHALTSVERZEICHNIS
I.
AUFSATZE
HEFT SEITE
Oskar Baum, Die Gegner des Krieges IV 58
Eduard Bernstein, Volker zu Hause. Erinnerungen
IV. In Zurich V 115
Theodor Daubler, Henri Rousseau VI 239
Gustav Landauer, Friedrich Holderlin in semen
Gedichten VI 183
Ludwig Rubiner, Legende vom Orient VI 252
Rene Schickele, Der Mensch im Kampf IV 1
GEDICHTE
Paul Boldt, Freundin Horerin IV 76
Valerij Brjussoff, I. Schatten, II. Weib (Nachdich-
tung von Ch. Strafier) IV 67
Theodor Daubler, Sang an Palermo IV 48
Max Pulver, Gedichte V 135
Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht V 91
Ernst Weifi, Der bunte Damon V 161
Franz Werfel, Neue Gedichte VI 227
III.
DRAMATISCHES
Carl Sternheim, Tabula Rasa. Ein Schauspiei in
drei Aufzugen IV 25, V 139, VI 214
26 VoL m/1
IV.
EPISCHES
Gottfried Benn, Die Reise .....
Kasimir Edschmid, Winter. Tage .
Ulrich Steindorff, Golgatha ....
HEFT SEITE
VI
IV
244
162
69
V.
GLOSSEN
Han ns Braun, Hauser VI 284
Max Herrmann, Carl Einstein IV 88
Karl Lowenberg, Gefangenebegraben VI 282
„ „ Der daheimgebliebene Mut . . VI 283
L. R., Trdster V 180
R. S., Ziircher Tagebuch (Minderheiten. Herve,
Demain. Pazifismus.) IV 79
R. S., Ziircher Tagebuch (Das Leben nach dem
Tode. Die elsassische Frage. Die Schweiz.
Literatur.) V 174
Franz Xaver Schmitt, Rudolf Kayser erinnert an
Wienbarg IV 83
Robert Walser, Vier Bilder VI 276
VI.
ZEICHNUNGEN
Hermann Huber, Vier Zeichnungen . .
. . . IV
Q\ene Scfn'cfcefe:
DER MENSCH IM KAMPF
I.
I J IE Zertriimmerung Deutschlands ist kein Kriegsziel, son-
^ dem eine Reklame, woran in den Deutschland feindlichen
Landem kein ernsthafter Politiker glaubt.
Ebenso verhalt es sich mit den phantastischen Kriegszielen,
die man der deutschen Regierung unterschiebt oder die in
Deutschland unier der ZHand verbreitet werden.
In Wirklichkeit kampfen die Volker um ihre Selbstbehaup-
tung,
seitdem, nach den Schlachten an der Marne und bei den
masurischen Seen, die erhitzenden Erinnerungen an die knege-
rischen Streifziige friiherer Zeiten plotzlich zerrannen und an
ihre Stelle die neue Wirklichkeit der Schiitzengraben trat:
dieses Symbol des heutigen, des wirtschafthchen Kampfes,
der mit den Mitteln einer groBen industriellen Organisation
gefiihrt wird, vom Fabnkanten und Arbeiter hinter der Front,
in deren Hand der kampfende Soldat bis zum Armeefiihrei nur
ein Werkzeug, der Agent einer nesenhaften, kaufmannischen
Unternehmung geworden ist.
Je weiter die Kriegsschauplatze sich dehnen, desto abhangigei
wird der Soldat von der Maschinerie, die ihn bewegt. Vorstofie,
wie die Offensive der Franzosen in der Champagne, die Schlacht
bei Verdun, der Verlust und Wiedergewinn Galiziens, die Uber-
rennung Serbiens, erscheinen lediglich als Versuche, dem Krieg
wieder zu seinem urspriinghchen Charakter zu verhelfen. Der
Tefdzug ist tot, das europaische Gleichgewicht betatigt sich
morderisch, genau wie es sich vor dem Krieg diplomatisch be-
hauptete. Dieser Krieg zeigt deutlich : die neue Zeit.
Rene Schtckdc * Der Mensch im Kampf
2
Die niederdriickende Einkreisung Deutschlands ist nicht ge-
lungen, und Deutschland hat den « Ring », an dessen Anlage die
Geographic mehr beteiligt war, als die Diplomatic, nicht ge~
sprengt.
Millionen Tote liegen begraben, zum Beweis, daB die neue
Zeit die Losung groBer, zwischen lebensfahigen Volkem be-
stehender Probleme durch Massengewaltsamkeiten nicht zulaBt.
Uber den wirtschaftlichen Wert eines Sieges in diesem Zu-
stand hatten die Finanzmanner der kampfenden Volker zu
urteilen. Uber die Fragwiirdigkeit geistiger Gewinne ist schon
heute so viel zu sagen, daB alle kriegfiihrenden Volker fiir die-
selben geistigen Ziele kampfen mochten, daB die moralischen
Energien iiberall dieselben sind und daB die seelischen Ergeb-
nisse vermutlich iiberall die gleichen sein werden. Diese Uber-
einstimmung in der geistigen Fiihrung des Krieges geht soweit,
daB ungefahr alle, die in den einander feindlichen Landern
sprechen, bis auf den tyortfaut dasselbe sagen. Nie hat ein
einigeres Europa bestanden, nie war die Solidaritat der Volker,
die sich zu zerfleischen suchen, so groB.
Dafiir kann es nur zwei Griinde geben: entweder die Re-
gierungen sehen sich gezwungen, zur Erreichung ihrer zweifel-
los entgegengesetzten Ziele die gemeinsamen Ideale der Volker
anzunehmen, es sei denn sie vorzutauschen , oder sie kampfen
tatsachlich, freiwillig, sozusagen sponian, fiir das gemeinsame
Ideal samtlicher Volker, jede von innen im Glauben, daB sie und
gerade sie und sie allein die gemeinsamen Ideale zu verwirklichen
berufen sei. Ein Vollstrecker dieser Ideen, ein Verwalter
dieser Ideale, glauben sie, miisse sein, und um diese hochste
Menschheitsmission morden einander die Volker.
Wahrhafter Kampf, so er vom ganzen Menschen, vom
Scheitel bis zur Sohle, gekampft wird, mit dem Einsatz alles
dessen, was er besitzt und nicht zuletzt seiner selbst, ist etwas
furchtbar Entschiedenes : ^od oder <Jieg. Der Mensch muB an
die Wirksamkeit des von ihm gebrachten Opfers glauben, der
Feind ist nur noch der Vorwand fiir das Mysterium, das sich in
ihm von Herz zu Him vollzieht und durch das er mit seinem
Rene Schickele ♦ Der Mensch im Kampf
3
o
Tiefsten kommuniziert ; und ein deutscher Dichter, der als
Politiker, auf parteipolitischem Boden, ganze und halbe Volks-
genossen mit Inbrunst hafite, schreibt dann Gedichte, wie diese :
Wisset, die ihr Sturm und Wellen stillt:
Kampfe werden sein und Menschen fallen,
Machtige der Welt erstehn,
solang Schwacbe sich um Starke drangen,
HaB wird saen, HaB wird mahn
mit Choralen und mit Mordgesangen,
und die alten Schwiire werden hallen —
Liebe, die zum einen iiberschwillt,
macht das andre untergehn.
Wisset, die ihr stillt die tiefen Wellen:
Blut will, Blut mufi aus dem Bronnen quellen,
Schaferin Erde diirstet nach Blut.
Wisset, die ihr gute Weisheit lehrt:
Herzen werden andre niederschlagen,
herrisch und zu zwein,
solang Friihlingsnachte sie verziicken,
Wut und Sanftmut auf sie niederschnein
Von den blauen, lichtbekranzten Briicken.
Fortgeschwemmt von Liebesrufen, Klagen,
klangdurchbebt und unbewehrt
brennen sie im neuen Schein.
Wisset, Meister ihr der klugen Worte,
suchend schafft die Sehnsucht allerorte,
Schaferin Erde verzehrt sich in Glut.
*
Nur wer Leben kennt, begreift das Sterben,
sterben aber, das ist schwer,
so man jenen Alten glaubt,
deren Blick, ganz weit und leer,
an der Stirn verzittert ihrer Erben,
y
w*
4 Rene Schickele * Der Mensch im Kamfif
die im Krankenzimmerdammer
lichtgefiillte Hande heben,
schnell wie Hammer,
und den Jungen, die erbeben,
wenn die Nacht sie schwarz umlaubt.
Sollt ich auch vom Grauen wissen,
das uns Schreckhafte beschleicht,
wo ein Mensch in sich zusammenbricht,
will ich, vielleicht selbst erbleicht
ach! wie jene plotzlich stillen Kissen,
dennoch blutrot in die Hohe hissen.
Wo ein Mensch endlos zusammenbricht,
eine Flamme aus dem Triiben sticht,
Seele weh zu Seelenhaftem flieht,
Blut sich wieder erdehin verzieht,
sterbend sind wir alle Mutter, die gebaren!
Wo ein Mensch mit mir zusammenbricht,
steig, mein Herz, in einem Strahl aus Blut und Schwaren,
steh wie ein Panier, das Sieg verspncht!
Heute mufit du leuchten, mufit du schweben,
heute, heute, wenn auch heute nur
iiberjuhelt mein Triumph zu leben
den Vernichtungsschrei der Kreatur.
Blutrot will ich in die Hohe hissen
und entziickt vom Tode wissen.
*
Und dann dies entsetzliche Gesicht:
Ein Schlachtfeld mit Haufen
von Leibern, die, aufgerissen, dicht
verglaste Augen an offenen Bauchen,
von Blut und Eingeweiden iiberlaufen,
und die sich riihren, und die keuchen,
Rene Schickele ♦ Der Mensch im Kampf
und eine Nacht, die sie allem, nur nicht sich selbst entriickt,
und die sie wach halt und langsam in die Erde driickt,
Verblutendes in eine Riesenwunde,
und hallendes Schweigen in der Runde.
Die Not des Ertrinkenden, wenn er zum letztenmal
auftaucht und die fern verzitternden Ufer
da sind und dann ein langer blauer Strahl
ihn ganz durchbohrt, vom Himmel sausend . . .
Im hochsten Stockwerk des brennenden Hauses der Rufer,
den es zuriickhalt, hinauszuwehn mit dem sausenden
Glutsegel, das der Atem ernes Feindes schwellt,
und der sich sein eigenes Echo in die Ohren gellt,
der fliegend sinkt und filhlt, wie die roten Flammen
mit grofien Schlagen ihn ins Schwarze rammen.
Wie rote dicke Milch erbrochenes Blut
der Uberfahrenen, das Nachzittern der Glieder
und eine einsame Hand, die zartlich tut,
im Fallen seithch fortgeschleudert,
streicht hm und her und hebt sich wieder
so sanft . . . und wie vom Schmerz gelautert.
Die Wolke Unrat, worin der eine verdirbt,
der Schluckauf, dran der andere plotzlich stirbt,
der lange Kampf auch derer, die sich wehren,
ihr zuckend Hell ins Dunkel auszuleeren!
Dich dran zu halten, Bruder, reich ich die Hand,
sieh her, ich bin der Nachfahr, der dich am Wege fand,
und wenn du still bist, werd ich welter schreiten
in eine Welt, die viele Tode weiten,
so sehr, daC, wenn ich selbst den letzten Kampf begmn,
ich wohl schon lange nicht mehr auf der Erde bin.
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Rene Schickde ♦ Der Mensch im Kampf
(ERSTER AUGUST 1914)
Kam eine rote Wolke gezogen,
entsturzten ihr drohende Gestalten,
wir riefen, um sie aufzuhalten,
schon waren sie durch uns geflogen
und hinterlieBen einen Brandgeruch,
Bestiirzung ringsum wie nach einem Fluch,
und dann war Krieg.
Die Traume sind ausgetreten,
sie zeigen fletschende Zahne und winken,
wir mochten in die Kniee sinken,
die Angst und Wut in Ruh zu beten.
Die wachen Traume haben uns umringt,
wir horen, noch fremd, die eigene Stimme, die singt:
Tod oder Sieg!
*
(UNTERWEGS)
Was ist gestern? Was ist heute?
Was ist Wahrheit? Was ist Trug?
Sind wir nicht die eigene Beute
Und uns selbst genug?
Wo ich fiihle, steigt die Erde mal um mal,
fallt und glitzert leise singend,
steigt, durch Licht und Schatten dringend,
wie die bunte Kugel auf dem Springbrunnstrahl.
Was ist Sterben ? und was Leben?
Tanz aus Dunkel, Ruhe, Licht und Schall!
Allem Sein zutiefst ergeben,
lausch ich ferner Tode Widerhall.
Rene Schickde * Der Mensch im Kampf
Qjnd zufeizt:
(BETE)
Bete, daB aus soviel Schlachten
dir der Geliebte wiederkehr
und sein Herz dann immer bleibe
so stolz und klar wie seine Wehr.
Bete, dafi die Totversunknen
in dir und alien auferstehn,
dafi wir stets bei unsem Taten
ihr ernstes Lacheln vor uns sehn.
Bete, daB die Kraft der Opfer,
so dargebracht, wie nie zuvor,
sich ein Volk noch hingegeben,
ein ewig Licht sei an dem Tor
deines Hauses und des Reiches,
durch das Geschlechter Deutsche gehn.
Gleich wie Gottes mog ihr Atem
auf unsern hellen StraBen wehn.
Bete, daB wir alle werden
durch ihren Tod so stark wie frei,
und am Ende, daB der Deutsche
ein milder Herr der Erde sei.
( GedicAte, gtscfiritbtn im $uni> $u(i und August J9f¥)
*
Die Freunde des Dichters fielen, von Granaten zerrissen, von
Bajonetten gespieBt. Er hatte eine Gemeinsamkeit mit ihnen.
Sie waren von seinem Fleisch und seinem Blut. Da sie tot waren,
rief er sie, die trotzdem, die iiber alle greifbaren Begriffe Leben-
Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
8
digen, die Blutzeugen ihrer Gemeinsamkeit, und er betete fiir
den Fortbestand ihres leidenscbaftlichen Willens.
Denn nichts ist sinnlos fur den, der Sinne hat, und jedes Blut-
opfer ist der letzte Ernst.
Ich neige mich tief vor Charles Peguy und beweine Ernst
Stadler. Jener war seit zwanzig Jahren darauf vorbereitet, fiir
eine Idee zu sterben, die, auf dem Schlachtfeld, die seine bliebe,
bleiben mufite, weil es seine eigene Idee war und das klar ge-
wollte Opfer. Er schrieb „Notre Patrie“ und Verse, in denen er
seinen und seiner Kameraden Tod Jahre im voraus segnete:
„Heureux ceux qui sont morts dans les grandes batailles
Couches dessus le sol a la face de Dieu.“
Dieser litt unsaglich, bis er, auch er einen Sinn fand fiir den Tod,
den er, auch er erwartet, wenn auch nicht so gewollt hatte,
nicht auf der Stelle, wo er ihn traf:
„Aber eines Morgens rollte durch Nebelluft das Echo von
Signalen ,
Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war wie wenn
im Dunkel plotzlich Lichter aufstrahlen.
Es war, wie wenn durch Biwakfriihe Trompetenstosse
klirren,
Die Schlafenden aufspringen und die Zelte abschlagen und
die Pferde schirren.
Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stiefien,
Feuer iiber Helm und Biigel,
Vorwarts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem
Ziigel.
Vielleicht wiirden uns am Abend Siegesmarsche um-
streichen ;
Vielleicht lagen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen.
Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken
Wiirden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und
gliihend trinken.“
Rene Schickele ♦ Der Mensch itn Kampf
9
o
Waren sie Feinde?
Sie waren Freunde — Peguy, der politischere Mensch,
Stadler, der menschlichere Politiker.
Und die Politik, die nicht die ihre war, stellte sie als feindliche
Offiziere einander gegeniiber.
In der weiten Erde Europas liegen sie vereint und sind ein
einziger Glaube an die Zukunft ihrer grofien Heimat.
Wir brauchen nur treu zu sein und zu glauben.
Auch das ist — Politik. Das Fundament unsrer Politik. Der
Kampf aber auf dieser geheiligten Statte fordert alle blanken,
unsentimentalen Eigenschaften des Ringkampfers. Fordert alle
blanken, unsentimentalen Eigenschaften des Ringkampfers.
Hier geht es um die Macht. Hier geht es um die Macht. Wer
die Macht dazu hat, macht Kriege oder verhindert sie. Er allein.
Die andern folgen, hingerissen, dem Plakat, beugen sich,
schwankend, dem unheimlich anziehenden Schrecken der
Gewalt.
II.
A la guerre comme a la guerre : das Wort ist nicht von einem
Deutschen. Im Grunde sind alle, aber auch alle Militare von den-
selben Pnnzipien durchdrungen, die nicht einmal sie geschaffen
haben, sondern die ihnen von ihrer Waffe und deren auBersten
Ausniitzung aufgezwungen werden. Versteht es sich nicht von
selbst, dafi, wer einmaf den OCrieg wiff, den Sieg mit alien Mit-
teln zu ernngen sucht? Der Krieg hat langst aufgehort, ein
Turnier zu sein ; vielleicht ist er es noch bei irgendeinem Neger-
stamm, der diesen Sport mit fachmannischer Gewissenhaftig-
keit und iiberkommener Artigkeit pflegt. Je zivilisierter, je un~
knegenscher die Volker aufwachsen, desto barbarischere Formen
muB die ihnen ganz ungemafie Form des Massenmordes, die
der heutige, der Volkerkrieg ist, annehmen. Dies gilt nicht
fiir die und jene, es gilt fur ganz Europa, und im selben Masse,
wie die und jene sich starker oder schwacher fiihlen und nach
dem Umfang der ihnen notig erscheinenden Anstrengung, um
Rene Schickde ♦ Der Mensch im Kampf
zu siegen, um trofz affem zu siegen. Die einzigen ethischen Kri-
terien, die fur ein kriegfiihrendes Volk gelten konnten, waren in
den Verhaltnissen vor dem Krieg und der geistigen Verfassung
der Volker bei Kriegsschlub zu suchen.
Ich habe im Marzheft des vorigen Jahrgangs einige der
besten Kriegsberichte aus den feindlichen Landem nebenein-
andergestellt : sie waren von einer erstaunlichen Ubereinstim-
mung. Der Deutsche empfand wie der Franzose, ein Russe wie
ein Osterreicher. Den Zeitungsberichten folgten Bucher. Der
Verlag Georg Muller in Miinchen hat einen „Deutschen Krieg
in Feldpostbriefen“ erscheinen lassen, die Libra irie Larousse
in Paris ,,Les Mots herolques de la guerre*4 gesammelt. Nicht
nur, dab die Gedankengange der kampfenden Soldaten ein-
ander sinngemafi decken, ich finde in den Biichem sogar die
gleichen Anekdoten. So habe ich in der franzosischen Kriegs-
literatur Ausspriiche von Soldaten und Armeefiihrern gelesen,
die ich als Ausspriiche deutscher Soldaten und Armeefiihrer
bereits aus der deutschen Kriegsliteratur kannte; Bismarcks
Worte von 1 866 : „Die Kerle sind zum Ktissen44 kehren, als
Bekenntnis eines franzosischen Generals, in den „Mots heroi-
ques de la guerre44 wieder : „Mes soldats, je suis depuis le debut
4 genoux devant eux.44 Die Methode im Kampf stellt sich als
ebenso gemeinsam heraus : „Aber bald, wahrend die Sonne auf-
ging, bot sich uns ein Schauspiel dar, dessen Beschreibung
wirklich lohnt. Ungefahr 800 Meter vor uns zeichnete sich
eine Hiigelkette vom Himmel ab. Auf deren Rand tauchten zu-
erst die Vorposten auf, dann die feindlichen Einheiten, die sich,
kaum, dab sie die Hohen erreicht hatten, plotzlich entfalteten.
Haben Sie gesehen, Herr Leutnant, fragt mich mein Sergeant;
es ist seltsam, sie manovrieren wie wir! Man konnte glauben,
dab sie ihre Rekrutenschule bei unserm Bataillon durchgemacht
hatten.44* Hunderte von deutschen Feldpostbriefen haben be-
richtet, dab die Bataillone „wie im Manover44 vorgingen, und
in andern Tagebiichem franzosischer Offiziere begegne ich
* Carnet de Route d'un Offider d’Alpins, Librairie Militaire Berger- Levrault
Nancy, S. 27 — 28.
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7
Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
II
immerwieder der berufsfreudigen Schilderung von dem mano-
vermafiigen Ansatz einer Aktion,
die dann, hiiben wie driiben, von gleicb entsetzten Herzen
erlebt, mit gleich erweiterten Augen gesehen, in die furchtbare
Raserei des Kampfes bis zum Handgemenge iibergeht. .
Greueltaten geschehen, wenn man den vorliegenden Zeug-
nissen glauben kann, hiiben wie driiben : „Als ich nach dem
Platze kam, sah ich, wie Zivilpersonen den Verwundeten die
Kopfe abschnitten und auf Stangen befestigten. Ich ritt in
groBtem Galopp zu meiner Schwadron zuriick, die sofort unter
meiner Fiihrung nach der betreffenden Stelle aufbrach. Wir
fanden die Zivilpersonen noch ,bei der Arbeit* und nahmen sie
fest.“* Und in den vom franzosischen Ministerium des Aus-
wartigen zusammengestellten Dokumenten** enthalt Num-
mer 35 die eigenhandig geschriebene Erklarung eines deutschen
Soldaten vom 57. Infanterie-Regiment, der als Kriegsgefangener
im Fort Penthievre in Quiberon untergebracht ist : „Wir brachen
in einem Hause ein in Metten da wurde aus einem Hause
geschossen, wir brachen in dem Hause ein und bekamen den
Befehl das Haus zu untersuchen, aber wir fanden nichts in dem
Hause wie zwei Frauen mit einem Kind. Es wurde aber von
meinen Kameraden gesagt das die beiden Frauen geschossen
hatten und wir fanden auch einige Waffen nahmlich Revolwer.
Ich habe aber nicht gesehen das die Frauen geschossen hatten.
Els wurde aber den Frauen gesagt es passierte mchts da die
Frauen zu sehr weinten. Wir hoJten die Frauen heraus und
brachten die Frauen zum Major, da erhielten wir den Befehl
die Frauen zu erschieBen. Der Major hieB Kastendick und ge~
horte dem 57. Infanterie Regiment. Als nun die Mutter tot war
befahl der Major das Kind zu erschiessen well das Kind nicht
allein auf der Welt bleiben sollte und das wie die Mutter er-
schossen wurde hielt das Kind die Mutter noch bei der Hand
so das Kind mit zuriickgezogen wurde. Dem Kind wurden auch
die Augen zugebunden. Ich habe die Wahrheit geschrieben, ich
* Der deutsche Krieg in Feldpostbriefen I. Verlag Georg Muller, S. 36.
** Les violations des Lois de la Guerre par L'AUemagne I, S. 74.
1 2 Rene Schickele ♦ Der Mensch im Kampf
habe selbst das mitgemacht weil wir den Befehl vom Major
Kastendick und vom Reserve Hauptmann Diiltigen bekamen.“
N. S. „Es tat mir sehr leit als ich das sah. Dabei standen mir
die Tranen in den Augen.“
Der Dresdener Staatsanwalt Wulffen gab auf die Frage,
weshalb die Kriminalitat wahrend des Krieges zuriickgegangen
sei, in einer deutscben Zeitung die Antwort : Die Kriminellen
befinden sich an der Front. Hier haben wir eine Folge der all-
gemeinen Wehrpflicht, die, auf der andern Seite, Gustave Herve
in einem Offenen Brief an seine Mutter bestatigt :
„Ich wette, du hast dich durch alle die Geschichten von den
deutschen Greueltaten aufhetzen lassen, die die Zeitungen ver-
breiten. Ich kenne dich : du hast dariiber den Schlaf verloren.
Du siehst in Gedanken deinen Sohn, wie er verwundet am
Rande eines Geholzes liegt, wie er von Banditen mit derPickel-
haube ausgepliindert wird, worauf sie ihm den Rest geben. Ich
will nicht bestreiten, daB es hie und da solche Verwundete
gegeben habe, die von Apachen in deutscher Uniform gemordet
worden seien. Aber welche europaische Armee hat denn nicht
ihre Apachen? Erinnere dich, was unser Artillerist nach jeder
seiner Kolonialexpeditionen uns erzahlte, an die von den Unsem
begangenen Greuel, deren entriisteter Zuschauer er manchmal
gewesen war. Der Krieg ist nichts Schones ! Puh ! Ich weiB wohl,
welcher Ungeheuerlichkeiten eine losgelassene Soldateska fahig
ist, zumal, wenn sie getrunken und nicht gegessen hat: ich
kenne das deulsche Volk gut genug, um dir versichern zu konnen,
daB die Greueltaten, die alle Zeitungen fiillen, von einer Hand-
voll Apachen begangen wurden, und daB die iiberwaltigende
Mehrheit der deutschen Offiziere und Soldaten unfahig waren,
einen franzosischen Verwundeten anzuriihren, es sei denn, um
ihm zu helfen.“ *
Die Entente hatte, in Belgien, die abgehackten Kinderhande,
wir, in OstpreuBen, die abgeschnittenen Frauenbruste. Die eine
* Gustave Herv£, La patrie en danger, Recueil in extenso des articles publics par G. H.
dans la t Guerre sociaie • du ler juillet au lc*r novembre 1914. Paris, Bibliotheque desouvragea
documentaires. S. 115 — 116. Der Artikel erschien am 24. August 1914.
Rene Schickde * Der Mensch im Kampj
13
Halfte dieser Geschichten besteht aus Legenden, um nicht zu
sagen Liigen, deren Bildung jedem Kenner der Massenpsychose
wohlbekannt ist; die andere aus Tatsachen, die ausdem kdrper-
lichenundseelischenZustandder entfesselten Bestie im Menschen
hervorgehen, und die das grauenvollste Schauspiel sind, das
Menschen einander bereiten konnen.
Bisher war nur vom Soldaten und Offizier die Rede. Zwei
Beispiele, daB der gleiche Geisteszustand die Gesamtheit der
in den Kampf gerissenen Menschenmenge umfaBt bis zu den
hochsten Heerfiihrern. Ich habe sie genommen, wie sie gerade,
in Armeslange erreichbar, vor mir lagen.
Aus einem Tagesbefehl des Generals Franchet d’Esperey an
seine Armee, nach der Schlacht bei Montmirail :
,, Soldaten, auf den denkwiirdigen Schlachtfeldern von Mont-
mirail, Vauchamps und Champaubert, die, vor hundert Jahren,
die Zeugen der Siege waren, die unsere Vorfahren iiber Bluchers
PreuBen davontrugen, hat unsere kraftvolle Offensive den Wider -
stand der Deutschen gebrochen. . Der erste Erfolg ist nur ein
Vorspiel. Der Feind ist erschiittert, aber noch nicht endgiiltig
geschlagen. . Niemals bestand dringendere Pflicht, dem Vater-
land alles zu opfern. Ich griiBe die Helden, die in den letzten
Kampfen gefallen sind, und wende mich in Gedanken an die Sie-
ger der nachsten Schlacht. Vorwarts, Soldaten, fur Frankreich !“*
Ansprache des deutschen Kaisers im Hauptquartier, nach der
Schlacht in Lothringen:
„Kameraden! Ich habe Sie hier versammeln lassen, damit wir
uns gemeinsam des Sieges freuen, den unsere tapferen Kamera-
den in Lothringen errungen haben. Deutsche Truppen aller
Stamme haben in tagelangem Ringen, in opferfreudigem Mut
und unerschiitterlicher Tapferkeit den Feind zuriickgeschlagen
unter Fiihrung des bayerischen Konigssohnes. Unsere Truppen
waren vertreten in alien Jahrgangen. Aktive Soldaten, Reserve
und Landwehr, sie alle zeigten denselben Schneid, dieselbe
Tapferkeit, das gleiche Gottvertrauen und riicksichtsloses Drauf-
* Les mots hlroiques dc la guerre, S. 122.
14
Rene Schickde * Der Mensch im Kampf
gehen. Dafiir haben wir vor allem unsem Dank zu richten an
Gott den Allerhochsten. Ich gedenke in Ehren der Gefallenen,
welche ihr Herzblut verspritzt haben, wie wir es nachmachen
wollen. Sie haben es getan in unerschiitterlichem Gott vertrauen .
Noch viele blutige Kampfe stehen uns bevor. Wir wollen und
miissen siegen. Unseren tapferen Kameraden, die uns voran-
gegangen sind zum Siege, ein dreifaches Hurra !“*
Und noch ein anderes fallt auf. Deutsche wie Franzosen
klagen bei Beginn des Krieges iiber die „Feigheit der Feinde**,
die sich „in jeder Erdfalte verkriechen". Das war noch eine
Erinnerung an den (Fe[dzug, Erinnerungen zumal an 1870 — 71 ,
denen bald die eintrachtliche und moglichst ausgiebige Beniit-
zung des Schiitzengrabens folgte.
III.
„DAS GROSSE JAHR“ : Dies ist der Katalog des Verlags-
hauses S. Fischer in Berlin fiir 1914 — 15. In der Einleitung
stehen Satze, die ein Staatsmann vom Schlage Eduard Davids
geschrieben haben konnte :
„Ein Verlag ist allerdings keine Industrie, und man sagt ihm
nicht ohne weiteres etwas Riihmenswertes nach, wenn man
findet, daB er sich schnell und geschickt fiir den Krieg umge-
schaltet habe. Wohl stellt der Krieg, sofern er ein geistiges
Ereignis ist, sofern er zu einem geistigen Ereignis werden soil,
auch ihm Aufgaben mancher Art; aber wenn er sie erfiillt, ist
sein eigenstes Werk noch nicht getan. Denn nicht nur soil
auch er den Forderungen einer im Fordem unnachsichtigen
Zeit gerecht werden; — er hat die noch groBere Pflicht, ihm
anvertrautes Gut durch die Brandung eben dieser Zeit hdl
hindurchzutragen
Wohingegen ein anderer Passus von Moritz Heimann verfaBt
sein diirfte:
• Der deutsche Krieg in Feldpottbriefen I, £L 154—155.
Rene Schickele * Der Mensch itn Kampf
15
„Sie (die Literatur), die von Natur schon fur alles Schick-
salhafte empfindlicher als der biirgerliche Sinn ist, muBte sich
obenein von heimlichen und offentlichen Feinden sagen lassen,
dafi die groBe Stunde nicht ihre Stunde sei, und sie erlebte
buchstablich das Gleichnis des griechischen Dicbters:
Hoch in die Wolken entfiihrte die Nachtigall plotzlich der
Habicht,
Festinden grimmigen Klauen die liebliche Sangerin haltend.
Jammerlich klagte die Arme ihr Leid. Doch herrisch begann er :
Torichte, schreie nicht so! Viel machtiger bin ich an Starke.
Wie mir beliebt, so schlepp’ ich dich fort, wie schon du auch
singest.
Habe ich Lust, so speise ich dich. Sonst magst du entrinnen!
Also zur Nachtigall sagte der dunkelbefiederte Habicht.
Jedoch der Habicht ist ein Prahler. Er glaubt wohl, dafi er
die Sangerin verspeisen konne, doch er tut es nicht. So scharf
seine Fange sind, unversehens und ihm selbst zur Uberraschung,
ganz unbegreiflicherweise muB er sie offnen, und das befreite
Lied behalt seine Macht und seinen Sieg.“
Die Verhandlungen in unseren Parlamenten stort dje geistigen
Fiihrer bei S. Fischer nicht, und Herr Sanger, der vor dem
Krieg Bernstein hochschatzte, bevor er den alten Kampfer, der
auf ein Lebenswerk zuriickblickt, als einen politischen Narren
hinstellte, Hardens politischen Scharfblickriihmte und in David
und Scheidemann staatsmannische Talente entdeckte, Herr
Sanger, dessen Chroniken vordem Anglomanie ausschwitzten,
stapelte Argumente auf, die die Herren Reventlow und Oertel
mit einem hohnischen Lacheln wiedererkannten. Thomas Mann
vergniigte sich so lange und so absichtsvoll mit Friedrich dem
GroBen, bis die groBe tragische Figur zu einem Bosewicht ge-
worden war, dem der Literat mit Verstandnis auf der Hinter-
treppe seiner schonen Seele begegnete, und Lucia Dora Frost,
von der ich annehme, daB sie erne Frau ist, entdeckte und ent-
wickelte in der „Preu6ischen Pragung“ einen erschreckenden
Kannibalismus, liber den Nietzsche sich krank gelacht, und
den der Soldat, der preuBische Soldat ausgespien hatte.
27 Vol. m/1
16
Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
Da steht im {Catalog des weitern, zu Beginn einer kleinen
Betrachtung von Moritz Heimann, zu lesen: „Der Krieg von
1870/71 hat uns die nationale (soil vermutlich heifien: die
staatliche) Einheit gebracht, dieser soil uns die moralische
(wohl: die nationale) Einheit bringen. Wir haben erreicht und
wollen es nicht mehr verlieren, daB wir miteinander reden
konnen.“
Wie schon !
Aber so antwortet mir nicht, in schlechtem Englisch, ich
und einige andere seien Franzosen, wenn wir deutsch reden.
Versuchen Sie, bitte, Moritz Heimann, mit einem Konserva-
tiven zu reden, der ein Kerl ist, dann werden Sie mir vielleicht
recht geben, dafi eine Verstandi gung zwischen uns leichter
ware. Gehen Sie doch mit Ihren Freunden in unsere Redak-
tionen und Parlamente, lassen Sie sich als unsichtbaren, um so
aufmerksameren Cast mitnehmen in die AusschuBsitzung einer
Partei oder nur in die Halle des Reichstags. Suchen Sie zu
erfahren, von moglichst zuverlassigen Zeugen, wie die Welt-
geschichte gemacht wird, und Sie werden die Nachtigall
sorgfaltig in die Hand nehmen, statt mit ihr das Experiment
des Habichts anzustellen.
Wie die Weltgeschichte gemacht wird? Lesen Sie die
„Gedanken und Erinnerungen“ von Bismarck und verweilen
Sie einen Augenblick beispielsweise bei einer Szene, die den
Stempel der politischen GroBe tragt. Sie ist sehr dramatisch.
Weshalb ich nicht miide werde, Menschen vor sie hinzustellen,
die bisher fur die Mechanik der Biihne empfanglicher waren,
als fur die — meist groberen — Kunstgriffe dessen, der Welt-
politik macht.
Der 4. Oktober 1859.
Bismarck ist Wilhelm I., der der Konigin in Baden-Baden
einen Geburtstagsbesuch gemacht hat, bis Jiiterbog entgegen-
gefahren und erwartet ihn, im Dunkeln auf einer umgedrehten
Schiebkarre sitzend, in dem noch unfertigen, „von Reisenden
dritter Klasse und Handwerkern gefiillten Bahnhof“. Bismarck
hat zur Erbauung der Budgetkommission sein Stahlrad ge-
Hr
air
V
Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
17
schlagen. Vor den Magen hat er es den Herren im Bratenrock
gestoGen — „was zwar nicht stenographiert, aber in den Zei-
tungen ziemhch getreu wiedergegeben war“ — daG PreuGen nicht
mit Reden, Vereinen und Majoritatsbeschliissen geholfen sei,
sondern daG es einen Kampf kosten werde, „der nur durch
Eisen und Blut erledigt werden konne“. Er will den Konig, der
von der (Snyfanderin kommt, nicht nach Berlin hineinlassen,
ohne zuvor die Hand auf ihn gelegt zu haben. Ein Blick in das
miide, verdrossene Gesicht: Der Konig ist ,,unter der Nach-
wirkung des Verkehrs mit seiner Gemahhn sichthch in ge-
driickter Stimmung“. Kaum offnet Bismarck den Mund, da
fahrt der Monarch ihn an:
„Ich sehe ganz genau voraus, wie das alles endigen wird.
Da vor dem Opernplatz, unter meinen Fenstern, wird man
Ihnen den Kopf abschlagen und etwas spater mir.“
Es beginnt der Dialog! Bismarck hatte erraten, und es ist
ihm spater von Zeugen bestatigt worden, daG der Konig
wahrend des achttagigen Aufenthalts in Baden-Baden mit Va-
nationen liber das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI.
bearbeitet worden war.. Also:
,,Als er schwieg, antwortete ich mit der kurzen Phrase: ,Et
apres, Sire?4 — ,Ja, apres, dann sind wir tot !‘ erwiderte der
Konig. ,Ja‘, fuhr ich fort, ,dann sind wir tot, aber sterben
miissen wir friiher oder spater doch, und konnen wir anstandiger
umkommen? Ich selbst im Kampfe fur dieSache meines Komgs
und Eure Majestat, indem Sie Ihre komghchen Rechte von
Gottes Gnaden mit dem eignen Blute besiegeln, ob auf dem
Schafott oder auf dem Schlachtfelde, andert mchts an dem
riihmhchen Einsetzen von Leib und Leben fur die von Gottes
Gnaden verhehenen Rechte. Eure Majestat miissen nicht an
Ludwig XVI. denken; der lebte und starb in einer schwach-
lichen Gemiitsverfassung und macht kein gutes Bild in der Ge-
schichte. Karl I. dagegen, wird er nicht immer eine vornehme
histonsche Erscheinung bleiben, wie er, nachdem er fur sein
Recht das Schwert gezogen, die Schlacht verloren hatte, un-
gebeugt seine konighche Gesinnung mit seinem Blute bekraftigte ?
18
Rene Schickele * Der Mensch itn Kampf
Eure Majestat sind in der Notwendigkeit zu fechten, Sie konnen
nicht kapitulieren , Sie mils sen, und wenn es mit korperlicher
Gefahr ware, der Vergewaltigung entgegentreten.“
Je langer ich in diesem Sinne sprach, desto mehr belebte
sich der Konig und fiihlte sich in die Rolle des fiir Konigtum
und Vaterland kampfenden Offiziers hinein . . Er fiihlte sich
bei dem Portepee gefafit und in der Lage eines Offiziers, der
die Aufgabe hat, einen bestimmten Posten auf Leben und Tod
zu behaupten, gleichviel, ob er darauf umkommt oder nicht.
Damit war er auf einen seinem ganzen Gedankengange ver-
trauten Weg gestellt und fand in wenigen die Sicherheit wieder,
um die er in Baden gebracht worden war, und selbst seine
Heiterkeit . . Er war der Sorge vor der „Manoverkritik“, welche
von der offentlichen Meinung, der Geschichte und der Gemahlin
an seinem politischen Manover geiibt werden konnte, iiberhoben.
Er fiihlte sich ganz in der Aufgabe des ersten Offiziers der
preuBischen Monarchic, fiir den der Untergang im Dienste ein
ehrenvoller AbschluB der ihm gestellten Aufgabe ist. Der Be-
weis der Richtigkeit meiner Beurteilung ergab sich daraus, daB
der Konig, den ich in Jiiterbog matt, niedergeschlagen und
entmutigt gefunden hatte, schon vor der Ankunft in Berlin in
eine heitre, man kann sagen, frohliche und kampflustige Stim-
mung geriet, die sich den empfangenden Ministern und Be-
amten gegeniiber auf das unzweideutigste erkennbar machte.“
Bismarck spricht dann, sozusagen in einer Regiebemerkung,
sehr sicher von „ihren“, des Konigs und seinen Verhaltnissen
und „ihrer Situation**, er sagt, daB die immerhin „emst“ ge-
wesen seien. Es waren noch keine zwei Monate verflossen, seit-
dem der protestantische Mephistopheles seinem Faust, der
immerhin der „Kartatschenprinz“ gewesen war, das groBe
Biindnis angetragen hatte. Im idyllisch gelegenen Babelsberg
hatte er den Konig iiberzeugt — vielmehr war es ihm „gelungen“,
wie er sagt, den Konig zu uberzeugen — daB es sich fiir ihn
nicht um Konservativ oder Liberal in dieser oder jener Schat-
tierung, sondern um Konigliches Regiment oder Parlaments-
herrschaft handle, und daB diese unbedingt und auch durch
Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
19
eine Periodeder Diktatur abzuwenden sei. „Ich sagte: ,In dieser
Lage werde ich, selbst wenn Eure Majestat mir Dinge befehlen
sollten, die ich nicht fur richtig hielte, Ihnen zwar diese meine
Meinung offen entwickeln, aber wenn Sie auf der Ihrigen
schliefilich beharren, lieber mit dem Konige untergehn.als Eure
Majestat im Kampf e mit der Parlamentsherrschaft im Stiche
lassen ‘
Bismarck hat spater immer wieder betont, dab diese Auf-
fassung von seinem Beruf keine prinzipielle gewesen sei, wie sie
etwa jeder Minister jedem Herrscher gegeniiber betatigen miisse.
Vielmehr solle man lhren Ursprung und ihr Ende in seinem
ganz personlichen Gefiihl fur Wilhelm I. suchen.*‘
Er befand sich im Konflikt mit dem Enkel.
Sprechen wir doch einmal nicht von der jiidischen Frage,
die mit noch viel mehr Ideologien belastet ist oder, wenn Sie
wollen, um soviel verklarter leuchtet in der Finsternis des poli-
tischen Himmels, als die elsassische Frage, der ich auch mit
Fleisch und Blut verwachsen bin . . Sprechen wir von deutscher
Politik, von der Politik des deutschen Reiches, das aus 24 Bundes-
staaten besteht, und das noch lange nicht in die Briiche ginge,
selbst wenn, wie ein Esel in England phantasierte, die indischen
Reiter ihre Lanzenspitzen Unter den Linden leuchten lieBen.
Von politischen Wiinschen, die auf dem Wege der Verwirk-
lichung sind oder nicht sind — wobei wir, in diesem oder jenem
Sinne, mithelfen konnten — von politischen Tatsachen, die wir
nicht so oder so auslegen wollen, sondem, wie sie sich im Ver-
haltnis zwischen Parteien und Regierung und in der Regierung
selbst und im Haushaltsplan ausdriicken. Wir haben es mit dem
Habicht zu tun, nicht mit der Lerche, mit Machtkampfen,
nicht mit rhythmischen Allegorien. (Wie viel Tausende von Jung-
lingen und Mannern liegen, getotet, auf den Schlachtfeldern
Europas !)
Im Vorwort Ihres Katalogs deuten Sie an, was Sie wollen.
Sie wollen, grob gesagt, Ihre innerpolitischen Gegner iiber-
* Zum erstenmal angefuhrt im Septemberheft 1913 der WeiBen Blatter, ein Jahr vor
dem Krieg.
20
Rene Schickde * Der Mensch im Kampj
listen, etwa wie die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichs-
tagsfraktion. Der Versuch wirdunsalleteuerzu stehen kommen.
Erstens ist, seit langem, vorgesorgt, daB kommandierende Gene-
rale bei uns schongeistigen oder dalilahaften politischen Ver-
suchungen einigermaBen gewachsen smd. Zweitens sehe ich in
den Reihen der „groBen deutschen Linken“ keinen einzigen
Odysseus, der fahig ware, sein Spiel auch nur bis zum Ende
durchzufiihren. Die, von denen man eine Weile annahm, daB
sie der ungeheuren intellektuellen Anstrengung, die ein solches
jahrelang dauerndes Manover verlangte, gewachsen waren, sind
ja langst von den Gedanken besessen, die sie nur fur die ge-
botene Zeit annehmen wollten ; werden von ihnen beherrscht,
lassen sich durch sie lenken und sind seit geraumer Zeit an lhre
Gegner ausgeliefert. „Right or wrong, my country !“ : ein Stand-
punkt, auf dem sich mit Ehre leben und sterben laBt. Seine
freiwillige Anerkennung durch alle, die einander in der inneren
Politik ihres Landes bekampfen, macht die (Ration aus. Er be-
deutet mit nichten, daB sich, innerhalb der nationalen Gemein-
schaft, eine Gruppe der andern ausliefere. Wer, der sehen kann,
sieht denn nun aber nicht, daB inzwischen die entscheidenden,
auf Generationen hinaus bestimmenden mnerpohtischenKampfe
— nicht etwa erst vorbereitet, sondern bereits mit aller Wucht
ausgefochten werden ?
Es bleibt nur eine Hoffnung : die Diktatur jener, die aus dem
Kriege heimkehren. Die Diktatur iiber alle diese Intellektuellen:
selbsternannte Siegelbewahrer und Kommentatoren von Ge-
fiihlen, die andere haben, von Taten, die andere tun, Sanger
und falsche Gleichgewichtskiinstler auf dem hohen Seil in alien
Lander n.
Zitieren Sie nicht selbst in IhremBeitrag aus dem Brief eines
Freundes: „Die knappe Uniform reiBt einen zusammen, man
zieht sich den Dienst iiber die Ohren und weiB sonst nichts.
Es wird schon gehen.“ Vielleicht. Die knappe Form des haus-
lichen Lebens wird sie zusammenreifien, die Not wird ihnen
die Haut von den Ohren ziehn, und sie werden wieder einiges
wissen, was sie vergessen hatten.
Rene Schickelc * Der Mensch im Kampf
21
Die ,,Intellektuellen“? Ein Schimpfwort fur Leute, denen
das Sitzfell juckt bei den Anstrengungen, die andern auferlegt
werden. Kein Wunder, da doch selbst ein Anatole France,
der immer den ..Triumph der Vernunft“ predigte, in einem
Band ,,Sur la voie glorieuse“ Artikelchen sammelte, deren Mittel-
maBigkeit auch einen chauvinistisch gewordenen Greis be-
schamen sollte, und Remy de Gourmont kurz vor seinem Tod
durch die selbe Prozedur endlich den Freispruch von dem
furchtbaren Vorwurf des „Asthetentums“ erreichte. Gerhart
Hauptmann, der in der Begeisterung der ersten Kriegsmonate
schlechtere Verse schrieb, als Korner sie iiber sich gebracht
hatte, und der Bergson, den er vermuthch me lesen mochte,
einen „Modephilosophen“ nannte, hat es nicht besser gemacht,
Richard Dehmel sich nicht griindhcher vor dem wildgewordenen
Burger rehabilitiert.
Die ..geistigen Fiihrer der Nation44 haben einander nichts
vorzuwerfen.
Dagegen mochte es einen wundern, wenn nicht die Nationen
iiber kurz oder lang die Entbehrlichkeit solcher geistigen Fiihrer
einsahen.
Es ist wahr, solang die Schuster nur Schuster sind, sollten
sie besser bei lhrem Leisten bleiben. Barres, Kipling, D’An-
nunzio — ja, und welche literarische GroBe hatten denn wir
bei den Kanonen? Rudolf Herzog? Lauff? Bloem? — die
brauchten sich wenigstens nicht erst einen Platz im kriegeri-
schen Aufruf ergattern, sie besaBen ihn vor der Morgenrote;
vermuthch, well sie vordem iiber Dinge nachgedacht hatten,
die deutsche Dichter seit 60 Jahren von lhrem Kothurn herab
fiir Stankereien pohtischer Parteien anzusehn behebten. Die
alten Griechen schienen ihnen naher, als ihr Abgeordneter, wes-
halb ihr Abgeordneter von ihnen ebenso entfernt blieb, wie sie
von den alten Gnechen waren. Ich glaube, man nannte das
Ideahsmus.
Ideahsmus? Von einem geistig und oft auch materiell hoch-
stehenden Menschen verbrecherische Gleichgiiltigkeit gegen die
leibhchen und g' istiger. Bediirfnisse seiner Volksgenossen —
22 Rene Schickele * Der Mensch im Kampf
wenn es nicht einfach Dummheit war! Leser, denen hierbei
etwa Goethe einfiele, verweise ich, der Kiirze halber, auf die
„Kampagne in Frankreich" und, um eine geistige Verfassung
grofier Deutscher in jener Zeit zu beriihren, auf Kant und
Beethoven. Dieser zerrifi die Eroica, die er Bonaparte gewidmet
hatte, jener, dem die Jakobiner aus sehr politischen Griinden
ans Herz gewachsen waren, dachte liber Napoleon, mit eben-
soviel politischer Klugheit, geringer, als Goethe, dem der Welt-
kaiser in Weimar mit geistigem Augenaufschlag begegnete, als
feinsinniger Kenner, nach hundert derben Schlachten, von
„Werthers Leiden". .
Ihr predigt dem Deutschen seine Geschichte, die Struktur
und die Tendenz seiner geschichtlichen Entwicklung — und
habt recht. Nur, daB diese weit iiber 1870, 1866, 1864
zuriickreicht, und daB die Wurzeln deutschen Volkstums — und
gar fur einen geistigen Menschen — anderswo und, Gott sei
Dank, ein wenig tiefer liegen. Hinter dem englischen Impe-
rialismus nachzuhinken, im Augenblick, wo dieser Imperialis-
mus im Begriff war, sich aufzulosen, um die Katastrophe des
Heidis zu verhindern, darin sehe ich keinen Fortschritt. DaB
wir keine auch nur annahernde Beriihrung mit dem religiosen
Panslavismus haben, wifit Ihr so gut wie ich. Nachdem die
Deutschen eine Nation geworden sind, brauchen sie nur in die
neuen Schlauche, die mit Gewalt bestellt wurden — eine histo-
rische Tatsache, die wir nicht leugnen konnen — den alten
deutschen Wein fiillen, wozu es — auch dies konnte sich eines
Tages als eine historische Tatsache erweisen — ganz und gar
nicht der selben Gewalt bediirfte, sondern nur einer Vorberei-
tung der Geister. Und daB Ihr, die Ihr nicht mit Gewehr und
Handgranate kampft, den standhaften Zinnsoldaten spielt, statt
die einzigen Wege zu bereiten, die zu gehn Euch bestimmt sein
konnte, darin siindigt Ihr, seid Pfaffen und Rabbiner und ins-
gesamt die Kammerdiener hochst tiichtiger Herrn, die Euch,
wenn Ihr Eure Schuldigkeit getan habt, ebenso iibersehn werden,
wie ihre Frauen ihre Zofen iibersehn, oder aber, wenn Ihr un-
wahrscheinlicherweise aufmucken und Euch an empfindhchen
Rene Schickele ♦ Der Mensch im Kampf
23
Stellen des offentlichen Lebens mausig machen solltet, den
verdienten FuBtritt versetzen werden, dessen Kraft in der langen
Ubung, in seiner ..Tradition" besteht, die Ihr, Ihr, Ihr hym-
nisch besungen habt,
statt die Geschehnisse mit E u r e r Tradition, Eurem Geist,
Eurem Zulcunftswillen zu durchsetzen und, was jenen ihre
gewaltige Stellung geschaffen hat, die andem Cure Geschichte
mitmachen zu lassen.
Bismarck ist nicht davor zuriickgeschreckt, das Schlagwort
vom „Reichsfeind“ in den politischen Kampf zu werfen. Er war
bereit, wie Ihr wiBt, wenn Ihr seine Bucher und die Literatur
iiber ihn kennt, im Notfall auch vor einigem andem nicht zu-
riickzuschrecken, um sein Ziel, das seine zu erreichen. .
Kampft fiir das Deutschtum, fur Euer Deutschtum und nicht
fiir Eure Niederlage, im Land und in der Welt. Denn, wenn
Ihr schon die Welt nach Eurem Bild gestalten wollt — GroBen-
wahn einer blutigen Stunde ! — so miiBt Ihr mit Euch beginnen.
Carl Slernheim * Tabula Rasa
Car f Sternheim :
TABULA RASA
EIN SCHAUSPIEL IN DRE I AUFZOGEN
PERSONEN:
Wilhelm Stan der
Isolde Stander, seine Nichte und Miindel
Heinrich Flocke
Arthur Flocke, sein Sohn
Nettel Flocke, seine Tochter
Werner Sturm
Paul Schippel
Bertha, Magd bei Stander
Der Arzt
Die Szene ist dauemd die biirgerhch behagliche Wohnstube Standers.
ERSTER AUFZUG.
ERSTER AUFTRITT.
Bertha: Nach fiinf Jahren Dienst hatte man Aufbesserung
verdient.
Stander: Ich bin Arbeiter wie du, simpler Glasblaser, und
habe nicht das Recht, von anderen Dienste zu fordern. Du
dienst mcht bei mir — unser Verhaltnis ist em —
Bertha: Von dem wollte ich nicht sprechen.
Stander: Beruht auf einem Gegenseitigkeitsvertrag, nach
dem gegen Unterhalt und Ernahrung du die Fiihrung meines
Haushalts freiwilhg iibernahmst.
Bertha: Mit einem Monatslohn.
Stander: Einem Geschenk, das ich jeden Monatsersten
26 Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
wiederhole. Hast du dir einfallen lassen, es vor den Nachbarn
hinzustellen, als seist du Magd im Haus?
Bertha: Ich spreche mit niemandem.
S t a n d e r : Was sollte die Welt denken ! Ein Arbeiter, der fiir
sich arbeiten lafit, ein Proletarier, der Sldaven halt!
Bertha: Wenn ich aber um halb sechs Uhr friih aufstehen
mufi!
Stander: Ubereinkunft !
Bertha: Schweine flitter n, den Abtritt raumen!
Stander: Gesellschaftsvertrag !
Bertha: Bis in die Nacht mich schinde, um im Bett noch
keine Ruh’ zu haben.
Stander: Das geht dich als Weib an. 1st aufierhalb der
Abmachung.
Bertha: Sie wollen mir den Lohn nicht erhohen?
Stander: Du hast zum Donnerwetter keinen ! Freiwilliger
Vertrag.
Bertha: Ich will einen neuen mit Ihnen machen. Fiinf
Mark monatlich mehr. Freiwillig.
Stander: Du freiwillig. Aber ich nicht. Das ist doch der
Unterschied zwischen Dienstbarkeit und freiem Verhaltnis : Der
Sklave lafit sich die Sklaverei bis auf den Pfennig vom Herm
entgelten. Du aber widmest dem Genossen deine Kraft auf
Gegenseitigkeit und wahrst Menschenwiirde.
Bertha: Wenn ich aber wie ein Tier fiir ihn schuften mufi.
Stander: Aus freiem Antrieb. Was du an Entschadigung
von mir erhaltst, wiegt deine Arbeit nicht auf. Folglich kann der
Lohn nicht Veranlassung sein, aber — deine menschliche
Tugend. Du bist ganz einfach tugendhaft, Bertha; mufit es
selbst gar nicht wissen. Es geniigt, dir strahlt jetzt das Auge;
du fiihlst, da ichs dir zugestehe, innen grofies Gliick. Ja, Dicke,
menschlich wohlbereitet und damit basta!
Bertha: War’ nur der Schweinestall nicht!
Stander: An einem Morgen — du fiihlst dich stark, hast gut
geschlafen und merkst, was du im Grunde fiir ein unabhangiges
Geschopf bist, raumst du ihn einmal griindlich und von alien
YO
Carl Siernheim * Tabula Rasa
27
Seiten auf. Er braucht’s. Das ist der Segen eines solchen Ver-
tragsverhaltnisses : da man zu nichts gezwungen ist, treibt einen
das Bediirfnis, sich selbst zu iibertreffen, zu immer grofierer
Arbeitsleistung. Und du bist ein Muster dieser Regel.
Bertha: Fiinf Mark.
Stander: Fragst du dich, was du glinstigenfalls mit deinem
Leben vermochtest, heiBt die Antwort: was du auch wirklich
leistest. Diese GewiBheit ist hochster Lohn des Daseins, den
ich nicht iiberbieten kann.
Bertha: Dann soli ich in meinem alten Kleid das Fest mit-
machen ?
Stander: Dahin hats Zeit, und wer weiB, was noch ge-
schieht.
Bertha: Aber der Tag kommt bestimmt, an dem die
Fabriken hundert Jahre stehen.
St ander: Sicher. Doch, ob ein Mensch Lust haben wird,
ihn zu feiern? Wart’s ab.
Bertha: Dann ist’s zu spat.
Stander: Dein prachtvolles BewuBtsein!
Bertha: Schon.
Stander: Das leuchtende Auge!
Bertha: Nur —
Stander: Wie hiibsch du bist, Madel, vor lauter gutem Ge-
wissen und Gliick.
Bertha: Ach Herr Stander!
Stander (tatschelt sie): Siehst du.
Bertha (an ihn gelehnt): Sie haben am Ende recht.
St ander: Und nun noch ein Stiindchen fest an die Arbeit.
Und stehst du von morgen ab um fiinf Uhr auf, wirds nicht
ungem gesehen.
Bertha (exit).
Stander: Ihre standige Unzufriedenheit halt sie lebendig,
ist ein wirkliches Gliick fur mich.
*
y
28
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
ZWEITER AUFTRITT.
Isolde (tritt auf).
Stander: Ich sterbe vor Hunger, und du trodelst drauBen.
Spukt auch bei dir das Jubilaum?
Isolde: Wlr Madchen iiben groBartige Bilder undTanze ein.
Stander: Gut. Spater. Schliefi ab.
Isolde: Die Tiiren sind zu.
Stander: Den Vorhang herunter!
Isolde (laBt den Vorhang herab).
Stander: Was bringst du?
Isolde: Fischmayonnaise, ein Rehkotelett in Gelee.
Stander: Der Sherry?
Isolde: 1st da. (Sie stellt aus einem Korbchen alles auf den
Tisch.)
Stander (beginnt gierig zu essen).
Isolde: Noch ein Bund Radieschen, die friihesten auf dem
Markt.
Stander: Nicht hervorragend die Mayonnaise; das 01 an
der Grenze der Bedenklichkeit.
Isolde (hat eine Spieluhr in Gang gesetzt).
Stander: Herrgott, das Wichtigste vergiBt du ja!
Isolde: 1st auch besorgt. (Sie gibt ihm einen verschlossenen Brief-
umschlag.)
Stander (steckt das Papier zu sich): Ihr Madchen mit Tanzen
und lebendem Bilderkram seid auch die einzigen, die hier Lust
spiiren, irgend ein Fest zu feiern. Der Rest, wir dreitausend
Arbeiter von Rodau mit lastiiberhauften Weibern undAnhang,
sind angeschmiedete Sklaven, die nicht die mindeste Neigung
haben.
Isolde: Angeschmiedet ?
Stander: Vom Hahnenschrei bis zur Dunkelheit an die
Maschinen. Nie eigene Person. Glasstaub in den Lungen.
Schwindsucht, schlieBlich Faulen auf dem Mist. Betaubten uns
nicht Alkohol und Nikotin, wir rissen die stahlernen Ungetiime
vom Platz, schmissen sie zum Fenster hinaus und befreiten uns
mit einem Ruck zu bescheidenem LebensgenuB.
Carl Sternhcim * Tabula Rasa
29
Isolde (hat ihm den Fnsiermantel umgelegt und beginnt, sein Haar
mit schaumendem Wasser zu waschen).
Stander: Je alter ich werde, um so wemger begreife ich
unsere Lammesgeduld. Just so em Jubilaum gabe uns Prole-
tariern die beste Gelegenheit, mit den Besitzern der Werke
griindlich abzurechnen. Etwa: die Fabrik steht hundert Jahre,
Dutzende von Millionen sind verdient. Der Arbeiter hat sie
geschafft. Was wurde an lhn, was an die Eigentumer bezahlt?
Wo ist da um Gotteswillen Gerechtigkeit? Gibt es unter uns
mcht solche, die knapp vierzehn Mark die Woche verdienen?
Es ist eine Schweinerei. Und dazu ein Jubilaum mit Fackeln
und bengalischer Beleuchtung! Das Volk hat Milch in den
Knochen, la6t sich durch Almosen emlullen, sonst miifite es,
statt Feste der Fabnkanten zu feiern, endlich mit gepanzerter
Faust auftrumpfen.
Isolde: Glaubst du wirklich?
Stander: Ich spreche stets nur Uberzeugungen aus, das weifit
du aus Erfahrung. Habe ich dir verschwiegen, nach deinem ein-
undzwanzigsten Jahr gab ich dir nur darum noch Unterhalt, weil
lm Zusammenleben deine hiibsche Erscheinung mir Spafi macht
und die mit mir angestellten Aufmerksamkeiten mich ergotzen.
Isolde (n immt ihm den Fnsiermantel ab und IriiBt lhn).
Stander: Da du unter keinen Umstanden selbst nennens-
wert arbeiten willst, sagte ich, mufit du die Talente wetzen, den
Mann, den du eingefangen, zu unermiidlicher Leistung fur dich
zu spornen. Das geschieht, indem du seine Phantasie ent-
flammst. Die Basis dafiir schufen deine Eltern, als sie dir auf
meinen Rat den iiberspannten Namen Isolde gaben. Was du
aber bis heute aus eigener Kraft hinzugetan, reicht zu grofien
Hoffnungen bei weitem nicht aus.
Isolde: Was soli ich denn noch — ?
Stander: Methodischer Klavier. .
Isolde: Arthur ist ohne Gehor, unmusikalisch.
Stander: Eben darum bieten Beethoven und Konsorten
hundert Schlupfwinkel fur deinesgleichen. Mehr franzosisch,
das er mcht versteht, und Schiller.
30 Carl Sternheim * T abula Rasa
Isolde: Schiller ist veraltet.
S t a n d e r : Erprobt ist er. Was kann Vernunft gegen das eine
Wort: Ehret die Frauen, sie flechten und weben? So etwas
wirkt im Streitfall wie bombensicheres Bollwerk. Da du dich
unbedingt von deinem Mann masten willst — sieh deinen
Bauch —
Isolde: Ich habe kein Korsett an. (Sie raumt den Tisch ob
und bringt das Zimmer wieder in Ordnung.)
Stander: Du bist eine Fresserin und nichts wird ihn im
Wachstum hindern.
Isolde: Und meine ausgeschnittene Blouse fiirs Fest, die
schon neue Riischen hat und geplattet ist?
St an der: Kein Wort mehr davon. Wollen sehen, ob Ge-
rechtigkeit zulafit, wahrend das Elend und die Unfreiheit der
arbeitenden Klasse gerade hier zum Himmel stinkt, daB kapi-
talistische Orgien gefeiert werden. Erst habe ich der Gesell-
schaft mal einen Kniippel in die Rader geworfen. Gleich wird
Wirkung zu spiiren sein.
Isolde: Und ich sollte die Abundantia und den UberfluB
darstellen, weil ich korperlich am entwickeltsten bin. Die Arme
wohltuend ausgebreitet und das Bein gehoben. (Sie macht die
Stellung.)
Stander: Die Stellung kannst du im Leben schon noch ver-
werten. Im iibrigen — morgen mehr und gute Nacht!
Isolde (exit).
Stander (erbricht den Briefumschlag und liest): ,,Wir teilen
Ihnen mit, daB wir Sie fur getrennte Dividendenscheine mit
Mark elfhundertfiinfzig Valuta dato erkannt haben ; ferner, daB
wir fur Sie gekaufte Mark sechstausend vereinigte Rodauer
Glasfabriken in Ihr Depot iibernehmen. (Er offnet in der Mauer
einen Kasten und schliefit das Papier hinein.) (Man hort einen scbrillen
Pfiff und noch einen.) Was fiir ein Indianerpfiff ? (Er sieht zum
Fenster hinaus.) Sturm ! Werner Sturm. Mit solchem Firlefanz
fallt er mehr auf, als kommt er geradewegs zur Haupttiir hinein.
Hoffentlich schlaft Flocke schon. (Exit links und tritt gleich darauf
mit Sturm wieder auf.)
*
Carl Sternheim • T abula Rasa
31
DRITTER AUFTRITT.
Sturm: Geradenwegs vom Bahnhof komme ich um nahere
Auskunft und Belehrung.
Stander: Du weifit aus meinen Briefen die Hauptsache.
Sturm: Ich will das Ding im Handumdrehen fingern, dafi
es schillert. Eine unfehlbare Methode habe ich, dosige Kopfe
zu rebellieren. In zwei Tagen raucht hier aufier den Kaminen
alles.
Stander: Die Kerls sind nicht dumm. Du mufit syste-
matisch vorgehen.
Sturm: Wie werde ich denn nicht? Erst System auf den
Tisch gehauen, dafi die Bagage hiipft: Herrschaft des Prole-
tariats, Klassenkampf bis zur Vemichtung der Gegner. Dafiir
lafi mich sorgen.
Stander: Langsam ihnen eins nach dem andern beibringen.
Sturm: Und vor allem gleich ein paar zuverlassige Schlag-
worte jedem in die Fresse. Da habe ich eine ganze Speisekarte
Zehn Jahre arbeite ich nach bewahrtem Rezept. Hast du
Schnaps ?
Stander (zieht aus der Hose die gewohnliche Branntweinflasche).
Sturm: Nichts Besseres?
Stander (schtittelt den Kopf) : Knappe Zeiten.
Sturm: Auf den Tisch springe ich, und dann gehts mit
Alarm. (Erschreit:) Genossen! Aktionarbataillone und lhre Pro-
fitrate wiirgen euch schliefilich den Magen aus dem Hals.
Stander: Hier handelt es sich eigentlich um lokale Fragen.
Sturm: Alles wurzelt im grofien politischen, allgemeinen
Ideal.
Stander: Das sitzt uns tief in den Knochen ; unnotig, davon
zu sprechen.
Sturm: Im Gegenteil behaupte ich: lokale Fragen, die sich
stets um okonomische Vorteile drehen, um Bequemlichkeiten
einzelner Gruppen vor der grofien Masse, bedrohen geradezu
die ewige Sichtbarkeit unserer politischen Forderungen.
Stander: Es liegen besondere Verhaltnisse vor.
28 Vol. m/1
0*0
32
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Sturm: Nichts Besonderes ! Als deine ersten Zeilen mit dem
Notschrei kamen, du fxirchtest, hier stiirbe durch reichliche und
fortwahrende Konzessionen die Unzufriedenheit des Prole-
taries aus, da sah ich, du hiebst in die gleiche Kerbe mit andern
Besorgten, aber bewuBter und fester. Da wufite ich, Rodau ist
der Platz, endlich im Angesicht ganz Deutschlands die Genossen
in flammender Proklamation vor ihrer Neigung zur Verweich-
lichung durch Fiirsorge aller Art zu warnen.
St an der: Aber —
Sturm: Schreiende Schande ist der Versuch der Kapitalisten,
durch sogenannte Wohlfahrtseinrichtungen die Massen zu
kodern, Verbrechen aber die Neigung unserer Fiihrer, solche
Dinge zu fordern und ihrerseits zu iiberfordem.
Stander: Immerhin —
Sturm: Wie kann in einem Unternehmen, in dem dem Ar-
beiter Konsum, VorschuB- und Kreditvereine, Speise-, Bade-
und Erholungsanstalten, Sauglings-, Waisen-, Blinden- und
Kriippelfiirsorge, neben Kranken-, Unfall-, Angestellten- und
Invaliditatsversicherung den irdischen Riicken decken, ihm noch
dringendes Bediirfnis an einer Umgestaltung der Lage seiner
Klasse beseelen?
Stander: Aber —
Sturm: MuB nicht die Sucht, sich nach alien Himmelsrich-
tungen durch Renten zu sichern, das Kontroll- und Verant-
wortlichkeitsgefiihl, seinen theoretischen Sinn schwachen, da sie
alle Sinne auf das praktische Leben lenkt? Die Partei ist dir tief
verpflichtet, weil du durch deinen Hinweis Gelegenheit gabst,
hier ein Exempel zu statuieren.
Stander: Neben diesen richtigen Voraussetzungen wollte
ich —
Sturm: Du nennst mir die maBgebenden Genossen. Ge-
wissermafien die, die auf groBere Arbeitergruppen EinfluB
haben. An sie piirsche ich mich zuerst heran.
Stander: Grund meiner Aufforderung an dich, zu kommen,
war, rund heraus, eine Arbeiterbibliothek.
Sturm: Bibliothek?
Carl Sternheim * T abula Rasa
33
Stander: Die Glasblaser von Rodau fordern aus Griinden
der Menschlichkeit, um endlich zu wissen, von wannen, wohin
im Leben eine grofiziigige Volksbiicherei, die trotz des vor der
Tiir stehenden Hundertjahrfestes die Leitung der Werke nicht
bewilligen will.
Sturm: Aber da baben wir die Korruption.
Stander: Stellst du eine Biicherei mit Badeanstalten und
Genossenschaftsschlachtereien auf eine Stufe
Sturm: Unbedingt tue icb das.
Stander: Fur mich gibt’s da wesentliche Unterschiede. Auf
ein Bad kann ich verzichten, die Fortbildung des Proletariats
durch Bucher aber ist auch zur Erkenntnis des w i r k 1 i c h
gottgewollten Systems Notwendigkeit.
Sturm: Ihre ungebrochene, zielbewufite Sehnsucht Iesen
sich die Leute auseinander, schniiffeln sie an tausend Dingen,
die sie mchts angehen oder die sie nicht verstehen. Bucher sind
eine Briicke mehr zur Oberschicht, denn mit Ausnahme von
Parteischriften sind sie samtlich von Bourgeois geschrieben.
Stander: Shakespeare, Goethe, Schiller?
Sturm: Schiller erst recht! Dagibts nichts als Herrschaften,
die aus Mangel an wirklicher Arbeit und Sorge urns taghche
Brot Zeit haben, ihre nachsten Verwandten zu morden. Das ist
smnlos fur unsere Welt. Grofibiirgerliche Vorstellungsreihen in
Spiritus.
Stander: Sittengesetze?
Sturm: Das Sittengesetz unserer Zeit wird geboren aus dem
Kampf der Massen urns Dasein.
Stander: Du scheinst radikal —
Sturm: Ich bin’s. Und legt ihr die Ruten noch geschickter,
den Leim der Bourgeoisie wittere ich in alien Schlupfwinkeln.
Wir wollen den Erdball, alle Gesetze der Spiefibiirger aus den
Angeln drehen, wir brauchen ihre Moral, ihre Fiirsorge und vor
allem ihre Bucher nicht. Eine neue Welt mit nagelneuen Be-
griffen wollen wir. Die Zeit liegt in Wehen. Das merkt ein
Stockblinder. Nach innen und au!3en wankt unser Boden poli-
tisch. Wer ein Mann ist, wagt heut schon lrgendwo sem Leben.
34
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Der Proletarier das seine an einem reinen ideellen Sozialismus.
Keine Bibliothek, aber ein spieBbiirgersaurefreies Rodau schaffe
ich dir eins, zwei, drei. VerlaB dich auf Sturm, alter Freund.
St an der: Sehr schon alles in allem. Nur vielleicht ein
wenig gemafiigter.
Sturm: Gemafiigt? Da hattest du einen andern suchen
miissen. Lauheit ist gerade jetzt Todsiinde. Ich halte es unver-
briichlich mit Befreiung durch politische Enteignung. Punktum.
Stander: Na gut, dann schon.
Sturm: In diesem Sinn von morgen ab mit Dampf.
Stander: Na schon.
Sturm: Weil du miide bist, jetzt nicht mehr das notige Feuer
aufbringst. Einverstanden ?
Stander: Gut.
Sturm (ernst): Konfiskation ! Revolte!
Stander: Na schon.
Sturm: Gasthaus zum Hahn, so hieB das Ding am Bahnhof
wohl? Da wohne ich also. Und mit Hochdruck morgen.
Stander: Schon, schon.
Sturm (mit Handedruck exit).
Stander: Ein theoretischer, torichter Mensch. Was so ein
Bursche, tieferer Zusammenhange unkundig, ohne im Wesent-
lichen zu niitzen, im Einzelnen fiir Unheil anrichten konnte!
(Er setzt sich und schreibt.) „An die Unionbank. Ich bjtte Sie,
fiir mich Mark achttausend nominal vereinigte Rodauer Glas-
fabriken zum Kurs bis 190 Prozent zu verkaufen.“ Ein kon-
fuses, konspiratorisches Scheusal! Und so etwas lauft frei
herum .
*
VIERTER AUFTRITT,
Heinrich Flocke (tritt auf).
Stander: Flocke, jetzt noch? Was gibts?
Flocke: Mit dem Elf-Uhrzug kommt Arthur. Telegramm.
Stander: So plotzlich?
Flocke: Wenn nur nichts Ftirchterliches passiert ist.
Carl Stcrnhcim ♦ Tabula Rasa
35
St ander: Was kann einem ausgewachsenen Journalisten
Schreckliches zustoBen?
Flocke: Ich zittere immer, kommt der Junge. Sein Er-
scheinen hatte noch nie ruhige Griinde.
Stander: Ruhe ist jetzt fiir keinen zu hoffen. Am wenigsten
fiir dich. Unter unseren FiiBen schwellt ein Vulkan.
Flocke: Nein!
Stander: Ich stehe nicht an, dir zu erklaren : unsere Existenz
gilt mir fiir aufs aufierste gefahrdet.
Flocke: Stander!
Stander: Wobei ich mit nichts als einem Miindel besser
gestellt bin als du mit sechs unmtindigen Kindem zu dem
Zeitungsschreiber.
Flocke (sich den Angst schweiB trocknend): Um Gotteswillen —
erklare doch!
Stander: Dafi du nicht selbst das Ungliick kommen sahst !
Aber stumpf wie die Sau lebst du am Trog. Das Jubilaum
ganz einfach! — Im Gleichgang der Tage, mit Kontrolle des
Einkaufs, der Produktion, Auszahlung der Gehalter — dem
standigen Geschaft, ist vom Generaldirektor bis zum Lehr-
jungen jeder froh, erfiillt er sein tagliches Pensum. Keine Ver-
anlassung zu Extratouren.
Flocke: Natiirlich —
Stander: Da aber naht das Fest, das aufiergewohnliche. Das
hebt ruckhaft fiir Augenblicke alles aus dem gewohnten Geleis.
Nach riickwarts und vorwarts wird geschaut, vigiliert, recher-
chiert, kontrekontrolliert. Uberblicke, Tabellen und Statistiken
werden im Schweifi des Angesichtes fiir die staunende Mensch-
heit gefertigt, sich selbst und anderen zu imponieren. Da kommt
mit einem alles unter die Lupe. Verstehst du endlich?
Flocke: Ich beginne.
Stander: Da stofit das forschende Auge auf Besonderheiten
des Betriebs, hakt plotzlich der schiirfende Sinn in einen er-
staunlichen Posten ein: zwei alte Glasblaser f
Flocke: Allmachtiger !
Stander: Flocke und Stander.
36
Carl Siernheim ♦ Tabula Rasa
FI ocke: Barmherzigkeit !
Stander: Thronend iiber dreitausend Proletariern mit acht-
hundert bis zweitausend Mark Jahresgehalt — angestellt der
eine — Flocke mit fiinftausendsechsbundert, Stander mit sechs-
tausendvierhundert Mark jahrlich. Sage und schreibe.
Flocke: Aber doch K u n s t blaser beide.
Stander: DaB ich nicht lache! Was hat zum Donnerwetter
Kunst in unseren Betrieben zu suchen? Das sind ja Fossilien,
Mammute die beiden. Storen unser glattes Massengeschaft.
Liegen uns im Weg, wuchern als parasitare Geschwiire an
unser em gesunden Leib. SchmeiBt sie, pfeffert sie, hangt die
Blutegel !
Flocke (wird ohnmiichtig).
Stander: Flocke! Er hat wirklich schlapp gemacht. (Mit
kaltem Wasser bringt er Flocke wieder zu sich.) Besser, alter Knabe ?
Jedenfalls hast du inzwischen begriffen.
Flocke: Stander ! (Er jammert.)
Stander: Flenne nicht ! Hab ich recht ?
Flocke: Unbedingt. Meilenweit werfen sie uns hinaus,
stofien mit Fiifien. Wir sind verloren. (Weint.)
Stander: Erstens waren war nicht verloren. Fur uns hat die
Konkurrenz immer ein Platzchen.
Flocke: Nicht zu gleichen Bedingungen.
Stander: Auch zu solchen Bedingungen vielleicht. Dasnur
fiir den Notfall. Zuerst aber gilt es, sich zur Wehr zu setzen.
Flocke: Zwei vereinzelte alte Blaser! Rettungslos sind wir
verloren !
Stander: Nein! Was war zu tun?
Flocke: Ja was?
Stander: Die Moglichkeit mtiBte man ihnen beschneiden,
Nachforschungen, Spezialstudien machen zu konnen. Mit Un-
vorhergesehenem iiber die taglicheArbeit hinaus sie beschaftigen.
Flocke: Wie?
Stander: Man warf ihnen einen Kniippel zwischen die
Beine.
Flocke: Du folterst mich.
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
37
Stander: Man zeigte ein wenig Talent.
Flo eke: Aber wie?
Stander: In die beiderseitig ungetriibte Zufriedenheit fahrt
plotzlich die stiirmische Forderung der Arbeiter.
Flocke: Die Bibliothek! (Er Idatscht in die Hande.)
St ander: Und nicht mit lumpigen fiinfzig- oder hundert-
tausend Mark. Ein Monumentalbau mit bedeutender Biicherei,
mit Fonds, Bibliothekaren und Angestellten wird verlangt.
Voranscblag rund eine Million. Festgeschenk der Gesellschaft
an die Arbeiter.
Flocke: Du hattest zuerst den Gedanken. Ich weiB es genau.
Stander: Meinem Kopf ist der Plan entsprungen. Dann
gab es einen bangen Augenblick lang die Befiirchtung, der
Aufsichtsrat bewilligt die Forderung der Angestellten.
Flocke: Er lebnte sie gottseidank ab.
Stander: Nicht der Kostenhohe wegen. Aber seine Ge-
schenke an uns Iafit er sich nicht vorschreiben.
Flocke: Ja, ja. (Er kichert.)
Stander: Ich aber mache den Genossen klar: Geschenke
mogen wir iiberhaupt nicht. Bei solcher Gelegenheit, dem
Generaliiberblick iiber unsere Tiichtigkeit hatten wir das
Recht, grofi und bedeutend zu fordern.
Flocke: Bravo!
Stander: Die Bewegung hin und wieder nahm, wie voraus-
gesehen, taglich an Umfang zu, und heute beschaftigt die Leiter
der Werke mit Konferenzen, gemischten Kommissionen und
Beratungen so gut wie ausschliefilich die Entscheidung der
Frage.
Flocke: Ausgezeichnet ! (Er schiittelt Stander die Hande.)
Stander: Langsam; die Gefahr ist nicht voriiber. Immer
wieder gibt es Augenblicke, in denen beide Parteien auf dem
Punkt stehen, im Hinblick auf das deutlich gemeinsame In-
teresse zur Einigung zu kommen. Besonders m den letzten
Tagen war die Gefahr grofi.
Flocke: Wirklich.
Stander: Geschickt arbeitet Direktor Schippel mit senti-
38
Carl Sternheim * Tabula Rasa
mentalen Regungen, die auch den aufsaBigsten Arbeiter bei
dem Gedanken an hundert Jahr tiichtiger Arbeit bewegt, auf
einen Vergleich hin.
Flo eke (seufzt).
St an der: Gestem wars einmal fast so weit, daB man sich
hiiben und driiben geriihrt in die Arme sank. Da habe ich nun,
weil meine eigenen Bewegungen gebunden sind, es sebeinen
mufi, als wiinsche ich auf der Basis unserer erfiillten Wiinsche
schnellen Frieden, hab’ ich mich um Hilfe nach Berlin ge-
wandt, mir einen entschlossenen
Flocke (kichemd): Friedensstorer.
St an der: Energischen Agitator verschrieben, der vor
einer Stunde angekommen ist.
FI
ocke:
Brillant !
Stander: Noch immer nicht in Ordnung. Dieser Freund
und Kupferstecher geht weit iiber das von ihm Gewollte
hinaus ,* die Gesellschaft iiber die kritische Zeit hin, ein wenig
zu verwirren. Er ist radikal, will aufs Ganze.
Flocke: Auf welches Ganze?
Stander: Revolution!
FI
ocke:
Allgiitiger !
Stander: Droht mit Umsturz und Enteignung. Flocke
aus deinem sauer Ersparten besitzt du seit heute durch Kauf.
(Er vibergibt ihm einen Brief.)
Flocke: SchweiBgroschen.
Stander: Aus dreifiigjahriger harter Arbeit mit deinenFausten .
FI ocke: Fiir meine sechs Wiirmer im Fall der Not.
Stander: Viertausend Mark Rodauer Glasaktien zu 190
Prozent. Durch das Auftreten dieses Burschen ist dein Not-
pfennig in starken Teilen gefahrdet.
Flocke: Wie konntest du solchen Halunken, Rinaldo
Rinaldini ?
Stander: Meine zwingende Gedankenfolge legte ich klar.
Flocke: Du flattest dich vergewissern miissen. Jetzt ist
meine arme Brut vielleicht des letzten beraubt. Besser war dir
der Gedanke an die Bibliothek nie gekommen.
Carl Stcmheim * Tabula Rasa 39
Stander: Die Schniiffelei, Generalrevision !
Flo eke: Wahrhaftig!
Stander: F iinftausendsechshundert ! Sechstausendvier-
hundert !
Flocke: Heiland!
Stander: Kommt doch mal her! Seht den Posten: Zwei
alte Kunstglasblaser.
Flocke (achzt) : Blutgesch wiire !
Stander: Wir wollen ihnen etwas blasen!
Flocke: Meine sechs Wiirmer bei Wasser und Brot.
Stander: Es darf nicht geschehen. Wir miissen —
Flocke: Was?
Stander: Zuerst miifite — wie?
Flocke: Aber was?
Stander: Er muB —
Flocke: Aber wer, wann, wo?
Stander: Sturm muB — sofort —
Flocke (fast an ihm niedergleitend) : Hilf Wilhelm!
*
FONFTER auftritt.
ArthurFlocke (tritt auf) : Da seid ihr . Als ich oben niemand
fand —
Flocke (auf ihn zu): Was ist geschehen?
Arthur : Nichts Besonderes. Urlaub.
Flocke: Du verschweigst mir nichts?
Arthur: Weder, Vater, werde ich von der Polizei, noch vom
Gerichtsvollzieher gesucht, habe keinen Eisenbahnunfall hinter
mir, eine ansteckende Krankheit nicht zu verbergen.
Flocke: Es geht dir gut?
Arthur: Ausgezeichnet !
Flocke: Aber?
Arthur: Ohne Aber. (Zu Stander:) Guten Abend, Onkel
Wilhelm. Was macht Isolde? Ist es zu spat, sie zu sehen?
St ander: Morgen.
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
40
Arthur: Und ihr?
Stander: Ziemlich.
Arthur: Besonderes?
Flocke: Leider.
Arthur: Euer soziales Gewissen?
Flocke: Na!
Arthur: Erzahlt. Ich brenne.
Stander: Kennst du Sturm?
Arthur: Werner Sturm?
Flocke: Wer ist Sturm?
Stander: Werner Sturm.
Arthur. Aber ja. Was ist mit ihm?
Stander: Hier ist er.
Arthur: Zu welchem Zweck?
Stander. Ich rief ihn.
Flocke: Leider.
Arthur: Was geht vor?
Stander: Vor geht das Jubilaum oder erst Vorbereitungen
zum Hundertjahrsfest unserer Fabriken.
Arthur: Richtig!
Stander: Ferner: die Genossen haben ein grofiziigiges
Leseunternehmen fur diesen Tag von den Gesellschaften
gefordert. Aufwand rund eine Million Mark.
Arthur: Achtung!
Stander: Die Direktion hat den Antrag abgelehnt.
Arthur: Hort, hort!
Flocke: Jawohl.
Stander: Doch wir bestehen inzwischen auf unserer For -
deru.ig.
Arthur: Und Sturm?
Flocke: Ist eben —
Stander: Sollte sorgen, daB die Genossen, jedenfalls vor
den Festtagen nicht, faulen Frieden schliefien.
Arthur: Aber er wird euch ein fur allemal den Platz in
Grund und Boden verhetzen, smnlosen Kampf aufs Messer an-
streben. Er ruht nicht, bis die Existenz der Werke in Fragesteht.
Carl Sternhcxm ♦ Tabula Rasa
41
St ander: Ich kannte ihn vor emem Dutzend Jahre;
wufite mchts von seiner Entwicklung.
Arthur: Er hat keine. Steht auf dem Standpunkt von
1793. Terroristischer Aufwiegler.
St ander: Sprach schlieBlich von Konfiskation des Eigen-
tums. Revolution.
Arthur: Da habt ihr’s.
St ander: Und nannte das einen idealen Soziahsmus.
FI ocke: Heiland im Himmel! (Zu Arthur): Stimmt das?
St ander: Ich war von seinen Anwiirfen iiberrascht.
FI ocke: So ist doch um Gottes wiilen der Sozialismus
nicht
wegnehmen, totschlagen ?
Arthur: Du bist selbst Sozialist. Frag dein Herz.
FI ocke: Em durchaus friedhebender Mensch bin ich.
Arthur: Du und Onkel Wilhelm Sozialisten.
FI ocke: Aber man macht sich dabei wenig Gedanken.
Stan der: Man macht sich Gedanken, doch sind die An-
sichten im standigen FluB. Man kann, was da eigentlich ge-
wollt wird, nicht klipp und klar sagen.
FI ocke: Aber gewifi nicht rauben und morden!
S t a n d e r : Du, der an der Quelle sitzt, mufit formuheren
konnen.
Arthur: Warum hast du statt Sturms nicht mich gerufen?
Stander: Fur unsere Zwecke schienst du ein wenig zu
sanfter Natur.
Arthur: Aber hellen Verstandes. Sturm, heftig und dumm,
leidet an Uberschatzung der schopferischen Kraft revolutionarer
Gewalt.
Stander: Und was willst du und demesgleichen?
Arthur: Eroberung der politischen Herrschaft durch das
als Partei orgamsierte Proletariat.
F 1 o c k e : Doch Eroberung !
Arthur: Aber nicht auf gewaltsamem, sondern dem fried-
lichen Weg der Entwicklung. An die Stelle des „bevorrechte-
ten‘‘ tntt der gleichberechtigte Burger. Die Sozialdemokratie
lost die bishenge Gesellschaft nicht auf und proletansiert lhre
42
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
Mitglieder, sondern hebt den Arbeiter aus der Stellung des
Proletariers in die des Burgers und verallgemeinert Burgertum.
F 1 o c k e : Wahrhaftig ?
Stand er: Aber das ist ganz neu!
Arthur: Das ist auch nicht neu.
Flocke: Ausgezeichnet ist es. Da kann man sicb als
Sozialdemokrat ja ordentlich sehen lassen. Sturm aber scheint
ein ausgemachter Betriiger, der Unwissende mit Vorspiege-
lungen vom Weg der Tugend lockt.
Stan der: Ein Dummkopf.
Arthur: Er predigt einfach die Lehre im Urzustand.
Stan der: Aber weiB von ihrer — quasi — Entwicklung?
Arthur: Leugnet sie.
Flocke: Um im Triiben zu fischen. Stehlen ist freilich
leichter als sich hinaufentwickeln.
Arthur: Hier muB ihm das Handwerk gelegt werden.
Flocke: Er soil uns den Frieden nicht storen.
Arthur: Er darf die Propaganda gar nicht beginnen. Wann
kam er?
Stander: Vor einer Stunde.
Arthur: Dann fand er keine Gelegenheit —
Stander: Hat auBer mir kaum noch jemand gesprochen.
(Zu Arthur:) Stell ihn!
Flocke: Heut noch!
Stander: Augenblicklich.
Arthur: Es ware das beste.
FI ocke: Erbleichen wird er bei deinem Anblick.
Arthur: Wissen jedenfalls: neben uns gibt es fur ihn keinen
Wirkungskreis. Wo wohnt er?
Stander: Im Hahn. Laufst du, triffst du ihn noch wach.
Flocke: Lauf, lauf!
Arthur (exit).
*
Carl Sitmheim * Tabula Rasa
SECHSTER AUFTRITT.
St an der: Das ist wirklich nicht iibel. Wie donnerte er
gegen den Bourgeois. Erhabene Weltdichter hat er beschimpft,
und nun steilt sich heraus
Flocke: Man miifite mit solchen Subjekten kurzerhand
tabla rabla machen.
Stander: In der Sozialdemokratie ist nicht die Rede von
Ach und Krach, kein Grund zur Aufregung.
Flocke: Hochst friedlich spielt die Geschichte sich ab.
Arthur ist doch ein Hauptkerl.
Stander: Ausgleich durch Entwicldung. Gleichberech-
tigte statt bevorrechteter Burger. Das ist ailes. (Er zerreifit den
Brief an die Bank.)
Flocke: Wie es mit den iibrigen Dingen des Lebens auch
ist. Erst Hund und Katze zum Sprung auf Tod und Leben
gegeneinander. SchlieBlich, da man mitsamt auskommen mufi,
gibt’s Mittel und Weg. Der eine laBt hier, der andere dort
nach, man befiihlt die Angelegenheit von alien Seiten und
einigt sich. Frieden will der Mensch am letzten Ende.
Stander (nach einer Pause): Aber — haben wir vollkommene
Ruhe
und wir hatten sie bis vor kurzem
Flocke: Hier kriimmte keiner einer Fliege ein Haar.
Stander: Aber dann
Flocke: Was?
Stander: Flocke!
Flocke: Was gibt’s wieder?
Stander: Was es immer, vor fiinf Mmuten, einer halben
Stunde gab. Den reinen, durch nichts gestorten Frieden
wollen wir auch nicht. Der ist’s ja gerade, der uns in der
Existenz bedroht. Sie sollen oben in der Leitung nicht iiber
Biichern sitzen diirfen
Flocke: Sechstausendvierhundert, fiinftausendsechshun-
dert meinst du?
Stander: Und Arthur will mehr: Nicht voriibergehenden
Ausgleich — endgiltig durchgreifende Verstandigung und Zu-
Carl Slernheim ♦ Tabula Rasa
44
friedenheit. Das heiBt aber, sich selbst ans Messer liefern.
Gewinnt er EinfluB auf die Genossen, wird der mit alien
Wassern gewaschene Schippel im Taumel der Festesvorfreuden
ein geradezu inniges Band durch ihn um Arbeitgeber und
Arbeiter schlingen. Ziigeln hatte man Sturm, ihn beaufsichtigen
miissen. Aber nicht ohne weiteres ihn ausschlieBen.
Flocke: Ich hole Arthur zuriick.
Stander: Sich besprechen, die Grundlinien des Vorgehens
genau festlegen, muBte man unbedingt vor jeder Tat.
Flocke: Ich laufe.
Stander: Sonst wird unter Umstanden dein Sohn und sein
allgemein-biirgerlicher Taumel, schafft man nicht eine be-
deutende Gegenbewegung, uns gefahrlicher als der gute Sturm.
Flocke: Ich hole ihn.
St ander: Hab’ ich denn nicht recht?
Flocke: Absolut. Ich fliege.
Stander: Fass ihn!
Flocke (exit).
Stander: Da hatt’ ich ums Haar die schonste Dummheit
gemacht. Flocke, der Sanftmiitige, hat sich in seinem Blond-
kopf von Sohn sublimiert. Schalmeien und Psalmen konnen
wir hier im Augenblick so wenig gebrauchen wie eine Revolte ;
aber ganz so gutmiitig, schlummerrollenhaft kann auch der
Soziahsmus in Wirklichkeit nicht sein. Denn hatte Arthur
recht, ware so der Wind in der Partei, dann ist mein Planchen
schlecht. Was kiimmerte den Kapitalisten unsere Bibliothek,
was braucht er, uns um den Bart zu gehen, springt selbsttatig
des Proletariers geheime Sehnsucht ihm entgegen?
Wie auch Sturm gefahrlich wiirde, liefie man ihn frank und
frei tun. Das war ein tolles Tempo, als er vomKatheter schrie.
Andere Flamme als beim lahmen Flockchen: Diktatur des
Proletariats, dafi die Bagage hiipft! HeiBa, das war Rasse.
Immerhin echtes Lebensgefiihl. Kommt er mit dem, ohne
daB man’s gewahr wird, im richtigen Moment an die Schwefel-
bande, ginge freilich in Sekunden die Bescherung in die
Luft. „In zwei Tagen raucht auBer den Kaminen alles.
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
45
Aber wie will man trotz Arthurs eigentlich hinter seine Schliche?
Wie hat man vom Aufstehen bis zum Hinlegen ihn immer an
der Kette? Ein Pfiff geniigt doch da ins Pulverfafi: ,,Aktio-
narbataillone wiirgen Euch das Eingeweide bis auf die Stiefel.“
Am Ende hat er auf dem Heimweg, im Wirtshaus noch
jemand erwischt ? Aber warum nicht ? Es ist kaum elf. Einen?
Viele? Die ganze Gesellschaft sitzt beim Bier, er tritt ein — in
diesem Augenblick kann die Brandrede steigen.
Und da halte ich Arthur auf, der ihn aufhalten soli? Bin ich
von Sinnen — wart mal — ich laufe selbst. Vor allem aber
muB der Brief, muB an die Bank ein Telegramm fort. Wer
besorgt das? Wer hindert Flocke, Arthur nicht zu hindern?
(Er ruft zur Tiir links und ruft hinein): Bertha!
Bertha (tritt auf).
Stander: Lauf, wie du bist, geradeaus. Du triffst Herrn
Flocke nicht weit von hier. Umkehren soli er, ohne weiteres
zuriickkommen, der Alte. (Er drangt sie hinaus, lauft an den Tisch
zu Papier und Tinte.)
Zu 185 verkaufe ich, 180 sogar. Wenn nur die Briider nicht
diese Nacht schon etwas untemehmen, und morgen friih die
Borse weiB! (Er schreibt.)
Ich bitte, Mark achttausend nominal Rodauer Glasfabriken —
(Er springt auf und ans Fenster.) Wenn sie ihn nur noch erwischt!
Vielleicht ist Sturm gleich ins Bett gefallen ; nach der Reise,
mancherlei Getrank war er hundsmiide. Arthur freilich bringt
es fertig, ihn im Schlaf zu iiberfallen. (Man hort von obenher
Kinderstimmen weinen.) Ruhe!
Sie knegen sich in die Haare, Arthur vermag moghcherweise
durch dies und das Pression auszuiiben, findet den genialen
Dreh und zwingt ihn zur Abreise mit dem Nachtzug, bevor
man bei Tageslicht niichterner Vernunft noch einmal hin
und her iiberlegt hat. Und morgen friih sitze ich mit dem
Heilsarmeebruder hier allein, pax vobiscum in der Patsche!
(Erneutes Kindergeschrei.)
Ruhe! (Er zerreifit das Papier.) Das Telegramm hat bis morgen
friih Zeit. Selbst muB ich die Geschichte einrenken (exit).
46
Carl Siernhetm ♦ Tabula Rasa
SIEB ENTER AUFTRITT.
(DurcK die offene Tiire sieht man das erleuchtete Treppenhaus und als-
bald eins — zwei — fiinf — sechs Kinder im Nachtkleid iiber das Gelander
spahen, herabkommen, in die Stube treten, sich um das alteste, etwa fiinf-
zehnjahrige [Nettel Flocke] scharen und Papa! plarren. Dazu von oben
wiitendes Hundegebell.)
Vorhang.
Ende des ersten Aufzugs.
X •//. •//. •//. •//. XX
Theodor Ddubler ♦ Sang an Palermo
cG6eodor (Daubfer:
SANG AN PALERMO
Der Mond lafit sich von Wolken aus Porzellan umdrangen.
Sie fliegen leicht und haben eine Schaumglasur.
Verbauschte Engel, aufgebaumte Leibermengen
Umgrotten hoch den Mond wie eine Silberuhr.
Der Mond verkiindet unerforschte Weltenstunden.
Die Helden baun ihr Schiff ; die Meere sind erstaunt.
Delphine wollen Vorbedeutungen bekunden,
Und auch die Wogen sind zu Rausch gelaunt.
Die Winde liegen schwer in aufgereckten Volkersegeln.
Wie starr und unerwartet kam der bleiche Traum.
Die Schiffe wittern nach den Dampf- und Flammenkegeln :
Das war einmal! Und was geschah, erwacht als Schaum.
Em groBer Fels erscheint, halb Sarg, halb Vorbestimmung.
Die weiBen Wellenkamme klammern sich heran.
Die Segelschiffe wagen die Geschickserklimmung,
Sie stehen in des mondbewohnten Berges Bann.
*
Die Sarazenenstadt ist angststarr auferstanden !
In Ziegelfliese eingesilbert fliegt der Mond.
Sie halt den leisen Spielball leicht in Zauberbanden :
Er kann nicht untergehn, da er in Sagen thront
Theodor Ddubler ♦ Sang an Palermo
49
Die Wasserbecken sind dem Silbersinn verfallen
Und spiilen ihren Gischt zur Mondkugel empor.
Verwiinschte Seiltanzer erglimmen zwischen Hallen,
Mit einem taubenetzten Perlenschimmertor.
Die Haremsdamen blicken traurig zu den Vasen
Voll Madchenschlankheit in vertraumtem SchleierweiB.
Kamelien fangen an im Garten zu verglasen:
Ein altes Eis ist da, das von den Dingen weiB.
Der Berg scheint in der Mondstadt schwebend aufgegangen,
Er blinkt so klar, daB er in jedem Traum erscheint.
Er sollte sarghaft liber diesen Gauen hangen :
Sein Dasein war von Anfang an schon vorgemeint.
*
Die Sarazenen blicken mit gekriimmten Sabeln
Den Seglern kiihn entgegen, die wie Sicheln sind.
Die Feinde sichten sich zugleicb zwischen den Nebeln:
Die einen starkt der Mond, die andern liebt der Wind.
Auf einem Vorgebirge hat die Schlacht begonnen.
Der Sultan fiihrt seine Saharaschar zum Sieg.
Die Schiffe sind in Silberschlingen eingesponnen :
Der Mond greift an: die Wucht zur See verliert den Krieg.
Die mondgewohnten Mohren haben stolz gewonnen!
Nun kriimmt sich weiB um ihre Nachtgestalt ein Leib.
Die Sieger iiberkommen weiche Weiberwonnen,
Die Lust wird groB: ihr Silbern schmiegt sich aus dem Weib.
Em hoher Berg ward in der Vollmondnacht geboren.
Er starrt als Sarg und iiberdacht den Leiberkauf.
Der Mohrenkonig hat die Vollmondschlacht verloren,
Denn das gekriimmte Weib stand plotzlich strahlend auf.
*
50
Theodor Daubler * Sang an Palermo
Normannen sind zu Wall und Hafen vorgedrungen.
Der Einbruch in die Macht des Mondes war vollbracht.
Ein neues Leuchten ist am Meere aufgesprungen :
Der Stern der Freiheit hat aus uns gelacht.
Normannenhelme iibertrumpfen grell die Mauem.
Die Mohren flohen : ihre Burgen sind verwaist.
Zypressen fangen an in Schlossem zu erschauem ;
Die Brunnensprache schweigt : der Mond ist rasch vergreist.
Ein schwarzer Halbmond sind die Barken der Normannen.
Sie machen auf die letzten Sarazenen Jagd.
Sie konnen auf der Flotte ihre Bogen spannen :
Bei Vollmond haben sie den Mohrenkampf gewagt.
Der Sarg ist da: die Schlacht liegt unter ihm begraben.
Der Berg wird zur erhabnen Ewigkeit der Stadt.
Der Geist beschenkte uns mit ungeglaubten Gaben.
Die See gebar das Volk, das sie erwogen hat.
*
Mein Pilgerberg, ich will zu deinem Frieden steigen.
In guter Schluchtenruhe werde ich gesund.
Die starken Traume sollen sich bewufit verzweigen,
Ihr Friihlingsgrunen spriiht aus meinem kiihlen Mund.
Die Frucht, die Blute diirfen sich zusammenneigen,
Denn Saat und Ernte gebe meine Dichtung kund.
Mein Pilgerberg, du ahnelst einem Sarkophage,
Doch deine Form verklart der Frohsinn alter Tage.
Der Berg betaut sich, meine Schritte sacht zu spiiren.
In seine Kliifte fliichtet manches miide Pferd.
Mich soil der Spiirsinn zu dem rechten Tiere fiihren,
Dann werde ich vom Pferd im Heilsuchen belehrt.
Mein Finger mag an klepperstatt ein Rofi beriihren
Dann reit ich es und beide bleiben unversehrt.
Theodor Daubler * Sang an Palermo
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Gesundes Tier, uns geben Mond und Wolken Kunden,
Wir bleiben fiir den Ritt durch unsem Traum verbunden.
Palermo, deine StraBen wollen wir durcbreiten.
Mein Liebeswunsch wird wunderbar zu einer Tat.
Wie sich Genesungskreise wirksam weit verbreiten :
Den Erkem der Normannenburg bin ich genaht.
Ich soil zu frohem Tuen schwankes Traumen leiten:
Das RoB blieb stehn. Es hat den Wagemut bejaht!
Nun klimmen grelle Rosen zu den hohen Fenstem,
Ich greife zu und ginge es mit Schreckgespenstem !
Die Rosenhecke iiberringeln schwere Flechten.
„Ich griiBe dich, geliebteste Normannenmaid!“
Enttraumungslust, Gestalt, du kommst zu frohen Rechten,
Ich bin zum Klimmen durch den Rosenbusch bereit.
Wie schlecht, wenn Wiinsche keine Wollustwunder brachten,
Die Freude iiberfliegt verfehlter Welten Leid.
Mein RoB, so wieher, stampfe, drohen mir Gefahren;
Umlaubt uns Traume, daB die Leute nichts gewahren.
Ich taste mich hinan am Flattern deiner Haare.
Sie halten meine Hand, sie gleichen Gold und Blut
Von strahlenden Orangen. Wo ich dich gewahre,
Umrankt uns auch Granatapfelgeast. Die Glut
Auf deinen Wangen flackert fahl. Ich oflenbare
Den Blumen deiner Huld der Leidenschaften Glut.
Wir sind noch tiefer als in einem Traum versunken,
Kein Schlummer hatte uns geweckt, zu Lust gewunken.
Wir sind vermahlt I Und auch erqualt, bis zur Besinnung
Vergangnen Rausches, war das ganze Wissen : Wir.
Ich spur es wohl : hier gibt es nie Entrinnung,
Denn die Verstrickung ist Geschick ! Vergib sie mir.
Ich wahle dich : du warst die innigste Gewinnung
0*0
52 Theodor Dihtbler * Sang an Palermo
Von unsrer Furcht: und was da kommt, entkorpre dir!
w le wunderbar die Flucht durch Traumesparadiese,
Durch Furcht hindurch : wie ruhig wurde unsre Wiese.
Die Wiinsche, unsre Wollust, wurden wirklich Wunder!
Ich weiB die Wahrheit, wie ein Baum sich selbst belaubt.
Du warst noch nie so urvergniigt und nie gesunder:
Wir klauben Furcht auf Furcht, die sich aus uns erlaubt.
Ein Flutenschutz der Einsamkeit wird dunkler, runder,
Du wirst von keinem Laut der Traulichkeit beraubt.
Ich bin noch nie so tief in deinem Gluck gewesen :
Du gibst das Wir: ein unerklarlich leises Wesen.
Auf einmal angstigt sich das Laub in meinen Zweigen !
Verfahlt biickt uns Zitronengold und miide an.
Wie sich Zypressenwipfel unterm Winde neigen,
Wie pocht dein Herz, da unsre Freude kaum begann.
Mein Pferd ist da. Es kann sich durch die Aste zeigen.
Ich muB hinweg: was halt mich schon in anderm Bann?
Der Herbst ergelbt, das wird ein Welken und Vergessen.
Wer hat sich zu Geschlechtsgespenstigkeit vermessen!
Ich mufi auf einem Klepper wie der Spanier schwanken.
Die schlichten Esel gehen ihres Wegs vorbei
Und Bettler schleichen sich heran wie Angstgedanken :
Ich will nicht glauben, daB ich wahr und wirklich sei!
Wo sind die Reichtiimer, die blaB vor mir versanken?
Jetzt bin ich wach ! Erwacht bis knapp unter den Schrei !
Verbleibe, Qual, kann ich den Weckungsschreck vermeiden!
Mein Schlaf und Pferd, bewahrt euch brav, ich traue beiden.
Der Sarg erscheint. Dort steht er bei erstaunten Palmen.
Palermos Rerg! Nun lenk ich langsam meinen Traum.
Palermos Palmen gleichen althekannten Psalmen,
Ich aber sdune icden fruchtbehangnen Baum.
Theodor Ddubler ♦ Sang an Palermo
53
Zum kahlen Fels! Mein Pferd, zu den betauten Halmen!
Im Wind zu sanftem Gras ! Und unten Blau und Schaum !
Wir werden zaghaft den Genesungsberg betreten.
Mein Pferd, dein leises Gehn begleitet still mein Beten.
Am Vorgebirge soli der Wind die Schlafen kiihlen !
Ich denke iiber Mond und Wolken einsam nach
Und fange an der Freien Schreckensart zu fiihlen.
Ich weifi, daB hier der Schopfer mit den Sternen brach !
Nun sind die Volker eignem Walten iiberlassen.
Kein Schicksal mehr! DieMenschen bergen Sieg undSchmach.
An diesen Kanten kann ich die Zermalmung fassen.
In die das freie Rom Karthagos Knechte warf ;
Doch alle Sterne fingen an die Urbs zu bassen !
Dort silbem Berge, die ich nicht betreten darf,
Denn fern erteilen noch Gestirne eine Sendung ;
Die Vorgebirge aber sonderten sich scharf.
Hier feiern wir den Wind. Er gibt uns rasch die Wendung.
Wir iibertrumpften ihn und wurden Feuerwind!
Das kahle Land erwartet der Begabten Spendung.
Der tiefe Ernst! Du bist nicht mehr ein wildes Kind!
Vom Schopfer sind wir los und sollen Geist gebaren.
Uns helfe kem Gebet, seitdem wir Freie sind !
EntschluB und Vorsicht miissen sich gerecht bewahren :
Es ging ein Stern in unsre Seele herrlich ein.
Zu neuem Leuchten sollen wir die Welt bekehren!
Die Liifte um Sizilien sind verziickt und rein.
Auf seinen Vorgebirgen horst du auf zu knieen:
Wir segnen durch den eingebornen Stemenschein.
54
Theodor Daubler ♦ Sang an Palermo
Den Meeren sei aus deiner Priesterhand verziehen.
Die Siinde sch tittle ich aus dem versaumten Baum.
Der Sonne haben wir die Deutlichkeit verliehen !
Die jungen Walder trage ich aus unserm Traum.
Aus voller Gtite sollen neue Strome flieBen
Und Silberfische setzt das Wissen in den Schaum.
Wir konnen unsre Innigkeit in Tiere gieBen :
Die Taube flog aus eines Mannes Schopferhand.
Und Wanderpflanzen wollten unsem Pfad umsprieBen.
Vertreib das Tier, doch wo du muBt, da schaffe Land.
Wir dtirfen blaue Auen furchtbar tiberwtisten.
Wir knoten bald das Todes- und Geburtenband.
Verktindet, dafi die Wesen ihre Brunst verbtiBten.
Vereinsamt euch und tiberlebt die eigne Zeit.
Bedenkt, wie lieblich wir den Zwang durch Sang verstiBten.
Ich bin zu einem frischen Freiheitssatz bereit!
Das eitle Tier in dir wird sich hintibersetzen.
Wohin ? Auf Schollen, die schon Priester vorgeweiht.
Wir sollen dann die Beute schreckenbleich zerfetzen :
Der Feind ist unsre eigene Frage als Gestalt.
Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen.
Doch aus der Volksbesonnenheit kommt die Gewalt.
Auf Vorgebirgen treffen sich verwandte Ahnen
Und bleiben stumm, wenn Flut an Flut zerprallt.
Die schroffen Zacken sollen dich zu Taten mahnen,
Der Sturm beackert euch die Meere wie ein Feld :
Versteckte Wanderwunder unter den Orkanen.
Theodor Daubler * Sang an Palermo
55
Beherrsche fromm die See, im Flug befrei die Welt !
Das Pfliigen sei dir Pflicht, das Fliegen Selbstbestimmung :
Aufs Menschenblut sind alle Hoffnungen gestellt.
Was in den Wind gerat, meint irgendwie Erklimmung.
Erbhcke in den Wellen ein geweihtes Spiel.
Du bist der Sturm, so hisse Segel der Elrgrimmung!
Die Flotte riiste, doch es bleibt in dir das Ziel!
Du schiirst die Kriege, die wir fiirchterlich verlieren.
Drum wappne ich mein Wesen mit Gewehr und Kiel.
Du wirst das Ich mit Indiens Heimlichkeiten zieren.
Das grofie Wissen vibergliickt den Sternenraum.
Mein Menschenwittem forderst du bei deinen Tieren :
Nur in dir selbst bekenne deinen letzten Saum.
*
Ich mochte gierig nach den roten Sternen greifen.
Ich bin das Vorgebirge auf dem groBen Meer.
Ich soli im Winde Weltenungeheuer streifen :
Gestime, stiirtzt nicht! Seid ihr zu bedeutungsschwer ?
Was bin ich, wenn mich kein bekanntes Tier begleitet?
Ein eitler Reiter ohne sein verwegnes Pferd.
Wie meine Sehnsucht ihre Wittrungsreisen weitet
Und jeder Sangansatz doch ewig wiederkehrt!
Mein Tier, du hast mich armen Bleichen ganz verlassen.
Von keinen Abenteuern kehr ich kiihner heim.
Was soli mir so ein kaltes Sternungen erfassen,
Els kam zu andem Weltungen in uns der Keim.
Ich wiinsche mich zuriick zu Gliick und Gliicksversuchung
Und iiberstufe alle Leistung zum Erfolg.
56
Theodor Daubler * Sang an Palermo
Ich suche nach verschwundner Stunden LustverbucHung
Und ich bewurzle mich bewufit in unserm Volk.
*
Die Stadt mit ihrem Berg hat eine Vorbedeutung:
Der Wandel und dazu ein alterhabner Sarg.
Auch meine Schlangenhalfte braucht vom Bauch an Hautung:
Nun kennst du deinen Lurch, den ich vor mir verbarg.
Ich starre kalt hervor zu den bewegten Sternen
Und kenne keine Anderung im echten Ernst.
Els konnen Erzsterne von meinen Reden lernen,
Verkannte Welt, ich merke, wie du dich entfernst.
Vergniigter Leib, entschliipfe mir mit hundert Zungen.
Wir sind von uns getrennt, damit du mir gehorst.
Du Schlangenlust, dir ist ein guter Schwung gelungen,
Ich staune, wie du dich mit grausem Rausch betorst.
Aus unsrer Tierverlangerung ist Gott gekommen.
In deinem Zwiespalt machte er die Lider auf.
Die Menschen sind als Schlangen an das Land gesch wommen .
Gedarm und Hirn sind ein verschlungner Schlangenknauf.
*
Die Schlangen sind in meinem Wesen die Empfmdung;
Im ganzen bin ich Lowin, satzbereites Tier.
Die Schlangen sind in meiner Seele Uberwindung
Der kalten Ansprache des andern Ichs in mir.
Ich bin die Sphinx, ein Vorgebirge in der Wiiste.
Mein Katzenkorper walzt vielleicht den Schwanz im Meer.
Der Geist vollendete die strenggepriifte Biiste,
Doch meine Halbheit wirft sich schreckhaft hin und her.
Theodor Ddtihler * Sang an Palermo
57
Wie furchtbar mich der Wiinsche Sprunggeliiste reizen,
Der Sterne Anblick aber stammt mich streng zuriick.
Ich fuhle pyramidisch, wenn sich Wtirden spreizen,
Ich kenne die Gestirnverinnigung durchs Gliick.
Im Geiste sind die Schlangen meine WiBbegierde.
Ich fuhle mich in Siinden dunkler Stuben ein.
Ich forsche nach den Eitelkeiten jeder Zierde:
Ich kann auf einmal im Bewufitsein Andrer sein.
*
Ich kann die Stadt mit ihrem Berg in mir bezahmen.
Wir sind gereift und schleppen unsern Sliden mit.
Du wirst dich keusch der strahlenden Gesundung schamen,
Doch halten Leiber mutig mit der Einsicht Schritt.
Bekannte Stadt, ich halte deinen Berg in Ehren.
Verkannter Berg, die Stadt verschafft dir demen Rang.
Ihr miifit euch gegenseitig Ruhm und Pracht bescheren,
Und eure Einheit dauert eine Menschheit lang.
Verschwiegen fahren Schiffe ein in Bucht und Hafen.
Und doch geschieht sofort bei ihrer Ankunft Larm.
Der Sarg, vor dem sich hohe Kundentrager trafen,
BeschlieBt die Einfalt durch das witzige Geschwarm.
Stets unentwegt bekennt sich unsre Welt zur Dauer.
Ein alter Hafen schliefit am Abend semen Damm;
Wer einfuhr, den umrundet eine dunkle Mauer,
Und Wolken horchen, Fragen wagt ein Wogenkamm.
58
Oskar Baum ♦ Die Gegner des Krieges
Os (car ZBaum :
DIE GEGNER DES KRIEGES
E
Qedanfcen des bfinden, sefir feinen (Prager Ridkers Qber den
OCrieg; efier ‘Tlotizen und ‘Detra cfitungen, a/s ein Programm.
S muB von vornherein angenommen werden, dafi jeder,
* — 1 welcher politischen oder philosopKischen Richtung, wel-
chem Beruf oder Stand er auch angehore, grundsatzlich fur die
Abschaffung des physischen Krieges sei. Wer an eine Art
Gottesgericht glaubt : daB dem Recht immer die groBere Kraft
innewohne, wer in Nietzsches Namen fur den Schwachern, wohl-
gemerkt den physisch Schwachern, das Joch oder den Unter-
gang mit distanzierter Allgiite als fiir ihn notwendig und geradezu
begliickend herabbetet, mit dem kann ich mich ebensowenig
wie mit irgend einer Art von Aberglauben auseinandersetzen.
Er wird historische Beweise finden, und ich werde Gegenbeweise
heranziehen, und wir werden zu keinem Ende kommen, weil
wir nichtum ein Wissen, sondern um etwas Geglaubtes streiten,
das auf einem gewissermaBen religiosen Gefiihl beruht, das wir
in niemandem zeugen oder iiberzeugen konnen.
Ich will mich nur mit der Moglichkeit und den Wegen zur
Abschaffung des Krieges beschaftigen und mit denen, die in der
Welt von heute, in den Dezennien vor dem Kriege etwa, die all-
gemeine Abriistung, den ewigen Frieden nur von einem ent-
sprechenden MaB allseitigen guten Willens abhangig fanden
und uberall nur den riickstandigen Frevel chauvinistischen Starr -
sinns im Wege sahen.
Diese Gegner des Krieges, die seine Verhiitbarkeit mit zomi-
gem Kindertrotz fordern, kann man ungefahr in zwei Typen-
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Oskar Baum * Die Gegner des Krieges
59
gruppen einteilen, die freilich einander seit jeher in erbitterter
Todf eindschaft gegeniiberstehen : Der Bourgeois und der Anar-
chist.
Zwischen dem schlimmsten klebrigsten SpieBer, der nur fur
sein eigenes Leben und Eigentum fiirchtet, der den starksten
Beweis gegen den Krieg darin sieht, daB er weh tut, und dem
auBersten Gegner unserer Gesellscbaftsordnung, der den Krieg
als Erziehung zum Gehorsam, als dauernde Schadigung und
Unterbrechung des Wachstums unabhangigen Sonderwillens
haGt, gibt es natiirlich eine Menge Kreuzungen, Miscbungen,
Schattierungen .
Eine dritte, freilich sehr kleine Partei einer seltenen Spielart
von Traumern muB ich noch hinzurechnen, ernste Denker
darunter, Dichter und religiose Schwarmer, die die Entmateriali-
sierung der Interessen und Ziele in ihrer Gesellschaft, die Reini-
gung der menschlichen Seele von grobem Eigennutz fur den
einzigen moglichen und notwendigen Weg halten: den Sieg
reiner weltumfassender, den hochsten ethischen Forderungen
zugewandter Ideen iiber GenuBsucht und Erwerbsgier. Die
korperlichen Bediirfnisse wlirden vonuns heute iibertrieben und
iiberschatzt, meinen diese ; sie wiirden, wenn eine solche religiose
Welle iiber die Seelen hinginge, nicht mehr im Vordergrund
stehen. Der Handel der bodenarmen Volker und der natiirliche
Reichtum der andern brauchten nicht mehr in Raubtierhafi und
mit Verbrecherlist als Waffe gegeneinander gefuhrt zu werden,
sondern sie konnten einen klugen Ausgleich finden oder durch
opferfreudige Hingabe aller an alle sich aufheben, da das Geflihl
der Zufriedenheit und des erfiillten Rechts im andern jedem
selbst Bediirfnis ware.
Andre denken sich einen Ausgleich ahnlich wie zwischen
Famihenmitgliedem, wie zwischen Provinzen eines Reiches,
eine Repartierung der Lasten, Pflichten und GenuBmoglich-
keiten der Welt auf die einzelnen Nationen als Glieder der
Menschheit wie zwischen den Mitgliedem einer Organisation,
einer Aktiengesellschaft, einer Produktivgenossenschaft. Aller
Wettbewerb wird auf Ideengebiete iibertragen, nur geistige
60 Oskar Baiun ♦ Die Gegner des Krieges
Kapitalien werden angehauft und das Streben nach Vollkommen-
heit, Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit wird zur Folge haben.
da8 die Rcste der Bosheit und Herrschbegier aus Mangel an
Reibungsflachen und an Entschuldigungsmoghchkeiten durcb
das gleiche Tun der andern entkraftet, veremsamt absterben.
Wer dachte da nicht an Tolstoi und an die einzigen unbesieg-
baren Antimilitaristen, jene sanften demiitigen Sektierer, die
alle schwerste Arbeit ohne Murren auf sich nehmen und, natiir-
lich auch schon im Frieden, durch die hartesten Strafen nicht
dahin gebracht werden konnen, erne Waffe zu beriihren.
Es ist leicht, in der Tonart des gebrauchlichen Pessimisnius.
in gewohntem, verachtlichem Mifitrauen des Menschen gegen
alle Veredelbarkeit seiner Gattung diese Ideologen zu verspotten.
Unterden vielenwirklichunuberwmdlichschemendenSchwieng-
keiten mochte ich nur die eine nennen, dafi vielleicht erst alle
Volker unseres Erdballs mit ihrem jetzt so verschiedenen Geistes-
zustand und Kulturcharakter in einem bestimmten Zeitpunkt
plotzlich auf die gleiche Stufe gebracht werden und in solcher
Geistes-und Herzensentwicklung gleichen Schritt halten miifiten .
Konnte doch nur durch das genau gleichzeitige Verschwinden
aller irgendwie gearteten Siegesbediirfnisse die vollkommene
Friedlichkeit eintreten.
*
Aber man will die Hoffnung nicht fiir Phantasterei halten :
der Geruch der Leichenfelder kreuz und quer durch Europa,
der Mord an der Jugend und Manneskraft der halben Welt
werde endlich eine Ahnung da von aufdammern lassen, dafi der
Vereinskram eincr ungeistigen Politik, die Wochentagssorgen
des Berufs, der Unterhaltung und gesellschafthchen Gewohn-
heiten nicht das Nachsthegende seien, dafi die hohern Dinge,
die Menschheitsfragen
in den Kopfen von Dichtern, Philosophen und ahnlichen
Sonderhngen wohlbewahrt und emgeschlossen dachte, das
Dringendste und Wichtigste bedeuteten : dafi die Theorien
von den Pflichten und Rechten des Einzelnen dem Volk und
, die man in ungelesenen Biichern und
Oskar Baum * Die Gegner des Krieges
der Menschheit gegeniiber, von der Tragweite unscheinbarer
taglicher Vorkommnisse in der innern und auBern Politik, die
verschiedenen Bewegungen 1m Geistesleben Europas jeden
Schuster und Kaufmann, jede Hausfrau und jedes Schreib-
maschinenmadchen naher angingen, weit mehr ihre personlichste
Angelegenheit waren, von denen ihr Leben und ihre Zukunft
abhmg, als ihre Geschaftseinnahmen und das Befinden ihrer
Familienangehorigen. Vielleicht kommt dann die Erkenntnis,
dafi die allgemeine Denk- und Lehrpflicht zuweilen wichtiger
ware, als das allgemeine Wahlrecht, daB das Recht anderer an-
zuerkennen und lhm Opfer zu bringen, mehr Unrecht aus der
Welt schaffen wiirde, als unerbittlich auf dem eigenen Recht zu
bestehen und es ohne Interesse fur die Keime des guten Willens
im andem mit aller Kraft zu erstreiten, dabei nur eine Sorgfalt
des Bedenkens und Abwagens kennend : die Berechnung der
Kraftunterschiede und des voraussichtlichen Lohnes der An-
strengung. MuB man denn, wenn man von fremdem Eigennutz,
von MiBgunst und Habsucht angefallen wird, zur Abwehr flugs
die eigene Selbstsucht und Machtgier entgegenstellen ?
Wenn ein Volk auszieht, um einen Teil seiner Volksgenossen
von fremder Herrschaft zu befreien — bleibt es denn je dabei
stehen? Jedes halt es fiir seme selbstverstandliche Pflicht, seine
Erfolge und seme Macht ohne Riicksicht auf die eben noch mit
selbstgeglaubtem Begeisterungsfeuer verfochtenen idealen Forde-
rungen der Einheit und Selbstandigkeit andrer Volker bis an
den auBersten Rand des Moglichen auszuniitzen. Manches Volk
geriet vielleicht nur deshalb unters Joch, weil es ausholte, um
ein anderes zu erdriicken und die Krafteverhaltnisse falsch be-
rechnet hatte. (Die Polen entrechten heute noch in ihrer Macht-
sphare die Ruthenen, und der Verlust ElsaB-Lothringens war
letzten Endes nur die Folge der franzosischen Geliiste nach dem
Rhein.) #
Smd diese heiligen nationalen Aufgaben, mit denen, wemg-
stens seit es verantwortliche Regierungen gibt, so ziemlich jeder
Krieg begriindet wird, vielleicht nur die Maskierung einer wirt-
62
Oskar Baum * Die Gegner des Kriegcs
schaftlichen Jagd? Ich glaube es nicht. Der Mensch ist in
seinen tiefsten Beweggriinden nicht so niichtem. Seine Phan-
tasie hat mehr Anteil an seinen grofien aufiertaglichen Elnt-
schlieBungen, als er selbst weiB. Die Vision aufschnellenden
Volksreichtums, die Vorstellung, in fremden Landstrichen als
Herr und Eroberer zu walten, und der Begriff der Staatsver-
groBerung, der HeimatsvergroBerung ist ungemein aufreizend.
Schon die Veranderung auf dem Bilde der Landkarte, dieser fur
alle noch so alt gewordenen Schiilergehirne unerhorte Eingriff
in das festgelemte Reich des Bestehenden ! Vielleicht erscheint
nur darum dem naiven Volksmann der Krieg imponierender,
urspriinglicher und natiirlicher, als das niichterne Ruhebe-
wahren, Verhandeln, Nachgeben, die Anstrengung, daB keine
Veranderung eintrete.
Sieg oder Tod, groBer Gewinn und groBer Einsatz, nament-
hch der groBe Einsatz lockt den tief eingeborenen Spielerhang
der Menschen hervor. Es mag weit niitzlicher und angenehmer
sein, aber es hat nichts mit sich FortreiBendes, sich zu vertragen
und mit jedermann auszukommen. Die geistigen, die ethischen
Forderungen werden darum, wenn sie die materiellen Interessen
aus dem Mittelpunkt des Menschheitstrebens verdrangen
wollen, Phantasielockungen mit sich fiihren miissen, wie die
Religionen ihre „Sagen“, ihre Jenseitslieblichkeiten und Schrek-
ken, die Wunder der Offenbarung, den Begriff der Allmacht
eines Wesens und fiir die grober organisierten Seelen die sym-
bol ischen Zeremonien, die Gotzen oder Heiligenbilder. Fiir das
endgiiltige Begraben und Vergessen des Kriegsgedankens tate
eine Friedensvorstellung not, die mit den Phantasieanregungen
des Heldischen wetteifern kann. Els ist schwer zu befehlen, daB
nicht der die Oberhand behalten soil, der das Schone, sondem
der das Richtige sagt.
Nur einen einzigen
gutzumachen ist: zu sterben. Wie, wenn Goethe mit 19 Jahren
gefallen ware? Oder die anderen: Kant, Helmholtz, Bismarck,
Fehler gibt es, der im Leben me wieder
Oskar Baum * Die Gegner des Krieges
63
Beethoven, Bach? Man kann antworten: Wer weifi, wie viele
im dreifiigjahrigen und in den andern Kriegen gefallen sind!
Die, die wir haben, konnten nur werden, was sie sind, weil jene
den Boden fur sie erstritten.
Nun, wenn fiir oder wider solche unbeweisbaren Dinge ein
Wort erlaubt sein soli: findet niemand, dafi es nach der Revo-
lution und dem napoleonischen Blutregen, nicht nur geistig, sehr
matt und leer, namentlich in Frankreich war? Es sei abgesehen
davon, dafi es als Staat den ersten Platz in der Welt an England
abtreten mufite. Aber vielleicht ist das, was wir fiir die Bliite
der bis dahin grofiten Kulturnation hielten, was um jene Zeit
abbrach, nur ein Ansatz gewesen. Erst als die durch den Krieg
nicht gelichteten Kinderreihen Generation wurden, kamen die
Balzac, Hugo, Berlioz.
Ich nahere mich damit allerdings bedenklich dem eingangs
verachteten Standpunkt des Bourgeois, das Hauptargument
gegen den Krieg darin zu sehen, dafi er weh tut. Wer von uns
hatte aber auch nichts vom Spiefier, vom Anarchisten und vom
religiosen Schwarmer zugleich in sich? Tolstoi ritt taglich
wahrend des japanisch-russischen Krieges mehrere Stunden
weit zum nachsten Telegraphenamt, um die neuesten Kriegs-
nachrichten zu erfahren. Er nahm parteiischen Anted an den
blutigen Operationen, am Ausgang des Kampfes. . . Erne un-
bedingte, ausnahmslose und vollstandige Ablehnung des Krieges
ist in Wahrheit durch keine der genannten Typengruppen ver-
treten. E i n e n Krieg sieht selbst der Anarchist fiir notwendig
und wiinschenswert an : die Revolution. Den Kampf um Glau-
bens- und Gewissensfreiheit sanktioniert wohl auch der Schwar-
mer fiir Entmaterialisierung der Menschheitsinteressen und wird
ihn nicht unter alien Umstanden fiir vermeidbar erklaren. Und
der Bourgeois wird durch die Bejahung des Staates zu dem
Kompromifistandpunkt gedrangt: ,,Nur im aufiersten Notfall.“
Fiir ihn miifite man also eine Tabelle aller erfindlichen politi-
schen Vorkommnisse anfertigen, damit er bestimmen konnte,
bei welchem noch nicht, und bei welchem schon die Bezeich-
nung „aufierst“ gelten diirfe.
30 Vol. m/i
64
Oskar Baum * Die Gegner des Krieges
Manche erhoffen auch vom natiirlichen Entwicklungsgang der
Zivilisation, indem sie den Kampf jedes gegen jeden in der Ur-
zeit mit dem Ringen unserer Tage vergleichen, das fast die ganze
Menschheit in zwei reinlich getrennte Lager scheidet, die baldige
tJberwindung dieser Form des Konkurrenzkampfes unter den
Volkern; aber die Einfiihrung der allgemeinen Wehrpflicht in
England, in China — vielleicht folgen mal auch noch, etwa zur
Einschiichterung Japans, die Vereinigten Staaten — lafit cen
Schlufipunkt dieser Epoche nichteben fiir bevorstehend erwarten.
Der Glaube an eine automatische Entwicklung der Kultur und
Zivilisation langte langst bei der Uberzeugung an, dafi deren
Hochstand zu Faulnis und Schwache fiihren miisse, dafi Un-
kultur Jugend und Zukunftsmoglichkeit bedeutet. Freilich,
aufier etwa durch die morose Griesgramigkeit dieser Kultivierten
ist das durchaus nicht leicht zu beweisen. Dann ware ja auch ein
Krieg mit rohester Kriegsfreude die Zeit der Bliite, der Frische
und kommenden Kraft eines Volkes, das Zeichen seiner unver-
brauchten Seele, und der sanfte religiose Traum von einer Herr-
schaft des Geistes auf Erden, einer verniinftigen Giite aller
Volker das Zeichen und die Prophezeiung vollendeter Alters-
schwache , . . Wer dagegen wollte nicht glauben, dafi die heuti-
gen germanischen Stamme ebenso gewaltig wie ehedem siegen
wiirden, wenn sie ins Romerreich einbrachen? Wer wiederum
konnte leugnen, dafi die Franzosen und Englander sich heute
ganz ebenso tapfer schlagen wie zu Napoleons Zeiten, — und
welche Strecken der Zivilisation, vielleicht auch Kultur sind in-
zwischen zuriickgelegt worden!
Ich glaube nicht, dafi Mark und Muskeln eines Volkes durch
Geistigkeit, durch die Jahrhunderte, die hinter ihm liegen, ge-
schwacht werden, dafi sein Charakter sich verandert ; ich glaube,
dafi das Auf- und Abschwellen seiner Tatkraft, sein „Jena“ oder
„Sedan“, vom jeweiligen innern Antrieb, von der Intensitat des
Glaubens an sich und seine Tat abhangt.
Ich glaube, dafi ein Volk, in dessen Charakter es liegt, der Welt
den ewigen Frieden bringen kann, wenn es physisch — sicherer
vielleicht noch, wenn es geistig zur Herrschaft gelangt.
Oskar Baum ♦ Die Gegner des Krieges
65
Das mochte ich mir als den kiirzesten und verhaltnismafiig
einfachsten Weg vorstellen; moglicher erscheint er mir jeden-
falls urn einige Grade, als daB die Gegner des Krieges in alien
Staaten eine sieghafte internationale Partei zu grlinden ver-
mochten, oder dafi neue Schiedsgerichte und neue Vertrage
etwas anderes wiirden, als ein Mittel mehr im alten Diplo-
matenspiel.
Valeri j Brjussoff * I. Schatten 67
(Qaferij ftrjussoff:
I. SCHATTEN
Aus den Schatten der Leidenschaft schmiegt sich’s, umarmt es,
verfliichtet im Dunkel und lockt um das Pfiihl;
es verkriimmen sich Riicken und beugen sich Briiste,
ein brennend Arom umschwelt das Gewiihl;
ein kraftlos Erheben, ein willenlos Schmiegen,
ein Vergraben der Finger ins Schulternoval ;
als Gestorbner verfolg’ ich die schamfremden Schatten
bei erregendem, rauchendem Kerzenfanal.
Ich verfolge im Schimmer gebildnerte Kniee
und sich rauchelndes Haar, HuftenweiBmarmorglanz,
und im Wirbel empor ringelt rauchend die Flamme,
schmiegt Farben und Leib zum chaotischen Tanz!
*
O du Morgenweite aufschaumender Meerbucht
und des schamhaften Tags zinnobemes Licht,
o ihr lenzigen Tone im silbernen Herzen,
und Maria, dein Marchenbild, heilig und schlicht!
O du Tag nach der Nacht des wilden Gestehens,
du Liebesmorgen, wie Perlmutter rein,
o Morgen und Brise und Sonne und Moven, —
als Abglanz dein Lacheln, alliiberall dein!
Ein bestrahlter, verliebter, befangener Knabe,
ein entkrafteter , schwimm’ ich im strandlosen Traum,
und im Wirbel empor ringelt rauchend die Flamme,
schmilzt Farben und Traum zu chaotischem Schaum !
68
Valeri j Brjussoff * Il.Weib
II. WE I B
Ich sah ein Weib, gekriimmt von Qual und Pein,
und es entbloBte schamlos seine Glieder.
Es ward ein jedes Stohnen wildes Schrein.
Grau gab das Licht sein Schmerzensantlitz wieder.
Aus zahnzerbiBnen Lippen floB das Blut.
Der starre Zorn war seinen Blicken eigen.
Und seltsam grob war seiner Worte Wut.
Zuweilen mochten wohl die Krampfe scbweigen,
dann schwieg es schwer, wie ein verendend Tier.
Wenn es nachher sich fiebernd walzte, wandte
und sich von neuem streckte, starr und stier,
sah man, wie es nun alles haBlich kannte,
wie nun Vemunft und Liebe, alles schwand.
Wunsch blieb nur eines : daB die Quai verginge . .
Berauschend herrschte Blut-Geruch und 'Brand.
0 Madchen! Unsrer Garten Schmetterlinge !
Des Walzers Weise lockt euch auf den Ball,
und wie Magnolien seid ihr lichte Dinge.
Auch eure Stunde kommt, daB ihr im Kampf
ans Lager stemmen miiBt und euch verlieren,
die Lider kneift, den Mund verzerrt vom Krampf
und werdet Tieren gleich — auch ihr —
gleich Tieren!
(% Ibersetst von CSarfot St roster.)
Ulrich Steindorff * Golgatha
69
Qttricfi Steindorff:
GOLGATHA
EINE ERZAHLUNG
Neulich erzahlte jemand; und da wurden alle stumm. Denn
es war das Leid selber, das den Mund auftat. Die Worte fielen
wie Hande voll Sand auf einen Sarg, und es gab durch alle
Sinne ein hartes Echo.
Was sind zwolf Tage fur einen Lebendigen ?
Zwolf brennende Lichter, die der Morgen anziindet und der
Abend loscht. Zwolffaches Leid oder zwolffaches Gliick, aber
doch jedes mit dem Glanz des anderen aus Vergangenem oder
Kommendem .
Zwolf Tage halten zum mindesten einen Sonntag in ihrem
SchoB, einen Tag, der irgendwie feierlich ist oder sich doch
irgendwie feierlich gebardet. Sie sind ein Marsch, ein Gang,
ein Schreiten vom Hochher ins Niedere oder vom Tiefen hoch
hinauf; oder beides; oder kernes von beiden, wenn groBes
Geschehen ebene Wege ausgeworfen hat. Aber sie sind leben-
dige Natur, haben stets Raum zu einem Innehalten, Ausrasten,
Atemholen fiir einen Lebendigen.
Unselige Zeit, wenn sich zwolf Tage anders abwandeln.
Denn dann wird ein Gott gekreuzigt und der schauerhche Gang
nach Golgatha neu gegangen. Oder der Krieg wirft gotthch
Auferstandenes dem Rad der Natur in die Speichen, dafi alles,
alles, alles Leben stillesteht.
*
Ein diirrer Sommertag. Eine Sonne, die im Staub wandert,
Eine LandstraBe, die runzhg ist, well das Elend in Kolonnen
iiber sie hingefahren ist.
70 Ulrich Steindorff ♦ Golgatha
Eine Baumreihe wie aus einer Spielzeugschachtel, kiinstlich ;
mit Farben, die wie abgegriffen sind. Strohfahnen um halbge-
brochene Aste von Platane zu Platane, ein zerfasertes Band,
das sich, alien gemeinsam, ins Unendliche fortschleiert.
Felder ohne Frucht. Wiesen ohne Griin, ohne Vieh : tot.
Hofe ohne Hauser. Hauser ohne Giebel, ohne Dach, ohne Fach :
offene Wunden. Brunnen ohne Rad, ohne Tiefe, ohne Wasser:
blind.
Und dabei ein Stuck Welt zwischen zwei Stadten, die ein-
mal ihren Inhalt gegenei nander ausgeschiittet haben, vom
Morgen bis zum Abend, als es noch Morgen und Abend gab
und nicht dies gleichgiltige Auf- und Niedergehen der Sonne.
Zwischen zwei Stadten im tiefen Galizien. Wer weiB davon ?
Es konnte auch irgendwo in Kurland sein, irgendwo im ElsaB,
in Frankreich, in Polen, in Serbien, in Mazedonien, in Ost-
preuBen. Warum soli es nicht in Galizien sein? Was sonst
Gegenden voneinander unterscheidet, fehlt, weil alles fehlt,
was war. Denn das Elend ist in Armeen dariiber hingestampft.
*
Mitten im Grau ein Lebendiges. Ein Wanderer im Staub.
Geht Gott durch die Welt und spricht sein: „Siehe!“? Wahr-
lich : Gott mufi der sein, der da einsam geht, wo das Mensch-
liche emgeebnet ist zum Grab.
Schritt fiir Schritt geht er den langen Weg, gebeugt, als lase
er sein Evangelium in den harten Zeilen der StraBe.
So wandert die Jugend, wenn Friihling ist und Liebe. So
wandert eine Mutter, wenn tragender Herbst ist. Aber ein
Greis im brennenden August?
*
Em Tag, zwei Tage, drei Tage. Wie lange er schon auf seinem
Wege war ? Es begegnete ihm niemand, der ihn fragte. Dem
einsamen Sucher rinnt der Sand der Zeit ohne Saum, ohne
Marke. Aber aus einem Briefblatt war es zu lesen, daB er lange
suchte; aus den Falten, die briichig waren vom Offnen und
JJlrich Steiniorff * Golgatha 71
Wiederoffnen, aus den Flecken von unsicheren Handen, nicht
in den vier, fiinf geschriebenen Zeilen. Da stand nur sein Ziel,
nicht seine Zeit. Die Stadt, die hinter ihm lag; die Stadt, die
vor ihm lag. Und dann eine Strafie ohne Namen, nicht die
grofie, von tausend Radern grofispurig in die Felder rechts und
links vielfach ausgebreitete, sondern die enge, ebenfalls ost-
warts. Und dann drei Baume. Leicht zu finden: drei hohe
Baume hinter einer Hohe. Unverkennbar : drei unzerschossene
Baume.
Und dann auf der zweiten Seite des Blattes: die Graber,
das Grab: der Sohn, vielleicht allein, vielleicht mit den anderen ;
jedenfalls das Kreuz mit seinem Namen.
Aber kein Wort davon, wie weit die Graber hinter den
Baumen, die Baume hinter der Hohe, die Hohe hinter wer
weifi wie viel Hohen hinter der Stadt.
*
Auf dem Tisch von einem kleinen Laden lag der Brief vom
Tode eines einzigen Sohnes. Dort wurde er zum ersten Male
entfaltet. Mitten am hellen Tage war er gekommen, und es
wurde dunkel ; mitten im Larm der GroBstadt, und es wurde still.
Der Tod eines Sohnes in Galizien, in Kurland, in Flandern.
Wer glaubt an den Tod, der fern gestorben wird? Welke Ge-
danken bliihen auf, alte Bilder farben sich jung. Erlebtes steht
auf und wird tausendfach lebendig. Und es schreien Angste
vielerWochen, brechenTranen los, schiitten sich aus und werden
wieder still.
Wer ist Biirge fiir den Tod? Ging nicht auch Mutter Maria
zur Gruft und fand sie leer?
Krieg, Kreuzgang der Millionen, Schrecken der Mutter und
der Vater mit Botschaften, die Ihr nicht versteht, mit dem Tod,
den Ihr nicht seht, den ewigen Lampen der Hoffnung, die nicht
ausbrennen. Am Tag der groBen Heimkehr werdet Ihr stehen
und durch die Reihen der Kommenden suchen. Noch tausend
Mai wird dieTiir aufspringen und Ihr werdet erschrecken, tau-
send Mai eine Stimme horen, die verklungen ist.
72
Ulrich Stcindorff * Golgotha
Selig sind, die ihre Toten begraben diirfen und wissend schla-
fen gehen.
Die Tiir vor einem kleinen Laden ging zu. Ein alter Vater
wollte suchen, wissen, suchen im Ungewissen. Trotz seiner Armut
ging er und lieB alles hinter sich, was ihn erhielt. Fiir Menschen,
die ihn fragten, hatte er keine Antwort ; fiir Sorgen der Zukunft,
die ihn ansprachen, keine Stimme. Sein Einziges, Letztes war
nicht mehr. Nichts war mehr fiir ihn auf Gottes weiter Erde
als ein toter Leib. Den wollte er heimholen in seiner Armut,
betten konnen, zudecken, weich, weich zudecken.
Er war ohne Tranen, denn man weint nicht, solange man
sucht.
«
VierTage, fiinf Tage, sechsTage. Hinter der Hohe die Baume.
Drei unzerschossene Baume. Nackte Stamme und nackte Aste
mitten im Sommer. Phantastische Weiser zu einer unendlichen
Grabermulde.
Kreuze, Kreuze, Kreuze. Namen, Namen,Namen. Tausend
Sohne von tausend Eltem.
*
Man mufi alt sein, um ruhig suchen zu konnen. Junge Augen
iiberblicken rasch, aber sie lassen Liicken beim Sprung vonKreis
zu Kreis. Langsam Schritt fiir Schritt gehen, ist Zucht des
Lebens.
Der Vater ging und las, ohne Angst, ohne Hast, plotzlich mit
der Sicherheit aller Friedhof ganger, daB er finden wiirde. Ver-
wischte Buchstaben, die Wind und Regen hatten loschen wollen ;
fliichtige Zeichen, die irgend ein Befehl nicht hatte vollenden
lassen, nichts, gar nichts entging dem Gebeugten. Er stand
an groBen Grabem, die Auskunft gaben ohne Namen, und an
kleinen Grabern. Schritt fiir Schritt ging er und Stunde um
Stunde. Und Wort umWort tilgte er aus der Fibel desTodes,
die da offen aufgeschlagen lag.
Lange vor Abend noch fand er : den Sohn ; den Jungen, seinen
Jungen. Ein Kreuz zwischen Kreuzen, ein Grab zwischen Gra-
bern, einen Toten unter tausend Toten.
Ulrich Steindorff * Golgotha
73
Irgend etwas fiel in ihm, fiel und schlug hart auf. Es war kein
Erschrecken, war auch kein Entsetzen vor der Wahrheit.
Aus dem brennenden Sand, mitten in der ungeheuren Leere
wuchs ein Unbekanntes auf, eine grellrote Blume mit zackigen
Blattem, wuchs liber den Himmel hin, kroch vom Jenseits iiber
die Flache, brannte in Flammen zwischen all den Grabern, roter
und roter, und zerbarst in Nacht.
Als es Morgen wurde, weinte er.
*
Am achten Tage schnarrte der Wind um die Baume an der
Hohe, und dieWolken flogen rabenschwarz dicht liber die Sand-
kamme hin.
Ein Gefahrt pfliigte den Kiesweg aufwarts, ein gespenstisches
Gefahrt im grauen Mittag. Zwei hohe Rader mit Speichen, die
Granatsplitter angenagt hatten ; vielleicht der letzte Rest einer
Munitionskolonne. Zwei Strange und ein miides, abgefallenes
Kosakenpferd. Und derVater zwischen den Radem auf einem
Brett, das imWippkreuz iiber die Achse gelegt und gebunden war.
Was kann eine Stadt, die derKrieg leer gebrannt hat, geben?
Eine Stadt ohne Handel, ohne Wandel ; eine Stadt, der kaum
mehr Menschen geblieben sind als stehende Hauser? Dem
Zahlenden? Nichts! Dem Suchenden? Dinge ohne Wert, die
dem Augenblick Schatze werden. Dem Bittenden? Wenn er
hungert, wohl ein Stiick hartes Brot. Wenn er ein Vater in
Qual ist und Greis und den toten Sohn holen will, undwieder-
zukommen verspricht? Das letzte Lebendige: ein Pferd.
Wenn es nun unterwegs stirbt ? Aber warum soli es eher
sterben, als die, die es leihen? Es ist so vieles gestorben gestern,
vorgestem, alle die Tage. Einmal mufi der Tod doch weiter-
ziehen, weiter, weiter. So karge Emte lohnt sich nicht.
*
Die Ziigel hangen, der Graue braucht sie nicht. Aber auf
halber Hohe greift sie der Alte, lafit sich zu Boden, geht neben
dem Pferd und biegt quer ab. Erst iiber eine versenkte Rasen-
74 Ulrich Steindorff * Golgotha
briicke, die ein GeschoB aus dem Graben gehoben hat, dann
iiber den oden Sand, miihsam, weit, in den tagemden Dunst
hinein.
Irgendwo hat vor kurzem noch eine Miihle gestanden. Mehr
hatte ihm der Giitigste nicht schenken konnen. Das Miihlhaus
war nicht mehr, aber die Steine und gebrochene Fliigel. Fliigel,
die mit grauem Zinkblech beschlagen waren. Einmal hatten sie
wie ein Lichtrad iiber Land geblinkt, aber auch nur ein ein-
ziges Mai.
Durch denTag klang Arbeit, friedsame Arbeit ; ein Hammem
imTakt. Der Vater richtete, bog vier Seiten zu einem Sarg. Es
war ein rissiger Sarg. Stricke muBten ihn halten.
*
Von dieser Stunde an wuchs ihm die Zeit ins Gigantische.
Schritte wurden zu Meilen, Augenblicke zu endlosem Dasein.
Der Vater erlebte noch einmal sein Leben im Leben seines
Sohnes. Kinderjahre stiirzten sich wider ihn mit ihrem Gliick,
Knabenjahre schlugen iiber ihn zusammen, Reife, Fallen. Ein-
zelne Worte tonten, und der Ton dehnte sich und klang nicht
aus ; klang nicht aus.
Wind fuhr iiber das Land und driickte alles fest aneinander,
schniirte die Brust ein und hielt den Atem fest.
Wie weit doch ein Weg ist, wenn man das Ziel kennt und
sich angstet. Und wie man sich angstet, wenn man Schritt fur
Schritt dem Grauenvollen naherkommt, das man erreichen muB.
Wer fahren konnte, geht zu FuB, und wer zu FuB geht, halt
inne, ohne doch zu rasten.
Die ganze Welt wird unwirklich vor der groBen Angst eines
Menschen. Der Himmel spannt sich in trostloser Feme, streng
und eisig, und der Boden, auf den man tritt, schmiegt sich
samten unter dem FuB. Was sich greifen laBt, schmilzt in den
Handen. Das Harte wird versohnlich und das Versohnliche hart.
Wer nie gebetet hat, betet um ein Wunder. Wer nie geglaubt
hat, kniet in Gethsemane.
*
Ulrich Steindorff ♦ Golgotha
75
Drei Stiche mit der Grabgabel in den kalten Sand. Nur drei
Stiche ; dann nahm der Vater die Hande und schiirfte die ein-
gesunkene Erddecke iiber dem Toten. Handvoll auf Handvoll.
Der Wind stand still und die Wolken standen still. Seine
Gedanken setzten aus und sein Herz.
Eme schwarze Wunde in dem gelbgrauen Tuch einer Uni-
form, wohl eine Fingerspanne iiber dem stumpfen Knopf der
linken Tasche.
Und der Alte trug, ein wandelndes Kreuz, den toten Sohn
vorbei an den tausend Kreuzen, fort iiber das Golgatha zwischen
den Hiigeln. *
Die Baume an der Hohe schnarrten. Das Pferd schrak zu-
riick. Der eine Strang straffte sich seitlich, scblug wie eine
schwirrende Sehne von unten her gegen das wippende Brett,
gegen den Sarg, dass er sich aus dem Gleichgewicht schob und
dumpf auf den Boden stieB. Der Alte wurde gehoben und fiel.
Langsamer wurde die Fahrt, miider die Schritte am tiefen
Abend, in der dunklen Nacht, in der lichterlosen Stadt.
Dort hielt der Vater Totenwache, bis ihn ein Gespann von
weither mitnahm mit all seiner Last. Und am zwolftenTage miin-
dete sein Weg in die breite StraBe von der Grenze zur Heimat.
*
Mitten in der groBen Stadt ein alter Mann, der seinen Sohn
eingebracht hat vom Felde des Todes. Mitten im Larm ein
stiller Mensch voll dunkler Gesichte mitten am Tage.
Woher kam der Schmerz ? Wohl eine Fingerspanne iiber der
Uhrtasche saB er, bohrte sich tief, fror sich ins Innerste. Kam
er von dem Sturz zwischen den hohen Radern ? Kommt denn
ein Leiden anders, als vom Stiirzen irgendwoher ins Tiefe?
Neulich erzahlte jemand: ein Arzt.
Der alte Vater hatte gesprochen, von seinem Sohn gesprochen,
vom Gefundenen und vom Heimgebrachten. „Er war jung“,
hatte er gesagt und die harten Finger iiber dem Herzen ge-
spreizt. „Er war jung“, hatte er gesagt und:
„War das alles notig ?“
76
Paul Boldt * Freundin Horerin
CEauf EBofdt:
FREUNDIN HORERIN
Die Gegenwart der Nacht macht alles schlimmer.
Die Phantasien der Lust entlaufen schnode,
Die Uhr schreit hafilich in der Herzeinode,
Ins Zimmer fliegen die friiheren Zimmer.
Unter die Stirne flieht die Gliederherde.
Im Mund weifikleinen Zahnelichtes schreit es,
Und Schrecken wachst im Antlitz wie ein zweites :
Ach, ach, es friert iiber mich hin aus Erde.
Und das BewuBtsein glaubt noch nicht einmal
Der chemischen Erlosung von dem Leide.
Das Antlitz abgestreift an eine Weide,
Mit Felderarmen liegen wir im Tal.
Ich mufite haltlos altem aus der Jugend
In dieser weiBen, hauserigen Stadt.
Auf krummem Himmel frei zu stehen matt,
Den Schadel in die Martermauern fugend.
Im Himmelsgrund voll Schatten, Wind und StraBe
Erscheinen wir, die sich bewegend tun.
Aus Augen fliegt liber den dunklen Schuhn
Der Regen bogen durch die Antlitzmasse.
77
Antlitze kommen auf in dem Tierhaar,
Die Einzelaugen an die meinen spiilend.
Und ein Gesicht, Auswuchs der Seele, fiihlend
Einschwebte Stirn zur Stirne, scheues Paar.
Wir arbeiten. Mich freut es, dich zu sehn
Freundinnenlippenrot, anthropomorph.
Wir bauen in die Stadt uns kleines Dorf
Schadelbluthauser und Armealleen.
Das Herz geht in den Handen hin und her.
Die Augen fiillen sich an einem Strahl,
Mit Baumebildern, Stadten an dem Meer.
Der Strahl ist aus der Sonne, Tag geheiBen.
Paul Boldl * F reundin Horcrin
*
'
Glossen
GLOSSEN
lurcher C agebuc 6.
MINDERHEITEN.
Wohl haben die Volker und die Indi-
viduen jetzt vollauf mit der Gegenwart
zu tun. Nur dafi es, recht betrachtet,
keine Gegenwart gibt. Jeder Han-
delnde bereitet Zukunft, jeder Ruhende
halt sich bei seiner Vergangenheit auf.
Selbst die Pausen zwischen Vergangen-
heit und Zukunft sind Krisen, die iiber
das Riickwarts oder das Vorwarts ent-
scheiden, gemischt aus Vergangenheit
und Zukunft, die einander bekampfen.
Es iiegt nahe, daB heute die „politi-
schen Erzieher44 der Volker, die diese
Eigenschaft der freiwilligen oder un-
freiwilligen Unterwerfung unter die
Machthaber verdanken, mit Vorliebe
iiber Minderheiten spotten, — denen
sie zuweilen, in ihrem Innersten, selbst
angehoren. Jedoch, die Minderheit
von heute kann morgen zur Mehrheit
werden.
Die Widerstande, die sich in den
verschiedenen Landern den Minder-
heiten entgegenstellen, entsprechen
auch im allgemeinen dem freien ofpiel
derKrafte in den politischen Landern.
In demokratisch regierten Landern
haben Minderheiten eine gewaltige Be-
deutung. Je absoluter ein Landregiert
wird, desto wirkungsloser bleiben
Handlungen von Minderheiten, es sei
denn, die Minderheit stiitze die Macht
— gegen einzelne, wobei sie, die zur
Macht, das heiBt zur Mehrheit strebt,
sowohl aus der Tatsache ihrer Minder-
heit, wie aus dem Machtprinzip den
doppelten Nutzen zieht. Man nennt
eine solche politische Gruppierung
„Fronde‘\ Und ich werde zu jeder
Minderheit mehr Vertrauen haben, als
zu einer Mehrheit, die es nicht ver-
steht, ihrem politischen Hauptapparat
den Dynamo einer motorisch diese
ihre Minderheit antreibenden und
ihre Gegenwartspolitik ubertreibenden
Energie anzuschlieBen. Alle groBen
politischen Parteien besitzen ihre zen-
trifugalen Krafte.
Jeder, der nicht „mitmacht“, aber
zum Aufiersten entschlossen ist, um
die Moglichkeit zu schaffen „mitzu-
machen44, stellt eine politisch gewich-
tige Minderheit dar. Da aber die poli-
tische Maschine — ich kann es nicht
oft genug wiederholen — ein an Um-
fang und Kompliziertheit gewaltiger
Apparat ist, der sich nicht von heut auf
morgen aufbauen laBt — das Fiasko
der Rooseveltschen Sezession in Ame-
rika! — , so miissen sich die Minder-
heiten, um wirksam zu werden, organi-
sieren. Jeder, der sich politisch be-
tatigt hat, weifi, was von den Idealen
seiner Partei bis zu den ersten prak-
tischen Versuchen, sie zu verwirk-
lichen, auf dem Weg liegen bleibt. Die
3i Voi. m/i
80
Glossen
Parteiganger des Herrn von Heyde-
brand und die Glaubigen des echten
oder des vorgestellten Marx enden auf
ihren Wahlgangen beim Bauem oder
beim Arbeiter, im Gutshof oder im
Wirtshaus, und die entscheidenden
Argumente fur die Gewinnung eines
Mannes, der nun fur oder wider eine
Weltanschauung stimmen soil, geben
selten liber die aktuelle Bediirfnisfrage
hinaus — was ich nicht nur begreife,
sondern billige. Denn die Voraus-
setzung einer Propaganda fiir eine
groBe Idee ist das Interesse fiir die
Lebenshaltung uberhaupt, sodann fiir
die mdglichst baldige, die moglichst
sichere, die moglichst bedeutende
Hebung der materiellen Lebenshaltung
von Menschen, an deren Geistigkeit
man appelliert.
Der Parteisekretar, der in Wahlver-
sammlungen spricht, pflegt es materiell
um vieles besser zu haben, als die Men-
schen, die ihm Ohr und Herz offnen.
Leidet die Idee darunter? Manch-
mal, und dann haben wir es mit plat-
tester Demagogic zu tun. Sonst:
finden wir uns mit der cCe<AnUc der
politischen Arbeit ab, so sie durch dick
und diinn zur Idee hinstrebt, die es zu
erkampfen gilt mit den Mitteln, fiir die
die Masse — mit Recht — in erster
Linie empfanglich ist.
Eine Politik des Geistes wird sich
der selben Mittel bedienen miissen, wie
etwa eine landschaftlich beschrankte
Kartoffelpolitik. So dafi im Grunde
die Demokratie als politische Einrich-
tung ebenso aristokratisch ware, wie
eine Aristokratie, die sich gegen sie
wehrt. Auf den erreichten Gipfeln
stellt sich der Sinn des politischen
Kampfes ein, der Weg hinauf kann im
besten Fall nur der gleiche sein fiir alle
Parteien. SchluBf olgerung : es mu8
immer wieder und gerade jetzt gewarnt
werden vor sentimentalen Individual
lismen, vor Programmen und Mani-
fested die schone, richtige Worte ent-
halten, ‘Worte , wenn nicht der poli-
tische Apparat fiir sie arbeitet. Die
Verfasser miissen sich in den bestehen-
den Apparat eingliedem, wenn sie
nicht ein neues, wirksames Hebelwerk
schaffen, wozu die Anstrengung einiger
Generationen gehort, miissen den Ap-
parat selbstgelenldg bedienen und kon-
trollieren. Politische I deale haben wir
seit hundert Jahren, so prachtvolle, wie
sie nur sein konnen. Verwirklichungen
lassen auf sich warten. Die politische
Maschine hat immer und iiberall die
politischen Ideale zerrieben. Unsere
politische Tragodie. Die Redner der
Frankfurter Paulskirche waren grofie
Politiker gewesen, wenn sie etwa Bis-
marck und seine politische Wissen-
schaft auf ihrer Seite gehabt hatten.
Sie hatten sie gegen sich, und die Ge-
sc* ~hte machte sie zu Rhetoren.
Der Dilettantismus in politischen
Dingen bei uns ist haarstraubend. Die
„geistigen Fiihrer*4 des Volkes schreien
nach politischer Erziehung, — aber sie
haben, mit dem [Correspondent en eines
groBen deutschen Blattes in Paris, die
dortigen Radikalsozialisten fiir radikale
Sozialisten gehalten, wahrend die fran-
zosischen Radikalsozialisten in Wirk-
lichkeit etwa unsern Freisinnigen ent-
sprechen, und sehen heute noch in
Caillaux den franzosischen Deutschen-
freund, obzwar jedermann in Frank-
reich weifi, daB er, wenn uberhaupt
etwas, gar nichts anderes vermag, als
fiir die ffuerre d oat ranee eintreten.
Glossen
Auf anderen Gebieten ist es nicht
besser . . . Ich fiibre absichtlich nur
..Kleinigkeiten44 an.
..Politische Erziehung?44
Es ware Zeitf ernsthaft damit anzu-
fangen. Der jetzige Zustand bote die
beste Gelegenheit dazu, wenigstens in
Angelegenheiten der auswartigen Poli-
tik.
HERVfi.
Im ersten Aufsatz des Heftes erin-
nere ich an die aufrechte Haltung, die
Gustave Herve zu Beginn des Krieges
in seiner Zeitung „La Guerre sociale44
einnahm. Nicht nur, daB er in seinen
Leitartikeln leidenschaftlich gegen die
Schreikrampfe der nationalistischen
Presse, den Spionenfang und den
DeutschenhaB einer durch Routiniers
aufgeregten Menge anging, — in den
Redaktionsraumen seiner Zeitung er-
offnete er ein ..Deutsches Konsulat44,
durch dessen Vermittlung Deutsche,
Osterreicher und Ungarn, die in Paris
zuriickgeblieben waren, geschiitzt und
versorgt wurden. Deutsche Frauen mit
ihren Kindern fanden Aufnahme in den
Familien franzosischer Sozialisten. Er
lieB sie auch nicht im Stich, als sie in
die Konzentrationslager abgeschoben
wurden. Die , .Guerre sociale44, die vor
dem Krieg zweimal in der Woche er-
schienen war, kam nun taglich heraus
und wurde in kiirzester Zeit eines der
meistgelesenen Organe der franzosi-
schen Presse. Das ist sie bis heute ge-
blieben. Nur heiBt die „Guerre so-
ciale14 seit dem 1. Januar 1916 „LaVic-
toire44, und man kann nicht daran zwei-
feln, daB Herve, der friiher die franzo-
sische Fahne auf einem Misthaufen
aufpflanzen wollte und als Anti milita-
rist radikalster Farbung viele Jahre
seines Lebens im Gefangnis zubrachte,
sich heute die Sympathien der radikal-
sten Militaristen erworben habe, —
derart, daB die Zensur ihm zur Zeit der
franzosischen Offensive in der Cham-
pagne die heftigsten Artikel gegen hohe
und hochste Offiziere durchgehen lieB,
denen er vorwarf , daB sie ihre Truppen
gegen Drahtverhaue schiclcten, die
nicht zuvor von der Artillerie zerstort
worden seien. Diese Artikel durften er-
scheinen, gleichzeitig mit denen des
royalistischen Fiihrers Charles Maurras,
worin vom Militarkommando die un-
verziigliche Fiisilierung Herves ver-
langt wurde. Die franzosische Zensur
hatte also wenigstens Methode. Als ich,
nach langer Zeit, wieder einen Artikel
von Herve lesen konnte, war er „An
eine besorgte Seele44 betitelt und
schloB mit der Aufforderung : „0 mon
frere paysan, tu peux tuer ces hommes
avec serenite44 : Mein Bruder, du kannst
diese Leute, die Deutschen, alle, ohne
Gewissensbisse toten, mit erhabenem
Gleichmut. Nicht einmal Karl Lieb-
knecht findet Gnade vor ihm. Er hat
ihn nach alien Seiten gedreht und ge-
wendet, ihn fur unwiirdig befunden
und verurteilt. Wie das kam? Durch
die Enttauschung, die das deutsche
Volk im allgemeinen und besonders die
Sozialdemokraten ihm bereiten muBten.
Er hat, als friiherer Rechtsanwalt,
gegen die deutsche Partei ausfiihrhch,
mit Rede und Gegenrede, den ProzeB
gefiihrt — nicht mehr als der Syndika-
list, der er ein Leben lang mit riick-
sichtslosem Mute war, sondern als
Blanquist, zu dem die Ereignisse und
sein Temperament ihn gemacht haben.
Sein Fall ist typisch. Vielleicht komme
82
Glossett
ich dazu, ihn mit der notwendigen Aus-
fiihrlichkeit zu schildern.
Ich habe den Mann gekannt. Er ist
nicht der Hanswurst, fur den so man*
cher heutige deutsche Radi kale ihn
auf den internationalen Kongressen
halten mochte, — weil er, fur seine
Oberzeugung verurteilt, mit Lachen
und durchaus ohne viel Aufhebens ins
Gefangnis iibersiedelte. Wer wollte
ihn einen Fuhrer nennen? Aber: wo
waren denn unter den Leichenbittern
der deutschen Unentwegten die Fuh-
rer? Vor lauter Demagogen sah man
keine Politiker mehr, vor lauter Schrift-
gelehrten keinen Vlann. Sie mogen
einander, nachdem Bebel und Jaures
tot sind und im Glauben an die letzte
Illusion, die sie mit diesen Namen ver-
kniipfen, voile Absolution erteilen.
„DEMAIN.44
Seit dem 15. Februar 1916 erscheint
in Genf eine Halbmonatsschrift „De-
main*1 die Henri Guilbeaux heraus-
gibt. Sein Programm: „Demain sagt,
was die Presse ihren Lesern sorgsam
verschweigt: Ansichten von Schrift-
stellern, Kiinstlern, Soziologen, die
Menschen geblieben sind, und ver-
offentlicht vielfaltige und zahlreiche
Dokumente aller Art, die nur einigen
Privilegierten bekannt sind.44 In der
dritten Nummer interessieren Zu-
schriften franzdsischer Soldaten: „Ich
kehre heute an die Front zuriick. Ich
kann es nicht, ohne dir ein Bravo fur dei-
ne tapfere Zeitschrift zuzurufen.44 Ein
anderer verspricht, die Zeitschrift ,.viel
herumzuzeigen, um sie bekannt zu
machen44. Die Zeitschrift erscheint bei
J. H. Jeheber in Genf, 28 Rue du Mar-
che. Sie ist bunt, lebhaft, tapfer und in
ihrem Glossenteil ein wahrer Tauben-
schlag, wo sich die sagenhaften Ol-
zweige haufen, Vorboten des Friedens
aus alien Himmelsrichtungen. Der
Herausgeber geht in seiner Auffassung
liber die Probleme, die der Krieg auf-
geworfen hat, weiter als sein Meister
und Freund Romain Rolland, den er in
einer Flugschrift gegen ebenso dumme
wie maBlose Angriffe franzdsischer Li-
teraten und Joumalisten verteidigt hat.
Natlirlich hat die groBe Presse in Frank-
reich getan, wie arofie *Pressen immer
und ungefahr iiberall zu tun pflegen:
sie hat, nach einer langen Reihe sorg-
faltig gesteigerter Injurien gegen Ro-
main Rolland, bei welcher Arbeit der
„ Matin 44 sich besonders hervortat, von
der Verteidigung durch Guilbeaux, die
statt aus Beschimpfungen aus Argu-
menten be stand, keine Notiz ge-
nommen.
PAZIFISMUS.
Diese Zeitschrift rechnet sich nicht
zur pazifistischen Literatur. Ich glaube
nicht, daB wir eine Regelung der
Gegen satze im Leben der Volker, die
beileibe nicht nur wirtschaftlicher Na-
tur sind, erleben werden. Jedenfalls
wird das Ende des Krieges kaum durch
einen „Sieg der Vemunft44 erreicht
werden, ebensowenig wie seine Be-
endigung, sie mag sein wie sie wolle,
die erwahnten Gegensatze aus der Welt
schaffen kann. Es ist und wird eine
Unsumme Kleinarbeit zu verrichten
bleiben, um auch nur die Basis wen ig-
stens fiir eine vemunftgemaBe Rege-
lung von Dingen herbeizufuhren, die
ganz allein Angelegenheiten der Ver-
nunft sind.
Glossen
83
Die Leute irren, die vom Pazifismus
mehr erwarten, als die Herstellung und
— wenn ich so sagen darf — Konsoli-
dierung einer Atmosphare, und tun
den reprasentativen Fuhrern des Pazi-
fismus unrecht. Der Pazifismus ist
keine politische Bewegung, sondern
eine geistige Verfassung, in der Indi-
viduen sich befinden, behaupten und
handeln.
Im dritten Heft der „Internationalen
Rundschau*4 driickt sich ein berufener
Fiihrer des Pazifismus, Dr. Alfred
Fried, also aus:
„Wenn man aber eine Definition
der pazifistischen Bewegung in ihrer
Gesamtheit geben will, so muG man
zu einer negativen Feststellung greifen.
Die Einheit liegt nicht in dem, was
ihre so verschieden gearteten Anhanger
wollen, sondern in dem, was sie n i c h t
wollen. Nur die Ablehnung des gegen-
wartigen Zustandes der zwischenstaat-
lichen Beziehungen und der sich dar-
aus ergebenden Verhaltnisse bildet das
einigende Band der Bewegung.**
Ich mochte den Pazifismus mit der
Enzyklopadie vergleichen: keine poli-
tische Bewegung, aber ein Wille, der
sich, vielgestaltig, auslebt. Es ist leicht
zu sagen, daG etwa Voltaire der An-
stifter der groGen Revolution gewesen
sei. Jedoch, diese war, weit von Vol-
taire, sogar von Rousseau nicht unbe-
trachtlich entfernt, ein politischer Ge-
waltakt, und vortreffliche Kameraden,
die auf der Flote die Macht desGeistes
zu variieren pflegen.mdchte ich — nicht
auf Taine und andere Historiker, nein,
nur gam menschficA und durch das
Beispiel eines Einzelschicksals viel-
leicht liberzeugender, als durch jedes
geschichtliche System, auf das Schick-
sal eines Rivarol hinweisen und zweier
Dutzende von andern Geistigen, die
mit der Explosion des politischen Er-
eignisses aufflogen.
das sie in jeder Weise vorbereitet
hatten,
und das, fur die Oberlebenden, im
Verlauf von zehn Jahren seine Gewalt
gegen sie kehrte nach Gesetzen, die
starker waren, als sie. Der Geist kann
und soli administrieren, die Politik ge-
hort zur Exekutive. Deshalb wird eine
starke Politik immer zur Exekutive hin-
streben. So unmoglich es mir scheint,
einen lebendigen Menschen zu zwei-
teilen in einen „Philosophen** (im
Sinne der Enzyklopadisten und Pazi-
fisten) und in einen brutaleren Poli-
tiker, so sehe ich darum doch nicht
ein, warum der Politiker nicht ein
Philosoph oder der Philosoph ein Poli-
tiker sein solle. Ich erinnere mich an
eine — polemische — Schilderung des
Philosophen Peguy, die den Politiker
Jaures als Interpreten Bergsons und
an den Seineufern hinhallenden Sanger
Hugo’scherStrophen zeigte: im Hand-
gemenge des Dreyfushandels und poli-
tischer Kampagnen. Die Forderung,
die heute dringender ist, als je, bleibt:
die Ablehnung des parteipolitischen
Routiniers als politischen Fiihrers, die
Notwendigkeit, daG ein solcher Fiihrer
ein „Reprasentant seines Volkes44 sein
miisse. Der Reichstagsabgeordnete
Franck, ein friihes Opfer des Krieges
wie Piguy und Jaures, gait fast als
Dandy, weil er zuweilen, im Smoking,
Berliner Theaterpremieren besuchte,
ein anderer deutscher Reichstagabge-
ordneter wurde lacherlich, als ein poli-
tischer Gegner im Reichstag Verse von
ihm vortrug, ein anderer, weil er im
84
Glossen
Theaterbetricb ein soziales Problem
entdeckt hatte, wieder ein anderer, weil
er sich, mit unendlicher Vorsicht, fiir
modeme Malerei interessierte. Da-
gegen wohnte ich in der franzosischen
Kammer einem heftigen Angriff auf
Maurice Barr£s bei, den der Gegner
mit einer keineswegs banalen Wiirdi-
gung des Verfassers von „Le Jardin de
Berenice*4 und anderer „bedeutender
Werke des franzosischen Geistes** ein-
leitete; und wenn in England Bernard
Shaw zuweilen als ein Narr hingestellt
wird, so liegt das teils an seiner un-
iiberwindlichen Neigung, Spasse zu
machen, die ihm ernst sind, teils, beim
Englander, an der Eigenschaft des
Dichters als Kelte. Den haben aber
selbst in England diese Umstande nicht
zuriickgehalten, im politischen Kampf
eine betrachtliche politische Rolle zu
spielen. Der Politiker fiihrt aus, der
Schriftsteller bereite die Politik vor.
Das zweite Kaiserreich zerbrach in
Sedan. Wer kann wissen, ob es nicht
Sedan iiberlebt hatte, wenn nicht Mil-
lionen Kopfe durch „Napoleon le
Petit**, die „Chatiment$*' und einige
hundert andere, minder bedeutende
Geisteswerke auf die Katastrophe vor-
bereitet gewesen waren ?
Victor Hugo beging iibrigens einen
grofien Fehler, den Politiker wie Ben-
jamin Constant, Chateaubriand, La-
martine, Renan, Barres sorgfaltig ver-
mieden: er machte aus dem Red-
nertisch des Senats eine Biihne fiir
literarische Kleinkunst. Also konnte er
keine direkten politischen Erfolge da-
vontragen. Bei uns hat Friedrich Nau-
mann die Stellung eines Reprasen-
tanten des geistigen Deutschland mit
Erfolg erstrebt. In jeder Partei sitzen
ein paar, die mehr, als parteipoli-
tische Kampfhahne sind, Konrad Haus-
mann und Haas bei den Freisinnigen,
ein halbes Dutzend im Zentrum, Calker
bei den Nationalliberalen — die, sollte
man meinen, in dieser Beziehung eine
gewisse Tradition haben — einige, die
nie sprechen, bei den Konservativen,
die wenigsten unter den Sozialdemo-
kraten. Aber wer wiiBte nicht, daB sie
von ihrem Wissen um Geistiges bisher
einen schamlos priiden Gebrauch ge-
macht haben, in der Hinterstube von
Zeitschriften und in den Wandelgangen
des Reichstags, wo die bequemen Klub-
sessel stehn ?
Damach wird man es mir nicht libel-
nehmen, wenn ich Adolf Grabowsky
die grofite Achtung bezeuge, von dem
ich nicht weiB, welche Erfolge er in
seiner — der freikonservativen Partei —
haben wird, der aber fiir seine Sache,
die ganz und gar nicht die meine ist,
seine ganze Person einsetzt in einem
MaBe, daB nicht einmal das Geschwatz
seines Mitarbeiters Oskar A. H. Schmitz
ihn kompromittieren kann? Er war
kulturkonservativ, lange, bevor andere,
seine Gegner, bei Ausbruchdes Krieges
sich plotzlich zu Kulturkonservativen
aufrafften, er machte, neben der„Zeit-
schrift fiir Politik*1, das „Neue Deutsch-
land**, an dem sich seither „bewuBt°
gewordene Journale wie die „Siid-
deutschen Monatshefte** ein Beispiel
nehmen sollten, und war und ist und
bleibt, durch all das, in all dem ein
Dichter von Rang, der Schopfungen
des kiinstlerischen Geistes mit ganze m
Herzen aufnimmt und die geringste
geistige Anregungmit Jeidenschafthcher
Freudeannahme. Ichwiinschte.er saBe
auf den Banken der Freikonservativen
Glossen
85
imParlament und gewanne seine Partei-
genossen fur den unvermeidlichenRiick-
zug auf die nationale Kultur, der sich,
bei den konservativen Parteien der
andem europaischen Lander, langst
vollzogen hat. Denn es ist klar, dafi
von seiner Partei in zwanzig, in fiinf-
zig, in hundert Jahren nichts mehr
bestehen wird, wenn sie diesen Weg
nicht einschlagt.
Man braucht Gegner, um vor warts
zu kommen, und je besser sie sind,
desto besser wird die nationale Politik
sein, die der Angelpunkt fiir alle Politik
bleibt — und der Weg zur Verwirk-
lichung aller Utopien.
Der Pazifismus?
Keine Partei. Keine politische Be-
wegung.
Die Diagnose einer Krankheit, an
der die Menschheit gesunden kann.
*Rudo(f OCayser erinneri an
Wienbarg.
In Ernst Joels „Flugblattern an die
deutsche Jugend, ausgegeben von der
Berliner Freien Studentenschaft*4 hat
Rudolf Kayser das 12. Heft mit Bruch-
stiicken aus L. Wienbargs: „Astheti-
schen Feldziigen44 gefiillt. Er bemerkt
dazu in einem kurzen Vorwort:
„Es ist von deutschen Manifesten
zwischen Lessing und Nietzsche der
hellsten und wichtigsten eines, mit
kiihner Leidenschaft geschrieben. Es
ward das Programm jener die Romantik
ablosenden Literaturrichtung des ,jun-
gen Deutschland*. Miide des Astheti-
zismus und passiven Individualismus,
unter den Wirkungen der Julirevolu-
tion und der politisierenden Philo-
sophic Hegels erhoben die Jungdeut-
schen ihre Forderungen: das Denken
auf die Wirklichkeit zu lenken, die
Kunst wollend und politisch zu
machen . .
Aus den Bruchstucken seien einige
Satze hervorgehoben :
„Dir, junges Deutschland, widme
ich diese Reden, nicht dem alten. Ein
jeder Schriftsteller sollte nur gleich von
vornherein erklaren, welchem Deutsch-
land er sein Buch bestimmt und in
wessen Handen er dasselbe zu sehen
wiinscht. Liberal und illiberal sind Be-
zeichnungen, die den wahren Unter-
schied keineswegs angeben. Mit dem
Schilde der Liberalitat ausgeriistet sind
jetzt die meisten Schriftsteller, die fiir
das alte Deutschland schreiben, sei es
fiir das adlige, oder fiir das gelehrte,
oder fiir das philistrose alte Deutsch-
land, aus welchen drei Bestandteilen
dasselbe bekanntlich zusammengesetzt
ist . . . Dir, junges Deutschland.widme
ich diese Reden, fliichtige Ergiisse
wechselnder Aufregung, aber alle aus
der Sehnsucht des Gemiits nach einem
besseren und schoneren Volksleben
entsprungen. Ich hielt sie als Vor-
lesungen auf einer norddeutschen Aka-
demie, hoffe aber, sie werden den Ge-
ruch der vier Fakultaten nicht mit sich
bringen, der bekanntlich nicht der
frischeste ist. Ja, begeisternd ist der
Anblick aufstrebender Jiinglinge, aber
Zorn und Unmut mischt sich in die
Begeisterung, wenn man sie als Ziicht-
linge gelehrter Werkanstalten vor sich
sieht. Sklaverei ist ihr Studium, nicht
Freiheit. Stricke und Bande miissen
sie flechten fiir ihre eigenen Arme und
FiiBe, dazu verurteilt sie der Staat. Die
Glossen
Ungliicklichen, wie haben sie mich ge-
sucht und geliebt, als ich ihnen die
Freiheit wenigstens im Bilde zeigte ...
Zu warnen aber sind junge Manner von
Kraft und Talent, sich nicbt unbedacbt
jener edlen Tauschung hinzugeben, als
ob sich dennoch ein zeitgemaBer und
volkstlimlicher Wirkungskreis fiir sie
auf unsern Universitaten erschwingen
lasse . . . Denkt daran, daB alle groBen
Deutschen der neueren Zeit nur zu
ihrem Ungliick deutsche Universities-
lehrer geworden sind, daB ein Fichte,
Schelling, Niebuhr, Schleiermacher,
geborene Tribunen des Volkes, fiir das
Volk und ihren eigenen hoheren Ruhm
verloren gegangen sind. Fichtes Reden
an die deutsche Nation verhallten nicht
bloB deswegen in den Wind, weil die
Nation taub war, sondern weil zwischen
ihr und ihm eine Scheidewand aufge-
richtet war, die selbst Fichtes eherne
Stimme nicht zu durchdringen ver-
mochte . . .
Betrachte ich die geistige und leib-
liche Lebendigkeit j’ugendlicher Volker,
z. B. einst der Griechen und unseres
eigenen Volkes und vergleiche diese mit
den curopaischen der Gegenwart, so
sehne ich mich unter jenen geschichts-
losen Menschen zu leben, die nichts
hinter sich sehen, als ihre eigenen Fufi-
stapfen und nichts vor sich als Raum,
freien Spielraum fiir ihre Kraft . . . Wir
sind krank an unserer Historic, und wir
werden vielleicht dariibcr hinsterben,
ehe wir uns den Mut fassen, den un-
heilbaren Sitz unserer Krankheit ein-
zusehen und uns dem wunderbaren
Genius anzuvertrauen, der verjiingend
durch die Welt schreitet. Jedoch steht
dem Triibsinnigen, das in dieser An-
sicht fiir uns liegt, der Spruch der Hoff-
nung gegeniiber, daB ein Augenblick
alles umgestalten icann, so im Schicksal
des Einzelnen, als im Schicksal der
Volker und Nationen. Was aber der
Jugend, als dem Element im Staat, das
die neue Geschichte bildet, jedenfalls
obliegt, ist der feste Vorsatz, nach
Kraften den bezeichneten Weg einzu-
schlagen, ist der feste Wille, sich immer
entschiedener von der Liige loszu-
sagen, immer deutlicher sich des
Gegensatzes zwischen dem Alten und
Neuen bewuBt zu werden, jung und
jugendlich zu leben, das Handwerk
fahren zu lassen und die Kunst zu er-
greifen, das Unschone in Wort und Tat
an sich und andem nicht zu dulden,
ihr Ohr dem Wehen des nahen Geistes
nicht zu schlieBen und, weder ge-
dankenlos und leichtfertig dahinlebend,
noch schwermutig briitend, die Bliiten
des Lebens und der Wissenschaft mit
jugendlicher Unschuld und Heiterkeit
zu pflegen.
Es muB anders werden, das sollte
das Gefiihl sein, das sich aller bemach-
tigte . . . Bildung ist ein weites Wort
und laBt sich viel darein fassen . . .
Wo die Grundwurzel dieses Obels
liege, ist leicht abzusehen. Die Grie-
chen hatten’s Ieichter, sich zu bilden,
sie wuchsen schon als Kinder in solche
Bildung hinein. Religion, Politik, Mo-
ral, der Himmel selbst begiinstigte sie.
Wir haben es dagegen schwer, oft ist
uns alles entgegen, wir werden von friih
auf hierhin gerissen, dorthin gerissen,
sind eine Beute der widersprechend-
sten Neigungen und haben nirgends
einen breiten sichem Grund, urn in Ge-
meinschaft mit andem darauf fortzu-
wandeln. Es mangelt uns an groBen
gemeinsamen Zwecken, es mangelt uns
Glosscn
am offentlichen Leben, und warm die
Schwingungen des griechischen Geistes
zwischen Wissenschaft und Staat, zwi-
schen Wahrheit und Schonheit, zwi-
schen Religion und Poesie, zwischen
Himmel und Erde gleichmafiig hin und
her gingen und sich nie aus der Bahn
entfemten, so schwanken die unsrigen
ohne rechtes MaB bald zu der einen,
bald zu der andern Seite liber, und es
konnen in einem Hause der tiefsinnigste
und abstrakteste Philosoph, der plattste
Lebemensch, der wiitendste Demagoge
und der ledernste Philister wohnen.
Es f ehlt uns also an gemeinsamen Mit-
teln der Bildung, weil es uns an AuBer-
ungen des gemeinsamen Lebensfehlt . . .
Das bloBe Wissen hat kein inneres
MaB und Ziel, es geht ins Unendliche,
sein Stoff zerflieBt in Zenttrillionenteil-
chen . . . Wissen als solches kann nicht
Aufgabe und Zweck des Lebens sein,
weil dasselbe mafilos mit dem An-
wachsen des Stoffes sich selbst zerstort
und aufhebt44 . . .
*
Wienbargs Aufrufe sind mehr als
achtzig Jahre alt, Aber: es lebe der
Optimismus! Rudolf Kayser schrieb
in Kurt Hillers Sammelbuch „Das
Ziel44, das in diesem Jahr erschien, den
Aufsatz: „Krieg und Geist44 ; er gipfelt
in einem Kredo:
„Dem deutschen Geiste ist es bis
heute nicht gelungen, sich in ahnlicher
Weise wie der franzosische und der
englische Geist politisch auszupragen.
Die Forderung Lagardes, den Staat in
einen Zustand iiberzufiihren, der mit
der Nation wie eine Haut wachst und
sich andert, hat sich bei uns am wenig-
sten realisiert. Im deutschen Reiche
ist eher ein Regime symbolisiert, als die
in ihm lebende Nation und ihre Kultur.
So ist es kein Wunder, daB die Wege
des deutschen Geistes und des deut-
schen Reiches bislang in verschiedenen
Ebenen liefen. Fiirchtete Nietzsche ja
sogar ,die Niederlage, ja Extirpation
des deutschen Geistes zugunsten des
deutschen Reiches*. Dieser Gefahr
sind wir durch den gegenwartigen
Krieg nicht nur entronnen, sondern
weit mehr ist gewonnen: zum ersten
Male fiihlen sich in Deutschland Geist
und Staat zusammengehorig, sie sind
gemeinsam bedroht.
Aus dieser Tatsache erwachsen For-
derungen fur die Zukunft. Nicht, daB
ich sie als den ,Zweck4 dieses Krieges
verkiinden will. Es handelt sich viel-
mehr darum: das wirklich Schopfe-
rische dieser Tage fiir die Zukunft zu
sichem. Und dies ist vor allem: die
gegenseitige Durchdringung der Inter-
essen des Staates und des Geistes.44
Und Rudolf Kayser schlieBt:
„Wir wissen nicht, welchen Weg
dieser Krieg uns offnen wird, wohl
aber, daB ein neuer Weg beginnt. Ihn
wollen wir schreiten mit dem stahl-
harten Willen zur Tat. Wir machen
augenblicklich die furchtbarste Schule
des Aktivismus durch. Die Erfolge
werden und diirfen nicht ausbleiben.
Wir hatten uns dem politischen Leben
entfremdet, seitdem die offentlichen
Parteien aufhorten, Leidenschaften zu
sein. Sie begingen mehr oder weniger
den Selbstmord des Tolerantseins, im
Dienste des politischen Geschafts, in
Verleugnung ihres eigenen Wollens.
.Parteien dulden sich/ Damit ver-
loren sie die Moglichkeit, dem Geiste
zu seiner Auspragung im Staate zu ver-
helfen. Der Geist wird nunmehr selbst
Glossen
Poiitik treiben und in ihr seine Formu-
lierung finden. Dann werden such die
Verflachungen des Denkens und die
wirtschaftlichen Auswiichse einer zur
Bliite gekommenen Bourgeoisie nicht
wiederkehren wie nach Deutschlands
letztem Siege.
Die neue Geistigkeit wird nicht im
Nationalismus stecken bleiben, sondem
wie friiher das Schopferische aller Vol-
ker aufnehmen und verarbeiten. Nur
daB sie den Staat und seine Schicksale
nicht mehr gleichgiiltig beiseite laBt
und dadurch Gefahr lauft, auch die
Nation zu verraten. Der Geist wird
das Blut im Staatskorper Deutschlands
werden, und diese Zusammengehorig-
keit wird beider Leben bereichem.44
‘Frans 9Caver Schmitt.
Carf Ginsfein.
,/Wir sind des Wialefaikers, des
<Jc6auspielers,ja des asfcetischen
tisten (dieses weifien Gammes) liber*
drdssig — wir fordem Pilcher, wefche
die Ulandlungen sidrfcen und organi*
sieren, Wilder, ohne die Uiemmungen
des verfdhrenden IKostdms , welch e
die 5 e si cite steigem "
( ‘PofititcA* &nm*r£ungtn. 1912.)
Wichtiger noch als in normalen Zeit-
lauften ist es jetzt, sich auf das zu be-
sinnen und dariiber sich Rechenschaft
Handbreit vor dem eigenen Schild,
aber den wenigen, die vorausschntten
und steilere Wege bereiteten, ihres
Lohnes kein Tiipfelchen mehr vorent-
halten bleiben. Schwerer wird dann
das Gewicht ihres Werkes sich er-
weisen und ihrer stillen Stetigkeit ge-
rechte Wiirdigung und mehr als das
beschieden sein.
Carl Einstein ist ein solcher Organi-
sator, Schrittmacher der Kommenden,
eine Stimer-Natur mit RichtmaB und
Femglas. In der standhaft zielentschlos-
senen Zeitschrift „Die Aktion** finden
sich zuerst Aufsatze von ihm liber
literarische, politische, psych ologische,
kunstkritische Probleme, eindringlich
intellektuelle Arbeiten, die oft in wenig
Zeilen Anregendes, Bereicherndes fur
lange bargen und das wohlausgeriistete
Gedankenatelier eines Kopfes von elast-
ischer Oberlegenheit und gesch&rfter
Sehkraft enthiillten. Skizzen wie MLe-
gende44 (April 1913) oder „Der Ab-
schied44 Qxi\\ 1913) muten wie Vor-
studien an, und in dem Essay ttOber
den Roman44 (1912) war schon ein
exaktes Programm aufgestellt : der
ganze plauschende Hokuspokus land-
laufiger Belletristik (philosophischer
Schwa tz, Anekdotenkram, Lyrisches,
Schilderung) ist abzutun ; „das Absurde
zur Tatsache machen I Kunst ist eine
Technik* tatsachliche Bestande und
Affekte zu erzeugen.44 Anwendung und
Beweis dieser Theorien soil dann der
abzulegen, was an neuen Werten vor- Roman „Bebuquin oder die Dilettanten
handen ist und der Zukunft wartet, zu des Wunders44 sein, (erschienen im
sammeln fur die helleren Tage, wenn Verlage der Wochenschrift „Die Ak-
die Wasser sich verlaufen haben und tion44, Berlin- Wilmersdorf 1912), ein
der Berge Spitzen wieder hervor- Paradigma, mit dem eine neue Epoche
kommen. Dann wird vieles schweigen derEpikbegonnen werden diirfte.Statt
miissen, was nicht weiter sah, als die Erzahlerei, Reporterlust,
Kinonahe
Glossen
89
noch der bestgebauten „Geschichten44
alten Stiles soli hier eine Disziplin Fi~
gur werden, die voller Entwicklungs-
moglichkeiten steckt . Statt des im Grun-
de nicht mehr sehr variablen Aufiens
wird der tausendfaltige, noch unange-
tastete Schatz des Innens in Angriff
genommen von einer Hand, die den
diffizilsten Apparat sicher zu bedienen
weiB. Kein irgendwie in Personen oder
Sachen eingehakter Konflik spielt sich
zwischen den bekannten Kulissen einer
stets vorratigen Korperwelt ab, sondern
nicht mehr und nicht weniger als die
ganze Tragikomodie des Intellekt-Le-
bens (die Geographic des Kosmos
„Hirn“) wird zum erstenmal als Stoff-
gebiet epischer Belichtung freigemacht
und zurDebatte gestellt. Jetzt geht es
um Komplizierteres, als um Zufall-
hemmungen und Augenblickshinder-
nisse, die ein Arrangement im Husch
erledigt — der hartere Kampf des Er-
kennens ist das Motiv mit alien seinen
Ekstasen, Gebeten, Grotesken, Bit-
ternissen, Winkelziigen, Widersprii-
chen und unstillbaren Sehnsuchten
liber jede Erfiillung hinaus. („Stoff-
losigkeit, Stofflosigkeit44, knirschte er
vor Wut.44) Neue Hollenwanderungen
sind zu bestehen, aber die Purgatorien
heissen Logik, Erotik, Ideologic, Ro-
mantik, Selbstbetrug, und der Tod ist
mehr, als Losung der Dissonanzen und
erhalt endlich seine schlichteste Ver-
klarung. Einem so exklusiven Futuris-
mus (im besseren und besten Sinne
des Wortes), der heut noch in trost-
loser Einsamkeit dasteht, bleibt kaum
etwas anderes iibrig, als sich die
Schwermut seines Abseits durch Ironie
zu erleichtern, und natiirlich verfiihrt
schon das BewuBtsein einer exponier-
ten Souver&nitat dazu, gelegentlich aus
seinem Gesetz eine Akrobatik zu ma-
chen. „Kein Ding gerat, an dem nicht
der Obermut sein Teil hat44, heiBt es
bei Nietzsche. Man darf ja auch nicht
vergessen, daB Einstein sich faktisch
erst die seinem Wollen entsprechende
neue Sprache schaffen muBte, daB er
also gezwungen ist, manchmal gleich-
sam durch ein Kunststiick sich selbst
zu iiberbieten. Abgesehen da von und
abgesehen von einer gewissen Anamie
hat das Buch doch die Konsequenz
und dasGIeichgewicht seiner erstrebten
Struktur, und man wird spater hier
ankniipfen, und GrundriB seiner neuen
Gattung wird diese Bild gewordene
Philosophic werden, dieses konzen-
trierte, unmittelbare Denk-Epos, in
dem der Tatbestand bis zur Durch-
sichtigkeit gelautert und das Schwingen
an burlesken Trapezen noch artistisch
grazios und beherrscht ist. Es ist ein
Aussichtspunkt in die Zeit hinein, wo
der Geist wieder mehr vorstellen, wo
das Groschenleid der Herzen oder der
Hiillen nicht mehr so erschiittemd
genommen und der Oberschlag allge-
mein sein wird, daB die Erregungen
der Seelen immer etwas Aufgepappeltes
und Kitschnachbarliches behalten, der
Geist aber Explosionen, Jagden,
Schlachten und Triumphe schenken
kann, die unvergleichlich rein und
fruchtbar sind. Und dafi der Geist das
energische und machtvolle Agens zur
Zukunft ist!
Wie diese Zukunft schon heut in
den Kompositionen bildender Kunst
sich andeutet, das zu untersuchen, un-
ternahmen Einsteins Kundgebungen
iiber Ausgestelltes, Maler, Malerkritiker
und dergleichen. Und von der Orien-
Glossen
tierung iiber Tendenzen, die er dabei
vorfand, kam er als zu einem mogli-
chen gemeinsamen Ausgangspunkt zur
Negerplastik, der er einen grundlegen-
den Band widmet. Der Verlag der
WeiBen Bucher in Leipzig bringt ihn
in schlechthin idealer Ausstattung her-
aus. In ein paar knappen Kapiteln von
strammem GuB wird ein Bezirk, der
bisher so gut wie verschiittet und ver-
achtet liegen geblieben war, vom grdb-
sten Unrat gesaubert, und ein hoff-
nungsvolles Gebiet, das AnmaBung
und Vorurteil versperrt hielt, in seiner
Fruchtbarkeit entdeckt und ernsthafter
Verwertung zuganglich gemacht.
Geradezu vorbildlich fur Kunstkom-
pendien jeder Art mochte ich die An-
lage des Buches nennen, insofern sie
den Hauptakzent auf Anschauung legt
und den einundzwanzig Seiten Erlau-
terung mit hundertundneunzehn Seiten
untadelhaft reproduzierter Bildtafeln,
vor denen man in Andacht versinken
und den ganzen Hellenismus wie eine
gekrauselte Operettengelecktheit preis-
geben kann, eine zureichende Kon-
trolle und Bestatigung verleiht. Ober-
zeugend, in pragnant festlegender For-
mulierung wird ein kurzgef aBter Kanon
fur eine besser zu informierende Wis-
senschaft gepragt. Der Neger und seine
Kunst erfahrt eine glanzende Ehren-
rettung, und die afrikanische Plastik
wird gegeniiber unsrer eignen, konti-
nentalen, stark von malerischen Surro-
gaten durchkreuzten als die ungemin-
derte und restlose Lei stung des Drei-
dimensionalen, Kubischen erwiesen.
„Die Negerplastik hat isoliertdie reinen
plastischen Formen geziichtet44, sie
gibt „eine klare Fixierung des unver-
mischten plastischen Sehens gegeniiber
den uns gelaufigen, europaischen Aus-
weg-Losungen44. In praziser Gliede-
rung werden diese Sichtungen und
Bescheinigungen herausgefeilt und ein
gehaltvolles Werk von bedeutender
Tragweite aufgestellt, dessen beilaufige
Glossen uber die Methode, das Tato-
wieren, die Maske, den Egoismus des
Beters (wieder an Stirner gemahnend)
ein ganzes Rudel tiefersondierender
Priifungen in Schwung setzen miissen.
Eine Abanderung des Einstein-Por-
trats schlieBlich nach der politisch-
literarischen Betatigung hin wiirde den
gekennzeichneten UmriBbefund nicht
verandern, sondern nur noch nach-
driicklicher bekraftigen, und es be-
hauptet sich dies Bild eines Zukunft-
Ingenieurs mit geiibten Augen, der die
Zusammenhange und Beziehungen zu
Stembildern verheiBungsreicher Deu-
tung ordnet und iiber dem Tor seiner
von Licht erfiilltenWerkstatt als Motto
und Willkommen die Strindbergsatze
zeigen darf:
„Was ist deine groBte Freude ?“
„Einen neuen Gedanken gebaren I44
fflax {HeTrmann'fteisse.
NOTIZ.
Das Manuskript des vierten StQckes von
Eduard Bernsteins Erin ne ru nge n: MIn
Zurich** brauchte so viel Zeit filr seine Reise
von Berlin hierher, daB es erst im nSchsten
Heft verdffentlicht werden kann.
Die Sammlung
Der jungsteTag
bringt in zwangloser Reihenfolge Schopfungen der jungsten
Dichter. Vorerst sind folgende Bande herausgekommen :
Bd. 1. Franz Werfel: Die Versuchung. Ein Gesprach.
„ 2. Walter Hasenclever: Das unendliche Gesprach. Eine
nachtliche Szene.
„ 3. Franz Kafka: Der Heizer. Eine Erzahlung.
„ 4. Ferdinand Hardekopf: Der Abend, Ein Dialog.
ff 5. Emmy Hennings: Die letzte Freude. Gedichte.
„ 6. Carl Ehren stein: Klagen eines Knaben. Skizzen.
„ 7/8. Georg Trakl: Gedichte.
f# 9. Francis Jammes: Gebete der Demut.
„ 10. Maurice Barr&s: Der Mord an der Jungfrau.
„ 11. Paul Boldt: Junge Pferdel Junge Pferdel Gedichte.
„ 12. Ottokar Bfezina: Hymnen.
,, 13. Berthold Viertel: Die Spur. Gedichte.
„ 14. Carl Sternheim: Busekow. Eine Novelle.
„ 15. Leo Matthias: Der jungsteTag. Ein groteskes Spiel.
„ 16. Marcel Schwob: Der Kinderkreuzzug. Erzahlung.
„ 17. Gottfried Kolwtl: Gesange gegen den Tod.
„ 18. Paul Kraft: Gedichte.
„ 19. Carl Sternheim: Napoleon. Eine Novelle.
„ 20. Kasimir Edschmid: Das rasende Leben. Zwei
Novellen.
„ 21. Carl Sternheim: Schuhlin. Eine Novelle.
„ 22/23. Franz Kafka: Die Verwandlung. Eine Novelle.
„ 24. Ren6 Schickele: Aisse. Aus einer indischen Reise.
„ 25. Johannes R. Becher: Verbriiderung. Gedichte.
Einzelne Bande: Geheftet M. —.80, gebunden M. 1.50
Doppelbande: Geheftet M. 1.60, gebunden M. 2.50
KURT WOLFF VERLAG • LEIPZIG
VERLAG VON EGON FLEISCHEL & Co. :: BERLIN W 9
Ein deutscher Casanova
Die Abenteuer, Liebschaften und Erlebnisse einet napoleonischen Officers
Vierzig Jahre aus dem Leben einesToten
Herausgegeben und bearbeitet von ULRICH RAUSCHER
3 B&nde. Geh. M. 9. — ; geb, M. 12. — ; in Luxus-Einband M. 18. —
Au* dem Aufsatz »Krieg und Frieden44 von Hans Friedcberger in
nDaa literarische Echo44* In einem Reichtum von Einzelheiten, den eine Be-
tprechung nicht einmal anzudeuten vermag, erttehen diese vierzig Jahre vor dem Lever,
eine Falle der Gesichte von Goethe bit zu Lortzing und von Napoleon bis zu Robert
Blum. Will man die Zeit von der groBen bis zur Julirevolution in ihren ldeinen Ztigen
kennen lemen, so wiiBte ich kaum einen besseren, sicher aber lceinen kurzweiligeren
Begleiter al* Conrad Friedrich, den franzosisch-preuBischen Offizier.
Aus dem FeuiUeton von Alfred Bock im Stuttgarter Neuen Tageblatt *
Ich sage es vorweg : Dies ist eines der unterhaltendsten, f esselndsten, in seiner Art be-
deutendsten Memoirenwerke, das mir je vor Augen gekommen ist. — Nach der ein-
gehenden Besprechung: Von der Fiilie seltsamer Begebnisse, kriegsgeschichtlicher
Vorfuhrungen, interessanter Erlebnisse und erotischer Entrefilets, die das dreib&ndige
Werk in sich vereinigt, konnte hier nur andeutungsweise die Rede sein, es liest sich
wie ein spannender Roman (spannend im beaten Sinne des Wortes gebraucht), aber
auch der Kulturhistoriker kann irilnftig nicht daran vorflbergehen.
Neuidealismus im Geiste von Fichte und Lagarde
DIE TAT
Monatsschrift fiir die Gestaltung deutscher Kultur
Vierteljahrlich M. 3.— . Der Jahrgang beginnt am 1 .April
Die TAT steht neben der #,HILFE“ von Fr. Naumann und dem
ftKUNSTWART44 von Ferd. Avenarius, sie ist sozial-religios betont
und sieht ihre Aufgabe weniger in „orientieren‘\ „werten4< oder
„warten4\ sondern in demVerkniipfen von Lebendigem mit Lebendigem.
Sie ist aggressiv, denn sie tritt fiir den sckaffenden Geist ein und es kann
in ihr jede ketzerische Meinung gesagt werden, sofem sie aufbauend ist:
durch die selbstandige Einzelpersonlichkeit zur Allge-
meinheit, durch die Allgemeinheit zur Einzelpersdnlichkeit.
Man verlange eine Probenummer!
Eugen Diederichs Verlag in Jena
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Orioina
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i! I a
"IlUAh
Ludwig Rubiner ♦ Uas himmlischt Lichi 9 1
J2> udwjg H{ubmer:
DAS HIMMLISCHE LICHT
XnV.X.
Kamerad, Sie sitzen in Ihrem Zimmer allein, unter Menschen
schweigen Sie still.
Aber ich weifi meine stummen Kameraden hunderttausend
auf der Welt, zu denen ich reden will.
Wir waren noch klein, da erhob zu uns die Erde ihr bergiges
Schmerzensgesicht
In unsre Zehen bebte femes Geland, von Sturz und Strudel
urns Licht.
Die Menschen in schlaffer Geilheit und trag liebten die Erde
nicht mehr,
Aber die Erde schrie, wir horten sie nicht, und sie donnerte
Zeichen her.
0 mein Freund, glauben Sie nicht, was ich Ihnen sagen werde,
sei neu oder interessant.
Alles, was ich Ihnen zurufe, wissen Sie selbst, aber Sie haben
es nie aus rundem Mund laut bekannt.
Sie haben es zugedeckt. Ich will Sie erinnem.
Ich will Sie aufrufen.
Denn Gott rief die Erde fiir uns alle auf.
Seine Stimme hauchte aus dem Untermeer Vulkan,
der in der Siidsee in die Lun ..~e.
Die kleine Kraterinsel Krakatao stiefi den brennenden Atem
Gottes aus der Erde.
7
92
Ludwig Rubirter ♦ Das himmlische Licht
Explosion. Der Ozean spritzte liber die Erde, unvergessen
in dreiflig Menschenjahren.
Neues Menschengeschlecht, und das Jahrhundert war lang
zu Ende.
Aber aus dem Pacific brannte der Feuerwind des Krakatao
in unsere Herzen.
GEBURT
Vor unsrer Geburt, in der griinen Siidsee platzte die Erde
und das Wasser,
Tausend Menschen saBen wie Schnecken auf grofien Blattern
in Hiitten und versanken keuchend.
Vor Marseille fielen die roten Schiffe um, das Meer schlug
vom Mond herab.
Die Dampfer schnurrten in den Abgrund, lacherliche Insekten.
Als wir geboren wurden, zog Feuer durch die Luft.
Die Schwarme des Feuers flogen um die Erde.
Wehe, wer nicht sehen wollte!
Tausend Menschen, still heckende Schnecken, waren zu
Staub zerplatzt.
Die Tage erbhchen fur die gliihenden Abende.
Die Nachte schwangen rote Palmblattflammen iiber Berlin,
Die Abende waren gelbe Tiere liber der FriednchstraBe.
Berlin, aus spitzen Platzen, grauen Nebenstrafien, quoll das
Blau der Vulkane.
Die Frauen waren alle allein, die Manner reckten sich auf.
Die Schenkel liefen durch Berlin, heifie Haarberge bogen hoch.
Die Sonne ging immer unter. Die Abendstrahlen, heiB, quollen
aus den Mannern.
Die Hauser waren kalkig und bleich. Durch dunkle Zimmer
wankte die Stadt, die Blinde.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Lie hi
93
Wir wurden geboren, Strahlenlicht kreiste abends iiber unseren
Miindem,
Griine Siidsafthiigel hingen vom Mond iiber uns;
Wir rissen unsere Augen von unserem Blut auf.
Der Himmel flog iiber alle Strafien der Stadt.
In der Vorstrafie aus Zaun und Stein wartete die grauhaarige
Mauerdime auf die Soldaten.
Wir wuBten, dafi es andere Lander gibt.
In moblierten Zimmem sannen russische Stimen iiber Bomben-
attentaten.
In den Vari£t& wurden die sieben englischen Puppenmadchen
geliebt.
Die Menschen sitzen in schwarzen Rocken, essen und werden alt.
Am griinen Kanalufer schleppt man Leichen auf den Asphalt.
Die hohlen Hauserwande waren lose und grau.
Kamerad, Sie liefen die Strafie auf und nieder, Sie waren blaB
vor dem heiligen Panoptikumsbau.
Aus dem miifiigen Durchhaus der ganz Erwachsenen schoben
frisch geschminkt weiBe Weiber mit dicken Bauchen.
Reisende in alten Barten bebten betaubt vor Biichem und
verklebten Photographien.
Driiben : starre Inseln in Sonne, Baume auf gelbem Kies,
Banke, selige Hotels.
Unter den Linden gingen die verschleierten Auslanderinnen
mit den frierenden kleinen Hunden.
Kamerad, Sie liefen bleich tauchend bis zum Durchhaus,
weihevoll.
Die FriedrichstraBe fiel zu Boden. Abendherzen im Strahl
schwebten auf Nebengassen.
Die
stand mit Sternen in Ihnen, der Tag war noch
Die Menschen waren dick und rauchten Zigarren. Niemand
Die
sah Sie an.
Abendbrand. die Hauser
zerfielen
31 VoL m/1
Ludwig Rubiner ♦ Das himmlische Licht
94
<JSC
Die Menschen gingen schwer.
Kamerad, Sie waren ailein. Niemand hatte das Licht gesehen.
Um die Erde spriihte der siidliche Schweifi des Vulkans.
Niemand sah. Berlin schmatzte rollend.
Es war nicht mehr Licht durch buntes Abendglas,
Nicht mehr Fackelwogen hinter Spielpapier:
Flammenschirme vom Himmel bogen um unseren Kopf.
Die Luft schmolz im langen Lichtwind iibers Feld,
Drunten lag der harte Sand rotlich wie getretener Mob.
Wir heulten ins Grime iibers Tempelhofer Feld.
Vor schwarzen Fensterschwarmen der schweiCigen Hinter-
hauswande
Stiefien wir unsere Flugdrachen hoch in die Windfarben und
sogen den Glanz.
Berlin, Ihr dachtet an Geld.
0 Kleinstadte der Welt, iiber euch tropften die Farben alle
Abend, ehe Silber und Blau kam.
Kamerad, Ihr Jungenhaar zackte schwarze drohende Felsen
iiber den gepfeilten Brauen.
Sie haBten den blassen Schimmel der schlaffen Hausdacher.
Wir kannten uns nicht.
Ich rannte gefrafiig umher, blond unter Papierlatemen zum
Larmplatz. Glaserne Lichterkranze. Greise Zauberclowns
schrien in papieme Trompeten.
Ich nahm meine dunkle Schwester, zarte Knochel, in die
feuchte Ringkampferbude.
Damals liebte ich sie so.
O waren wir ausgeriickt!
Wir saflen in verdorrten Halbgarten. Soldaten tranken aus
Bierseideln.
Wir sahen durch griine Stuhllehnen auf holzerne Karussels.
Vor alten Frauen in Wiirfelzelten zerfransten sich gegossene
Glasvasen.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
95
Wir griffen unsere Hand zum letztenmal. Wir warteten.
O vielleicht stand das feurige Licht gleich an unserer Haut:
uns alien!
0 wir wuGten alles. Die grline Farbe glanzte am Wirtshaus-
stakett
(Einmal gab es wohl Zeiten, da griinten die Friihlinge so fett.)
Es war alles fur uns und fur die anderen gemacht,
Aber friiher waren die Tage dumpf und grau, und dies gait als
Pracht .
Wir sahen uns an, hinter ihren Augen braun und im vier-
zehnten Jahr
Schwamm Hingabe, wie Blutstropfen rollte ihr Lacheln zum
Hals, weil das neue Licht um uns war.
Die Buden kreischten, eine Tombola knarrt, rote Dienst-
madchen traumen selig und taub,
Wir wufiten, so war friiher ein Fest, bald stehn hier Hauser
in steinernem Staub.
Warum sieht niemand das Licht? Um uns ist das Licht. Die
Erde stofit leuchtende Brunnen empor,
Glutlocher im Himmel, brennende Riesenschornsteine von
Glas, Lichtsturzstufen herab wie eines Wasserfalls
strahlendes Rohr.
Wie Pilze klein verwittern griinliche Buden um Limonadenlicht
und larmfarbenes Friichte-Eis.
Wir beide waren spriefiende Walder, wimmelnde Erdteile in
Himmel und Licht, um unsere Glieder flofi das helle Meer.
Wir waren uns fremd. Wir wirbelten tief durch blaue Licht-
kugeln im Kreis.
0 neue Zeit! Zukunft! Preiselbeerrote Feierlichkeit ! O
Preis !
96
Ludwig Rubtner ♦ Das himmltsche Licht
DAS LICHT
Vom gelben Himmel rollte ein funkelnder T reibriemen clurch
Yokohama: heut abend sind die bunten LeuchtstraBen matt.
Schmale Sterne der hellen Nacht gehn hinter Fabriken auf.
Europa tanzt wie ein brauner Hund vorm Mond. Gelbe
Menschen kommen in schwarzen Rocken wie aus einem Jung-
frauenbad.
Paris, wilder Lanzenschein, wenn das Gitter des Luxembourg
aus dem Garten der Erde aufspriiht:
Einsiedler kochen Gold auf dem heiligen Berg, die Menschen
schaukeln in grofien Betten, von Afrika wehen weiBe Tiicher
durch Palmenufer her.
O helle Himmelssage hinein nach London, wie ein Bergwerk
liegt die Stadt unterm fallenden Licht, Diamanten iiber den
Gitterluken der Bank von England, o roter Tower in Whitecha-
pels Schweifi, sechstausend Mann morgens fiinf in den Docks,
driiben die Felsen des Kaplands, Nigger brechen in die Knie.
Es floB aufkochend flammengriin durch Petersburg, Kiew,
Nischny, Odessa,
Mondgoldene Kathedralen im Schlamm, unter euch Moskau
bebt wie ein roter Menschen wald von vielen Glocken, o runde
Dacherbliiten,
Mauem weich wie Barte hinauf fiir die Menschen,
Von Spitzen und Kugeln grimes Fliehen iiber kupfemen Tag.
Boston, Chicago, iiber nackte Arme und Zylinderhiite hin
zischt das Licht wie Riesenfunken von elektrischen Schnell-
bahnen,
Uber San Franciscos Hotelgebirge leicht und hoch hiniiber,
durch Kulistadte, Ghettos, Spiegelschein in Fahrstuhlschachte,
o Nimbus, Seligkeit, Friihling,
Hah !
Still und grell durch die donnernden Eisenschatten der
Briicke New York.
97
Ludwig Rubiner ♦ Das himmlischc Licht
* ^ ^ y m ^ ^ ^ *
Wir liefen unbekannt durch die weit ldappemde Friedrich-
strafie.
Berlin, hinter schmalen grauen Asphaltgassen flog das rote
brennende Fenster himmelsoben zu uns her, o unsere Herzen !
Nachmittags halb fiinf, ein Wind ging kurz heriiber, hauser-
leuchtend. Die Zeit war neu.
Fliegende Zeichen zu uns von runden Himmelsbogen.
Milde Zeichen, Himmelslichter neue Hauser zu bauen
Sonnentiirme,
Stemdacher, Berlin noch feucht, Gottesstadt, schwebend,
glasern hinauf.
Milde Himmelshand, ruhigste Palmglut, herunter zu uns iiber
Schomsteinfassaden .
O Siidseeblut, getrieben zu unserem Blut.
Aber wartet Ihr noch? Wir sehen uns um, Kamerad, (Wir
kennen uns nicht!) bleich, stehenden Herzschlags, niemand
merkt was.
Worauf wartet Ihr noch? Was habt Ihr zu denken?
Halt, Ihr wollt bummeln, schachem, Frauen bepaaren, Ihr
werdet essen, lesen, Nachrichten horen, Ihr zahlt Eure Stunden :
Aber die neue Zeit ist da. Ihr saht nicht das Licht durch das
feurige Fenster der Erde!
Die Menschen schwitzen blind. Die Dacher rollten auf in Angst
und sanken zuriick.
Die Fenster troffen dunkel triib.
Die Hauser blahten grau locker ig Teigwande.
Menschen, Ihr lagt in den Stadten wie garende Wasserpflanzen,
Der Wind schoB iiber die Menschen, sie trieben scheppernd
nach Geld,
Der Facher des Himmels, in sieben Gluten, schlug auf, sie
riickten die schwarzen Hiite, mit zugewachsnem Aug,
angesoffen und dick.
Ludwig Rubtner * Das himmlische Licht
98
DIESER NACHMITTAG
An diesem Nachmittag standen alle Kellerfenster offen, das
faule Stroh wurde hinter den Polizeitritten auf die Strafie ge-
schmissen und zersank.
Die Fabriken stieBen spinnwebene Fenster auf, Sauseluft um
eiligen Olgestank.
Unter den dumpfen Briickenbogen rakelten sich Geschwiire
und blaBnacktes Fleisch, Fetzen, Lauslocher, Wunden
mit Maden.
Hinter den Banken in grell diirren Parks, aus bestaubten Biischen
krochen Beine hervor auf die feinen Promenaden.
In Paris, rauschend in Hell, in dem Hammerschlag New York,
in Frisco voll Strafienbahndampf, dem harten, schattenlosen
Madrid, London, dem gasflammengelben,
Im Leierkastengeklirr Berlins unter Springbrunnen sonnenstaub
geklopfter Teppiche, im Neuen Heil Berlin, vorbei
an den fetten Riesenbrotreihen der StraBen
Brachen bleiche Kopfe empor, Aufbruch unterirdischer Riesen-
pusteln,
Faserhaare diinn iiber gequetschten Wurmmaulem ; brauenlos
runde Augen wie von ertranktem Aas messen die StraBen ab,
Fliegen steigen klebrig auf vom Geruch,
Die Erde erhebt das Haupt der Bleichen,
0 unsichrer Marsch der Halbtoten, Nachtigen, ewig Ver-
steckten. BlafiweiBe Wurzelmienen, o Letzte, Unterste,
Sarglose, ewig Halbeingegraben in kalten saugenden Dreck,
tastender Zug in spahender Unsicherheit, die Nacht ist nicht da,
sie diirfen sehen. Sie sehen.
Sie sehen.
Der Himmel lief ihnen wie ein diinner Faden blau iiber die
Erdehin. Aber in der StraBe sahen sie den langen aufschieBend
flammenden Finger des Lichts.
Ludwig Rubiner * Das himtnlischc Licht 99
0 gab es noch Hauser, schwere Strafien, Schutzleute mit
harten Stiefeln? Das himmlische Licht bergan schmolz mild
zur rotlichen Kugel halb hinter Dachern auf.
Es war eine Orange, wie in dem vomehmen, betteln verboten,
Efiwarenverkauf,
Es war ein wildes Zehnmarkstiick wie hinter dem Fenster der
Wechselbank,
Ein rotes rundes Glas Bier aus einem Aschingerschank,
Ein Schinken, ein Mund, Weiberbrust, ein Hut mit ’nem
Band, ein Loch das rot klafft,
Ein weiches buntes Kissen. Ein Vogel im Kafig. Eine Tabaks-
pfeife pafft.
Eine Tiir offen zu ’nem menschenleeren Kleiderladen,
Ein rotes Boot am lauen FluB zum Baden.
An diesem Nachmittag sah der arme Mob das Licht.
Es lief vor ihm her. Die anderen sahen es nicht.
Sie schwankten unsicher hinein in den Strahl, wie ein bleiches
Ruben f eld kraftlos von schlechtem Dung.
Aus zerschlissenen Winkeln in den Stadten der Welt brach
gottlicher Glockenschwung.
0 seliges Fliegen : Pustblumen im Hauch, die Stengel gefesselt
und kahl,
Die zittemden Heere zerlumpten Leibs reckten gedunsene
Kopfe zum himmlischen Strahl.
Um die ganze Erdkugel schwang tief durch die Winkel wie ein
Klingelblitz das Licht.
Der Mob auf dem bewachsenen Ball hob hoch sein Kellergesicht.
Sie hatten wie sterbende Asseln wimmelnd im fauligen Dunkel
gelegen,
Sie stiirzten heraus, als gabs Kinderfest, gelbe Luftballons mit
buntem Bonbon regen.
Alle morschen FiiBe liber die Meere hin stiegen zum Marsch,
schmutzige Tiicher wehten, da dehnten sich Arme,
schwach und zerkniillt.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
100
Sie schluchzten faltig und heiser, Riesenstimmen schrien iiber
die Erde: die Zeit ist erfiillt!
Sie hatten wie Tote am Dunkel gesogen, sie warteten auf das
Wunder und waren stinkend verreckt.
Aber heut hatte ihnen das Licht suB bis in den Magen geleckt.
Sie drangten eng durch die Strafien zum Himmel. Uber
Omnibushohen lief das Wunder auf die Kopfe hin. Die vollen
Strafienbahnen schoben in schallenden Scherbendeich .
Sie marschierten rund iiber die Erde. Nun gab es ewig Musik
und warmes Essen und das tausendjahrige Reich!
DIE FEINDLICHE ERDE
Der Eiter der Erde lag in den Hausem. Unter hellen Lichtem
safien schmatzende Jobber.
In Nebenzimmem ragten gelangweilt lange schwarze
Striimpfe, tragzuckende Schenkel iiber schwere geile Riicken.
Hinten tanzten vor polierten Klavieren, dunkle Langhaare
geigten.
Kluge hielten in seidnen Salons Vortrage, dafi alles auf Erden
immer gleich bleibe.
Weiche Bartlose sprachen unter sich von dem Ekel am Weibe.
In steinemen Museen schritten sanft die ausgeschlafenen
Kenner.
In heifien Redaktionen schrieb man die Lebenslaufe beriihmter
Manner.
Die Zimmer der Stadt wolbten sich wie ein ungeheurer fetter
Bauch, die Dachkuppeln lagen krumm strahnig iiber der
breiten flachen Stime.
Hinter den Fenstem safien schnaufend trage Menschen steil
wie dicke Riesenfinger.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
10!
Die Hauser glotzten wie die FreBzahne an einem ungeheuren,
gahnenden Jahrmarkts-Ringer.
Die Erde faulte langlich auf zur wimmelnden himmlischen Bime.
Der Himmel rollte herum dunkel funkelnd im schwarzen hohlen
Oval.
Das Licht war eingesogen in stampfende Kessel und Tele-
graphenstrahl .
Der Lampenschein strich klein durch die StraBen wie Wurm-
augen nachts im Korn.
Das Licht war fort von der kleinen Erde, niemand safi in der
Sonne oder blickte zum mondlichen Horn.
Die Tragheit schlug an die Ufer, faulende Riesenalgen wanden
sich erdenrund um die Schimmelgriine.
Drunten im Triiben schrieben wimmelnde Menschen noch
eilige servile Telegramme, Briefe, Denunziationen voll Rankiine.
Tanzerinnen, Barone, Agenten, Geheimrate, Schutzleute, Ehe-
frauen, Studenten, Hauswirte freuten sich auf ihre dampfende
Nacht.
Aber der arme Mob schaute das Wunder und war zur neuen
Zeit aufgewacht.
Die bose gestorte Wut zitterte iiber die verregneten Telegraphen-
stangen,
Als die miirben Armen ohne Essen und Trinken zum gott-
lichen Himmel marschierten, wurden sie mit hartreifienden
Flintenkugeln empfangen.
SIEG DER TRAGHEIT
Die armen Buckel, demiitige Schultern, zogen selig zur neuen
Zeit und wuBten nur dies.
Die Erdschale blatterte zittemd vor ihnen ab, ein Schlamm-
geschwiir schwoll auf, klebrige Barrikaden liefen ins Dunkel um,
weich drohende Saugnapfe wie ein gieriger Blutegelfries .
Ludwig Rubiner ♦ Das himmlische Licht
102
Die armen Menschenkopfe und Leiber stiefien an die mach-
tige Mauer von grauzittemdem Brei,
Ein Schleim flo6 wie fette Aale nachtlich um sie und ver-
gurgelte ihr Geschrei.
Das schwarze Gebirg von langsamem Leim schlofi hinter ihnen
sein triefendes Tor,
Durch trage Blasen klatschten strudelnde Glieder wie ver-
sinkendes Stroh im Moor.
Schwankend bebt es Herab und fliefit zah ab. Ein schwarzes
Loch dreht sich schluckend und faul,
Eine kalte Riesenfresse walzt auf, Bergfalten um ein zahnloses
saugendes Maul.
Die Menschenwalder zappelnd zum Tod trieben erstickt mit
sausendem Kreis hinab in den dunklen Schlauch.
0 Aufstand zum Licht 1 o Erdengesicht ! O Endnacht im tragen
riesigen Bauch!
Kamerad, und wissen Sie noch, wie die blanke Polizei auf
dicken Maschinenstiefeln aus den Nebenstrafien fiel?
Trafalgar Square war dunkel und hell wie ein schreiender
Rohrteich, im Londoner Mittagswind.
In Berlin stampften Schiisse heifi ins Geschrei, die graugriine
Schlofikuppel lag lieblich iiber dem leeren langen Platz.
Wiehern in den Newski Prospekt, im Winterfrost driickten
sie den Mob tot!
Und wissen Sie noch, daB schnelle Gefangnisse mit Wartem
und Priigelstrafen gebaut wurden?
In Japan Kopfe ab. Uber RuBland standen frische Galgen-
baume.
In New York die Faust vom dritten Grad den Angeklagten so
lang ins Gesicht, Hunger und HeiBfolterdurst, bis sie lieber im
elektrischen Stuhl von Sing-Sing starben.
Aber Madrid, o Gefangnisse von Monjuich, blutstohnend.
Man schraubte eiserne Wechselstromhelme an die Schlafen zum
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
103
Irrsinn. Und alien quetschte man Tag fur Tag die Hoden
langsam zusammen.
Der erste Blutstropfen hatte dick und schwarz die Erde erreicht.
Das himmlische Licht war verschwunden schrag zuckend iiber
die spitzen Dacher hin.
Der Abend stieg wie Schnalzen aus dem Fett der geilen Stadte.
Die bleichen Lampen bissen Schatten um Herren mit Mappen
unterm schwitzenden Arm,
Diinne Frauen hoben vor ihnen die Rocke hoch.
*
O ldeine Erde, was hast du vergessen!
Du feindliche hast das Licht Gottes gefressen.
Die Sterne wehren dein gieriges Kreisen mit strahlendem Dom,
Aus deinen Wunden bricht in Blutsaulen der himmlische Zorn.
Deine Stadte und Berge rollen taumelnd im nachtlichen Rund,
Bis unter deinen dumpfen Menschen gesiegt hat der geistige
Bund.
DER MENSCH
Im heifien Rotsommer, iiber dem staubschaumenden Drehen
der rollenden Erde, unter hockenden Bauem, stumpfen Sol-
daten, beim rasselnden Drangen der runden Stadte
Sprang der Mensch in die Hoh.
O schwebende Saule, helle Saulen der Beine und Arme, feste
strahlende Saule des Leibs, leuchtende Kugel des Kopfes!
Er schwebte still, sein Atemzug bestrahlte die treibende Erde.
Aus seinem runden Auge ging die Sonne heraus und herein.
Er schlofi die gebogenen Lider, der Mond zog auf und unter. Der
leise Schwung seiner Hande warf wie eine blitzende Peitschen-
schnur den Kreis der Sterne.
104
Ludwig Rubiner * Das himndische Lickt
Um die kleine Erde floB der Larin so still wie die Nasse an
Veilchenbiinden unter der Glasglocke.
Die torichte Erde zitterte in ihrem blinden Lauf.
Der Mensch lachelte wie feurige glaseme Hohlen durch die
Welt,
Der Himmel schoB in Kometenstreif durch ihn, Mensch, feurig
durchscheinender !
In ihm siedete auf und nieder das Denken, gliihende Kugeln.
Das Denken floB in brennendem Schaum um ihn,
Das lohende Denken zuckt durch ihn,
Schimmemder Puls des Himmels, Mensch!
0 Blut Gottes, flammendes getriebnes Riesenmeer im hellen
Kris tall.
Mensch, blankes Rohr: Weltkugeln, brennende Riesenaugen
schwimmen wie kleine hitzende Spiegel durch ihn,
Mensch, seineOffnungen sind schliirfende Miinder , er schluckt
und speit die blauen, hertiberschlagenden Wellen des heiBen
Himmels
Der Mensch liegt auf dem strahlenden Boden des Himmels,
Sein Atemzug stofit die Erde sanft wie eine kleine Glaskugel
auf dem schimmemden Springbrunnen
O weiB scheinende Saulen, durch die das Denken im Blut-
funkeln auf und nieder rinnt.
Er hebt die lichten Saulen des Leibs : er wirft um sich wildes
Ausschwirren von runden Horizonten hell wie die Kreise von
Schneeflocken
Blitzende Dreiecke schieBen aus seinem Kopf um die Sterne des
Himmels,
Er schleudert die machtigen verschlungenen gottlichen
Kurven umher in der Wek, sie kehren zu ihm zuriick, wie dem
dunklen Krieger, der den Bumerang schnellt.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
105
In fliegenden Leuchtnetzen aufgliihend und loschend wie Puls-
schlag schwebt der Mensch,
Er loscht und ziindet, wenn das Denken durch ihn rinnt,
Er wiegt auf seinem strahlenden Leib den Schwung, der wieder-
kehrt,
Er dreht den flammenden Kopf und malt um sich die abge-
sandten, die sinkend Kingliihenden Unien auf schwarze Nacht :
Kugeln dunstleuchtend brechen gekriimmt auf wie Blumen-
blatter, zackige Ebenen im Feuerschein rollen zu schragen
Kegeln schimmernd ein, spitze Pyramidennadeln steigen aus
gelben Funken wie Sonnenlichter.
Der Mensch in Strahlenglorie hebt aus der Nacht seine Fackel-
glieder und giefit seine Hande weifi iiber die Erde aus.
Die hellen Zahlen, o spriihende Streifen wie geschmolznes
Metall .
Aber wenn es die heifie Erde bestromt (sie wolbt sich gebaumt),
Schwirrt es nicht spater zuriick? diinn und verstreut hinauf,
beschwert mit Erdraum:
Tiergebloke. Duft von den griinen Baumen, bunt auftanzender
Blumenstaub, Sonnenfarben im Regenfall. Lange Tone Musik.
O Erde! Der Mensch schwebt zu seiner Erde hinab,
Gottes Blutstropfen fror im eisigen DrauBen dunkel und spitz.
Sein Schmtt dringt in die Erde, und hmter ihm zischt die blaue
Luft wie Wolkenschwung von tausend Geschiitzen.
Der Mensch drang in die Erde, die blaue Eishiille seines Willens
umstrahlt ihn noch.
*
Der Mensch drang in die Erde wiihlend und scharf wie ein
Keim, der zum SchoB feindlich saust,
106
Ludwig Rubiner - Das himmlische Licht
Die Erde barst klaffend, die Berge stoben zu griinem Staub,
die grauen Tiirme der Stadte tanzten in seiner Faust.
Er stieg aus den dunklen Hohlen, um ihn bebte Triimmersturz
und qualmender Brand.
Er schritt durch wehende Menschenrotten. Das himmlische
Licht war verborgen. Er blieb unerkannt.
DIE STIMME
0 Mund, der nun spricht, hinschwingend in durchsichtigen
Stofien iiber die gewolbten Meere.
0 Licht im Menschen an alien Orten der Erde, in den Stadten
fliegen Stimmen auf wie silberne Speere.
O Tragheit der kreisenden Kugel, du kampftest gegen Gott
mit fletschenden Tierlegionen, Urwaldem, Sabeln, Schiissen,
bosem Mifiverstand, Mord, Epidemien:
Aber der Lichtmensch spriiht aus der Todeskruste heraus.
In den Fabriken heulen Ventile iiber die Erde hin.
Er hat seine Stimme in tausend Posaunen geschrien.
*
Eine Stimme schnellte hoch, glasschwirrend ein harter Stahl-
pfeil, der in Glut blank zerknallt.
Eine Stimme iiber Amerika, unter schweifiigen Negem,
die demiitig das Weifie der Augen drehen; unter deutschen
Fliichtlingen, bartig zerprefiten Bettlern, unter hungernden
Juden, die das glitschrige Ghetto finster zusammenballt.
Eine Stimme unter den entkrafteten Arbeitern, drei Milhonen,
die alle Jahr einsam absterben nach neuen Fabrik-
systemen,
Eine Stimme unter zerfressenen Frauen im bunten Hemd,
denen die Bordellmeister das Geld abnehmen.
Ludwig Rubiner * Das himmlische Lichi 107
Unter starren Chinesen im Hungergeruch, die Tag und Nacht
feine Wasche waschen,
Eine Stimme iiber den Broadways, wo Arbeitslose nach fort-
geworfenen Speiseresten haschen.
Eine Stimme schwang zart wie der diinne steigende Schrei
des Dampfs eh die vieltonigen Wasserblasen aufkochen,
Sie sprang wie Windsand in stumme Miinder hinein, sie glitt
wie Flotenkraft miiden Schleppem liber geduckte Knochen.
Durch steilschwarze Stuben schwebten Sonne und Mond, die
Sterne zogen durch stinkende Tapeten aus rissigen
Flecken .
O vielleicht geht das himmlische Wunderlicht auf, bevor alle
zu Aas verrecken!
Eine Stimme flog und sog sich voll aus schmutziger Werk-
stattenzeit,
Die Wut und die Hoffnung kreisten wie Blut, und der HaB,
der naB bespeit.
Eine Stimme haucht schwarz iiber schlechtes Papier aus bank-
rottierten Druckermaschinen,
Eine Stimme las das Fliisterwort : Streik ! in den roten Schachten
der Coloradominen .
Sie liegt wie heiBer Rauch auf schaukelnden Hafen; miB-
trauischen Kneipen; im verhungerten Dorf, wenn
der gepliinderte Bauer sat;
In Stadten schreit sie Signalgeklirr iiber wirre Versamm-
lungen hin, wo Polizei die Tiiren bespaht.
0 Miinder, daraus die Stimme des Menschen brennt!
0 trockene Lippen, sechzigjahrig, trauernd schlaff umstoppelt,
die sich flach offnen, weil vor dem Tod Einer bekennt.
O irre rote Zungenglut hinter weiBen Negerzahnen, die Stimme
gurgelt im Gliicksgesang.
0 Mund, rundes schallendes Tor, Hall und Lust, Volkschoral,
daB der Saal mitschwang.
108 Ludmg Rubiner * Das himndische Li chi
O bitterer Nahmadchenmund, der nach Gerechtigkeit klagt
und schrill Groschen und Wiegpfunde zahlt.
0 faltiger Rednermund, der auf und nieder wie Eulenaug geht,
und Effekte wahlt.
0 Mann im blauen Hemd, der in Fabrikpausen hastig Propa-
ganda treibt.
0 sorgfaltiger Beamter, der nach alien Poststationen Briefe und
Werbelisten schreibt.
O Demiitiger, verlegenes Herz, der nur einmal einem Guten
die Hand driicken mocht.
O Stummer, der zum erstenmal spricht, und in einem Satz sich
prasselnd verkocht.
Eine Stimme flammt iiber Europas autofahrenden Frauen, iiber
krummen schweigsamen Kulis im Australischen
Strauch.
O Miinder, wie viele warten auf Euch, I hr schallt, und sie offnen
sich auch!
Auf der runden Erde flofi das Meer im Wind iiber den Strand
und zuriick.
Schlapphutredner im Lichtstrahl, hinter Pulten, bei geheimen
Zusammenkiinften , an nassen Kneiptischen, sprachen gelaufig
wirksam immer dasselbe Stuck.
Schwindler warben um Geld. Fastende Heilige schmuggelten
verbotene Zeitungen iiber die Grenzen,
Gymnasiasten in ihren Aufsatzen wollten zum Zorn der Lehrer
mit neuem Wissen glanzen.
Einsame wurden iiber die runde Erdkugel hin von Worten
getroffen wie Hafenstadte von aufgefischten Flaschen-
posten .
In alien Hausem drangen Frauenleiber ans Fenster, um das
vorbeifliegende Abendlicht zu kosten.
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Ludwig Rubincr * Das hintmlische Licht
DIE FRUHEN
Die Stimme stieg aus der Erde, sie stieg wie Saft der Erde in
Menschengebein.
Aus bebenden Landem trieben sie hoch wie Blasen aus griinem
Sumpf, einzeln und friih. Sie offneten runde Augen und schau-
ten sich um.
0 was sollten sie tun ? In ihnen stieg und fiel wie brennendes
Blut das Gedachtnis ans selige Licht. Ein Schein glomm aus der
Feme vor ihrer rufiigen Geburt,
Sie lachten laut iiber die elektrischen Bogenlampen, iiber die
Cafes, iiber die stumpfen genahrten Armeen, iiber die zischeln-
den Borsenhallen,
Ihre Worte, einzeln und diinn, tropften ab wie Perlenge-
kicher von den Fenstern der steinemen Parlamente.
0 hinauf ! Schweben iiber der satt glucksenden Erde ! O auf-
leuchten feurige Planetenfliige zwischen den gefletschten
Zahnen :
0 gliihendes Blut vom Himmel, das um ihre gekriimmten
Korper rollt,
0 schwebender Mensch, Feuermensch, Lichtmensch iiber
den Himmel, Kamerad, Binder, Genosse, fern, iiber der Erde,
vor der Erde ! Zu ihm !
Die dunkle Erde walzt sich iiber die Augen der ganz Armen.
Sie steigt geblaht vor die Augen der Armen, ein feister schwarzer
Ball.
0 Dunkelheit, Schatten. Driiben ist das himmlische Licht.
O die Erde wegrollen! AufreiBen die schlammige Erdkugel,
Locher eintreiben, Schachte zum Licht!
33 Vol.
1 1 0 Ludrng Rubiner * Das himmlischc Licht
Auseinanderballen den Erdklumpen, der feuchte Dunkelheit
iiber die Augen schattet!
Hinein in die Erde, Sturmlauf, Ihr Briider, an die starre ge-
frafiige Mord-Erde,
0 die Erde zersprengen zu Milliarden Staubplaneten in Brand,
Die Erde sprengen mit einem Ruck der gottlichen Hand in
alle Hohlungen des schimmemden Himmels,
0 Gottes brennender Finger sein, der das Trage winzig zer-
staubt,
O leben im himmlischen Licht, Gemeinsamkeit mit dem gott-
lichen Menschen des Himmels, Bruderschaft, zu ihm, Chor-
gesang einer hellsteigenden Vielmundstimme durch das Sonnen-
Universum !
Erde, was erhebst Du Deine machtige Kugel vor dem Bruder
des Menschen!
Kommt nun der Kampf? Und der Kamerad des Menschen
zerstort Deine Finstemisse, und Du zerplatzest in leuchtende
stille Triimmerflocken zum langen gewolbten Himmel?
Aus unreinen Barackenvorstadten schlichen nachts Manner
verhiillt durch enge Keller bei Juwelieren ein, unentdeckt.
Manner in Masken sprangen schreiend am Mittag in die
Banken, die Kassierer flohen erschreckt.
In Paris wurde die StraBenpolizei aus entschwindenden Autos
niedergeschossen .
Im Londoner Hundswinkel belagerten straffe Truppen das
armliche Haus der Genossen.
(0 gekriimmte Whithechapel-Juden, Ihr seid jung, Eure
Eltern rochelten mit verdrehten Augen in hundert
Pogromen ,
Das eiseme Dach iiber Euch brach auf, wie ein finsterer
Synagogenhimmel, der entschwebt; das Licht flofi zu Euch.)
Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
111
Sie lebten nicht weiter, sie wurden verraten, guillotiniert, oder
krepierten in den Flammen.
0 Stadte alt in Siiddeutschland, bartige Schullebrer stiegen
entriickt wie assyrische Priester auf den Turm unters Licht,
und schossen mit rostigen Flinten das Menschengeschlecht
unten zusammen.
Sie ergaben sich nicht. Sie standen im Licht. Sie kampften
bei Dachbrand, in den Kleidern Lause und Kot.
Sie waren allein. Sie horten die Briider nicht schrein. O Licht-
mensch im Dunkel. 0 Krieg, der kam. 0 Tod!
*
Augen wollten Licht nicht sehen, Ohren horten keinen Hall.
Trage Erde war verstofien, Feindschaft schuf den neuen Ball.
Die Menschenkugel zersprang.
0 seht den gottlichen Lichtschein um Euch, dann dauert der
Krieg nicht mehr lang!
*
DIE ANKUNFT
Ihr, die Ihr diese Zeilen nie lesen werdet. Diirftige Madchen,
die in ungesehenen Winkeln von Soldaten gebaren,
Fiebnge Mutter, die keine Milch haben, ihre Kinder zu nahren.
Schuler, die mit erhobnem Zeigefinger stramm stehen miissen,
Ihr Fiinfzehnjahrige mit dunklem Augrand und Traumen von
Maschinengewehrschiissen,
Ihr gierige Zuhalter, die den Schlagring verbergt, wenn Ihr dem
Fremden ins Menschenauge seht,
Ihr Mob, die Ihr klein seid und zu heiBen Riesenmassen
schwellt, wenn das Wunder durch die StraBen geht,
Ihr, die Ihr nichts wifit, nur dafi Euer Leben das Letzte ist,
Eure Tage sind hungng und kalt:
I ] 2 Ludwig Rubiner * Das himmlische Licht
Zu Euch stauben alle Worte der Welt aus den Spalten der
Mauem, zu Euch steigen sie wie Weinrauch aus dem
Dunst des Asphalt.
Ihr tragt die Kraft des himmlischen Lichts, das iiber Dacher in
Euer Bleichblut schien.
Ihr seid der schallende Mund, der Sturmlauf, das Haus auf der
neuen gewolbten Erde Berlin.
Ihr feinere damliche Gelehrte, die Ihr nie Euch entscheidet
hinter Bibliothekstischen,
Ihr Borsenspieler, die mit schwarzem Hut am Genick schwit-
zend witzelt in Sprachgemischen.
Ihr Generale, weifibartig, schlaflos in Stabsquartieren, Ihr
Soldaten in den Leichenrohren der Erde hinter
pestigen Aasbarrikaden,
Und Kamerad, Sie, einsam unter tausend Briidern Kameraden ;
Kamerad, und die Briider, die mit allem zu Ende sind,
Dichter, borgende Beamte, unruhige Weltreisende, reiche
Frauen ohne Kind,
Weise hohnische Betrachter, die aus ewigen Gesetzen den
kommenden Krieg lehren: Japan-Amerika,
Ihr habt gewartet, nun seid Ihr das Wort und der gottliche
Mensch. Und das himmlische Licht ist nah.
Ein Licht flog einst braunhautig vom Siidseegolf hoch, doch
die Erde war ein wildes verdauendes Tier.
Eure Eltem starben am Licht, sie zeugten Euch blind. Aber aus
Seuche und Mord stiegt Ihr.
Ihr soget den Tod, und das Licht war die Milch, Ihr seid
Saulen von Blut und sternscheinendem Diamant.
Ihr seid das Licht. Ihr seid der Mensch. Euch schwillt neu
die Erde aus Eurer Hand.
Ludwig Rubiner ♦ Das himmlische Licht 1 1 3
Ihr ruft iiber die kreisende Erde hin, Euch tont ruck Euer
riesiger Menschenmund,
Ihr steht herrlich auf sausender Kugel, wie Gottes Haare im
i Wind, denn Ihr seid im Erdschein der geistige Bund.
*
Kamerad, Sie diirfen nicht schweigen. 0 wenn Sie wiifiten, wie
wir geliebt werden!
Jahrtausende mischten Atem und Blut fur uns, wir sind Stem-
briider auf den himmlischen Erden.
0 wir miissen den Mund auftun und laut reden fur alle Leute
bis zum Morgen.
Der letzte Reporter ist unser lieber Bruder,
Der Reklamechef der grofien Kaufhauser ist unser Bruder!
Jeder, der nicht schweigt, ist unser Bruder!
O zersprengt die Stahlkasematten Eurer Einsamkeit!
f O springt aus den violetten Grotten, wo Eure Schatten im
Dunkel aus Eurem Blut lebend schliirfen!
Jede Offnung, die Ihr in Mauem um Euch schlagt, set Euer
runder Mund zum Licht!
Aus jeder vergessenen Spalte der Erdschale stofit den Atem-
schlag des Geistes in Sonnenstaub!
Wenn ein Baum der Erde den Saft in die weiBen Bliiten schickt,
laBt sie reif platzen, weil Euer Mund ihn beschwort!
O sagt es, wie die geliebte griinschillernde Erdkugel iiber dem
Feuerhauch Eures lachelnden Mundes auf und ab
tanzte !
O sagt, dafi es unser aller Mund ist, der die Erdgebirge wie Woll-
docken blast!
Sagt dem besorgten Feldherrn und dem zerzausten Arbeits-
losen, der unter den Bnicken schlaft, dafi aus ihrem Mund der
himmlische Brand lachelnd quillt!
114
Ludwig Rubiner * Das himmlische Lichi
Sagt dem abgesetzten Minister und der frierenden Wander-
dime, sie diirfen nicht sterben, eh hinaus ihr Menschenmund
schrillt !
Kamerad, Sie werden in Ihrem Bett einen langen Schlaf tun.
O traumen Sie, wie Frauen Sie betrogen; Ihre Freunde ver-
lieBen Sie scheel.
Traumen Sie, wie eingeschlossen Sie waren. Traumen Sie den
Krieg, das Bluten der Erde, den millionenstimmigen Mordbefehl.
Traumen Sie Ihre Angst ; Ihre Lippen schlossen sich eng, Ihr
Atem ging kurz wie das Blatterbeben an erschreckten Zier-
gestrauchen .
Schwarzpressender Traum, Vergangenheit, o Schlaf im
eisemen Keuchen!
Aber dann wachen Sie auf, und die Nacht zerflog, wie im
Licht aus den Schomsteinen RuB.
O Lichtmensch aus Nacht. Ihre Briider sind wach. Und Ihr
Mund laut offen ruft zur Erde den ersten gottlichen
Gm6.
Eduard Bernstein * Volker zu House
115
Gduard Q} ernsfein :
VOLKER ZU HAUSE
ERINNERUNGEN.
IV*
IN ZURICH.
/ URICH war in dem Jahre, wo ich es zum erstenmal betrat
1 — 1879 — fast ebenso vom heutigen Ziirich verschieden,
wie das damalige Lugano vom heutigen. Es zahlte mit seinen
acht oder neun noch selbstandigen Vororten zusammen wenig
mehr als die Halfte der Einwohner, die heute das mit jenen ver-
einigte Grofi-Ziirich zahlt, ermangelte noch eines erheblichen
Teils der Prachtgebaude und Schmuckanlagen, die es heute
zieren, und seine Wohn- und Geschaftshauser trugen in ihrer
grofien Mehrheit noch lokale Farbe. Wohl hatte die Stadt in
ihrem siidlichen Teil schon die Bahnhofstrafie und einige ihr
architektonisch verwandte kleine Gassen mit eleganten Hausern
modemeren und antikisierenden Stils. Auch fehlte es in den
Vororten und auf den benachbarten Anhohen nicht an Villen,
von denen einige sogar sich schlofiartig darboten. Aber die
Masse der Geschafts- und Wohnhauser standen entweder in den
engen und winkeligen Strafien der auf Hiigeln gebauten alten
Stadt und waren darum, so anfechtbar sie vom hygienischen
Standpunkt aus sein mochten, interessante Kulturdenkmaler aus
vergangenen Zeiten, oder sie gehorten nur erst teilweise be-
* Siehc das Dczembcrhcft der WeiBen Blatter, 2. Jahrgang, und die Februar- und Marz-
hefte, 3. Jahrgang.
116
Eduard Bernstein * Volker zu House
bauten StraBen an und waren dann meist Zwitterbildungen
zwischen groBstadtischem Wohn- und kleinstadtischem Land-
ha us. Zurich vereinte uberhaupt noch in ziemlichem Grade
Dorf, Kleinstadt und GroBstadt. Bis hart an die Grenze der
alten Stadt Zurich ragten an einigen Stellen Weingarten und
Wiesen in das Gebiet von Grofi-Ziirich hinein, und wer iiber
den Vorort Fluntem hinaus das auf dem Germaniahiigel am
Ziirichberg gelegene Grab des genialen Georg Buchner auf-
suchen wollte, kam noch an richtigen Bauemhausem im be-
kannten Schweizer Stil vorbei. Heute ist das Stuck Berg um
Buchners Grab, das damals eine Einode war, von Villen besetzt,
zwischen denen hindurch, an ihren schonen Garten vorbei, ein
im Sommer sehr reizvoller Weg fiihrt. Aber tritt man aus diesem
Villengewirr heraus und an das Grab heran, so wird es schwer,
sich in die Stimmung zu versetzen, die das einsam gelegene Grab
seinerzeit in dem Wanderer erweekte, der es von Fluntem oder
OberstraB her iiber Heideland erreichte. Fiir ihn war es ein
Ruhepunkt, fiir den heutigen Spazierganger ist es kaum ein An-
laB zu fluchtigem Anhalten, und von den vielen Tausenden, die
es eines Blickes wiirdigen, wissen die wenigsten etwas Genaueres
vom Dichter, der das Drama „Dantons Tod“ sowie den revo-
lutionaren Hessischen Landboten geschrieben und dem Georg
Herwegh das schwungvolle Gedicht gewidmet hat:
„So hat ein Purpur wieder fallen miissen,
Hast eine Krone wieder uns geraubt,
Du schonst die Schlange zwischen Deinen FiiBen
Und trittst dem jungen Adler auf das Haupt.“
Auch Herwegh fand in Zurich seine zweite Heimat, und das
am oberen Rande eines griinbewachsenen Abhangs gegeniiber
der Kantonsschule gelegene Haus, in dem er zuletzt gewohnt,
stand zu meiner Zeit noch so frei da, wie zu Lebzeiten des „groBen
Kindes aus Schwaben“. Heute ist es von Universitatsgebauden
und Privathausern umgeben. Ein gleiches ist noch verschiedenen
Hauser n geschehen, die damals sogar auf dem Stadtgebiet von
Garten oder brach liegendem Land umgeben waren. Dafiir
haben aber auch Hauser und Hausergruppen im Interesse der
Eduard Bernstein * Volker zu Hause 1 1 7
Verbreiterung von StraBen oder Wegen verschwinden miissen,
die damals noch standen, und allerhand interessante Winkel und
Hauser mit einer Geschichte wurden in den Jahren, wo Zurich
sich zu GroB-Ziirich auswuchs nach alien Himmelsrichtungen
hin und unter den verschiedensten Gesichtspunkten, gleichzeitig
in hoherem Grade zum Industrieort und zur Fremdenstadt, da-
durch dem Reich der Vergangenheit zugewiesen.
In jeder Hinsicht war das Ziirich von 1879 vom Zurich von
heute unterschieden. Um beim auBern Bild zu bleiben, so war
noch keine Spur von dem prachtigen Quai vorhanden, der heute
in so weiter Ausdehnung die Ufer des Zurichsees umrahmt.
Diese Ufer boten vielmehr einen recht chaotischen Anblick dar :
bald stieB das Auge auf Aufienteile von Garten, bald auf Brach-
land und hier und da auch auf Hauser, die unmittelbar am Rand
des Sees erbaut waren. Unmittelbar an den See grenzte auch
der Garten der alten Tonhalle, die, ein sehr vie! einfacheres Ge-
baude als ihre Nachfolgerin am Alpenquai, dort stand, wo jetzt
die TheaterstraBe vom Bellevueplatz sich abzweigt. Aber gute
Musik wurde auch damals schon in ihr gemacht, und mit der
Einfachheit ist mancher Reiz, den sie darbot, verschwunden. So
sammelten sich an Sommerabenden, wenn in lhrem Garten kon-
zertiert wurde, stets eine Anzahl Vergniigungsboote vor ihr. Die
Insassen genossen vom See aus die Musik und fuhren in den
Pausen an die Balustrade des Gartens heran, um sich vom
Kellner ein Getrank herunterreichen zu lassen, kommunizierten
auch gelegentlich mit den Gasten, die nachst der Balustrade
saBen. Els ging dabei sehr heiter zu. Als ich erst mit dem
Ziirichsee nahere Bekanntschaft geschlossen hatte, — und ich
bin mit ihm im Laufe der Jahre sehr intim geworden — gehorten
die Sommerabende auf ihm zu meinen liebsten Erholungen. Es
waren herrliche Eindriicke. Bald fuhr man heraus in den sich
ausbreitenden See und gab sich dem Zauber der Nacht auf dem
Wasser hin, der durch die aus der Ferne bruchstiickweise
klingende Musik nur noch erhoht wurde, bald fuhr man wieder
zuriick, horte von der hierfiir passenden Entfernung aus ein oder
zwei Musikstiicke vollstandig mit an, um sich dann dem Garten
118
Eduard Bernstein * V olker zu House
so zu nahern, dafi nun durch allerhand Vorgange in der Um-
gebung die Aufmerksamkeit wieder von der Musik abgelenkt
wurde. Die neue Tonhalle ist ein schoneres Gebaude als die
alte und bietet zu den Alpen hiniiber einen noch fesselnderen
Ausblick als diese, aber die Traulichkeit ist nut der ortlichen
Verlegung geopfert worden.
Ein gleiches konnte man noch von verschiedenen Verande-
rungen sagen, die das neue Zurich gegeniiber dem alten auf-
weist. Schmerzlich empfindet der die Natur liebende Spazier-
ganger, daB groBe Stiicke der schonen Waldpartien des Ziirich-
berges heute als „Privatbesitz“ mit Drahtgittem umzogen sind,
und gern wurde gar mancher die eleganter ausgestatteten und
groBeren heutigen Wirtschaften auf dem Berge fiir die sehr viel
einfacheren friiheren Wirtschaften hingeben, wo man auf rohge-
zimmerten Banken an ebensolchen Tischen saB und auBer
offenem Wein, Brot und Kase nur wenige Gerichte erhalten
konnte, wiirde er dafiir die besagten Gitter loswerden. Es gibt
sogar Leute, die, wenn es nicht anders ginge, den Tausch auch
ohne diese negative Zugabe machten. Was war das fiir ein
stimmungsvolles Rastmachen auf dem Dolder, als noch keine
Zahnradbahn hinauffuhr und man bei einem einfachen Glase
Wein in Gedanken sich mit unsem Dichterfiirsten unterhalten
konnte, zu deren Zeiten es nicht wesendich anders beschaffen
war.
In der Tat hat in den ersten vier Jahrfiinfteln des 19. Jahr-
hunderts das soziale Leben in dieser Hinsicht weniger Verande-
rungen erfahren, als in dem drittel Jahrhundert, das seitdem
verflossen.
Andre Zeiten, andre Einrichtungen. Nun fahrt man auBer
mit der zum Dolder fiihrenden Zahnradbahn an einer andem
Stelle mit der StraBenbahn ein Stuck auf den Ziirichberg hinauf
bis hart an die Gartenwirtschaft, die sich Beau Sejour schrieb
und zu meiner Zeit von den Eingeborenen „Rinderknecht“ aus-
gesprochen wurde, nicht aus Abneigung gegen das Franzosische,
sondem im Hinblick auf den Eigentiimer. Vielleicht geht die
Bahn heute schon noch hoher, und fiir Leute, denen das Steigen
Eduard Bernstein * Volker zu Hause 1 1 9
beschwerlich wird, ist das sicher eine grofie Wohltat. Auch kann
keine bauliche Veranderung dem wundervollen Blick vom Zii-
richberg aus liber den See hinweg auf die Haupter der Alpen-
kette der mittleren Schweiz und liber die Albiskette zum Rigi,
Pilatus und den Berner Riesen seine Schonheiten rauben. Aber
die nahere Umgebung hat fiir unsereinen viel von ihren Reizen
verloren.
Els ist gut, dafi der Mensch dahinstirbt. Wird er liber die
Fiinfziger, so wird fast jeder Romantiker. Mag der Verstand
noch so sehr mit der Zeit Schritt halten, das Gefiihl empfindet
immer starker mit der Vergangenheit. Aber eine neue Genera-
tion ist inzwischen herangewachsen, die diese nicht kannte, und
ihr fehlt nichts von dem, was den Alten ans Herz gewachsen war.
So wenig wie von Bahnen auf den Ziirichberg, wufite das
Zurich von 1879 von StraBenbahnen in der Stadt und den mehr
oder weniger eben gelegenen Vororten. Der Mangel schien aber
von der Bevolkerung nicht sehr empfunden zu werden. Der
Verkehr zwischen Stadt und Vororten war ohnehin nicht sonder-
lich stark, der kommunalen Dezentralisation entsprach offenbar
eine noch starke geschaftliche Dezentralisation. Auch machte es
den geborenen Ziirchem wenig aus, daB ein groBer Teil ihrer
Stadt auf hligeligem Boden erbaut war und es auf manchen
Wegen mehrmals aufwarts und abwarts ging.
Anders die an lhre bequemen Verbindungen gewohnten Ber-
liner, wenn sie nach Zurich kamen. ..Zurich ware eine sehr
hiibsche Stadt,“ sagte einmal ein Landsmann aus Spree- Athen
zu mir, den ich in Limmat-Athen spazieren fiihrte, „wenn es
nur nicht die vielen Buckel hatte.“ Ich aber war mittlerweile
schon so an Zurich akldimatisiert, um meine Antwort mit einer
leichten Variation in die Worte des Dichters ldeiden zu konnen :
„Was euch es widrig macht, macht mir es wert.“
Ich war bei der Ankunft in Zurich im Gasthof zum Storch
abgestiegen, dem am Weinplatz gelegenen Gegeniiber des Hotels
zum Schwert, das wir Deutsche aus den Biographien Goethes
und Fichtes kennen. Mein Quartier im unberiihmten „Storchen“
sollte mir jedoch einen unerwarteten Vorteil zuspielen.
120
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
Als ich am Tage nach meiner Ankunft ausging, Wohnung zu
suchen, fiel mir auf, daB, obwohl es ein Werktag war, uberall
geputzte Kinder sich auf den StraBen bewegten, einige davon
in fremdartigen Kostiimen und die Knaben oft mit Masken in
der Hand. Offenbar mufite etwas Besonderes los sein. Um es
zu erkunden, wandte ich mich an einen der geputzten Knaben
und fragte ihn, warum sie alle in Putz seien. Ich mufite meine
Frage mehrmals wiederholen, bis er uberhaupt begriff, was ich
wollte, und dann gab er mir eine Antwort, aus der wiederum
ich nichts zu machen wuBte: ,,’s isch Sachzeliite“. Eine Er-
klarung, was das bedeute, vermochte er mir nicht zu geben.
Unerschiittert blieb er bei seinem ,,'s isch Sachzeliite'*. Und an
welches Kind ich mich auf meiner Wanderung mit der gleichen
Frage wandte, immer erhielt ich die stereotype Antwort: ,,’s isch
Sachzelute“. Ich kam mir fast wie der Mann in Hebels Er-
zahlung vom „Kannitverstan“ vor. Endlich fragte ich in der
Nahe meines Hotels einen Erwachsenen und erfuhr, was „Sechse-
Iauten“ sei und daB abends auf der Limmat ein „Bog“ abge-
brannt werde. Das Sechselauten oder vielmehr Sechsuhrlauten-
fest ist ein Freudenfest aus der Zunftzeit her, wo am Montag
nach Friihlingsanfang damit begonnen wurde, um sechs Uhr
abends durch Glockengelaut SchluB des Arbeitstages anzu-
kiindigen. Die Zunftgesellschaften, die Zurich noch hat, die
aber langst jede wirtschaftspolitische Bedeutung verloren haben,
feiern es jahrlich am Abend des bezeichneten Tages durch Fest-
essen und — zu meiner Zeit wenigstens — namentlich Fest-
trinken. Fur die Kinder ist es ein schulfreier Tag, an dem sie
sich putzen und maskieren, jeweilig auch Umziige in Charakter-
kostiimen machen, und alle vier bis fiinf Jahre feiert es ganz
Zurich durch einen kostiimierten Umzug von GroB und Klein,
der jedesmal einer bestimmten Idee Ausdruck gibt und bei dem
von wohlhabenderen Teilnehmern manchmal in der Ausstattung
ein groBer Luxus entfaltet wird. Den Abschluss des Festes fiir
das Volk bildet die feierliche Verbrennung des „Bog“, einer mit
Brennmaterial und Feuerwerkskorpem ausgestopften Puppe, die
irgend eine allgemein als unliebsam empfimdene Erscheinung,
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause 121
4
Einrichtung oder Macht verkorpert. Diesmal nun gait die Ver-
brennung des Bog einer Kundgebung gegen das alte Theater-
gebaude Ziirichs, das in der Tat von auBen eher den Eindruck
einer Stallung als eines Theaters machte und dessen Raumver-
haltnisse und innere Ausstattung den Anspriichen der Ziiricher
nicht mehr geniigten. Ohne dieses Urteil anfechten zu wollen,
mufi ich indes gestehen, daB icb in diesem alten Gebaude noch
mancher Vorstellung beigewohnt habe, die mich hochlichst be-
friedigte. Gerade weil das Theater nur mafiig grofi war, konnte
z. B. im Konversationsstiick sich eine die Feinheit des Spiels
unterstiitzende Intimitat zwischen Biihne und Auditorium ent-
falten, und in der Oper wiederum kamen die Schonheiten man-
cher Stimmen im kleinen Raum viel vorteilhafter zur Geltung,
als in den groBen Opernhausern. Uberhaupt ward in der Oper
Ziirichs unter der Leitung Lothar Kempters von Orchester und
Sohsten oft Ausgezeichnetes geleistet. Die Chore freilich ent-
sprachen nicht selten etwas gar zu sehr den Regeln des seligen
Aristoteles und erregten Furcht und Mitleid. Aber das hatte
mit der raumlichen GroBe des Theaters nichts zu tun.
Immerhin, das Theatergebaude sollte symbolisch vernichtet
werden, und so hatte man dem „Bog“ des Jahres 1879 die
Gestalt des Winters gegeben, der, ein Greis mit weifiem Haupt-
und Barthaar, auf einem flachen Lastboot saB und eine Nach-
bildung des Theaters im SchoBe hielt. Das Boot war in der
Ummat gegeniiber dem Hotel zum Storchen verankert und
gegen Abend sammelte sich an beiden Ufem ein gewaltiges
Pubhkum, um dem Autodafe beizuwohnen, das nach einge-
brochener Dunkelheit programmgemaB vor sich ging. Da nun
mein Zimmer im Hotel auf den FluB hinausging, konnte ich
das Schauspiel vom Fenster aus im vollsten MaBe genieBen.
Man hatte mit Feuerwerk nicht gespart, und wie nun der
alte Winter feuerspriihend die zu Tausenden sich drangenden
Massen am Ufer und die Gebaude hinter ihnen bald starker
und bald nur in Umrissen beleuchtete, gab das einen wirklich
schonen Anblick, von dem ich nicht vermutet hatte, daB er
mir sobald nach meiner Ankunft zuteil werden sollte.
122
Eduard Bernstein ♦ Volker zu House
Bei der Wohnungssuche ging es mir mit der Landessprache
nicht viel anders, wie bei der Erkundung des „SachzeIiite“ .
Ich hatte noch keine Abnung vom Ziircher Deutsch, und da ich
auf der Schule kein Mittelhochdeutsch getrieben hatte, fiel es
mir manchmai schwer, die Ziiricher Vermieterinnen zu ver-
stehen. „Ach, Sie verstahe kei Ziiritiitsch, ich kann auch
hochdiitsch zu Ihne rede,“ antwortete mir eine solche, als ich
sie bat, etwas langsamer sprechen zu woilen, da ich ihr nicht
recht folgen konnte. Und sie iiberflutete mich mit einer Aus-
einandersetzung in dem Sprachidiom, das sie „hochdiitsch“
nannte, das mir aber nicht viel verstandlicher war als ihre
Heimatssprache . Bei einer anderen hatte ich folgendes Er-
lebnis. Ich traf sie in der Haustiir und fing an, mit ihr liber den
Monatspreis der drei Zimmer, wie Hochberg und ich sie
brauchten, zu verhandeln. Sie nannte einen Betrag, den ich
als achtzig Franken verstand und unter Vorbehalt der Ver-
standigung liber andre in Betracht kommende Punkte fur
annehmbar erklarte. Kaum aber hatte ich die Zahl ausge-
sprochen, als ein gleichfalls in der Haustiir stehender Mann
anfing, mir, wahrend ich mit der Frau liber die andern Punkte
sprach, immer wieder abwinkende Zeichen zu machen. Sollte
die Wohnung Ungeziefer oder sich einer in ihr erhangt haben?
dachte ich, lieB mich aber durch die Zeichen nicht beirren,
da ich merkte, daB die Wohnung ohnehin nicht das sei, was
ich suchte. Ich sagte der Frau, ich miiBte mir die Sache noch
mit meinem Freund iiberlegen und ging meiner Wege. Ein
Blick zuriick belehrte mich bald, daB der Mann aus der Haustiir
mir nachging. Und als ich daraufhin meinen Schritt ver-
langsamte, fafite sich der Unbekannte ein Herz und sprach
mich an: „Sie!“ „Was wiinschen Sie von mir,“ fragte ich.
„Sie,“ antwortete er, „sie hett ja nit gesagt, achtzig Franke, sie
hett gesagt sachzig Franke.“ Den Guten hatte der Gedanke
gequalt, daB ich das Opfer eines Horfehlers werden konne.
Natlirlich dankte ich ihm fiir seine wohlwollende Fiirsorge.
Es wird dem Deutschen und insbesondere dem Norddeut-
schen, der ohne einen Begriff vom Wesen der Ziiricher Mund-
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
123
art nach Zurich kommt, nicht leicht, sich in diese hinein zu
finden. Dafi es sich, von einigen Eigenheiten der Aussprache
abgesehen, bei ihr nicht um eine Art Jargon, sondem urn eine
geschichtlich gewordene Volkssprache mit regelmaCigen Ab-
wandlungsformen handelt, will den Wenigsten in den Kopf.
Sie tont ihnen hafilich und erscheint ihnen als die Sprache
ungebildeter oder sprachlassiger Menschen. Nun hat zweifels-
ohne das Schweizerdeutsch, wie es in Zurich und andem
Kantonen der Schweiz gesprochen wird, manches Unschone.
Die Aussprache des „ch“ als Kehllaut, die Triibung des Vokals
i in ii und der Vokale e und a in 6 wird niemand als Ver-
schonerung der deutschen Sprache empfinden. Aber wer sich
durch diese und andre AuBerlichkeiten nicht davon abhalten
lafit, in den Geist des Schweizerdeutsch einzudringen, wird
in seinen Wortformen und seiner Syntax viel Schatzens-
wertes finden, eine Verbindung von Kraft und Innigkeit, die
dem Schriftdeutsch abgeht, und die es begreiflich macht,
warum nicht nur die breiten unteren Volksschichten, sondem
auch die literarisch gebildeten Elemente der deutschen Schweiz
im engeren Verkehr am Gebrauch des Schweizerdeutsch fest-
halten. Ich habe das Gluck gehabt, in der Schweiz mit Leuten
zu verkehren, die schriftstellerisch und, wenn es darauf ankam,
auch rednerisch sich als wahre Meister der deutschen Sprache
auszeichneten. Aber auch diese, wie z. B. der leider im vorigen
Jahre verstorbene einstige Redakteur und spater Direktor der
Frankfurter Zeitung Theodor Curti, der als Prosaschriftsteller
wie als Dichter in bezug auf Stil und Sprachreichtum es mit
den besten Reichsdeutschen aufnehmen konnte, sprachen im
Hause und im sonstigen Verkehr mit Landsleuten ihr Schwyzer-
diitsch, nach unseren Begriffen also „Platt“. Umgekehrt wird
es manchem Reichsdeutschen in der Schweiz so gegangen sein
wie mir. Mir ist im Lande der Alpen erst das Verstandnis und
der Sinn fur das Wesen der Mundarten zuteil geworden.
Erlaubte es meine Zeit, so wiirde ich u. a. gem einmal einen
sprachtheoretischen Vergleich ziehen zwischen dem Verhaltnis
des Schweizerdeutsch zum Schriftdeutsch und des auch im
124
Eduard Bernstein * V biker zu House
Tessin gesprochenen diafetto mifanese zur I i t erarischen fmgua
toscana. Dem Laien fallen da viele Ahnlichkeiten auf. Hier
wie dort die Umlautung von Vokalen in getriibte Doppellaute
und die Tendenz, Worte durch AbstoBen von Vokalen und
Endsilben zusammenzuziehen . In Casa in Valle horte ich
einmal einen den Berg herabkommenden Burschen einen am
Fenster unsres Nachbarhauschens sitzenden Kameraden zu-
rufen: „ndemm“. Ich griibelte lange dariiber nach, was er
wohl damit gemeint haben konne, bis ich durch Analogie-
schluB dahinter learn, daB ich ein zusammengezogenes „andiamo“
gehort hatte. Der Name Bernstein setzt mit dem Konzert der
vier Konsonanten r n s i jeder italienischen Zunge uniiber-
windliche Schwierigkeiten entgegen. Einige Leute halfen sich
damit, daB sie zwischen r und n ein e einfiigten, andre machten
es einfacher und lieBen das dem r folgende n einfach fort.
Nicht wenig iiberrascht war ich aber, als ich eines Tages vor
unserem Ha us wiederholt „Besteng“ rufen horte und es sich
herausstellte, daB dieser Ruf mir gait. Eine Arbeiterin des
Mr. d’Arces, die mir etwas bestellen sollte, hatte mit meinem
Namen im Geist der Volksetymologie des Mailander Sprach-
gebiets kurzen ProzeB gemacht.
Wie bildet das Volk Fremdworte um, die es in seine Sprache
aufnimmt ? Wer diesen ProzeB, der trotz aller Sprachreinigungs-
bestrebungen immer wieder vor sich geht, aufmerksam ver-
folgt, wird auch, ohne Philologe zu sein, entdecken, daB es bei
ihm iiberall nach bestimmten Regeln geht, die der einfache
Mann aus dem Volke einhalt, ohne sich dessen bewuBt zu
werden. Indem die brave Stefanina mit dem n in der Mitte
meines Namens auch das r aus ihm entfernte und das ei e
aussprach, hatte sie ihm erst die dem italienischen Sprachgeist
angepafite Form gegeben. Das n am SchluB wird aber im
ganzen Gebiet des Mailander Dialekts nasal ausgesprochen .
So, daB also z. B., da der Dialekt das u in u umlautet und den
Endvokal abwirft, Lugano im Munde seiner Eingeborenen zu
„Liigang“ wird. Und der Schweizerdeutsche im Berner
Sprachgebiet macht aus dem italienischen fazzoletto (Schnupf-
Eduard Bernstein ♦ Volker zu House 125
tuch) ein „fazinettli“, im Ziircher Sprachgebiet aus dem fran-
zosischen pois verts — „Bouverli“.
Dem Eingeborenen Zlirichs ist das Schriftdeutsch eine
Fremdsprache, die er erst erlernen mufi. AIs eine mir be-
freundete Deutsche im Hause einer Genferin, bei der sie
Unterricht in der franzosischen Sprache nahm, ein achtjahriges
Ziiricher Kind, das etwas bestellen kam, schriftdeutsch an-
sprach, antwortete ihr dieses verlegen: „Ich verstah kei Fran-
zosisch nut .
Im politischen Leben Ziirichs herrschte in den achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts starke Ebbe. Die demokratische
Partei des Kantons, die bei der Verfassungsrevision von 1869
fiir Zurich die demokratischste Verfassung erkampft hatte, <Iie
damals iiberhaupt denkbar war, und die, zur Regierung ge-
Iangt, unter der Fiihrung einer Reihe von ausgezeichneten
Mannern, auch sonst eine wahrhaft erleuchtete Reformpolitik
betrieben hatte, war um die Mitte der siebziger Jahre infolge
einer Verkettung verschuldeter und unverschuldeter Nacken-
schlage einer Koalition von Gegnern erlegen und ihrer Spann-
kraft beraubt. Unverschuldet war die Riickwirkung der iiber
Deutschland und Osterreich hereingebrochenen Geschafts-
krise auf das Ziiricher Geschafts leben, verschuldet der Umstand,
daB der durch diesen Geschaftsdruck verscharfte Zusammen-
bruch einer von Hause aus verfehlten Eisenbahngriindung der
demokratischen Partei auf die Rechnung gesteilt werden konnte.
Auf kleinem Gebiet hatte sich in den siebziger Jahren in
Zurich eine Verquickung von Eisenbahninteressen mit partei-
politischen Interessen vollzogen, die wir auch in verschiedenen
GroBstaaten sich haben abspielen sehen. Um parteiischen
Verfiigungen der von Liberalkonservativen beherrschten
Schweizerischen Nordostbahn entgegenwirken zu konnen,
war ein Konkurrenzuntemehmen, Nationalbahn genannt, ins
Leben gerufen worden, deren Hauptlinie vom Bodensee aus
iiber Winterthur und Baden im Aargau unter Umgehungder
Stadt Zurich in die innere Schweiz und Westschweiz fiihren
sollte. Unter Umgehung der Stadt Ziirich: die Idee, die
34 VoL m/i
Eduard Bernstein * Volker zu House
liberal-konservative Hauptstadt des Kantons zugunsten Win-
terthurs, das damals die Hochburg der demokratischen Partei
war, ausschalten zu konnen, war die intellektuelle Hamartia
dieser gewesen, die groBe Denkschuld, dank der der finanzielle
Krach der Nationalbahn zu ihrem politischen Krach werden
konnte. Denn der Gegensatz : hier Nationalbahn — hier Nord-
ostbahn ward dadurch im Volk gleichbedeutend mit hier
demokratische — hier liberal-konservative Partei. Und die
Nordostbahn hatte sich als die kraftigere Untemehmung
erwiesen, ihre Aktien hielten sich auf Ieidlicher Hohe, wah-
rend an den Aktien der Nationalbahn Vermogen verloren
gingen.
Fast gleichzeitig mit der demokratischen Partei war auch der
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung des Kantons Zurich,
die sich im politischen Kampf noch an die erste anlehnte, der
Atem stark ausgegangen. Auf ihr lastete zunachst, wie auf
jener, der iiber ganz Europa sich ausbreitende Geschaftsdruck,
dann aber von 1878 ab sehr erschwerend auch das deutsche
Sozialgesetz. Eine eigentliche sozialdemokratische Partei der
Schweiz gab es zu jener Zeit iiber haupt noch nicht. Eine
spezifisch schweizerische politische Organisation, die ihre
Mitglieder fast ausschlieBlich aus der Arbeiterschaft und
kleinbiirgerlichen Elementen rekrutierte, war der Griitliverein,
der indes ein sehr passives Dasein fiihrte. In dem 1874 ge-
griindeten Schweizerischen Arbeiterbund, der sich aus alien
Sektionen der Arbeiterschaft — politischen Vereinen, Fach-
vereinem Bildungs- und Unterstutzungsvereinen — zusammen-
setzte und eine Kampfverbindung sein sollte, uberwog dagegen
das deutsche und das diesem sich noch vollig angliedernde
deutsch-osterreichische Element. Nicht daB diese Nationalitaten
schon die Mehrheit der beschaftigten Arbeiter des Kantons
gestellt hatten. Aber den meisten Arbeitern schweizerischer
Nationalist fehlte aus verschiedenen Gr linden, die u. a. mit
den Unterstiitzungseinrichtungen ihrer Heimat im Zusammen-
hang standen, der Antrieb, sich den ausgesprochenen Kampf-
organisationen anzuschlieBen, und diejenigen, die es taten,
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
127
fiihlten sich dort in der Minderheit, selbst wenn sie es in der
Wirldichkeit nicht waren.
Hierbei spielten die oben geschilderten Sprachdifferenzen eine
verhangnisvolle Rolle. In alien nicht spezifisch nationalen Or-
ganisationen war das Schriftdeutsch die zwar nicht statutarisch
vorgeschriebene, aber durch die Natur der Dinge gebotene Dis-
kussionssprache, und dies hatte die Wirkung, dafi sich die
Schweizer, obwohl sie das Schriftdeutsch durchaus verstanden
und sich auch ganz gut seiner bedienen konnten, nur ungern an
den Diskussionen beteiligten. Ich habe das lange Zeit nicht recht
begreifen konnen, bis mir eines Tages ein literarisch hochgebil-
deter und ganzlich vorurteilsloser Schweizer auseinandersetzte,
er fiihle sich selbst im Kreise von befreundeten Deutschen stets
befangen, weil er den Gedanken nicht los werde, dafi er, sobald
er den Mund auftue, irgend welchen Sprachfehler machen
werde. Wenn das einem Manne geschah, der sich an den besten
deutschen Stilisten gebildet hatte und ein vorziigliches Deutsch
schrieb, wie mufite es da erst Arbeitern zumute sein, denen die
literarische Bildung abging. Manches bittere Wort von solchen
iiber die ,,mundfertigen Deutschen** wurde mir nun erst in seiner
richtigen Bedeutung klar. Mochte den schweizerischen Ar-
beitern, die sich den gemischt-nationalen Organisationen an-
schlossen, dort auch das grofite Entgegenkommen erwiesen
werden, so konnte das nichts daran andern, dafi sie sich —
emzelne wenige ausgenommen — in dieser Umgebung nie recht
heimisch, sondern eher bedriickt fiihlten. Und solches Emp-
finden macht dann wieder das Urteil ungerecht.
Indes hatte die Sprachschwierigkeit allein kaum ausgereicht,
jenes Gefiihl zu erzeugen, wenn nicht das Volksempfinden ganz
allgemein den Schweizer gegen den Reichsdeutschen scheu oder
mifitrauisch gestimmt hatte. Im Schweizervolk waren Deutsch-
land und die Deutschen uberhaupt unbeliebt, vielen sogar ver-
hafit. Eine Abneigung, die in nicht geringem Grade ein ge-
schichtliches Erbe und aus dem lange zwischen der Schweiz und
dem Reich obwaltenden Verhaltnis zu erklaren ist. Die Schwei-
zer haben sich abwechselnd immer wieder in ihrer Unabhangig-
'•*Y
1 28 Eduard Bernstein * Volker zu Hause
keit vom Reich bedroht oder bedriickt gefiihlt, auf das Reich
mit Furcht geblickt, die sich stets in ein HaBempfinden urn-
setzte, vom Reich wenig Cutes erfahren, das Reich als den Ver-
biindeten ihrer heimischen Unterdriicker gesehen, wahrend
Frankreich ihnen unter den Bourbonen Erwerb bot und in der
grofien Revolution Befreierin wurde. So hat denn, worauf mich
Theodor Curti einmal aufmerksam machte und was sich mir
spater oft bestatigt hat, dieses geschichtliche Verhaltnis zu den
beiden Nachbarlandern auch in der Volkssprache Ausdruck ge-
funden. Wenn der junge Schweizer ins Ausland gehen will, so
sagt er, wenn Frankreich sein Ziel ist: „Ich gang nach Frankrich
inne“, wenn er aber Deutschland wahlt, geht er „nach Diitsch-
land uBe*‘, d. h. nach Frankreich hinein, nach Deutschland
hi naus. Diese heute ganz unreflektierte Differenzierung verrat
das differente Unterempfinden, das nur wenig braucht, um be-
wuBte Gegensatzlichkeit zu werden. Elementar machte es sich
zur Zeit des deutsch-franzosischen Krieges geltend. Als im
Januar 1871 Reichsdeutsche in der Ziircher Tonhalle die deut-
schen Siege iiber Frankreich feierten, gab es eine feindliche
Demonstration der Bevolkerung, die beinahe zu einem veritablen
Aufruhr geworden ware.
Daruber waren noch keine zehn Jahre vergangen, als ich nach
Zurich kam, und das Vorurteil gegen die „Schwaben“, wie der
Sammelname fiir die Deutschen lautete, war noch ziemlich stark.
Aber es aufierte sich im praktischen Verhalten nicht unange-
nehmer, als etwa damals im „grofien Kanton Wurttemberg“.
Wahrhaft freiheitlich empfindende Deutsche fiihlten sich trotz-
dem in der Schweiz wohl. Ein in Zurich lebender deutscher
Aristokrat von liberaler Gesinnung, der in einem von ihm her-
ausgegebenen Blatt unerbittliche Kritik an allem iibte, was ihm
an schweizerischen Sitten, Einrichtungen und MaBnahmen miB-
fiel, antwortete, als man ihn einmal fragte, was er tate, wenn er
plotzlich nach Deutschland versetzt wiirde: „Ich kroche auf
alien Vieren in die Schweiz zuriick“. Der charaktervolle Mann
hat denn auch sein Leben auf schweizerischem Boden be-
schlossen. Er war ein SproB des schlesischen freiherrlichen
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
129
Hauses von Rotkirch, nannte sich aber als Schriftsteller nach
einem Nebentitel seiner Familie von Taur. Sein Blatt, die
„Schweizerische Handelszeitung“, hatte nur eine ldeine Auflage
und maBigen Umfang, ward aber aufmerksam gelesen, da man
die in Fachkreisen des Herausgebers sorgfaltig gewonnenen Ur-
teile schatzte und seine Unbestechlichkeit kannte. Es hat wohl
kaum einen zweiten Herausgeber einer Handelszeitung gegeben,
der fur seine Klienten so unnahbar gewesen ware, wie von Taur.
Jeder Versuch, den Leiter von Bank- oder Handelsinstituten
untemahmen, mit ihm in personlichen Verkehr zu treten, ward
von ihm als beleidigend empfunden und entschieden zuriick-
gewiesen.
Im Blatte dieses eigenartigen Mannes hatte ein schweizeri-
scher demokratischer Schriftsteller, den ich bald kennen lemen
sollte und der mir noch heute ein lieber Freund ist, zuerst seine
hervorragende Begabung als politischer Humorist an den Tag
gelegt. Riiegg war der Sohn eines Lehrers und selbst fiir den
Lehrerberuf ausgebildet, hatte sich aber in den Tagen der
Kampfe urn Ziirichs demokratische Verfassung lebhaft an diesen
beteiligt und sodann sich der politischen Joumalistik zugewandt.
Er hatte eine Zeitlangam Winterthurer Landboten mitgearbeitet,
der damals das Hauptorgan der Ziiricher, man kann auch sagen
der schweizerischen Demokratie war, und zu dessen redaktio-
nellen Leitern der treffliche Friedrich Albert Lange gehorte, der
Verfasser der „Arbeiterfrage“ und der Geschichte „des Mate-
rial ismus". Der Auffassung der Demokratie, wie sie zu jener
Zeit im „Landboten“ verfochten wurde und fiir die es keine
scharfe Trennungslinie nach dei Seite der Sozialdemokratie hin
gab, ist Riiegg sein ganzes Leben treu geblieben. Sein warmes
Empfinden fiir alle ehrlichen Befreiungsbewegungen verhindert
es, daB der skeptizistische Zug, der durch seine humoristischen
Plaudereien geht, jemals in den Zynismus der berufsmafiigen
SpaBmacher ausartet.
Im Verein mit dem gleichgesinnten Theodor Curti hatte
Riiegg Anfang 1879 in Zurich ein Tageblatt, die ..Ziiricher
Post “, ins Leben gerufen, welches die Demokratie in dem vor-
1 30 Eduard Bernstein * Vdlker zu House
entwickelten Sinne vertrat und unter der Redaktion dieser zwei
Personlichkeiten bald eine geachtete Stellung in der schweize-
rischen Joumalistik einnahm. Zwar war die ..Ziiricher Post4* zu
sehr Gesinnungsblatt, um eine groBe Auflage zu erzielen, sie
war aber zu eindrucksvoll gehalten, als dafi man sie hatte igno-
rieren konnen. Der aktivere Politiker am Blatt war Curti, der
auch ziemlich bald in den schweizerischen Nationalrat gewahlt
wurde. Ihn fesselte das parlamentarische Wirken, fiir das Riiegg
nur mafiiges Interesse hatte. In der Gesinnung einig, waren die
Herausgeber der ..Ziiricher Post“ im Temperament so grund-
verschieden, wie man es sich nur vorstellen kann.
Das kam auch gelegentlich in drolliger Gestalt im Blatt zum
Ausdruck. Da rebellierte zuweilen in geistreicher Ironie das von
Riiegg redigierte Feuilleton gegen die Uberschatzung des parla-
mentarischen Kleinkrieges in den politischen Artikeln und
Briefen Curtis, um dann von diesem eine etwas lehrhafte Zu-
riickweisung zu erfahren, deren Ziel nur der Unterrichtete her-
ausmerkte. Curti hatte die Anlagen zu einem Parlamentarier
groBen Stils, ihn dangte es, gesetzgeberisch schopfend zu wirken,
und er hatte sich durch Tatigkeit in diesem Sinne Anspruch
darauf erworben, in den schweizerischen Bundesrat gewahlt zu
werden. Aber der liberal-radikalen Partei, die im Nationalrat
iiber die Mehrheit verfiigte, war er ein zu unruhiger Geist, als
dafi sie ihn auf ihre Wahlliste setzen mochte, und die Arbeiter-
partei, die ihn gem gewahlt hatte, obwohl er ihr nicht als Mit-
glied angehorte, war noch zu schwach, seine Wahl zu erzwingen.
Von all den Schweizem, mit denen ich in Zurich zusammen-
kam, sind nur wenige mir im gleichen Grade als Manner er-
schienen, die es lohnte naher zu kennen, wie die beiden Heraus-
geber der „Zuricher Post“. Es waren beides wahrhaft gebildete
Manner mit weitem Horizont und jeder in seiner Weise dem
Sozialisten ein willkommener Nachbar. Curti hat spater auf den
Wunsch Leopold Sonnemanns sein Mandat als Nationalrat und
die Stelle als Mitglied der Regierung seines Heimatkantons
St. Gallen niedergelegt, um als Direktor der Frankfurter Zeitung
die Uberliefemngen dieses Blattes aus seiner besten Zeit auf-
Eduard Bernstein ♦ Volker zu House
131
recht zu erhalten. Am Vorabend des Weltkrieges ist er aus
dieser Stellung ausgeschieden, — zur rechten Zeit, denn es ware
nun schwerlich ohne Konflikte zwischen ihm und den jetzigen
Besitzern der Zeitung abgegangen. Er war als Schweizer von
jeder Befangenheit mit Bezug auf Deutschland frei und oft ein
scharfer Kritiker der Politik Frankreichs. Aber er war durch
und durch Demokrat und hatte u. a. niemals iiber die Dinge
hinweggekonnt, die Belgien geschehen sind. Uberraschend
schnell und zu friih fiir alle, die ihn gekannt haben, ist er im
vorigen Jahr einer Herzschwache erlegen.
*
Ich war erst kurze Zeit in Ziirich, als ich Theodor Curti bei
einer grofien Volksdemonstration als Redner horte. Els war eine
Kundgebung gegen die Wiedereinfuhrung der Todesstrafe.
Konservative hatten das Vorkommen einiger Mordtaten benutzt,
um eine Volksinitiative ins Werk zu setzen zur Beseitigung des
Artikels in der Bundesverfassung, der die einzelnen Kantone
hinderte, die Todesstrafe bei sich einzufiihren. Sie hatten auch
geniigend Unterschriften aufgebracht, um eine Volksabstim-
mung herbeizufuhren, und dieser gait die erwahnte Kund-
gebung. AuBer Curti, der mit grofier Kraft sprach, trat als
Redner auch der Dichter Gottfried Kinkel auf, der damals in
Zurich lebte und einen Lehrstuhl fiir Kunstgeschichte am eid-
genossischen Polytechnikum inne hatte. Der heutigen Gene-
ration ist Kinkel fast unbekannt. Damals aber hatte man noch
nicht vergessen, daB er 1849 an der badisch-pfalzischen Er-
hebung fiir die Reichsverfassung teilgenommen hatte, gefangen
genommen und vom Rastatter Kriegsgericht zu lebenslanghcher
Festungshaft verurteilt worden war, die Friedrich Wilhelm IV.
von PreuBen durch Reskript in Zuchthausstrafe verwandelt
hatte, und daB er nur durch einen kiihnen Handstreich des Karl
Schurz davor behiitet worden war, bis zu einer etwaigen Am-
nestie Jahre im Spandauer Gefangnis als Zuchthausler zubringen
zu miissen. Allerdings wuBte man in radikalen Kreisen auch
allerhand iiber seine Schwachen, Karl Marx hatte ihn ob dieser
1 32 Eduard Bernstein ♦ Vdtker xu House
mit dcr Lauge seines Spottes iibergossen — im 1 860 erschienenen
„Herr Vogt1* nennt er ihn die Passionsblume des deutschen Phi-
listertums — und auch FreiHgrath spricht in seinen Briefen
ironisch genug von ihm. So war ich denn gespannt genug, den
DicKter des „Otto der Schutz*1 ais Vollcsredner zu Horen.
Stinune und Erscheinung befahigten ihn zu einem sole hen.
Ein grofier breitschultriger Mann, stellte er auf der Tribune
etwas vor und seine Stinune klang laut und vemehmlich. Aber
ein geschwollen theatralisches Pathos verriet den Redner von
1 848 und war weder nach dem Geschmack der schweizerischen
Horerschaft, noch konnte es den Sozialdemokraten Lassalle-
Marx’scher Schule Gefallen abgewinnen. Auch eine Flug-
schrift gegen die Todesstrafe, die Kinkel damals schrieb, ver-
fehlte infolge von Mifigriffen im Ton ihren wohlgemeinten
Zweck. Die reaktionare Initiative erzielte bei der Volksabstim-
mung die Mehrheit, weil die radikalen Kantone der Westschweiz,
obwohl sie von der Todesstrafe nichts wissen wollten, aus
Gegnerschaft gegen den Zentralismus der Bundesverfassung
dafiir stimmten.
Kurze Zeit nach der Versammlung lemte ich Kinkel person-
lich kennen, und zu seiner Ehre mu6 ich sagen, daB er sich
gegenuber der verfolgten deutschen Sozialdemokratie durchaus
anstandig benahm. Aber seine Art im Verkehr machte doch
jedesmal, wenn ich mit ihm zusammentraf, auf mich einen
komischen Eindruck. Sie bestatigte, was ich spater in einem
Brief Freiligraths iiber Kinkel las: „Er kann nicht anders, er
mu6 auf Stelzen gehn.“ Auch da6 Kinkel, als er einmal im
Ziiricher deutschen Arbeiterverein einen Vortrag zu halten hatte,
sich den braven, aber fiir die Probleme unsrer Zeit farblosen
und als Dichter nicht grade bedeutenden Theodor Komer zum
Gegenstand wahlte, kam mir etwas lacherlich vor.
Immerhin hatte sich Kinkel, nachdem er im Jahre 1866 etwas
geschwankt hatte, wieder zur Demokratie durchgefunden, wah-
rend die Mehrzahl der seinerzeit in Zurich niedergelassenen
deutschen Achtundvierziger nach den Siegen von 1 866 und 1 870
ins nationalliberale Lager abgeschwenkt waren. Als einen der
Eduard Bernstein * Volker zu House 1 33
Festgebliebenen lemte ich noch den weiland preuBischen Ar-
tilleriehauptmann Fr. von Benst kennen, der 1848 an verschie-
denen Volkserhebungen ftihrend teilgenommen hatte und in con-
tumaciam dreimal zum Tode verurteilt worden war. Er wirkte
als Fliichtling in Ziirich langere Zeit als Lehrer an einer von
Frobel gegriindeten Schule, hatte diese dann nach Frobels Tod
iibemommen und in ihr das System des Frobelschen Anschau-
ungsunterricbts weiter ausgebildet, so daB die Schule weithin
im Auslande bekannt und oft von Auslandern besucht wurde.
Beust — er hatte den Adelstitel abgelegt — hatte als Mitarbei-
terin an seiner Schule seine Frau, eine Kusine von Friedrich
Engels, nach Erscheinung und Wesen eine echte Rheinlanderin
nach den Versen Simrocks :
„Siehst die Madchen so frank und die Manner so frei,
Als war es ein adlig Geschlecht.“
Ein charakteristisches Wort von ihr kennzeichnet ihre Denkart.
Wiederholt hatten sich Beusts uns in Zurich lebenden deutschen
Sozialisten dadurch gefallig erwiesen, daB sie gemaBregelte
sozialistische Lehrer an ihrer Schule beschaf tigten . Einer davon,
fur dessen Anstellung ich zum Teil verantwortlich zu machen
war, hatte sich gegen die Leute nicht sehr schon benommen.
Als Frau Beust mir von seiner Verabschiedung erzahlte, setzte
sie hinzu: „Er war ein ungeschliffener Mensch und das hatte
mich eigen tlich fur ihn eingenommen. Ich habe aber erfahren
miissen, daB man ein Flegel und dabei zugleich sehr hinterhaltig
sein kann.“
Die Beustsche Schule wurde in Zurich fast ausschlieBlich von
den Kindem dort lebender wohlhabender Deutschen besucht.
In sehr vielen Fallen war jedoch bei den Eltem dieser Kinder
weniger eine Bevorzugung der Beustschen Unterrichtsmethode
fur die Wahl dieser Schule bestimmend, als ein ziemlich starker
Snobbismus. In Zurich besteht die Einheitsschule, und selbst
wohlhabende Schweizer schickten ihre Kinder unbedenkiich von
Anfang an in die allgemeine Volksschule. Den meisten deut-
schen Bourgeois paBte es aber nicht, ihre Kinder neben Prole-
tarierkindem unterrichten zu lassen, und so zogen sie die
134
Eduard Bernstein * Vdlker xu Home
Beustsche Schule vor. Ob diese noch besteht, weifi ich nicht.
Das EKepaar hat langst das Zeitliche gesegnet, und ein Sohn,
der gleichfalls Lehrer an der Schule war und sich als solcher
ganz vorziigHch angelassen hatte, ist in jungen Jahren gestorben.
Noch zwei gewesene Hauptleute habe ich in Zurich kennen
gelemt. Von ihnen jedoch wird am besten im Zusammenhang
mit der Schilderung des Treibens der sozialdemokratischen
Kolonie zu sprechen sein, die von 1879 an Zurich unsicher
machte und deren Zentrum der „01ymp“ am oberen Wolfbach
zu Hottingen wurde.
A
Max Pulvar * GedichU
135
C77(ax CEufver:
GEDICHTE
Du atmest schwer; die Lampe scheint gedampft,
Und meine Hande liegen in den Deinen.
Ein neues Leben leise in Dir kampft,
Holdseliger Aufruhr weckt Dir Gliick und Weinen.
Du bist allein, verloren wie im Strom
Ein scbwerer Stein, um den die Wirbel steigen.
Wie nachtiger Wandrer im verschloBnen Dom,
Wie Einzelstimme schwebt ob sanften Geigen.
Du bist allein und doch dem All verschrankt,
Wie Gott allein ist, der die Welt umkleidet.
Als Selbstverlorne mit dem All beschenkt,
DaB jedes Herz aus Deinem Herzen leidet.
Wir bleiben durch den Abgrund ungetrennt.
Den Deine Tiefe von der Welt gerissen.
In jene Opferglut, die in Dir brennt,
Bin ich getaucht in Deinen langen Kiissen.
NACH EINEM BILD.
Wie blickst Du scbmerzlich ; und die weiBen Dolden
Vor Deinen Handen neigt nun Sommerreifen.
Gewitteraten^jog das Korn m Streifen,
Im fruchtbescnenkten Laube glanzt es golden.
Entwohnt, den Lieben machtvoll zu umfassen,
Max Pulver ♦ GedichU
Wie schon die schweren Arme niederhangen.
Von ausgespannter Sehnsucht, stetem Bangen
Bliebst Du erfiillt, durchtrankt und doch verlassen.
Das feuchte Blau des Himmels macht nicht heiter,
Nicht frischer Herbstgeruch und Duft der Feuer.
Dein Schmerz erhebt sich nackt und ungeheuer
Wie aus Johannis Schau die harten Reiter.
Was hilft der Friicbte lockendes Gewinde,
Die miirbe Sattheit rings aus Berg und Schluchten,
Der Krieg laBt seine Fange niederwuchten,
VerschlieBt den milden Kem in harte Rinde.
*
Dichter Dunst am Regentag,
Welkgeschrumpftes Laub im Kot.
Wie der Winter freudlos naht,
Selbst die Bache sind schon tot.
Treiben hin mit stumpfem Braun,
Ohne Leuchten, ohne Sinn :
Wie das Kleid verlaBner Fraun
Streift ein Blatt am Wege hin.
Rostig knirscht das Laub im Baum,
Jeder Zierat wurde schal.
Frost verscheucht den schwachen Traum.
Was uns bleibt, ist ode Qual.
Wenn sie sich nach innen friBt,
Heifi das matte Herz durchkrankt,
Spiirst du, dafi du lebst und bist
Neu in Fruchtbarkeit getrankt.
Feuchtes Pflaster, feuchte Flecke
Aus der goldenen Lateme.
Grelle StraBen, dunkle Ecke,
Regennacht voll blinder Sterne.^
Hab ich dich nach Haus geleitet,
Stumm und liebend dich durchdrungen.
Max Ptdver * Gedichte 1 37
Hat ein Strom uns ausgeweitet
Bliihender Erinnerungen .
Und ich schied von dir am Ende,
Horte deine Seele weinen.
Und ich spiirte deine Hande.
Schwankend auf den schlechten Steinen
Ging ich ohne umzublicken,
Floh ich dich und rief dir schiichtern.
Jubel wollte mich ersticken
Zwischen Nacht und goldnen Lichtern
*
Welkes Gras und schwere Bander
Brauner Schollen in der Flache.
Blasses Dorf um Hiigelrander,
Schwarzer Damm verborgner Bache.
Himmel leicht aus Licht und Flocken,
Raum erfallt vom Ton der Sage,
Und die zarten Morgenglocken.
Kahler Strauch um kahle Wege.
Fiihlst vom DrauBen dich geschieden,
Steht es schlicht dir gegeniiber.
1st dir andre Kraft beschieden.
Eigne Macht verspiirst du wjeder.
Ihr entringen sich Gebarden,
Wo im Sommer du genossen ;
Keimend unstillbares Werden
Aus dem Innersten ergossen.
Nicht mehr tauchen die Gestalten
Sich in dich wie kecke Schwimmer.
Eignem Grund entsteigt ihr Walten,
Blicke feucht von deinem Schimmer.
Hat die Welt sich dir verweigert,
Stromt $je nicht mehr, dich zu fallen ;
Wachst Cm doch und ahnst gesteigert
Gottes Strom in deinem Willen.
138 Max Pulver * GedickU
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Die Luft ist hell, und silberrein die Stunde,
Wo sich der spate Tag im Licht verklart.
Mein Herz ist leicht, als ob es sanft gesunde.
Von frischgeweckter Sehnsucht kaum beschwert.
So ists kein Traum, zu dem ich mich erhebe,
Nicht Wunsch allein, der vor der Sonne lischt.
Das ist mein herbstlich Braun in Baum und Rebe,
Das ist mein Feld vom Nebelflor verwischt.
Du Zeit der Reife hast mir Frucht getragen.
In deinem KuB Erfiillung mir beschert,
Und meine ungehemmten Pulse schlagen
Dir dankbar zu und ehren deinen Wert.
■ n
Carl Sternheim * Tabvla Rasa
139
Carf Siernheim:
TABULA RASA
EIN SCHAUSPIEL IN DREI AUFZOGEN
ZWEITER AUFZUG.
ERSTER AUFTRITT.
Isolde (sitzt am Klavier und spielt ein Stuck von Grieg).
Bertha (am gedeckten Kaffeetisch trinkt und ifit, wahrcnd Nettel ihr
die Haare mit schaumendem Wasser wascht). (Zu Isolde:)
Willst du wirklich den Kuchen nicht mehr?
Isolde: 16 nur.
Bertha (schlingt ein neues Stuck Kuchen mit Schlagrahm).
Isolde (spielend) : Das ist Musik! Grieg.
Bertha (zu Nettel): Bist du bald fertig?
Nett el: Ist’s schon sechs Uhr?
Bertha: Halb.
Nettel: Bis sechs habe ich nichts zu tun. Bei den Kindern
sitzt Trude; sie spielen artig, und fur die Haare kann die
Massage, das Frottieren nicht lange genug dauern.
Bertha: MuBt du denn immer zu tun haben? Ich wundere
mich wahrhaftig, daB dir die Wirtschaft oben nicht geniigt.
Filnf Rangen und die Kiiche und sonstige Bescherung dazu.
Nettel: Wie ich’s mir eingeteilt, bleibt freie Zeit genug.
Isolde (steht auf und ziindet sich eine Zigarette an): Das war Grieg ;
der geht auf den Lebensnerv. (Sie umfafit Nettels Schultern.) Ach
wiifitest du — ? (Geht zum Instrument zuriick.)
Bertha: Nettel kennt auBer ihrer Arbeit rein gar nichts.
140 Carl Stemheim * Tabula Rasa
obwohl sie sich vielmehr um ihre Bildung kiimmem rniiBte.
Was bleibt der Mensch ohne Bildung?
Nettel: Ich habe alle Bucher gelesen, die Isolde mir gab.
Bertha: Hast du von Bolsche gelesen?
Nettel: Ja.
Bertha: Hast du denn von Key gelesen?
Nettel: Auch.
Bertha: Dann mufit du die ganze Geschichte doch wissen.
Nettel: Welche?
Bertha (lacht) : Welche? Die bewufite natiirlich. (Zu Isolde:)
Ich sage zu Nettel wegen Bolsches: dann mufit du die
Geschichte doch wissen. Fragt sie: welche?
Nettel: Es stehen unzahlige Geschichten drin.
Bertha: Nein, die Nettel! (Sie lacht sturmisch.)
Nettel: Meint ihr Zeugung und Geburt? Da ist nichts zu
lachen; das ist so.
Bertha (zu Isolde); Hor nur, wie frech sie das sagt ; (zu Nettel:)
Du scheinst schon verdorben.
Isolde: Siehst du das Geheimnisvolle der Vorgange nicht.
Protoplasma, Keimzelle, das gewaltige Mysterium.
Nettel: Ich kann mir nichts weiter dabei denken.
Isolde: Euere Generation kommt mir geradezu pervers
vor. Die erhabensten Dinge der Welt nehmt ihr mit Gleich-
mut hin, ohne zu staunen, im Tiefsten zu erschauem. Ihr
denkt und priift nicht wie die jungen Leute meines Alters.
Im Leben steht ihr und tut und gut. Klappert und klappt wie
Maschinen eintonig euer Tagwerk. An Ubersinnliches riihrt
ihr nicht.
Nettel: Wir sind zufriedener als ihr.
Bertha: Wie frech das Madel ist!
Isolde: Weil ihr das Gefiihl der Verantwortung nicht im
gleichen Mafie habt.
Bertha: Keine Verantwortung!
Nettel: Ich habe die Welt nicht gemacht.
Isolde: Als war’ das eine Entschuldigung.
Nettel: Wofiir?
Carl Sternheim * Tabula Rasa
141
Isolde: Fiir die Schopfung, wie sie ist.
Nettel: Aber sie ist gut.
Bertha: Fiir die Reichen mit grofiem Geldsack vielleicht.
Wer sich aber die Tage hindurchschinden mufi!
Isolde: Wer aber auch an allem, an allem oft verzweifelt!
(GroBer Seufzer.)
Nettel: Fiirchtete ich mich nicht so schrecldich. —
Bertha: Wovor fiirchtest du groBe Person dich?
Nettel: Abends — ist’s dunkel; ist Vater fort wie vor ein
paar Tagen, ich oben mit den Kindern allein ; plotzlich Schat-
ten, Gestalten iiberall. War das nicht! (Sie erschauert.)
Bertha: Holt dich einer, bringt er dich an der nachsten
Laterne wieder.
Nettel: War das nicht, ich konnte mich iiber das blofie
Leben nicht lassen. Trude ist auch so; manchmal tanzen wir
im Hemd. Wir haben viel zu arbeiten, und es gelingt. Stets
ist etwas nicht in Ordnung; man andert’s, dann pafit’s. Wo
ein Fleck ist, wischt man ihn weg und hat das Gefiihl, ohne
einen geht die Wirtschaft nicht.
Isolde: Und abends kommt das Griibeln.
Nettel: Abends ist man miide; schlaft.
Bertha: Dein erstes verniinftiges Wort.
Isolde: Du bist von der platten Unkompliziertheit deiner
Altersgenossen. Fiir euch hatte der ungliickliche Goethe
nicht zu leben gebraucht, Ihr versteht nicht das:
„Vom Aberglauben friih und spat umgamt,
Es eignet sich, es zeigt sich an und warnt,
Und so verschiichtert, stehen wir allein !“
Bertha: Mir kommt sie einfach frech vor.
Isolde: Wachst auf in einer Umgebung, die vom Kampf
der Klassen und Individuen urns tagliche Brot und um das
Heil der Seelen drohnt und haspelt dabei stumpf euer Pensum
ab. Sorgen sind euch fremd; erst Ideale!
Nettel: Liebe meinst du?
Bertha: Da habe ich keine Angst. Das wird das Madchen
schon machen.
35 Vol. m/1
142
Carl Sternhcim ♦ Tabula Rasa
Isolde: Doch wie banal. Wie das Haustier. Beute irgend
einer stupiden Mannlichkeit.
Nettel: Da denke ich mir meinen Teil.
Bertha: Immer frech.
Isolde: Hoheren Aufschwungs unfahig. SchlieBIich aber
bist du sechzehn Jahre alt.
Nettel: Tue ich nicht meine Pflicht?
Isolde: Gegen andere, nicht gegen dich selbst. Stets
stopfst du den Kindern die Mauler. Dich selbst, dein Zellen-
system nahrst du schlecht. Tragst stets die gleichen Sachen.
Du bist eine kapriziose Erscheinung, konntest Eindruck machen.
Als wir die lebenden Bilder iiberlegten, haben wir auch an dich
gedacht .
Nettel: Dafiir bleibt mir gar keine Zeit.
Isolde: Aber die Uberzeugung, dir wiirde fiir jede hohere
Figur der Ausdruck fehlen —
Nettel (weinerlich) : Was habt ihr nur?
Bertha: Gib dir keine Miih; sie versteht’s nicht. (Geste zu
Isolde.) Frag sie, wie man einen Haferschleim riihrt, sie wird
antworten; oder Strumpfe stopft.
Nettel: Ihr beide seid einfach faul!
Bertha: Was?
Nettel: Onkel Wilhelm und Vater sagen’s auch. Nur wenn
ein Vergniigen vor der Tiire steht wie jetzt, riihrt ihr euch.
Isolde: Hat Arthur das behauptet?
Nettel: Der wagt’s nicht. Hat Angst vor dir.
Isolde: Nur die beiden Alten, die selbst nichts tun.
Bertha: Brandreden halten, ihren Leib fiillen und uns
schikanieren.
Nettel: Uns ernahren.
Isolde: Das lacherliche tagliche Brot geben. Sonst Banausen
sind wie du.
Nettel: Fur die Rechte der Arbeiter sich einsetzen.
Bertha: Nun mach SchluB. Was verstehst du davon?
Nettel: Warum sonst das Zusammenbleiben bis in die
Nacht ? Onkel Wilhelm hattet ihr gestem abend bei uns horen
Carl Sternheim * Tabula Rasa
143
sollen: Und wollt ihr mit Posaunen mich iibertonen, das
unterdriickte Volk wird mich horen.
Bertha: Faule Fische. Da kenne ich mich aus.
Isolde: Die lebenden Bilder will er uns verderben; aber
das Jubilaum wird gefeiert.
Nettel: Oder nicht.
Bertha: Bist du still?
Nettel: Der Schwarze, der hier ist, der Feurige mit dem
Bartchen —
Bertha (zu Isolde): Der Feurige — horst du!
Nettel: Der auf die Stiihle klettert, will’s um die Welt
nicht.
Isolde: Und Arthur?
Nettel: Macht immer: Pst! (S ie legt den Finger an den Mund.)
Isolde: AIs kritisch iiberlegener Geist beteiligt er sich
kaum am Geschwatz.
Nettel: Der Schwarze hat’s ihm aber ein paarmal tiichtig
gegeben .
Isolde: Dein Schwarzer ist ein vollkommener Idiot. Reicht
Arthur nicht das Wasser. (MiBt sie verachtlich.) Platitude. (Schlagt
die Tiir zu, exit.)
Bert ha (miBt sle verachtlich): Feuflg ! Schaf ! (Schlagt dieTiir zu.exit.)
Nettel: Schlampen! (Schlagt die Tiir zu, exit.)
Z WE ITER AUFTRITT.
St urm (offnet die Tiir, sagt drauBen zu Nettel) : 1st dein Vater da?
Nettel: Hier wohnt mein Vater nicht.
Sturm: Stander?
Nettel: Sieh selbst nach! (S ie verschwindet.)
St urm: Range! (Er tritt ins Zimmer.)
♦
Carl Siernheim ♦ Tabula Rasa
DRITTER AUFTRITT.
Stander (tritt au f ) : Was hast du gegen das Fest?
Sturm: Statt Feste der Fabrilcanten zu feiem, soli das
Volk mit der Faust auftrumpfen.
Stander: Selbstverstandlich ist zu jubilieren kein AnlaB,
doch unter der Maske der Vorbereitungen fallen Zusammen-
Idinfte, fallt fieberhaftes Leben, der wahre Jakob weniger auf.
Alles was dient, die Aufmerksamkeit des Feindes von unseren
wirldichen Absichten abzuziehen, soli recht sein.
Sturm: Aber was zum Teufel sind unsere Absichten? Fast
eine Woche bin ich hier, und durch ein unerklarliches WeiB-
nichtwas fiihle ich mich aus dem Gleichgewicht. Wie ein
Quirl springst du um mich, gehst mir nicht von der Seite.
Wohin ich meinen Samen streue, wende ich mich fort —
wieder zuriick, scheint mir Gegenteiliges aufgegangen. Wie-
derholst du den Leuten meine Worte, zwinkerst du zugleich
so andersdeutig, dafi die ganz Verkehrtes verstehen miissen.
Stander: Ich zwinkere?
Sturm: Blinzelst, schielst und mauschelst. Fieberst wie
ein Signalapparat, der mit griinem Einfahrtslicht rotes Halt
gebietet. Tiefster Uberzeugung rief ich : „MiBtraut dem heim-
tiickischen Mammon !“ Aller Herzschlag der Genossen ist
fest in meiner Hand, fiihle ich. Da mitten im Rollen des
Wortes „Mammon“ dreht sich alles Auge zu dir, der du
stehst —
Stander: Wortlos.
Sturm: Mit sprechender Visage, die den Sinn meiner
Worte aufhebt.
Stander: Du bist verriickt.
Sturm: Mir geht ein Licht auf.
Stander: Das ist Hochverrat!
Sturm: Von wessen Seite?
Stander: Ich hange es an die grofie Glocke. Dafiir sollst
du biiBen. Ich, der seit vierzig Jahren Herzblut fur die Armen,
sein Hemd — vergieBe — ich! ah! das!
Carl Sternheim * Tabula Rasa
145
Sturm: Stander!
Stander: Allein — friih und spat
blute
Sturm: Mir geht’s um mein Evangelium. Steh mir Aug’
in Auge: Bistdu’s? !
Stander: Sein Hemd bis ins letzte.
Sturm: Sozialdemokrat ? ! (Er packt ihn bei der Hand.)
Stander (mit groBer Geste): Bis in den Tod von deiner Rasse.
Sturm (driickt ihn an sich): Das dank ich dir ewig.
VIERTER AUFTRITT.
Arthur (tritt auf, sagt zu Sturm): Ich verbiete endgiiltig. Sie
hetzen unser Volk mit tausendmal iiberholten Maximen auf.
Sturm: Auseinandersetzung mit Ihnen lehne ich ab.
Arthur: Sie verkennen den Zweck, der Sie herrief, tun
Sie anderes als die Genossen dariiber aufklaren, dafi eine
Sammlung guter Bucher fur sie notwendig ist.
Sturm: So bin ich fortan ohne Auftrag in eigener Ange-
legenheit hier.
Arthur:
Sturm:
Arthur:
Sie erreichen nichts. Die Leute lachen Sie aus.
Das bleibt meine Sorge.
WiiBten Sie, in welchem Grad Sie einfaltig und
iiberfliissig sind, Sie schamten sich. (Zu Stander:) Gerade habe
ich mich mit dem Direktorium auseinandergesetzt. Nach
allem, was ich horte, steht man nicht mehr auf dem unbedingt
ablehnenden Standpunkt. Die Aussichten fiir die Bibliothek
sind im Gegenteil die besten. Nur das sofortige Aufhoren der
Arbeiterbewegung will man. Durch den plotzlichen, passiven
Widerstand an alien Ecken und Enden ist man einfach nicht
imstande, ordnungsgemaB zu arbeiten, Entschliisse zu fassen.
Wird durch tausend ldeine Schikanen an der Erledigung des
Notwendigsten gehindert.
Sturm: Krepieren soli die Bande vor stets neuen Sorgen!
Stander: Den Kniippel zwischen den Beinen sind sie gelahmt.
Arthur: Sie konnen vor lauter Zwischenfallen —
146
Carl Sternheim ♦ T abula Rasa
Stander: Nicht mehr X vom U unterscheiden, geschweige—
(Er reibt sich die Hande.)
Arthur: Wir haben begriindete Aussicht, ein prachtvolles
Ziel durchzusetzen, schaffen wir den Verantwortlichen ein
klares Him fiir ihre Entscheidung. Unser akuter Wille ist:
Die Bilcherei. Von Prinzipien sehen wir fiir den Augenblick ab.
Sturm: Den Teufel tun wir. Ihr Lesekranzchen ist ein
Bierulk, eine Lokalposse. Wir anderen stehen zehn Stockwerk
hoher. Haben die Eisenstange im Raderwerk und heben den
ganzen freibeuterischen Mechanismus endlich aus dem Gewinde.
Arthur: Ihr utopisches Geschwafel ist heutzutage Ver-
brechen. Wir marschieren, Proletarier, festen Schrittes zur
Vereinigung, Verbriiderung mit dem gesamten europaischen
Biirgertum, Weltpolitik zu machen.
Sturm: Wir springen euch elenden, geldvergifteten SpieB-
biirgem an die Gurgel, wir — Proletarier.
Arthur (an der einen Seite des Tisches): Hinter uns steht un-
iibersehbare Menge.
Sturm (an der anderen Seite des Tisches): Die Elite, das Mark
und die Kraft Deutschlands schnellen uns.
Stander: Meine Herren!
Arthur: Das ist ein —
Sturm: Er soil mich — !
Stander (leise zu Arthur.): Geh! Ich schaffe ihn fort.
Arthur (schlagt mit Gewalt auf den Tisch).
Sturm: Friedlich Bourgeois!
Arthur: Bourgeois selbst!
Sturm: Citoyen! Bourgeois; den Unterschied beult das
nachste Jahrzehnt aus deutscher Sprache heraus.
Stander (hat Arthur hinausgedrangt).
*
fOnfter auftritt.
Sturm: Dieser Allerweltsumarmer ist ja eine tolle Abart
der Partei. Treibt einem Gift ins Gehirn.
Stander: Wahrhaftig!
Carl Sternheim * T abula Rasa
147
Sturm: Solche Quirler, Vermischer reiner Absichten,
gehorten unter den Tritten unserer Bataillone zerstampft.
Stander: Bravo!
Sturm: Bebst du wie ich vor Wut ? Was sagst du?
Stander: Du sahst doch, gerade stieB ich ihn noch zur
Tiir hinaus. Im nachsten Augenblick hatte ich mich vergriffen.
Sturm: Die mengen Europa in grofier Butte zu einem Mus,
das alle Wege der Vernunft und des Glaubens verstopft.
Stander: Da hast du aber einmal wirklich und vollkommen
recht!
Sturm: Und wagt sich unsereinem in den Weg!
Stander: Freilich ohne Wirkung. Das Mannchen nimmst
du zu wichtig. So etwas bewegt sich wie der Sturm im Wasser-
glas, (auf Sturm zeigend) nicht wie dieser freilich, knapp bis
ins dreiBigste Jahr. Dann kommt mit Frau und Kindern die
harmlose Katastrophe.
Sturm: Der Wurm kriimmt sich lange.
St ander: Er ist durch baldige Heirat meiner Nichte Isolde
geliefert. Ein faules fettes Madchen, das ihm sein Quentchen
Mark in Jahresfrist herausloffelt.
Sturm: Hoffentlich.
Stander: Sei unbesorgt. Der hat sich die letzte Zeit ge~
tummelt. Drum genug von ihm ; du brauchst ihn ferner nicht
zu beachten. Tu deine Arbeit, die ich schatze. Tu sie, willst
du, mehr im Geheimen. Ich, der iiber den Schwachkopf, in
die hiesige Wirklichkeit sehe, bin mit dir, in Anbetracht und so
weiter, zufrieden. Das wollt ich dir bei dem AnlaB sagen.
Geh flink noch zu Flocke hinauf, meld’ ihm, unser Plan geht
nach Wunsch. Das gewollte Chaos ist angerichtet ; bei volliger
Verwirrung unserer Gegner halten wir fur groBe Zwecke den
Faden in der Hand. Ist’s nicht so?
Sturm (mit bewegtem Handedruck): Esist! Und auf der Basis
wirken wir nun kraftig fort. (Exit.)
Stander: Sechs Tage bis zum Fest. Noch bleibt alle
Gefahr drohend. Das Durcheinander kann dauernd nicht wild
genug sein. Nach links zieht Sturm, Arthur rechts am Strick.
148
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Wiifite ich einen Dritten, sollte der von der Mitte her tiichtig
schiitteln.
SECHSTER AUFTRITT.
Arthur (trittauf): Was ist mit ihm?
Stander: Gerade stiefi ich ihn zur Tiir hinaus. Im nachsten
Augenblick hatte ich mich vergriffen. Jedenfalls vergifit er das
Wiederkommen.
Arthur: Vor solchem Ungetiim konnte man an der intel-
lektuellen Linie der ganzen Natur verzweifeln. Diese Gewalts-
menschen gehoren glatt an die Wand erschossen.
Stander: Bravo!
Arthur: Ohne einen Begriff davon, dafi sich durch wirt-
schaftliche Organisation das hehre Ziel schneller und griind-
licher erreichen lafit als durch blutige Revolution, halten diese
Fossile aus der Primarzeit es nicht fur notig, sich iiber errungene
Feststellungen zu unter richten . Diese tiefen Kopfe
meine tief im Sinne einer Thermometerskala
haben
ich
vom
Unterschied zwischen Arbeitswert und Produktionspreis keine
Ahnung.
Stander: Bewahre.
Arthur: Wissen von Profitrate, Zentralisation des Kapitals
und der Betriebe, vom nationalen Mehrprodukt, Kreditsystem,
der Vergesellschaftung und dem Normalarbeitstag nicht das
Geringste.
Stander: Wie soli so einer auch? Von den Gutgesinnten
gemieden, ohne Weib und Kind.
Arthur: Und wagt sich unsereinem in den Weg.
Stander: Ohne Wirkung freilich. Wie der Sturm, (er lacht)
im wahren Sinn des Wortes, im Wasserglas bringt sich so etwas
knapp bis ans dreifiigste Jahr.
Arthur: Er ist funfunddreiBig.
Stander: Bis ans vierzigste. Dann kommt als Folge jahre-
langer Ausschweifungen die schnelle Katastrophe.
Carl Sternheim ♦ T abula Rasa
149
Arthur: Meinst du?
Stander: Du nimmst ihn zu wichtig. Beacht’ ihn weiter
nicht. Tu deine Arbeit, die ich schatze.
Arthur: Lohnrate gegen Profitrate!
Stander: Versteht sich. Tu sie, willst du, mehr im Ge-
heimen. Wir halten hier durch dich geradezu die Faden in der
Hand. Das wollt ich dir bei dem Anlafl sagen.
Arthur: Und ich: nie hatte ich gehofft, in dir einen so fort-
gebildeten und aufrichtigen Genossen zu finden. (Er driickt ihm
kraftig die Hande.)
Stander: Mit Isolde bist du zufrieden?
Arthur: Eine Perle. Ein prima Eizellchen.
Stander: Erziehung: Beethoven, Franzosisch!
Arthur: Mehr als das : ein vorurteilfreies, groBziigiges Herz.
(Umarmt ihn.)
Stander: Und in jeder Beziehung fix dazu. Wo willst
du hin?
Arthur: Ins Direktorium zuriick. Melden, Sturms EinfluB
ist bis morgen matt gesetzt. Er selbst verschwindet. Ich ver-
sichere, unverziiglich erfiillen sie unsere Forderung.
Stander: LaB es bis morgen. Die unruhige Erwartung
macht sie uns geneigter, und ich kann mit deinem Vater, der
auch von der Partie ist, das Passende bereden. Und dann mit
Volldampf voraus zum gesteckten Ziel.
Arthur: Also spaziere ich mit Isolde eben noch ins Wald-
chen hinaus.
Stander: Auch auBerlich ein Prachtsweib?
Arthur: Der ideale, sorgende Gefahrte fur ein harmonisches
Leben.
Stander (meckert): Gluckskerl!
Arthur (exit).
Stander: Wie es sich nun mit der Sozialdemokratie im
Kern auch verhalten mag, man kann jedenfalls in seinen
Neigungen weit schweifen, um immer noch ein erstklassiger
Genosse zu sein.
150
Carl Sternheim ♦ T abula Rasa
SIEBENTER AUFTRITT.
Flocke (tritt auf): Stehts gut, wie Sturm sagt?
Stander: Die Arbeiterschaft ist durch ihn, Gustav, und
unterirdisch durch mich so im Strudel, dafi nicht nur iiber die
Zweckmafiigkeit des Festes, sondern des eigenen Lebens jeder
in Zweifeln schwebt. Die Leitung der Werke dagegen will nur
Ruhe, die Hand vor Augen zu sehen. Dann wird sie uns wobl
jeden Wunsch erfiillen.
Flocke (nach einer Pause seufzend): Ach Gott, ach ja! (Nach
einer neuen Pause :) Was war von alldem eigentlich der Grund,
Wilhelm ?
Stander: Kind Gottes, das fragst du seltsam.
FI ocke: Ich weifi, die Biicherei.
(Pause.) Ich meine, was dich recht eigentlich innerlich zu alle-
dem trieb?
Stander: Innerlich? Ganz innerlich? (Er will mit einem Ruck
auf Flocke los, macht aber vor ihm halt und sagt im gewdhnlichen Ton):
Ach Gott, Du weifit es doch.
Flocke: Das Wohl der Proletarier, Fortbildung; ich weiB.
Ach Gott, ach Gott!
Stander: Betracht’ ichs aber unabhangig davon und nehme
an, die geschaffene Verwirrung hat zu unserem Wohl die Auf-
merksamkeit von uns beiden und unserer eigentlichen Stellung
endgiiltig abgelenkt, sehe ich die Forderung derGenossen: eine
runde Million fur Bucher und ihre Aufbewahrung nunmehr
niichtern von anderem Standpunkt an, vergesse, ich bin Ange-
stellter der Werke und denke, man ist als Mitbesitzer an ihrem
Gedeihen beteiligt.
Flocke: Ja?
Stander: Das fiel mir in den letzten Nachten ein : Ist die For-
derung der Bagage, eine Million ! bodenlose Unverschamtheit.
Flocke: Aber —
Stander: Erlaube! In den letzten fiinf Jahren wurde durch
Speise-, Bade- und Erholungsanstalten, Sauglings-, Blinden-,
Kruppelheime —
Carl Sternheim * Tabula Rasa
151
Flocke: Stellst du eine Bibliothek mit der Badeanstalt auf
gleiche Stufe?
Stander: Weniger wichtig ist sie. Als Kulturmensch kann
ich auf ein Buch eher als aufs Bad verzichten. Ich wundere mich,
daB du, der mit seinen ganzen Ersparnissen an den Fabriken
beteiligt ist, einer bedeutenden Schwachung des inneren Wertes
der Aktiven seelenruhig zusehen willst. Durch Gewahrung der
Million wird der Gewinn dieses Jahres gewaltig gekiirzt, und
die Dividende — dein Zins, Flocke — kleiner.
Flocke: Wahrhaftig?
Stander: Das ist die Kehrseite der Medaille. (Er holt ein
Buch und schlagt es vor Flocke auf.) In der letzten Bilanz hatten
wir eine Bruttoeinnahme von rund zwei, und nach Ab-
schreibung der Handlungskosten noch eine und eine viertel
Million Gewinn. Davon gingen aber ab fur: Arbeiterwohn-
hauskonto, Arbeiterunterstiitzungskonto, Arbeiterpensionsf onds ,
Arbeitersparkassenkonto, Badehaus, Speisehaus, Erholungs-
anstalt und sonstige Arbeiterwohlfahrtseinrichtungskonti rund
dreihunderttausend Mark, bis schlieBlich aus knapp einer
Million Mark zehn Prozent Dividende verteilt wurden. Ver-
stehst du?
Flocke: Ja.
Stander: Woher, um alles in der Welt, soil nun die Ver-
waltung die Million nehmen?
Flocke: Um Gotteswillen !
Stander: Aus dem Jahresgewinn? das hieBe keine Kopeke
Dividende.
Flocke: Was?!
Stander: Aber auch: der Kurs der Aktien fallt um vierzig
bis fiinfzig Prozent.
Flocke: Allmachtiger !
Stander: Aus den Reserven? Das bedeutet katastrophale
Schwachung des inneren Wertes der Anlage.
Flocke: Heiland!
Stander: Folge: gleichfalls Kurssturz bis auf Pari.
Flocke (wimmert).
152
Carl SUrnheim * Tabula Rasa
Stander: Aus alldem erkennst du: wir haben nach Er-
reichung unseres personlichen Ziels kein anderes Interesse, als
die Bewilligung der Bibliothek um jeden Preis zu verhindem.
Flocke: Unser Ziel ist aber nicht vollig erreicht. Es bleiben
sechs Tage.
Stander: Die letzten drei oder vier kommen fur geregelte
Geistestatigkeit nicht mehr in Frage. Da geht in Lampions und
Girlanden jede Orientierung verloren. Achtundvierzig Stunden
lang miissen wir mit der bisherigen Undurchsichtigkeit, mit
Durcheinander die Geschichte noch in der Schwebe halten,
verhiiten, daB das geringste Wirkliche geschieht. Denn einmal
aufrichtig und uns insgeheim gestanden: laBt man iiberhaupt
die menschlichen Voraussetzungen gelten — die sozialen
Zustande in Rodau sind, wie sie sind, geradezu ideal.
Flocke: Ideal!
Stander: Du und ich, ohne sich korperlich zu iiberan-
strengen .
Flocke (kichert).
Stander: Doch sechstausendvierhundert, fiinftausendsechs-
hundert ! Und da das Gros der Arbeiter den ganzen Tag iiber
meist wirklich beschaftigt ist, bleiben die Anstalten, Porzellan-
wannen, Nickelduschen zu gewissen Stunden der Benutzung
durch uns vorbehalten.
Flocke (strahlend) : Die Sitzbrause!
Stander: Arthur hat fiir den Augenblick beim Direktorium
Oberwasser. Es will bewilligen. Das regulieren wir noch heute.
Sturm muB wieder in den Vordergrund. Bevor sich die Leitung
besinnt, hat sich die Arbeiterschaft besonnen. Ihre Forderung
sieht sie als zu groB ein. Man iiberlegt; wird nach dem Fest
weiter davon sprechen.
Flocke: Doch wird Arthur jetzt mit dem Kopf durch die
Wand wollen.
Stander: Isolde ist instruiert. Sie bremst ihn im Stadtwald.
Aber auch Sturm, lafie ich ihm die Leine lockerer, bleibt bei
FuB. Zu dem Zweck veranstalte ich heute abend bei mir Karten-
spiel, und wir setzen ihm dein kleines Madchen zur Seite.
Carl Sternheim * Tabula Rasa
153
Flocke: Nettel? Wilhelm, du bist ein Genie!
Stander: Ich habe einen illuminierten Kopf. Meine Mutter
war auch eine geborene Seidenschnur.
Flocke: Jetzt erst sehe ich vollen Erfolg. Alle Steine fallen
mir vom Herzen. (Man hort drauBen zunehmende Bewegung.)
Stander (zum Fenster): Was ist das?
Flocke: Sausen eines Motors? Siehst du etwas?
Stander: Gruppen Menschen in Bewegung.
Flocke: Sturm mit ihnen ; sie Ziehen nach rechts.
Stander: Er wirft die Arme, holt alle links hiniiber. Gegen
die Direktionsgebaude schwenken sie.
Flocke: Zum Angriff! Er rebelliert sie. Mord und Tot-
schlag! Wir kommen zu spat.
Stander: Man mufi hinunter. (ZurTiir.)
*
ACHTER AUFTRITT.
Arthur und Isolde (treten auf).
Arthur: Was gibt’s?
Flocke: Sturm, Weltuntergang !
Arthur: Hinunter. (Zur Tiir.)
Isolde (Aufschrei) : Geliebter!
Flocke (Aufschrei): Arthur!
St ander und Arthur. (Versuchen sich loszumachen, da Isolde und
Flocke ihre Knie umfassen. Bertha 1st dazugekommen, es gibt ein chaotisches
Hin und Her; von oben hort man Kindergeachrei und Hundegebell. In das
Durcheinander briillt)
Stander: Ruhe!
Flocke (fallt fur tot in einen Stuhl; die ubrigen lauschen).
Bertha (bei volliger Stille): Man hort nichts.
(Von neuem erhebt sich Unruhe, die anschwillt. Alles tritt nebeneinander
zum Fenster und zeigt, in einer Reihe stehend, den Rucken.)
Arthur: Sie kommen!
Isolde: Sturm voran!
Stander: Aufs Haus zu!
154
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
Bertha (schreit auf): Sie stiirmen!
Slander (ohrfeigt sie).
Arthur: Wer ist das neben Sturm? Sie wollen zu uns! (Exit.)
Stander: Schippel!
Isolde (schreit auf) : Arthur!
Stander (ohrfeigt sie) (exit).
Nettel (tritt auf).
Isolde (stiirzt ihr schluchzend an die Brust).
Nettel (am Fenster): Der Schwarze!
Bertha (bei m Anblick Flockcs mit Aufschrei auf ihn zu).
Flo eke (stellt sich fiir tot in einen Stuhl).
Nettel und Isolde (gleichfalls zu ihm).
♦
NEUNTER AUFTRITT.
E* treten auf Schippel, hinter ihm Stander, Sturm, Arthur und etwa ein
Dutzend Arbeiter, wahrend der Rest bei offener Tiir im Hausflur und auf der
Treppe stehen bleiben. Die Frauen sind bei der Manner Eintritt hinter die
Wand von Stiihlen gefliichtet, den halb entseelten Flocke mit sich nehmend.
Schippel (bei volliger Ruhe) : Guten Abend, meine Damen.
(Zu Stander:) Haben Sie die Giite, mich vorzustellen. (Er tritt aber
selbst auf die Frauen zu und sagt, jeder die Hand reichend:)
Direktor Schippel.
FI ocke (verschwindet irgendwie vollstandig).
Die Frauen (knixen).
Schippel: Ohne Sorge, meine Damen. Ein iiberraschend
zahlreicher, doch nicht bosartiger Einbruch. Und nun, Freunde,
keine unniitze Erregung. (Wer Platz findet, die Damen vor alien, setzt
sich. Die iibrigen horen stehend unserer Aussprache zu.) Darf ich bitten.
(Er fvihrt Bertha mit Komplimenten zu einem Stuhl.)
Sturm : Wir haben hier nicht Komplimentenzirkel . (Zu Nettel:)
Fiir dich nicht, Balg!
Nettel (entreifit ihm die Hand): Hand los!
Schippel: Jeder wie es ihm bequem ist. Und jetzt ge~
statten Sie, ich nehme zu einer Ansprache das Wort, die Sie
Carl Sternheim * Tabula Rasa
155
bald besch wichtigen , sogar erfreuen wird. Hier ist noch ein Stuhl
frei. (Anbietend:) Bitte, Herr Stander.
Stander: Ich iiberlasse —
Schippel: Sie alle unbedingt erfreuen wird.
Sturm: Das werden wir sehen.
Ein Arbeiter: Brot wollen wir. Kampf aufs Messer!
Schippel: Einen Augenblick, Lieber. Die Damen mochte
ich sehen. (Er schiebt ihn ans dem Weg.)
Sturm: Das sind Possen.
Schippel: Sondern mit Vemunft gehen wir aufs Ziel los.
Arbeiter in Rodau! Obwohl ich Sie, Verehrte, ganz anders
anreden mochte, spreche ich niichtern und rufe Sie an, wie es
Sie adelt: Rodaus Arbeiterschaft !
Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich Euch bekannt. Nicht
undeutlich, scharf umrissen stehe ich selbst, meine Absicht,
steht das durch mich fur Euch Erreichte vor Euch.
Zuruf : Wir wollen uns und unsere Kinder erziehen diirfen.
Ein Arbeiter: Brot! (Einiges Echo.)
Schippel: Wie wohl gewissermaBen Euch ubergeordnet,
habe ich meine schlichte Herkunft nie verleugnet, nicht ver-
gessen, daB ich wie die Armsten unter Euch aus der letzten
Tiefe des Volkes komme. Habe nie mehr aus mir gemacht als
einen, der fur desselben Werkes Gelingen schafft wie Ihr. Auch
ich nenne mich mit Recht einen Rodauer Arbeiter. Niemals
aber mit groBerem Stolz als jetzt, da das hundertjahrige Bestehen
unserer aller Ernahrerin vor der Tiire steht.
Ein Arbeiter: Brot!
Schippel: Haben wir durch das Glaswerk alle reichlich.
Und mehr. Vor den Arbeitern umliegender Bezirke besitzt Ihr
Anstalten, die Euer Wohl nach alien Seiten sicherstellen und
fordern. Jetzt wollt Ihr fur Euer geistiges Fortkommen Bucher.
Ein anderer Arbeiter: Eine ganze Bibliothek wollen wir.
Verstehen Sie!
Sturm: Ich unterbreche!
Schippel: Lassen Sie den Mann doch aussprechen. Er
formuliert den Wunsch der Genossen. Sag’s noch einmal.
Carl Sternhetm * Tabula Rasa
156
Sturm: Der Mann ist Ihr Duzbruder nicht.
Arthur (zu Sturm): Storen Sie nicht!
Sturm: Herrgott!
Zurufe: Ruhe!
Schippel: Erst stutzt das Direktorium. Meine Freunde!
Wir haben im Verlauf weniger Jahre Riesensummen fiir Be-
quemlichkeiten Eures Lebens aufgewandt. Freilich kann einem
das irdische Dasein nicht angenehm genug gemacht werden.
Gleichzeitig ist aber, bei unveranderter Arbeitszeit, der Harte-
grad Eurer Arbeit, mocht’ ich sagen, nicht groBer ge worden,
da die Bedienung der verbesserten Maschinen leichter wurde.
Sturm: Sie reden um den Brei!
Zurufe: Ruhe!
Schippel: Wahrend hingegen fiir Eigentiimer und Leiter
der Geschafte durch erschwerte Einsicht in verwickelte wirt-
schaftliche und politische Verhaltnisse Verantwortung und
Risiko taglich mehr und ins Ungemessene wachst. Aber Ihr
antwortet sehr richtig : das ist deren Sache. Durch die famosen
Maschinen seid Ihr Behaglichkeit immer mehr inne geworden
und wollt sie auch im hauslichen Leben nicht missen. Basta!
Ihr wiBt heute, was ein Aufenthalt in wlirziger Waldluft, am
rauschenden Meeresufer ist, habt in der Einrichtung Eurer
mustergiiltigen Fiirsorgeanstalten langst den AnschluB an den
hochsten Komfort erreicht.
Sturm: Nicht langer dulde ich Ihre Witze.
Schippel: Wissen Sie den Leuten Wichtigeres zu sagen,
raume ich mit Vergniigen den Platz. (Mit Komplimenten tritt or
zuriick.)
Zurufe: Weiterreden!
Sturm (tritt vor): Genossen! Proletarier, mit einem einzigen
leuchtenden Ziel sind wir!
Zurufe: Das gehort nicht hierher.
St urm : Nicht Almosen — wir wollen aus eigener Kraft mit
souveraner Gewalt das Ganze.
Arthur: Hier ist keine Wahlversammlung.
Zurufe: Der Direktor soli sprechen. Hinaus!
Carl Stcrnheim ♦ Tabula Rasa 157
Sturm (stark): Wer rief hinaus?
Ein starker Arbeiter (tritt vor): Ich ! (Zu Sturm:) Ein
Schmuser sind Sie: reden Schmonzes.
Zurufe: Zur Sache!
Schippel (zu Sturm): Ihre zweifellos heilige Uberzeugung
wird bei ungiinstiger Disposition der Anwesenden fiir so
schweres Geschiitz besser spater vorgetragen. Vielleicht
sprechen Sie jetzt zur Sache.
Zurufe (von alien Seiten) : Zur Sache!
Sturm: Zu dieser verfluchten, von Gott verlassenen, un-
heiligen Sache habe ich nichts zu sagen ! (Exit.)
Arthur: Pobelhaft!
Ein Arbeiter: Radaubruder!
Schippel (mit suBem Lacheln): Ein sympathischer Brausekopf.
Das Direktorium stutzt einen Augenblick. Doch bricht sich in
sturmbewegten Sitzungen die Uberzeugung Bahn: Es kann
im Zeitalter herrlicher allgemeiner Aufklarung, es kann heut-
zutage das Band, das sich um Arbeitgeber und Arbeitnehmer
scblingt, nicht innig genug sein. 1m Verwaltungsbiiro sitzt der
eine, der andere steht an der Maschine durch das unlenkbare
Schicksal. Doch aus eigenem, menschlichen Willen wollen beide
das gleiche : Aufhebung der Klassenvorherrschaft durch Schaf-
fung von Vorbedingungen, die den Ubertritt von einer Gesell-
schaftschicht in die hohere fiir jeden einzelnen verbiirgen, bis
schlieBlich einzig der gleichberechtigte Burger Deutschlands —
was sage ich — Europens Boden bewohnt.
Fiir solches Ziel ist die geistige Hinaufbildung der Massen
Notwendigkeit, und so zwingt uns am Ende die Forderung der
Rodauer Arbeiter nach einer Biicheiei die Trane der Riihrung
ins Auge, da wir gestehen miissen : Sie wissen, was Sie fiir sich,
was Sie mit uns gemeinsam wollen. (Er fahrt sich leicht iibers Auge.)
Durch BeschluB des Aufsichtsrates vom 1 6. April ist auf
Vorschlag des Direktoriums eine Arbeiterwohlfahrtsblibiothek
fiir Rodau im Erstellungswert von einer Million Mark geneh-
migt.
Zurufe und groBe Bewegung.
36 Vol. m/i
V'N
158
Carl Stcrnheim ♦ Tabula Rasa
Schippel (nach einer Pause): Als aber erst Erkenntnis unserer
tiefen Gemeinsamkeit Riihrung und Erleuchtung gebracht hatte,
trieb elementares GefiihJ, Eure Forderung von uns her aus
freiem Antrieb zu iiberstiirzen. Die gewaltige Tatsache der
Jahrhundertfeier mogen wir nicht voriibergehen lassen ohne
eine Geste, die der Welt ans Herz greift. Beweisen wollen wir
die briiderliche Liebe, die samtliche Angehorige des Werkes
durchpulst, indem wir einen von Euch, der Euer Vertrauen hat,
mitten unter uns stellen, ihn hinsichtlich seines Titels, seiner
Rechte und Beziige uns gleich machen als ein Symbol dafiir, daB
solches hinfort zu jeder Zeit jedem von Euch fortan moglich ist.
(Er tritt vor.)
Seine eigene Bereitwilligkeit und aller Zustimmung vor-
ausgesetzt, schlage ich die Ernennung des von uns verehrten, um
das Werk hochverdienten Herrn Wilhelm Stander zum Mit-
direktor der vereinigten Glaswerke vor. (GroBer Beifall.)
(Zu Stander): Wir erwarten Ihre Antwort. Ich sehe Sie bewegt,
erschiittert. Wollen Sie, lassen wir Sie fur einige Minuten allein,
sich zum EntschluB zu sammeln. Ziehen wir uns zuriick! Auf
einen Augenblick vor die Tiir, meine Lieben! (Wshrend er den
Arbeitern ihrcn Platz im Flur bezeichnet und die Tur hinter ihnen schlieBt,
zieht er selbst, die Frauen und Arthur sich ins Nebenzimmer zuriick. Da
das Zimmer leer ist, sieht man Flocke hinter den Stuhlen teilnahmslos auf
einem niedrigen Schemel hocken.)
*
ZEHNTER AUFTRITT.
Stander (der Flocke nicht bemerkt und von dem Geistesabwesenden
nicht wahrgenommen wird): Ich? (sehr leise): Ich ? (Er schleicht zum
Schliisselloch der Flurtiir, dann zu jener, durch die Schippel und Anhang
ging, schaut hindurch und lauscht durch dasselbe.)
„GroBziigiger Charakter?“ — Moglicherweise.
(Er lauscht wieder.) Weitblickender Kopf, der fiir das Werk
fruchtbar gemacht werden mufi? „VieIleicht auch weitblickend.
Aber fur — das Werk? fruchtbar gemacht werden — mufi?“
(Er kommt nach vom.) Fruchtbar fur andere ? Von neun Uhr morgens
4
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
159
bis fiinf Uhr abends auf Befehl bingegeben fruchtbar? Einen
Tag wie den anderen, jahraus jahrein ? Aber wenn ich von meinem
hingegangenen tristen Leben ein Riihmenswertes sagen kann,
ist’s, dafi ich den Frondienst und was damit zusammenhangt,
widerwillig, gerade zur Not noch, aber nie hingegeben oder gar
befruchtend, befliigelnd versehen habe.
Und jetzt mit sechzig Jahren glaubt I hr, mir eine Falle fiir
mein Menschentum stellen zu konnen?
Am Ende mehr als weitblickend, in die Tiefen schauend
sogar vielleicht. Aber wie bisher doch nur fii; mich selbst, ver-
schwiegen und hochstpersonlich. Damit, wahrend der auBere
Wandel armselig ist, im Inneren Reiz bliiht, das karge Dasein
fiir mich in bunten Farben schillert. Fiir mein Seelenheil zum
Verschwenden auf gut Gliick, aber nicht unter Kontrolle mit
ungeheurer Verantwortung und Risiko fiir andere — mein Genie
— wie Flocke sagt; gewiB nicht!
Flocke: Was?
Stander: Flocke?
FI ocke: Du hier? (Er kommt nach vorn.)
Stander: Aber das ist ein Zeichen Gottes, ist reine Of fen -
barung. Mit dieser Geste gewinne ich Klarheit nach alien
Seiten und den realen Ausgangspunkt fiir die eigene unver-
falschte Person. Er offnet die Tiir links und die Gangtiir. Alle treten
auf lhre alten Platze zuriick bis auf Bertha, die jetzt bescheiden im Hinter-
grund bleibt.)
Stander (in der Mitte von alien): Mein Herr Direktor, verehrte
Anwesende ! Zuerst aus bewegter Seele Dank fiir die Gewahrung
unseres Wunsches, Dank fiir die zugesagte Biicherei. Was den
iiber alles Erwarten hochherzigen Wunsch unserer Fiihrung,
ein treuerprobtes charaktervolles Mitglied der Arbeiterschaft zum
gleichberechtigten Kollegen ins Direktorium zu erheben.angeht—
Ich selbst, schlichter Art, schlichter Gewohnheit, auf alien
Seiten des Lebens in schlichter Auffassung befangen, bin nichts,
will und darf nichts sein als ein einfacher Arbeiter. (Gemurmel.)
Doch ware ich auch durch besondere Gaben befugt, den
angebotenen Platz einnehmen zu diirfen, einer ist unter den
Carl Stemheim * T abula Rasa
Kameraden, der durch Alter, Verdienst und Befahigung mir
weit vorausgeht, fiir den eln jeder von uns meine Worte besta-
tigen wird.
Gehorsamst bitte ich, das mir gezeigte Vertrauen auf den
Wiirdigeren zu iibertragen, auf Herm Heinrich Flocke; (Uut)
unsem guten alten Flocke an meiner Statt zum Direktor
zu emennen.
Rufe von alien Seiten: Flocke! Hoch Flocke!
Schippel (nach einer Pause): Ich sage geriihrt und erschiittert:
Herr Stander, Sie haben sich selbst und mich besiegt. Die
Stunde wird Folgen haben ; ich verbiirge mich, Ihr Vorschlag
wird angenommen, und das Andenken an das von Ihnen Voll-
brachte wird in unseren Herzen nicht verloren gehen. Fiir
meine Pflicht halte ich es, auszusprechen, wie mich hinfort Ihr
Umgang ehrt.
Stander: Ich bin sehr gliicklich.
Schippel: Auf Wiedersehen, lieber Herr Stander! (Schiittek
ihm beide Hande und vemeigt sich. Vor Flocke:) Herr Flocke! (Schiittelt
ihm beide Hande und vemeigt sich. Mit Verbeugen exit.)
Flocke: Ich bin sehr gliicklich.
Zurufe: Hoch!
Einige Arbeiter (haben Flocke auf ihre Schultem gehoben und
tragen ihn im Triumph durchs Zimmer und hiraus. Die im Zimmer Zuruck'
bleibenden stiirzen zum Fenster, das sie Sffnen, und winken mit ihren
Tiichem hinaus).
Bertha: Da sind sie.
Arthur: Fabelhaft.
Isolde: Ein wahrer Triumphzug. Onkel Heinrich schwebt .
Nettel (jauchzt hingerissen) : Papa, lieber Papa!
Stander (winkt mit groBem Tuch hinaus): Der gute alte Flocke!
Vo r han g .
Ernst Weiss • Der bunte Damon
161
Gmst Oeifi:
DER BUNTE DAMON
Sei du der Panther dieser neuen Hauser,
Aus Glas und Eisen, aus Beton und Licht,
In denen keine Tiere hausen.
Sei Katze du, mit langen Hiiften, kiihn und ohne Tranen.
Sei hartes Tier, das nichts vom Tode weiB, bevor es stirbt.
Sei hold, du holdes Tier, das nichts vom Tode weiB, bevor
es stirbt.
In sich verkriimmtes Tier, wie Feuer glanzend,
Vor Freude bebend, blutig und beschwingt in seiner Leiden-
schaft,
Auf Inseln wohnend, ohne seinesgleichen.
Von Inseln bringe Schmerzensschreie und starkste Lust und
im gesenkten Hals Endloses
Weites Schreiten ohne Miidigkeiten.
Von jenen Inseln, die im Meere starren.
Wo harte Blumen uniiberwindlich bunt aus Bitterlauge wachsen
Und sich in giftigen Meereswogen spiegeln wie am silfien See . . .
Sei immer!
Sei Gliihfaden, immer zittemd in den Ieeren Lampenbirnen,
immer leuchtend, so lang du lebst,
Mehr Stem als die Sterne.
Bunter Damon!
Tanze ewigen Friihling, ewiges Licht.
Tanze den ersten KuB der Geschlechter, die ewige Recht-
fertigung Gottes,
Umkreise die Sonne, bunter Damon, mit der Sonne tanzst
du
um
Gott.
162
Kasimtr Edschmid * Winter
{Kasimir Gdscftmid :
WINTER
TAGE.
*Fur jQjff Sttinrudc.
\Y/ as machte, Gott, diesen Winter so grofi, daB ich noch jetzt
* * unter dem Fluch der hellen Monate meine Diisterheit
schwerer empfindend, entfernt von ihm, dampfend stehe vor
Abenteuer, geladen von Liisten ? Wo begann es ? Kann es einen Be-
ginn gehabt haben ? Ich wei6 es nicht. War es Anfang, als ich die
LeopoIdstraBe hinabging, die Ballone der Lampen verkiindend
durch messinggrauen Himmel schwangen, die Pappeln hoch die
Zeile hinunterrauschten und die Stadt Miinchen unter rotlichem
Horizont abendlich aufging, aus dem unendlicher Schneefall
sank ? Hat Gluck einen Anfang zeitlich erkennbar oder steht es
nur, genossen, eine grofie Wolke plotzlich hinter uns? Lichter
hingen dumpf zwischen den steilen Baumen. Bahnen summten
gedampft. Seidenweich ward der Himmel und grau.
Wildgeruch von Frauen lag in den Strassen. Dunst der un-
begrenzten Moglichkeiten war ausgebreitet. Hauser staunten
fremd mit lockender Fassade. Garten hatten Aufiergewohnli-
ches hinter Baum und Weg. Jedes Ding trug das auBere Wesen
nur als Maske. Aufreizend wiihlte das Herz sich in die Dinge.
Frauen liefen lautlos mit warmen Augen. Schlittenschellen
klangen entfernt und verwirrten das Ohr. Der weiche Schnee
trieb alles verwischend in Vertauschung und unwirkliche
Bewegtheit.
Da begannen die des Morgens heftig aufgenommenen Bilder
sich der Buntheit der StraBe zu vermischen. In die springenden
Kasimir Edschmid * Winter 163
Lichter unter dem schneienden Gitter, das Gebrause der Wagen,
die unendlich schweigende Musik des gelassenen Himmels, die
dunkelen ScHatten der Menschen, die grofi die Stege iiber-
schwammen, drebten sich in dem Rundlauf der Wirklichkeit
schon entrissener Eindriicke : Grecos Entkleidung Christi, Sturm
gleich Raketen aufwarts schieBender Gesichter, und in der
Garbe ihrer Entladung wie Maden erstarrte AngesicKte der
Frauen... und Memlings sieben Freuden Maria: blaue beseelte
Taler, Streiter wohlgemut, aufbrechende Sterne, Mord, Ver-
klarung, Reitende nach der Welt, runder Hiigel, auf dem im
Kreis Knieende gegen den Horizont beten. War dies der Be-
ginn?, ...mein Gott.
Tags darauf fuhren wir ins Land, einen Kessel, wie Strahlen
umzuckt von Gebirg. Flammend bog die Sonne, rot wie Stier-
blut, iiber die Grate. Pfeile stieBen die Spitzen ins Blau, es wie
ein Meer teilend, das zuriickrann. Beilhiebe weifier Abhange
lagen zischend in der Luft. Hinter den Hausem war die Ebene
bell mit dem dunklen Gefleck vorgescbobener Heuschober.
In ametbystenem Kristall stieg der Himmel ziellos.
Abends setzten wir Fripouille in den Kronleucbter. Es war
eine weiBe scbone Frau gekommen, hell, daB die Adern heraus-
scbimmerten, mit silberblondem Haar. Sie lag neben Frau
Suzanne ausgestreckt auf dem Diwan, deren Gesicbt, spanio-
liscben Bluts und siidfranzosischer Landscbaft, schwer, dunkel
und wild war. Zwei verscbiedenere Frauen gab es nie. Sie
scbauten in die Hohe, rubig und traumerisch, wo der Plafond
sicb zum Fenster neigte, binter dem Feuer auf die Berge regnete
im vollen Abend.
Icb knipse den Leuchter auf, daB zwanzig runde Kugeln des
unteren Kranzes rotes Licbt in die Bernsteinaugen Fripouilles
scbleudern. Es ist still. Fripouille offnet das rosa Maul, faucbt
und beifit in das Glas. Sein Angorascbwanz, dick wie ein Arm,
straubt sicb. Er wirft entsetzt den Kopf nach oben. Da lasse
icb die groBe Gliiblampe iiber ihm aufbrechen, gelbes und
betaubendes Licht. Der groBe Leuchter scbwingt entsetzt in
die Dammerung. Kugeln rollen bestiirzt fallend durcb das
164
Kastmir Edschmid * Winter
Zimmer. Fripouille rennt Karussell durch den Raum. Es
ist still. Fripouille schleicht zu Luchs, dem Kaninchen der
weiBen Frau. Luchs hoclct in einem Klumpen, bebt mit dem
Maul und spitzt die weiBrote Nasenpartie. Er ist schwarz ge-
fleckt, macht einen Satz und lauft voll ungeahnter Bewegung.
Fripouille folgt, langsam, zuriickhaltend, im Erstaunen den
Schwanz senkrecht. Wir lassen eine aufgezogene Maus durch
den Teppich rollen. Fripouille ist ein Feuerrad in der Luft, die
Augen leuchten wie Quallen. Weich fallt der Leib aus der
Schwingung auf das eiseme Tier. Die weifie Frau hebt den
nachlassigen Arm vom Diwan herunter und nimmt die Maus.
Fripouille wie ein Wappenlowe mit einer steifen Tatze reiBt
eine rote Rinne in das weiBe Fleisch. Luchs rennt verriickt ins
Nebenzimmer. Fripouille folgt. Es ist still. Im Fensterbogen
steht der Mond, reifit die Bogen der Berge aus der Dammerung.
spannt sie in die Wucht riesiger Linien, bricht mit Stemhimmel
driiber her und leuchtet kalt. WeiBe Abschwiinge biegen sich
wild in das brutale Blau. Fripouille schreit begehrlich. Der
Kamin flackert. „Der Kater ist kastriert“, sagt Schiileins helle
Stimme. Es ist still. Im oberen Fensterbogen steht die Konstel-
lation von Venus und Jupiter, bengalisch gliihend, Seite an Seite.
Der Horizont hat einen griinlichen Schimmer. Die anderen
Sterne sind blafi.
Wir sind zur Rodelbahn gegangen. Irgendwo aus dem Schnee
und dem Berg biegt eine blitzende Linie, ein bestiirzendes
weiBes unertragliches Licht. Aus diesem silbernen Gestim
schieBen dunkel Fahrer auf Fahrer. Wir suchen lange. Ich
nehme ein breites Stuck aus derbem Holz, stammig wie eine
englische Dogge, mit blinkenden schmalen Kufen. Dann ver-
lieren wir uns hinauf in das kochende Strahlen. Abfahrend oben
liegen wir nach hinten, daB die Haare hinter uns fliegen. Wir
brechen in die Kurven ein, fiihlen berauscht die Sekunde des
Schwebens am Grat des Walls und stemmen fliegend in dieBahn.
Sie blitzt lang hinunter wie weiBblauer Stahl. Zwischen Wallen
und Fahnen spritzen wir durch. Gesichter und Farben der
aufgereihten Menge kettet sich in eine Orgie zerstaubten Ein-
Kasimir Edschmid » Winter
165
d rucks in den Vorbeischwung. Wir wachsen an den Rodel.
Er zischt einen kleinen Hiigel hinauf, hebt sich, glanzt gierig
unten mit den schmalen Kufen, wir schweben. Dann prallt
er zuriick, wir veremigen uns in nachgebendem Gleiten wilden
Rucks mit der Bahn. Wir heben uns toller, reiBen die Flanken
des Rodels an uns, schwingen einen Bogen in die Luft, tosen
zuriick. Geschrei steigt neben uns prasselnd auf. Die stahleme
Flache bebt, wir gliihen im springenden Sausen wie Bremsen,
wir fliegen in das Blau. Die Kufen rasseln in toller Gier auf
das Eis. In graziler Kurve erreichen wir die Ebene, fliissiges
Nickel, brausen in Radem aufspritzenden Schnees. Verachtend
andere, die lenken mit Fufi und Arm, Iachend der Vorsicht
des MittelmaBes, befeblen wir, aufundabrasend die stiirzende
Flache, mit dem Hirn. Wir besiegen die entgegenschaumende
Wucht der Kurven mit dem Ruck der Lenden. Ganz uns hin-
gebend dem AbschuB, herrschen wir iiber ihn mit dem Willen.
Abstiirzend in das betaubende Silber, vor dem das Auge er-
blindet, wiegen wir uns mit den Hiiften hinunter wie im Liebes-
spiel.
Neben uns smkt die gewolbte Schale eines anderen Bergs aus
Fohren. Dunkle Silhouetten der Skier furchen seine Seite.
Morgen werden wir skiern. Wir haben unmaBigen Hunger.
Vor dem Holzhaus am Auslauf an gedeckten Tischen bringen
Madchen die Speisen. Plotzlich entsteht eine Bewegung und
pflanzt sich fort. Fripouille, einen Kanarienvogel im Maul, den
Schwanzbusch aufwarts, schreitet durch die bunte Menge, in
stillem Adel, ohne Menschen zu achten, wie durch erne Gasse
auf die Eisbahn zu.
Juju kann, wie wir in der Klamm sind, den Kopf nicht heben,
der Himmel unendlich hoch ist zu diinn, die Sonne schieBt
herein. Hier ist ein RiB durch den Berg gegangen, die Wande
zittern noch, es schneit. Eishauch schlagt entgegen. Ganz aus
unsichtbarer Hohe stiirzen Eiszapfen herunter, verwachsen sich
wie starres Schlinggewachs und prallen bis an den Wildbach,
der Wasserrollen zersplittemd gegen den Stein aufwirft. Der
Grat ist schmal und schiissig und taucht in Tunnels. Geschwa-
166
Kasimir Edschmid * Winter
der von Eis strotzt von oben herunter. Die Sonne in dunklem
Rot hangt einen Fackelbogen iiber den RiB. „Grand Boche**,
sagt Juju und grabt den Daumen in seinen Arm. Er, toll, nimmt
Steine und schmeifit sie gegen den Eissturm, der heruntertobt.
DocH es gibt wie einen Ball den Stein zuriick. Da reiBt er einen
Eisspeer heraus und laBt die Warme seiner Hande sich hinein-
fressen, bis sie ihn zersagt haben. Solange steht er unbeweglich.
Juju zieht, wahrend aus der Hohe ein geschmolzener Quader
herunterkracht, die gelben Handschuhe aus und biegt ihren
Mund in seinen. Aus den Seiten des Bergs wachst Eis wie
wuchemdes Fleisch in Wunden. Els friBt sich durch die Wande,
Knorpel wuchem. Granulationen schieBen empor. Auswiichse
sperren den Pfad. Berge aus einzelnen Bowisten stiilpen sich
unziichtig und schleimblaB, brennend kiihl heraus. Quader und
Tiirme formen sich zu massivem Gewachs. Wasserdampf
schlagt sich frierend an die Schlafe, heulend wiihlt in grunlichen
Wirbeln giftig zu FiiBen der Bach. Die Sonne kreist bos wie ein
Geier. Juju zieht Schuhe und Striimpfe aus und weint vor
Tollheit... Abends flammt eine Lampe auf, braun verhiillt, und
greift vier Gesichter aus dem verschatteten Raum, rotlich, stanr,
geschliffen — pokemd.
Es schneit drei Tage. Wie ein Leib walzt sich die Bergseite
vor meinem Haus wolliistig aus dem Schneefall. Schneegitter
sinkt hiillend zuriick. Der spitze Kirchturm quert manchmal
die quadratische Flache eines Hangs. Dann steht der Schneetag
unbeweglich wie eine Wand. Der Horizont ist Schneefall und
grauweifi. Die einzelnen Hauser bleigegossen hocken steif davor.
Wir fahren nach Innsbruck.
Die Bahn klettert greisenhaft, erreicht die Hohe und laBt sich
wie eine Taube in schonen Serpentinen die Wande abstreichend
gelassenen Zugs ins Tal, das unbeschreiblich voll wallender
Sonne liegt. Unsere Herzen lauschen und schlagen in die Siid-
lichkeit betaubend hinein. Hier konnten Olivenbaume stehen.
Wachsgelbes Licht flutet warm wie Meran. Wir zittem. Wir
dehnen uns, voll Rausch. Aus alien Fenstem leuchten die
guten gelben Apfel, still und groB. Wir kaufen viele, schmeicheln
Kasimir Edschmid * Winter 1 67
sie an die Wange und beiBen in das siiBe Fleisch. Wie glucklich
wir sind auf der Mitte der StraBe. Szlivovicza gieBen wir in die
Brust, Feuer aus serbischen Pflaumen. Das ist die Stadt greif-
barer Sonne, Seiigkeit der mittaglichen StraBe. Wir sind an
den Siiden herangeriickt, wie alle Fenster leuchten, die Gitter
und die Ecken. Wir knien uns mitten auf die StraBe und beten
die Ruhe an, die WSrme, die gelben Calvilles, den Brunnen, die
Verzierung des Likorladens und die unbegreiflich gleich Schnee-
bogen iiber die Stadt ziehenden Hohen. Demiitig stehen wir
auf und gehen in die Domkirche zu den bronzenen Konigen.
Wir waren stolz diesen Tag, wir hatten Cadix und Limoges
im Herzen. Wir gaben Preise aus : Teodorick, kuning der Goot,
sanft in die Hiifte geknickter Streiter, schmerzlich ein duldender
Engel iiber das Schwert hingelehnt... und Teopertus, kuning
zu Provanz, herzog zu Burgundi, der die Fauste gebalit vor sich
hin hielt, dessen ubermafiige geriistete Brust die Miniaturen
unzahliger Kinder iiber spiel ten, der ohne Gesicht den Schnabel
des Visiers Gott frech in das milde Antlitz hinaufhielt. Durch
Gottes groBes Auge fiel Zinnoberlicht. Dem Abend gaben wir
uns hin, der verzauberte und verfiihrte, weich und duftend und
honigfarbnes Geleucht durch alte Gassen ziehend. O Brunnen,
die in den Abend fielen. 0 Gerausche. Wie nahm unsere
Inbrunst die Madonnen iiber Tiiren, tanzende Sonne auf dem
goldenen Gitter, starre Riesen in gotischer Fassade und die
unendhche Tiefe blauwarmer Schatten in den Laubengangen .
Wir weinten in den Abend.
Dann fuhren wir zuriick in das Land, und es kamen die Berge.
Einige standen wie Kegel schwarzseidig allein. Wildere warfen
sich entgegen, verwiistet die Riicken, die Briiste zerfleischt.
Dann sammelte die Dammerung sie in Rot, in dem sie unwirk-
lich verschwammen, als wie grofie Symbole harter Sehnsucht
in die Landschaft hinausgeboren von unseren Augen, die noch
trauernd im Siiden hingen. „Boches mythische Sehnsucht in
die Sonne“, lachte die Magyarin. Aber als Schneefall und
Dunkel die Berge hinwegnahm und entriickte, da wuchs zu der
Trauer eine noch unbandigere Verzweiflung : wir konnten auch
168
Kasimtr Edschmid * Winter
das Entsetzlichere, wir konnten auch keine Berge mehr sehen,
und steigerte sich todlich, wie an jenem furchtbaren Abend, als
zwischen Colmar und StraBburg auf meiner letzten Fahrt die
stahlblauen Riicken der Vogesen wie Tiger von mir weg in die
Holle des feurigen Abends hineinsausten, bis nichts mehr war,
als Angst, Verlorenhaben und Einsamkeit.
In der Nacht fuhr ich aus dem Bett. Das Zimmer gleiBte.
DrauBen stemmen sich metallen leuchtend die Berge in das
Fensterbild. Der Mond warf feurige Brande herein und heulte
Gliihflammen durch die eisige Nacht.
Eine schone Frau ist angekommen mit einem lachsroten groBen
Mund. Wir haben sie angestaunt und ihr die Hande gekiiBt.
Wie kann man so schon sein, solche Pflege und die Linie sol-
cher Bewegung. Uns donnert nur die Sonne in das Gesicht.
Unser Haaransatz ist silbem gebleicht. Das bronzene Braun
der Gesichter hat einen weifien silbemen Unterglanz. Die
schone schmale Frau floB mit einer Rinne diinnen Geruchs nach
sich iiber die Rodelbahn. Sie hatte einen dicken, ganz seltsam
einfachen Stock in der Hand. Sie war wie ein Wunder. Die
Schlitten sprangen hoher vor ihr. Der Wind wehte entgegen,
doch die tausend Fahnen drehten sich gegen ihn und flogen auf
sie zu. Abends haben wir sie in den seidenen Schuhen zur Bahn
im Pferdeschlitten gefahren. Fripouille biB in der Nacht einen
Dachshund tot. Ihr Kopf ist gewaltig angeschwollen vor Stolz,
halb so groB wie der riesige Albert Steinriicks. Das Leben
ware eine einzige berstende Wildheit, ware nicht die Stunde
des Tees bei der lieben Frau, ihre aus gelben Shawls heraus-
kommende weifie Hand. Mit Stocken gehen wir den Abend
noch spazieren in die Ebene hinter den Hausem.
Hinten auf blaurandigem Griingrund hebt sich flamingone
Rote. Die Berge geben sich ihr grenzenlos hin, verlieren die dritte
Dimension und stehen verklart in Flachigkeit wie Kulissen. In
ihrer Mitte aber erscheint, sie alle einordnend in die Beziehung
seiner Art, ein Berg, der am Tag sich entzieht. Sie nennen ihn
Daniel. Nach oben gestiilpt bricht seine Form wiist und herr-
schend heraus wie die Begehrlichkeit einer wilden Sau.
Kasimir Edschmid ♦ Winter
169
Das Licht geht Wochen funkelnd iiber den Himmel. Die
Luft wird reiner, unirdischer in der Durchsicht. AUes lebt in
einem Taumel nach Sonne. Die Hauser werfen ihr die vollen
Balkone der Siidfront entgegen und pressen sie wie saftige Briiste
iangsam ihrem Steigen nach. In tropischer Hitze lauft der
Mittag iiber den Schnee. Das Holz der Liegestiihle knistert
vor HeiBem. Wir schwalen und rauchen. Wir sind nun vollig
aufgegangen in diesem Leben, voll verschmolzen dieser Um-
gebung, Landschaft und Winter. Morgens stehen wie mosaische
Signale rund im Kreise Saulen feuriger Wolken auf den Spitzen
des Gebirgs.
Fiinfzehnhundert Meter hoch ist es Mittag. Morgens schon
sind wir von hier aus ohne Felle einen hohen Vorsprung auf
Harsch hinaufgetanzt, die Breitseiten der Skier eingebohrt,
in zickzackigen Linien, die Fesseln ans Zerreifien angedehnt.
Wie dunlde Vogel schossen wir ab. In ungeheuren Stemmbogen
zogen wir halbe Kreise schwingend iiber die Seiten. An einem
Abgrund rissen wir aus dem SchuB Telemarks heraus, dafi die
Bergflanken drohnten. Das Holz zischte unter der Reibung
brandig auf. Wir sprangen wie Hirsche, der Ewigkeit zugeneigt,
die Erde schmahend, und bissen uns ihr dennoch zuriickgleitend
wieder ins Genick. Wir zogen uns werfend in eine unendhch
rauschende Schufifahrt durch die blaue Luft hinunter auf den
kleineren Berg.
Nun sind wir fabelhaft faul. Die Sennhiitte raucht. Wir ha-
ben gespeist. Auf Banken langs der Holzhiitte hegen wir in der
Sonne. Schiilein tanzt im Schnee, einen roten Shawl um sein
Torerogesicht geschlungen. Frau Suzanne tragt seidene
schwarze Breeches und weiBe Pompiersgamaschen, einen
zitronenen Sweater und um das braune Gesicht die schwarze
Zipfelmiitze der Skierinnen. Wir liegen und schauen zu. Amelie,
die Tatarin, lehnt von innen aus der Hiitte, ein grimes Tuch
um die starken Haare. Ihr Gesicht ist unbeweghch und nur
junge Flache wie vom Anblicken ewigen Horizonts. Sie ist
gelassen in ihrer selbstsicheren Bewegung, als hatte sie statt
Skiem iiber die Schulter gekreuzt tagelang Zeltstangen durch
Kasimir Edschmid * Winter
170
die Steppe getragen. Sie raucht kiihl mustemd eine Zigarette.
Nur, als hinter alien Gipfeln mit einem Mai wilde weifie
Schaumwolken iiberkochen und sich abflieBend nach der inneren
Scite iiber die Spitzen walzen, sagt sie: „Aszt a kutya fajat“.
Unter ihrem magyarischen Fluche entsteht Stille der elemen-
taren Bewegtheit. Die Sonne ist ungeheuer. Sie schmeifit die
Wolken zuriick. Schmettemd wie eine Posaune briillt sie iiber
das Tal.
Sie schwebt in Kreisen wie ein wildes bronzenes Schild und
schuttelt Hitze herunter. Es sind nicht Strahlen, Hagel von
heifien Blitzen zuckt auf uns. Wir liegen ausgestreckt, die
Korper geoffnet, kochenden Blutes. Wir fiihlen, wie wir in ihr
wachsen und uns entfalten, aufgehoben werden in einer machtig
rauschenden Scbwellung. Wir wissen, dafi sie uns strafft und
grofi macht, unsere Adem durchheulend mit Glut, empfinden
uns, die Augen geschlossen als Friichte, auseinandergliihend und
reifend hinauf zu einem machtigen Geladensein in Trotz,
Stiirmischem und Lust zur Siinde.
Suzanne, der Konigstiger, springt zuerst in den gebogenen
Abhang und verrauscht, eine gelbe pfeifende Linie, im Gebiisch.
Ich fahre den Hiigel auf der Seite, Der Schnee ist weicher unter
der Sonne, ich habe gut gewachst und fliege. Juju fahrt nach,
angstlich und zart in den Knien, aber voll furchtbaren Muts.
Ich stehe. Sie schiefit an . Sie bricht nicht mit Hiiftschwung zur
Seite. Sie braust nicht starr in Christiania. Sie saust atemlos
auf mich. Skischnabel verwirren sich knirschend, wir prallen
aufeinander. Wir fallen gliihenden Gesichts miteinander in den
weichen blaulichen Schnee.
Auf der Abfahrt standen bliihende Weidenkatzchen in
Biischen in den weiBen Hangen. Ich fing eine Biene mit meinem
Haar.
Suzanne ist ganz unten ein kleiner Fleck wie ein Iaufender
Fasan. Wir fahren. Juju hat einen Zweig Hagebutten in der
Hand und einen wilden roten Mund voll Blut. Wir gehen blitz-
haft in die Knie, durchkufen die Senkung, springen, schweben
und werfen uns toll in die SchuBfahrt.
Kasimir Edschmid * Winter
171
Die Nacht legt der Mond einen Hof riesenhaft iiber die
zackigen Rader des Kessels. Die Lawinen briillen. Die Adern
zucken durch unsere Korper.
Wir haben einen Vormittag in alten silbernen Dosen gekramt.
Wir sind fromm und schlicht auf der Reichsstrafie Italien zu
marschiert. Wir hatten Neuschnee, sind in Wolken explodieren-
den Gef locks wie in unheiligen Flammenscheinen abgefahren.
Wir haben ein Haus gesehen in Mittenwald, in dem Goethe
wohnte. Wir sind vor der reifienden bestiirzenden Zeit er-
schauert, aber wir haben uns gelangweilt. Wir haben die Liebe
Frau besucht. Wir haben nichts gearbeitet. Wir sind verriickt
wie Stiere vor Lust. Wir fahren den Abend, um Theater zu
sehen, in die bunte Stadt.
Was war uns das: steinerne Strafien, durch die Gefahrte
jagen, grelle Lichter, die den Himmel ausloschen, deren Sehn-
sucht gesaugt ist am Lowenton stiirzender Lawinen. O unsere
Flucht zum englischen Garten, Herden von Schwanen ins Griin
gelagert, Movenschwarme liber beschneiten Ufern, Rollen
weiBen Wassers an den Kanalen. Baurische Pracht Nymphen-
burgs, eingeschneit in Safransonne, Tanz von Figuren und
Licht an vereisten Wasserstrafien, siifie Brust der scheuenden
Venus Canovas.
Dann erst fafite uns die Buntheit der Menscheri und der
Sale. Wir horten aus den gemilderten Hollen Advents die noch
zu feine siiBe Stimme Lucy von Jakobis singen. Unda gleiBt
auf, kaleidoskopischen Blutes, das Weibchen. Paul Marx stoBt
seinem Partner widerhakende Worte in den Leib, heiser schrei-
end daran reiBend. Es erscheint Kaisers schmale, nur geistige
Linie, von Vangogh schen Verziickungen verklart, nicht fiir
andere spielend, nicht den Menschen, Gott vielleicht oder dem
Mond. Wir sahen den groBen Schauspieler Albert Steinriick,
Kapitan des Totentanzes, den wir nie vergessen. Als Albert den
Sabel auf den Tisch hieb, schlug er die Mitspielenden aus
unserem Him, sie klebten an der Wand, irr, ausgeloscht. Als er
mit nackter Klinge den Bojarentanz sprang, glaubte das Herz,
hier sei die obere Grenze des Wilden, nichts konne furchtbarer
12
172
Kasimtr Edschmid * Winter
sein, und erschrak in Zorn. Wenn er schrie, briillten unsere
Zungen stumm mit vor Wonne. AIs er aber schweigend die
Lichter ziindete, wie sein Hirn biiffelhaft am Metaphysischen
riB, als er stumm nach dem Anfall sich ins Leben mit wiistem
Ruck hinaufzwang, da brausten aus der Stille der Biihne reiBende
Strome unbegreiflicher Kraft, daB wir geschiittelt uns in ihnen
bewegten, entsetzt und niedergeschmissen, und die Herzen der
Frauen auf die Knie stiirzten.
Aber unsere ubergroBe Sehnsucht hat uns iiber azurnen See,
aus dem Dampferschaufeln silberne Strahlen wiihlten, in das
Blau zuriickgezogen . In roter Lawine saust unsere furchtbare
Sonne durch den geruhigen Himmel. Berge wachsen aus der
breiten Erde und liegen weiB an der glanzenden Brust des
Horizonts. Luft der grofien Dinge weht durch unser Tal. Hier
ist nicht Kampf, keine Bedriickung. Hier ist Ruhe und Andacht
im wilden Wider hall des Blutes. Hinausstromend uns in das
Leben, bleibt keine Besinnung, nur Erwarten, Sehnsucht und
Wiedererfassen des Daseins.
Ich habe das Tal verlassen. Herz wuchs sich grofi und
krampfte unter zu groBer Klarheit. Wir sind nicht gemacht,
nur um zu leben.
Ich habe die schmetternde Sonne verlassen, freiwillig mich
wendend, entsagend, in die arbeitsschwere Einsamkeit der
Stadt. Stadt bestiirzender Enge, niederen Behagens, wohl
genahrt, aber ohne Wollust, Stadt Georg Buchners, der ein
Schicksal Priifungen nie gab, klein, feist und biirgerlich und
selbst zu feig zur Siinde. Ich hasse ihre Trottoirs, ihre Hauser,
Gesichter, ihre Baume. Doch ich fiihle, wie im Zuriickstromen
der Welt, der ich mich hingab an den Bergen, eine Glut auf-
wachst im Zorn, die ich schwer entflammt in Arbeit verbrenne.
Moge Gott mich an seinen Fingem hinaufreiBen an der Welle
dieses Gefiihls, daB ich, zu den letzten ekstatischen Hollen des
Kraters aufsteigend, unser dichterisches Schicksal erfiillend,
blutige Worte im Mund den HaB der Vaterstadte aufrufe.
Wie Sie, so sehr liebe Frau, vom Langbalkon Ihres Hauses
die hohe Siidkette weiBer Berge sahen, den gliihenden Horizont
Kasimir Edschmii ♦ Winter
173
am Mittag umfassend und das Glas iiber den Augen unseren
Herausbruch aus den Hangen erkennen konnten: Suzannes
springende Gerecktheit, Amelies helle Hiiftenschleife, Jujus
siifie Angst, Schiilein, den rasenden Skier... und leicht vor dem
Abend stehend dies tolle Dasein vor sich zerfliefien saben
so reckt sich manchmal in unbandigerer Vision eine Ebene zu
mir herauf in mein fensterloses Zimmer, auf der Figuren starr
stehen : Albert wie ein Boxer in schneeiger StraBe malend, Lucy
von Jakobi blauschwarzen Haares dunkel im Liegestuhl unter
rotbraun fallender Sonne, der Schauspieler Marx, die Ratsel
erratend, Erna Morenas schones Lacheln, Schmidtbonn Lola
fiihrend, Herzog seltsam sprechend, Alfred Meyers giitiges
Gesicht, ...bis sie beginnen, bewegt in unerhorten Tempen sich
zu verwirren und verblassend zu verschwinden. Dann rauscht
das Zimmer, und donnemde Musik vom Menschen umschlagt
den Entfernten, dem schon der Garten hereinwachst mit Marz,
Tulpe und Gebiisch.
37 Vol. ra/1
v'%
Glosscn
GLOSSEN
ZurcFer C agebucf .
Das Beben nac6 dem ‘Code .
Ich begegne Landsleuten, die mich
mit einem todtraurigen Blick fragen:
„Werden wir je wieder lachen konnen ?"
Es sind nicht immer Kranke.
(,,Kranke4‘: mir scheint, als ob sie
die einzigen seien, die sich an eine Zeit
erinnern, wo die andem gesund waren
und an dieser Erinnerung schmelzen
wie in einem Feuerl)
Dann antworte ich:
Aber ich fiirchte das Gegenteil. Ich
fiirchte, fur Europa, den Anbruch eines
Reichs des Leichtsinns.
Ich fiirchte, daB, was in RuBland
nach dem Krieg mit Japan und der
Revolution kam — ein mittelmaBiger
Dichter namens Artzybaschew machte
daraus den Roman „Ssanin“ — das
ganze Europa vergiftet, ein „Apres
nous le deluge", das sich vorderhand
im Tingeltangel schadlos halt und
„ wieder lebt, wieder atmet, wieder ge-
nieBt" !
Ich fiirchte ein Kokottenlachen son-
dergleichen, den Sieg des Tanzbeins
iiber alle zu erwartenden Konsequen-
zen dessen, was heute geschieht.
Es wird, iiberdies, billig zu haben
sein.
Ich fiirchte — nicht, daB die kapita-
listische Gesellschaftsordnung sich tot-
lacht, aber daB die vielen, die dfeinen
Beuie, die Qbrigbleiben, dem Wahn
anheimfallen, mit leichtem Sinn, mit
der biihnenmafiigen Geste des Grand-
seigneurs ein Dutzend Sprossen der
sozialenLeiterhinauftumen zumiissen.
Ich fiirchte, daB Europa der aife
Vllann wird, der sich, mit dem Opern-
glas, in die erste Parkettreihe setzt, urn
ja vom Ballett, das ihm geboten wird,
nicht die geringste Regung zu ver-
lieren, der Kunst wegen, versteht sich:
fauler als ein Gaul, der die lastigen
Fliegen mit unermiidlichen Schlagen
des Schwanzes vertreibt, wozu sehr viel
Kraftanstrengung und eine gewisse
Aufmerksamkeit gehort.
Die Operette fiirchte ich, das kit—
zelnde Feuilleton, die absichtsvoll ge-
malten Hiiften der Diana in der Abend-
dammerung.
In einem Wort, den Lohn fur den
Bauch, statt daB die Herzen vom Tode
auferstehn und die Gehime GrUermt*
nisse zu Taten machen.
Das fiirchte ich, als die Ablenkung,
die der Teufel ersinnen konnte, und
hoffe inbriinstig auf das leidenschaft-
lich ernste Leben nach dem Tod, den
wir jetzt alle sterben (so wir nicht vom
Tod der andem leben).
‘Die efsdssiscBe ‘Frage.
Warum sprechen die Franzosen im-
mer von der elsassischen oder elsaB-
lothringischen Frage? Es gibt nur eine
lothringische Frage. Die Elsasser sind
Deutsche, ob sie auch von PreuBen re-
giert werden, an welche Perversitat
man diese Alemanncn nie gewdhnen
wird. Nie. Mit der elsassischen Frage
V
Glossen
175
verhalt es sich so, daB vor 1870 im
EIsaB die deutsche Partei starker war,
als nachher, und daB die Elsasser, da
sie sind, was sie immer waren, um
keinen Preis vor Prinzipien abdanken,
die sie notwendig als Brutalitaten emp-
finden.
Zabem . . .
Kurz vor dem Krieg wurde im
Reichstag liber den Unfug verhandelt,
den ein unwissender, tapferer Junge,
ein achtzehnjahriger Leutnant, der in-
zwischen gefallen ist, dort angestiftet
hatte. Der Graf Westarp schlug auf
das Rednerpult des Reichstags: „Als
ich noch Landrat war, Himmeldonner-
wetter . . ." Der Reichskanzler aber
erlaubte die Veroffentlichung eines
Briefes an Professor Lamprecht, worin
der verantwortliche Leiter der deut-
schen Politik sagte:
„Wir sind ein junges Volk, haben
vielleicht allzuviel noch den naiven
Glauben an die Gewalt, unterschatzen
die feineren Mittel und wissen noch
nicht, daB, was die Gewalt erwirbt, die
Gewalt allein niemals erhalten kann."
*
Das Elsafi ist deutsch. Busch erzahlt
in seinen Erinnerungen an Bismarck
vom Besuch des ersten Metzer Pra-
fekten H. von Donnersmarck in Ver-
sailles, wo das Hauptquartier aufge-
schlagen war. Damals hatte Bismarck
zwei wichtige Entschliisse gefaBt: die
Annexion ElsaB-Lothringens und die
Einftihrung des allgemeinen Wahl-
rechts fur den Reichstag.
Und wie werden die Wahlen aus-
fallen? fragte er Donnersmarck.
Der Lothringer, antwortete er,
bin ich sicher. Sie sind Franzosen
und haben den Respekt des franzbsi-
schen Bauern vor der staatlichen Auto-
ritat. Sie werden gouveme mental wah*
len. Aber die Elsasser — das ist eine
ganz andere Sache. Alemannische
Dickschadel. Sie werden sich wehren
bis zum auBersten.
Alemannische Dickschadel. Deut-
sche. Man nehme oder lasse sie, wie
sie sind. Das Klima zwischen Vo-
gesen und Rhein ist ein andres, als in
Pommern und Posen. Bismarck wuBte
es und versprach damach zu handeln.
Er kam nicht dazu, sein Versprechen
einzulosen. Das ist die ganze elsassische
Frage.
Wenn man von ElsaB-Lothringen
spricht, so diirfte nur Lothringen und
nie das EIsaB als „deutsches Festungs-
glacis“ gelten. Die Vereinigung des
Elsasses und Lothringens war eine
Zwangsehe. Sie haben nichts, aber
auch nicht das geringste miteinander
gemein. Die einen, die Lothringer,
blieben Franzosen, die in den parlamen-
tarischen Kdrperschaften ihre kleinen
Geschafte mit der deutschen Regierung
machten, die Elsasser Siiddeutsche,
die eher mit dem Kopf durch die Wand
gehn, als in Dingen nachzugeben, die
sie als Unrecht empfinden. Wenn
PreuBen Bayern annektiert hatte, ware
nicht dasselbe geschehen, wie im
EIsaB. Es ware zur Katastrophe ge-
kommen. Denn, wenn Bayern seine
Franken hat, so sind die Franken noch
lange keine Lothringer. Die Loth-
ringer sind franzosische Bauern und
Qlotabefn,
„Dann schon lieber Franzosen,"
dachten viele Elsasser, wenn ein preu-
Bischer Beamter auf ihnen seine ad-
ministrativen Tugenden entfaltete. Die
Badenser, die Wiirttemberger, die
176
Glossen
Bayern hatten ebenso gedacht, wenn
tie von heul auf morgen in die Obhut
von zehntausend preufiischen Beamten
gegeben worden waren, tiichtigen Leu-*
ten, deren Methode unter andern Him-
melsstrichen vorziigliche Ergebnisse
zeitigen mag, die aber in unertraglicher
Weise erstarrt, je siidlicherder Himmel
wird, unter dem sie — der kategorische
Imperativ der armen Leute — ange-
wandt wird. Geistig eignet sich der
Deutsche zum Kolonisator wie kein
anderer auf Erden. Manieren lassen
sich erlernen. Selbst der Deutsche
von gestem war weltpolitisch brauch-
bar — als Exporteur. Da traf er nur
einen Konkurrenten : den Englander.
Deshalb verehrte er ihn. Was sie
trennte, war ihre Geschichte. Sie ist
bis heute zum Gluck Europas und der
Welt das Trennende gebiieben. Beth-
mann-Hollweg versucht, was vor
hundert Jahren dem Freiherm von
Stein miBIang. Hundert Jahre sind
eine lange Zeit und ersetzen vielleicht
Mangel des Talents, Auch ist der
deutsche Kaiser, der heute regiert,
nicht der damalige Konig von PreuBen.
Gebt dem preuBischen Abgeordneten-
haus das gleiche und geheime Wahl-
recht, und die Welt ist verandert. Und
wir sind — vorlaufig einmal — eine
Nation, statt einer Horde erfolgreicher
Kaufleute, der die Welt offen stand, und
einer Militarkaste, die fiir den indu-
striellen Teil des Landes wohl schlagen
wollte, um zu scfxlagen, aber mit lhm
keine wirtschaftliche, nicht einmal eine
politische Gemeinschaft teilte. Die Ar-
beit machte Deutschland reich. Der
Sabel regierte. Und die Hand, die ihn
hielt, wollte von der andern, die arbei-
tete, nichts wissen. Der „£Kofmicft(
und der Soldat waren Feinde, bis der
Soldat, zu seiner Oberraschung, den
,JKofmicft* brauchte. Darauf ging er
sogar so weit, daB er ihn zum Offizier-
stellvertreter oder Feldwebelleutnant
aufrilcken lieB.
Einige Millionen Deutsche feierten
das Ereignis als einen Sieg der Demo-
kratie.
Oie Sc6we/z.
Wenn einmal Europa die Bilanz die-
ses Krieges aufstellt, wird die Schweiz
auf der Gewinnseite der Menschlich-
keit an erster Stelle stehn und zeigen,
welche menschlichen GroBtaten schop-
ferischer Art sie dem Volkermord ent-
gegenstellte, wie sie nicht nur tyunden
pfleate und Sates tat in jeder Weise,
sondem, fast allein in Europa, ein
kleines umdrohtes Land, die Mensch-
lichkeit wahrte und die Zukunft Euro-
pas bereiten half . . . Auf zwanzig Ge-
bieten und in hunderttausend Men-
schenherzen. Sie erscheint mir wie der
heilige Hieronymus, zu dessen Fiiflen
die groBen Raubtiere sich versammel-
ten.
In diesen Tagen habe ich das Buch
eines jungen Dichters gelesen, das
vor dem Krieg geschrieben ist, das jetzt
spricht wie der Prediger in der Wiiste,
und das nicht vergehn wird, und das
viele, viele lesen sollten. E, Korrodi
verdanke ich die Kraft, die ich daraus
geschopft habe. Er ist auch einer der
wenigen, die fur den tiefen, giitigen
Menschen, diesen Dichter, werben.
Der ist ein Schweizer, heiBt Albert
Steffen, seine Werke sind bei
S. Fischer in Berlin erschienen. Ich
kenne heute nur den einen Roman,
„Die Bestimmung der Roheit“;
Glossen
177
aber ich will bei diesem Dichter
bleiben und dann hier ausfiihrlich
sagen, wer er mir zu sein scheint : d i e
sublimierteSchweiz. Er Hat
nicht den Umfang und nicht die Tiefe
Dostojewskis ; aber auch nicht dessen
Eifer, Sate und mensMiche Ginsicfxt
mit Feuer und Schwert verbreiten zu
wollen. Biichern gegeniiber wie der
,,Bestimmung der Roheit** hort die
literarische Kritik auf, so sehr ich vom
Dichter die Ehrlichkeit und Kunst der
Arbeit verlange, wie von jedem Hand-
werker, der das Werk seiner Hande
lieben muB, um nicht der willen-
lose Sklave einer Funktion zu wer-
den. Da von will ich sprechen,
wenn ich Albert Steffens Werk be-
trachte und seine Herzenskraft wie
seine Kunst einzuschatzen versuche.
Heute bin ich gliicklich und iiberlasse
mich dankbar der GewiBheit, einem
Menschen begegnet zu sein, in dessen
Brust ein groBes Herz schlagt.
Nochein Schweizer: MaxPulver.
Auch einer, der sein Werk errichten
wird: weithin sichtbar, iiberragend,
nichts Geringeres als ein Erzieher des
Menschengeschlechts. Er hat Gedichte
geschrieben, von denen einige in die-
sem Heft stehn ; Dramen, die noch
nicht erschienen sind ; auch er wird ein
Werk hinterlassen, das in die Zeiten
wirkt. Auf das Werk kommt es an und
nicht sosehr auf das QedicRt, auf den
‘Roman, auf das ‘Drama; auf die lange,
andauernde Anstrengung: ein Beispiel
oder wenig^ens einen innerlich ver-
klarten Kampf zu schildern um die Un-
antastbarkeit der menschlichen Wiirde
— und zu versuchen, es selber zu sein.
Die Kunst ist schon auch im Spiel.
Sie wird das Hochste, wenn sie Ernst
macht. Sie braucht keine Soldaten, um
schon zu sein. Aber sie braucht sie zu
ihrem Staatsstreich, um zu herrschen.
Darum sollen Klinstler zu Politikem
werden, und wenn die Politik noch
hundertmal mehr das ware, was sie
heute ist und vielleicht immer sein
wird. Dieser Zweck heiligt viele Mittel :
der Zweck, den Geist zur Herrschaft
zu bringen, selbst mit Mitteln, die
dem Geist, im Innersten, zuwider sind.
Ein Gedicht wie ,,Ober alien Wip-
feln ist Ruh’“ schwebt beseligend iiber
alien Tageskampfen. Die Kampfe des
Tages sind, trotzdem, und sie ge-
stalten das leibliche und geistige Leben
der Millionen Menschen, die im selben
Licht auf Mauergeriisten schwitzen, in
dem, wie ein Wunder, ein vollkom-
menes Gedicht lerchenhaft empor-
steigt, sich blutenhaft entfaltet. Die
Literatur hat nur einen Wert,
wenn sie kampft. Die Kunst ist.
Bei den meisten Dichtern — und bei
alien groBen — finden wir sie beide
und konnen oft nicht einmal ermessen,
wo die eine aufhort und die andere be-
ginnt. Und selbst die absolute Kunst
ist noch ein Kampf um Reinigung, fur
die Heiligung eines Menschen, eines
Gefiihls — wenn auch durchaus nicht
Politik. Hier waren naheliegende Ver-
wechslungen von Obel.
Qiteratur .
In ihrem Aprilheft veroffentlicht die
Neue Rundschau folgende „Notiz der
Redaktion" :
„I m Januarheft der ,,WeiBen Blatter**
sagt Rene Schickele von dem Aufsatz
Otto Flakes iiber „Jiingste Literatur*,
178
Glossen
der in unserm Septemberheft 1915 er-
schien, er bedeute die Ausfuhrung
eines redaktionellen Auftrags, dessen
Sinn nicht miBzuverstehen ware. Will
Schickele damit sagen, daB unsere Re-
daktion ein Interesse daran hat, die
kritische Einsicht eines Mitarbeiters in
irgendeiner Weise zu lenken, so ist das
eine ebenso unsinnige wie boswillige
Behauptung, fur die weder eine mate-
rielle noch eine psychologische Grund-
lage vorhanden ist.“
Was ich damit sagen wollte, weiB
Flake ebensogut wie Professor Bie.
Eine „materielle Grundlage flir meine
Behauptung4* besteht nicht. Ich weiB
es; und wenn ich es nicht wiiBte, so
hatte ich meinen Glauben behalten,
daB nicht alle Schriftsteller zu kaufen
sind. Jedoch die „ psychologische
Grundlage** besteht, das weiB ich
auch, und jeder, der einmal eine Zei-
tung oder Zeitschrift herausgegeben
hat, kennt sie. Es sei denn, er habe sich
als Kuli gefiihlt und nicht als verant-
wortlichen Kampfer flir die Sache, die
er fur die gute hielt. Ich habe mich
gefreut, daB immer mehr Mitarbeiter
der WeiBen Blatter in die Neue Rund-
schau zugelassen wurden. Ich freue
mich nicht mehr, seitdem klar gewor-
den ist, daB sie als die Mitarbeiter
einer Zeitschrift wirken, die kul-
turelle und politische Ziele verfolgt, die
— und in einer Art, wie — diese
Mitarbeiter sie tief verabscheuen, was
ich oft genug von ihnen gehort habe.
Dies geht die Mitarbeiter an, nicht
die Redaktion.
Es war in meiner Notiz hauptsach-
lich von Heinrich Mann die Rede. Die
Herren der ‘Redaction mogen etwa bei
diese m Einzeifall eine Gewissenserfor-
schung anstellen. Da ich sie fiir Gent-
lemen halte — wenn das Fremdwort
erlaubt ist — , bin ich iiberzeugt, daB
sie von dem Ergebnis nicht befriedigt
sein werden. Herr Professor Bie fiihlt
sich gewiB wohler, wenn er iiber Musik
schreibt, als wenn er literarische Ar-
beiten priifen soil, die ihm notwendi-
gerweise ebenso fremd sind, wie ihm
die Literatur am Herzen liegt, die er
vor zwanzig Jahren lieben lernte.
Vielleicht schreibe ich, fiir Un-
wissende, nicht deutlich genug.
Ich habe keine Lust, hier eine Pole-
mik zu fiihren, wie man sie in Zeitun-
gen findet, die sich, mit viel Pathos und
wenig Stil, gegen Dinge „verwahren“,
die teils nicht behauptet wurden, teils
offenkundige Angelegenheiten sind, bei
deren Erwahnung die einen mit der
Achsel zucken, wahrend andere, die sie
nicht kennen, Liigen schlucken.
Junius verfaBf in der Neuen Rund-
schau die politische Chronik. Im April-
heft iiber „Tschandalapolitik“. Gut, er
weiB nicht, daB die Stellung der Kauts-
ky, Bernstein, Haase gegeniiber dem
Krieg ganz und gar nicht die der ,,Zim-
merwaldler** ist und mit Marxens „Ka-
pital44 wenig, sehr viel aber mit den
politischenTagesschriften der fflleister
zu tun hat. Er glaubt, immer noch, daB
diese Menschen statt Blut marxistische
Dogmen in den Adern haben. Ober-
legt sich kaum, wieso es komme, daB
Kautsky und Bernstein, um nur die
beiden zu nennen, heute zusammen-
stehen. Dagegen stellt er seinen Lesem
Karl Renner, einen Christlichsozialen
im sozialdemokratischen Lager, als
einen „ausgezeichneten Wiener Politi-
ker 4 vor, der „zu den feinsten, kennt-
nisreichsten, phantasievollsten politi-
I
Glossen
schen Schriftstellem Osterreichs" ge-
hore. Schriftsteller wie Junius kennen
die Menschen nicht, iiber die sie ur~
teilen, oder kennen sie nicht mehr.
(Wo, Junius, ist heute Masai yk, den
Sie mit keinem Blick, in keiner Silbe
verstanden, als Sie ihn in Prag auf-
suchten ?) Sie verrennen sich in Texjte.
..Deutsche Poeten wie Heinrich Mann
und deutsche Politiker wie Kautsky",
schreibt er, ..verlieren die Besinnung
und wiiten gegen das eigene Blut. so*
bald die Gegner die demo /cr at is die
clKa&ke vorfia(ten“ Seltsam, dafi die
demokratische Maske bei uns nicht in
Gebrauch kommt. Offenbar, weil sie
— wenigstens vorderhand — nicht be-
notigt wird . . . Seltsam, dafi er die
demokratische Maske nicht wieder-
erkennt, obwohl sie jahrelang sein Ge-
sicht war. Seltsam, dafi er sich nicht
an eine gewisse, mit Granit ausgelegte
Stelle im Tower erinnert, an das Unter-
haus — und an Zabern. Dafi er, der
sehr viele politische Bucher gelesen hat
und darunter vermutlich auch das (vor
dem Krieg erschienene) von Revent-
low, an der Kreuzzeitung, der Deut-
schen Tageszeitung und dem Dutzend
anderer Blatter, wo das eigene Blut
gepflegt wird, bewundert, dafi sie keine
demo krai iscbe ffllaske anlegen, und
sich nicht besonders dabei aufhalt, dafi
das versprochene, neue Wahlrecht fiir
das preufiische Abgeordnetenhaus trotz
der beispiellosen Anforderungen an den
Mann der letzten Wahlklasse auf sich
warten lafit. Er macht Kant ein
schmeichelhaftes Kompliment, das der
von ihm, in der heutigen Geistesver-
fassung seines Verehrers Junius, gewifi
nicht verdient hat, alldieweil derselbe
Kant wegen seiner jafcobinisc/ien $lei»
gungen und anderer welscfier Sym*
paihien in starkem Verruf stand. Er
lafit sein preufiisches Blut sprechen,
heftiger als Kant, er tumt sich, eifriger
als der Poet Fontane, in das Preufien-
tum hinein, der, mit fiinfundsiebzig
Jahren, seine Erfahrungen in einem
Gedicht zusammenfafite :
Hundert Briefe sind angekommen,
Ich war vor Freude wie benommen,
Nur etwas verwundert iiber die Namen
Und iiber die Platze, woher sie kamen.
Ich dachte, von Eitelkeit eingesungen :
Du bist der Mann der „Wanderungen“,
Du bist der Mann der markschen Ge-
dichte,
Du bist der Mann der markschen Ge-
schichte,
Du bist der Mann des alten Fritzen
Und derer, die mit ihm bei Tafel sitzen,
Einige plaudernd, andre stumm.
Erst in Sanssouci, dann in Elysium ;
Du bist der Mann der Jagow und Lo-
chow,
Der Stechow und Bredow, der Quitzow
und Rochow;
Du kanntest keine grofieren Meriten
Als die von Schwerin und vom alten
Zieten,
Du fandest in der Welt nichts so zu
riihmen
Als Oppen und Groeben und Kracht
und Thiimen ;
An der Schlachten und meiner Be-
geisterung Spitze
Marschierten die Pfuels und Itzenplitze,
Marschierten aus Uckermark, Havel-
land, Barnim
Die Ribbecks und Kattes, die Billow
und Arnim,
Marschierten die Treskows und
Schlieffen und Schlieben —
180
Glossen
Und iiber alle hab ich geschrieben.
Aber die zum Jubeltag kamen,
Das waren doch sehr, sehr andre Na-
men,
Auch tfsans peur et reproche", ohne
Furcht und Tadel,
Aber fast schon von prahistorischem
Adel :
Die auf „berg“ und auf „heim“ sind
gar nicht zu fassen,
Sie stiirmen ein in ganzen Massen,
Meyers kommen in Bataillonen,
Auch Pollacks und die noch ostlicher
wohnen ;
Abram, Isack, Israel,
Alle Patriarchen sind zur Stell,
Stellen mich freundlich an ihre Spitze,
Was sollen mir da noch die Itzenplitze!
Jedem bin ich was gewesen,
Alle haben sie mich gelesen,
Alle kannten mich lange schon,
Und das ist die Hauptsache . . ., „kom-
men Sie, Cohn/4 S.
Crosier.
Ferruccio Busoni, welcher doch der
groBte Musiker unter den heute Leben-
den ist, wurde in dieser Zeit fiinf-
zig Jahre alt. Ich vermisse die Ab-
ordnung von Musikmachenden der
ganzen Erde. Darunter die Abstattung
groBen Dankes durch die deutschen
Musiker, denen Busoni die Halfte
seines Lebens gewidmet hat zur star-
keren Helligkeit ihrer Kunst, zur Er~
innerung hoheren Ernstes und grofiter
moralischer Konzentration. Vorallem
den Dank der deutschen Musikkritiker
vermisse ich, dafiir, daB Busoni un-
beirrt blieb von zwei Jahrzehnten ihrer
Speikritiken und unbeirrt von Pro-
grammusik, Klavierchaos und Mit-
machertum. Und wo ist der Dank
dafiir? daB die vielen Freunde Busonis
bessere Musiker sind, schlechtere Bier-
trinker; nie Publikumsreisser kompo-
nierten ; daB er sie zu lebenserfahrenen,
unterrichteten , reineren Menschen
machte! (Kann man denn im Ernst won
jenen beliebten Beethovenstohnem
sprechen, die nach dem letzten Kon-
zertton ihrer Hammerklaviersonate
nach Hause rennen und an Schund-
opern schreiben, in riidester Nach-
kreischung marktgangiger Puccini-
quintenl Wer erinnert sich nicht bei
solchem geriihmten Beethovenspieler
an den Ekel vor dem Damenimitator
des Vari£t£s, der uns lange im Fistelton
qualte und auf einmal die lange Locken-*
periicke herabriB mit den BaBworten:
„Ich bin ein Mann44. Aber auch die
Mannlichkeit war noch imitiert.)
Wo blieb der Dank an Busoni ?
Oder verwechselt man wieder? Nimmt
man ihn fiir einen Kollegen? Wirk-
lich, Musiker verdienen sonst keinen
Dank; im Cegenteil. Denn was ist
ein Musiker heute? Ein Verwirrer.
Ein klebriges Larvenwesen, das seine
Horer selbst zu Larven macht. Ein
Lemurengeschopf, dem die Horer ihr
Blut wohlliistig in den gierigen Russel
stromen : dabei ein erzdummer Mensch
der seine Nebenmenschen verdummt.
Ein Schaffer von Chaos, aus Blut-
armut. Wenn die Deutschen nicht
seit Generationen stets ihre entschei-
denden Momente an die Musik ver-
pufft hatten, dann waren sie kein Volk
von Isolierten, von siebzig Millionen
Vereinzelter, von politisch Ahnungs-
losen. Aber jedesmal, wenn dieses Volk
inspiriert wird, vertraumt es schnell
seine Inspiration in der Verklarung
Glossen
von Or chesfcer lust. Wenn es auf die die drei Sonnen hoch kreisen. Dabei
StraBe soil, lauft es ins verdunkelte durch weite Abendgarten auf felsigen
Opernhaus. Wo anders lief man aus Terrassen schweben immerwahrende
der Oper auf die StraBe. Umsponnen Monde iiber Palmen aus lieblich nie-
sind die Deutschen von den blutigen kiihlen Eisblumen: 0 das himmiische
Scharpiefetzen ihrer Polyphonic, und Jerusalem, gdttliche Friedensstadt,
jede ihrer Partituren ist ein Spinnen* dreieiniger Fugenpsalm iiber durch*
netz, in dem ihnen der Wille immer scheinenden Kuppeln und lichtstrah*
betaubender ausgesaugt wird. lenden Tiirmen ; weissfeurige Hauser-
Wie dankbar miissen wir einem reihen riicken als Fugenengfiihrung
Menschen sein, der nicht von uns aneinander zu langen StraBen, darin
nimmt, der nicht unsern Grabgesang Menschen, lautes Getier und heilige
zu Lebzeiten anstimmt, der nicht weisse Engelwesen schwebend um-
feierlich der Menge den kleinen Tod einander leicht bewegt. Flimmernder
in derEkstasederVereinzelungerwirkt. Registerton des Klaviers, der Sterne
Wie dankbar miissen wir ihm sein, iiber die himmiische Stadt streut.
der uns gibt; der uns etwas baut, Als die Welt noch glaubig war,
das wir noch nicht hatten ; der uns zeigte ihr jeder Fiihrer neu das himm-
zu unsern Fahigkeiten aufreiBt; der lische Jerusalem hoch oben, darnach
uns — Musik! — einen hellen Stahl- sie eifern und die irdischeErde richten
stab ins Riickenmark blast. Wie dank- sollten. Denktauchan den MalerGreco.
bar miissen wir dem Busoni sein! Hohe Stadte, hoch auf Felsen, daB ihr
Pianist Busoni: Mozarts Don Gio- Beschauer ein Heiliger werden moge.
vanni, der den Umkreis der ganzen Nie mehr vergessen wir Busonis himm-
Erdkugel durchrast, wenn er vor der lisches Jerusalem aus Musik. Schop-
ungeheuersten Verzweiflung, vor den fung: Hoch nach ihr hinaufzuleben.
brennendsten Atzungen der Lebens- Komponist Busoni: Die Lunteeiner
erfahrung singt: „Viva la Liberta!" Tonbiegung glimmt auf. Orchester-
Auf dem Bechsteinfliigel muB erst ailes stimmen werden heiB. Aber wenn die
Leben gelebt sein, das menschliches Explosion kommt, wenn unsere Ir-
Ohr, menschlicher Mund, mensch- dischkeit sausend zerstiebt, fliegen wir
liche Haut ertragen kann. Dann kame mit hinaus in die leuchtenden Riesen-
die Katastrophe. Aber dieser Don prarien des Weltraumes. Griinhelle
Giovanni singt: Freiheit! Aus unseren Urwalder lichtraketend um gezackte
Umarmungen, aus der Versunkenheit wilde Riesenpflanzen schieBen auf,
in die Welt, iiber dem seligen Schwim- schwimmen dunstleuchtend ins Weite,
men in der spriihenden lichten Welt ballen sich zum fernen Stern klein
schwingt sich das Himmelsgewolbe zusammen. Abendhimmel, blauer als
„Freiheit“, der Geist iiber uns, nach es Blau gibt. Sterne spiegeln sich in
dem wir handeln. Ba Biberih erhebt den groBen Glaskugeln des machtigen
aus dem Klavier Bachs Orgelwerk der dunklen Gartens um uns. Rote Flam-
Tripelfuge in Es zu einer ungeheuren men spielen hoch auf griinerem Rasen,
neuen Stadt aus hellen Kristallen, um alsGriines wachsen kann. Hier springt
182
Glossen
einer um die Flammen, eine Glas-
kugei tanzt auf seinem Arm. Das rote
Feuer flammt zuriick aus dem Ball,
die rund gebogene Sonne tanzt bunt
spiegelnd in seinen Handen, die Kugei
lauft schimmernd iiber seine Arme,
hiipfend iiber die gebuckten Schultern
im Flammenschein, wirbelnd um sei~
nen Kopf. Sie lauft heiterer als un-
sere Planetenerde im Weltraum, sie
schwingt leichter als unsere Erde, sie
ist bunter als unsere Erde. Wir —
erstaunt, jenseits uns: ganz kleinl
auBer uns, unendlich leicht geworden
— Hinauf , hiniiber, Kreise, schwebend
im Sprung — wir schwingen mit ! Wir
werden nie mehr vergessen: so eine
Schwebschimmerkugel kann unsere
Welt sein. — Entriickung ? Versinken ?
Mystischer Tod in Seligkeit? 0 nein!
eine Menschenstimme fliegt wie
Schellengeklirr hinauf, Gelachtersang
umkreist wie ein klatschender Lasso-
wurf den springenden Glanzplaneten,
nun sinkt er, die bunte Kugei schwebt
ab warts. Der Abendgarten schliipft
ins Pianissimo, wedelnde Riesenbaume
verfloten ihr Griin ins versickernde
Feuer, unser Blut fallt wieder und
Id op ft durch unsere Adern. Mitten im
eckigen Konzertsaal, an roten Pliisch-
rampen unter gelben Lampenlichtern ;
zwischen bebenden Frauen, vergnti-
gungssiichtigen Passanten, befrem-
deten Klavierlehrern, mitten im heiBen
Saal wissen wir auf einmal, wie unsere
Erde sein konnte: spiegelnd hell,
schwebend leicht! 0 Trost, da wir
Trost brauchen! Trost, der fur uns
erfunden, fur uns aufgebaut wurde!
Aus Tonen schuf er uns die leucht-
farbenen Garten, die mutig hellen
Gestalten, die schimmernd schweben-
den Stadte einer Welt, die wir einst
ahnten, als wir ins Leben traten.
Nun sehen wir sie wirldich und
werden ewig unser Leben darauf
bauen. Nun werden wir unsere Welt
zu dieser Welt machen !
0 Schopfung des Menschen : Trost,
daB noch Schopfung ist.
Jetzt erst sehen wir ganz, wer zu
uns gehort, jetzt erst im Kriege, wo
endgliltig und unumstoBlich sich ent-
hiillt, wer uns aufrichtet, uns heilt,
uns hilft. Nun die ungeheure Kreis-
sage des Kriegs sausend wie stahlblau
einsamer Himmel die Erdkugel Bach
schneidet; in dieser Nacht der Angst
bleiben ein Paar Menschen aufrecht,
wie einsame Baume nach den Zer-
storungen, beleuchtet vom Schein
brennender Stadte. Wer dem Riesen-
pfeifen der Katastrophe nicht nach-
lauft, wer den schrillen schwirrenden
Umlauf der Gigantenmesser nicht mit-
macht, der kann unser Arzt sein. Urtd
ist er mehr, ist er ein Schdpfer, so
wird er uns fiihren. Aber da zu sein
in dieser Zeit, iiberhaupt fiir uns zu
existieren: dieser Schdpfer ist uns das
Herrlichste, was wir heute denken
konnen, er ist unser Trdster.
Gruss an den Troster Busoni!
Er wohnt in der Schweiz, dem ru-
henden Achsenpunkt der Erde. £. *R .
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
183
FRIEDRICH HOLDERLIN
IN SEINEN GEDICHTEN
EIN VORTRAG.*
1V/| AN hat, und nicht ohneGrund, in der Ietzten Zeit mit stei-
* * * gendem Ernst Friedrich Holderlin mit Friedrich Nietzsche
zusammengestellt ; in der Tat mahnen uns Worte, Gedanken
und Stimmungen Holderlins, wenn er seine Anschauung vom
Griechentum, von der Tragik, vom Orgiastisch-Asiatischen und
Dionysischen aufiert, immer wieder nah genug an Nietzsche,
wie er sich mit ihm in Ietzten Gedanken und Zielen zu treffen
scheint. Nur dafi, wenn zwei dasselbe denken, fiihlen, wollen
oder tun, es nicht dasselbe ist. Leibnitzens Prinzip, dafi alles
Ununterscheidbare identisch ist, lafit sich, zumal fiir den Geist,
auch so aussprechen, dafi es Gleiche nicht gibt, in keinerlei Mehr-
zahl : gleich ist eins. Und so sind, wenn man naher zusieht, Hol-
derlin und Nietzsche vollendete Beispiele nicht blofietwa fiir Ton-
ungen des Gleichen, sondern fiir entgegengesetzteTypen in dem
einen Kampf des geistigen Menschen mit der gesunkenen Zeit.
Wir haben von Nietzsche das Wort: „Ihr seht nach oben,
wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil
ich erhoben bin.4* Schon; aber sehen wir immerhin naher zu.
Wer hinab sieht, nicht blofi wie die schenkende Sonne, sondern
auf Niederungen, wie einer der sie gut, allzu gut kennt, mit
Hochmut,Verachtung,Gereiztheit,dermuBerst hinaufgekommen
sein. Fiihlt sich Nietzsche auf seiner Hohe als ein Gott, so
wirkt er doch immer als dieu parvenu.
* Gehalten am 13. Marz 1916 in Berlin, inner halb einet Zuaammenhanges von zehn Vor-
tragen, die alle um cine Mitte sich bewegten : „Himmlische und irdische Liebe in Dichtungen
Goethe* und der Romantiker44.
1 84 Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
Er ist nicht von oben, ein Seliger, sondern er ist ein titanisch
Ringender, durch Kraft — des Flugs, des Schwungs, des Pump-
werks — hinaufgekommen.
Bedienen wir uns hier, fur dieses Wesen und seinen Gegen-
satz, zweier Ausdriicke in einer spezifischen Bedeutung : Kraft
und Natur.
Friedrich Nietzsche eben, mochte er es wahrhaben wollen oder
nicht, ist, so gut wie Schiller und so gut wie der junge, noch
nicht zu sich gekommene und vollendete Holderlin, eine Kraft.
Ja, wir konnten, wenn hier nur die Gelegenheit ware, zeigen,
daB, wie Holderlin von imitierter, bei Schubart und Schiller ge-
borgter Kraft zuoriginaler Natur gelangt ist, umgekehrt Nietzsche
in seiner ersten schonen Jiinglingszeit eine Natur gewesen ist,
von einer sanften, in Reichtum stillen gesattigten Reife wenn
nicht erfiillt, so doch wundervoll warm und echt umschienen,
und dafi erst nach dieser Friihperiode, wie verspatet, so etwas
wie Kampf und Garung der Jugend iiber ihn kam und einen
andern, einen Reprasentanten der Kraft aus ihm machte.
Kennzeichen der Kraft ist die Steigerung, die Anschwellung,
die Tendenz nach oben, wie beim Springbrunnen oder dem
durch das Pumpwerk des Herzens bewirkten und unterhaltenen
Kreislauf des Blutes.
Man achte auf die sprachliche Form in Nietzsches Schriften :
ruhig, sanft, ausholend, abwartend, verhalten fangen die Pe-
rioden oft an ; treiben sich selbst weiter, bis zur Glut und Siede-
hitze oder Scharfe und Bosheit ; und enden im Ausrufezeichen
oder einer raffiniert geschliffenen und zugespitzten Frage.
Die Kraft muB selbstbewuBt sein, sich selbst antreiben, ist
wenigerein Stern als eine Rakete.die ihren leuchtenden Schweif
— nicht ohne Selbstgefalligkeit — hinter sich herzieht. Die
Kraft ist zugleich die Maschine und das Werk der Maschine.
Weil sie so furchtbar, mit so starker Energie arbeitet, wird sie
geneigt sein, alles sich selber zuzuschreiben, Selbst vergotterung
zu treiben, Andacht, Bescheidung, Einordnung nicht zu kennen
oder zu verachten.
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<• "V
Gustav Landauer ♦ Friedrich H older Un 1 8$
+ ~T * ^ ^ ^ ^
Die ihrer selbst bewufite Kraft, die in genialen Exemplaren
immer wieder Hemmungen in ihr Triebwerk einschaltet, wird
aber manchmal so sehr der Selbstbeobachtung fahig sein, daB
es ihrem von alliiberallher genahrten Talent gelingt, die Spuren
des eigenen Wesens zu verstecken und in feiner Kunst und
groBer Art eine Nachahmung der Natur zu treiben.
So lange es geht. Wird der Tragerdieser Kraft irrsinnig, dann
wird er hemmungslos dem erhabenen Wahn, dem GroBenwahn
verfallen und etwa sich mit dem Gegenstand seines hoch-
sten und ach, immer so entfernten Strebens, seiner gliihendsten
und erzwungensten Verehrung identifizieren, wird sich fur Dio-
nysos oder Napoleon halten. Geht es dann doch — endlich —
mit ihm den Weg, den der wahrhaft selige Geist, die Natur,
schon immer genommen hat, namlich abwarts, dann nur so, daB
der letzte Rest seiner Geistnatur, die organisierende Funktions-
Icraft seines Damon verloren geht: er ist nur noch ein geistloses
brutum, ein rohes, sprachloses Stuck Natur.
Holderlin aber ist nicht eine kiinstliche, pulsierende Kraft,
sondem eine Natur. Fliegt einer wie Nietzsche, so muB er die
Schwere durch fortwahrende, rastlose, selbsterzeugte Bewegung
iiberwinden ; einer wie Holderlin fliegt um seiner spezifischen,
aetherischen Leichtigkeit willen.
Wolle man nur, was nun gesagt wird, nicht als naturwissen-
schaftliche Sacherklarung nehmen, nicht pressen ; von der all-
gemeinen Natur, die uns drauBen unermeBlich und unergriind-
lich umgibt, wird hier so geredet, wie sie uns erscheint, wie
sie uns ein Gleichnis dessen gewahrt, was unter geistigen
Menschen in dem besondern Sinne eine Natur genannt sei.
In unsrer Welt, wo allein wir Wesen und Leben kennen,
scheint, wie es Mose Schopfungsgeschichte und das Johannis-
evangelium an den Beginn ihrer Lehrerzahlung stellen, das voile
Schopfungsprinzip gesammelt im Anfang beisammen zu sein.
Da ist die Natur eine Entbindung gesammelter Kraft, ein Los-
losen, Erlosen, immer aus dem Ganzen zu den Teilen hinaus,
aus dem Brennpunkt in die Zerstreuung; von einer riicklaufigen
Bewegung aber wissen wir in dieser unsrer Welt nichts. Die
1 86 Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
Natur geht von der keimenden Kindheit, in der alles beschlossen
liegt, ins Alter ; das Alter aber kann nicbt sich unmittelbar wieder
in der Kindheit tauchend erneuen, sondern muB erst im Tod
vollig verschwinden und in Erwartung neu an sich reiBender
und bindender Gestaltungskraft elementar werden. Die Natur
beeifert sich, alle Bewegung in Warme zu verwandeln, keines-
wegs aber alle Warme in Bewegung ; die Umwandlung vielmehr
gerade der natiirlichen Warme in pulsierende, rennende, schieBen-
de, drehende Bewegung kommt uns wie eine maschinelle, durch
vermittelnd angesetzte Kraft bewerkstelligte Kiinstlichkeit vor.
Die Natur vielmehr macht aus Warme Kalte im unendlichen
Raum, die wir nicht mehr gem als einen Grad der Warme,
sondern als so etwas wie nichts auffassen wollen. In der Natur
waltetdasPrinzipderAbwartsbewegung, desVersinkens, Fallens,
freien Hergebens. Die schiefe Ebene, die Fliisse, das Licht der
Gestirne sind uns das Natiirliche, das Fraglose, das Selbstver-
standliche. Fiir jede Aufwartsbewegung, jedes Geschossensein
suchen wir eine Kraft als Ursache; daB der schwere Korper,
der in Hybris, in Ubermut, sich hochschleuderte, nach diesem
Anfang einer Hyperbel, einer Auftreibung und Ubertreibung,
in sanfter, rundlicher Bahn wieder abwarts muB, dafiir suchen
wir kemen Grand. Daram geht es auch in der Natur nur laut
zu, wo das natiirliche Gleiten oder Schweben durch widrige
Krafte gehemmt wird; das Licht, die Farben, der Chemismus,
aus dem Flachen und Korper in der unendlichen Manmgfaltig-
keit der Eigenschaften wachsen, die Diifte, die Warme, all alles
ist da stille Bewegtheit ; und selbst eine stille, nicht brodelnde
Glut kennen wir gar gut. Die BegrifTe, in denen sich unsere
auBere und dann innere Welt erbaut, gehen in allem Substan-
tiellen auf den schweigenden Gesichtssinn zuriick; die von der
Kraft des Menschengeistes gemachte Sprache bedarf der Ge-
rausche, auf daB wir, wahrend wir Zeichen machen und emp-
fangen. mit Sinn und Tat in der Natur bleiben; die Sprache
der Natur ist stumm. GroBter Reichtum unsres Geistes die
Musik; groBte Armut der Natur ihre Tone; groBte Wonne fiir
uns ihre Stille. Wir lauten, immerzu Kraft anwendenden Stadter
Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
187
kennen nichts Kostlicheres als die ganz positiv anmutende Ruhe
undsanfte GleichmaBigkeit der Natur auch in lhren Bewegungen.
Die wundersamste Erfindung des Menschengeistes, iiber die
wir in immer emeuter Freude staunen, ist die Elektrizitat, mit
der wir unsre eigene und der gehemmten Natur larmende
schiefiende Kraft wieder in eine schweigend gesammelte Natur-
potenz aufspeichern und in edler Stille fortpflanzen. Die Aus-
nahmen in der Natur, wie Gewitter und Eruptionen, werden
sehr Iebhaft als Ausnahmen, als eine Art Knalleffekte und Feuer-
werke der Natur empfunden, und unsre Empfindungen dabei
sind schreckhaft oder forciert, auch wenn uns keine Gefahr droht.
Als eine Natur steht Friedrich Holderlin in der natiirlichen
Welt. Das Bild, das er immer wieder selbst fur sich fand, ist
das des fliefienden Wassers, des rinnenden Ljchtes. Das Gesetz
des Hinab waltet iiber seinem Leben wie in dem Stil seiner
Dichtungen.
Geist in Natur zu verwandeln, ist das Schwerste; und nun gar
in solchen Zeiten wie den seinen, die die unsern sind ! Holderlins
Leiblichkeit hielt nicht lange aus, was Geist und mit ihm feind-
lich verbiindetes Schicksal ihr zumuteten. Als dann aber der
Organismus zusammenschnurrte wie erne Feder, die iiberzogen
wird, blieb ihm das Werkzeug, mit dem sein Geist sich zur
Natur gemacht hatte, die Sprache, nicht nur fur die Inhalte
des Alltags, sondem auch in der hoheren Potenz der sanften
rhythmischen Form erhalten ; von der Hohe seines selig akzep-
tierten Leids und seiner gefafiten, schwebenden Mannhchkeit
glitt er nach kurzem Krampf hinab und lebte bis ms Greisen-
alter als Dichterkind, als Traum und Form ohne Kraft der Ge-
staltung und Behauptung und ohne andern Inhalt als den des
etwas pflanzenhaft gewordenen Tierchens.
Die Zeit aber zwischen dem ersten Wahnsinnsanfall, den er
noch einmal iiberstand, und der endgiltigen Kiindigung des
Dienstverhaltnisses zwischen Korper und Geist ist die kurze
Spanne, in der Holderlins gemales Naturwesen in vollendeter
Reife ihren schonsten Ausdruck fand. Da hat er die Dithyramben,
die Hymnen gedichtet, die wir, solange man uns nicht beweist,
1 88 Gustav Londoner * Friedrich H older Un
daB die Beziehung false h ist, nach einem Ausdruck, den wir in
seinen Brief en finden, Nachtgesange nennen, sechs an der Zahl.
Nie hat es einen so stillen Rausch gegeben wie in diesen Wei he -
gesangen, die wahrhaft von oben hemieder zu gehen scheinen ;
nie ist das Gewaltige, Kosmische, der grauen- und freuden-
reiche Verkehr von Gott und Welt so von mildem Stemenlicht
uberschimmert worden .
Den hochsten Ausdruck, meine ich, fand sein Wesen in dem
Hymnus : „Der Rhein“ ; ich mochte ihn eher einen Abendgesang
als einen Nachtgesang nennen. Da merken wir: wie er gesam-
melte, ungeheuer zusammengedrangte Kraft ist, die wohl platzen
und gischten wiirde, wenn sie nicht hinabfiieBen konnte. Aber
in allem Beginn schon ist sie oben und beisammen ; wie sie
einst hinaufkam, bleibt das schicksals- und leidvolle Geheimnis
des Dichters, das ihn eint mit seiner Mutter, der Natur, und
seinem Vater, dem Geist.
So wie er in die Erscheinung tritt, ist dieser Geist in Ur-
sprung und Wesen so oben, daB ihm nur ein Weg offen ist, der
Konigs- und Meisterweg: Resignation.
Im dunkeln Efeu saB ich, an der Pforte
Des Waldes, eben da der goldene Mittag,
Den Quell besuchend, herunterkam
Von Treppen des Alpengebirgs . . .
Jetzt aber, drin im Gebirg,
Tief unter den silbemen Gipfeln,
Und unter frohlichem Griin,
Wo die Walder schauemd zu ihm
Und der Felsen Haupter iibereinander
Hinabschaun, taglang dort
Im kaltesten Abgrund hort
Ich um Erlosung jammern
Den J tingling. Els horten ihn, wie er tobt
Und die Mutter Erd anklagt,
Und den Donnerer, der ihn gezeuget,
Erbarmend die Eltem ; doch
Die Sterblichen flohn von dem Ort,
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
189
Denn furchtbar war, da lichtlos er
In den Fesseln sich walzte,
Das Rasen des Halbgotts . . .
Da war dem Genius, der nichts wollte, als frei, seiner innern
Natur nach, sein Wesen hergeben, die Hemmung der Welt ent-
gegengetreten .
Achten wir gleich, ehe wir weiter sehen, was aus dieser Be-
gegnung wird, auf ein Kennzeichen dieses Dichters und dieser
Gesange. Immer werden ihm die Naturvorgange zum Mythos,
zum Gleichnis hohen Menschenschicksals ; aber nie weicht er
aus dem Bezirk der Natur zur Allegorie und nie auch zur
epischen Fabeldichtung mit Ausschmiickungen selbstandiger
Erfindung; jedes Bild bezieht sich auf die urspriingliche
Naturerscheinung. Er personifiziert nicht den Rhein und er-
findet ihm Eltem. Im Schicksal des wirklichen Rheins erleben
wir das Los des Genius ; Natur und Geist sind ungetrennt ;
seine Eltem sind die natiirlichen, die Mutter die Erde, der Vater
„der Donnerer, der ihn gezeugt“, das Gewolk, die hohe Samm-
lung der aufdunstenden und hinabtropfenden Gewasser der
Erde. Wohl aber ist es die Art besonders dieser spaten Gesange
Holderlins, wie schon der friihem, deren Gewand gebundenere
Form ist, daB, geleitet von der Ideenassoziation, immer wieder
Abschnitte, Seitenbewegungen kommen, in denen andere Bei-
spiele, andere Lebensvorgange aus andem Bereichen denselben
Zusammenhang der Erfahrung im Verkehr zwischen Geist und
Welt dartun.
Mit was fiir kiihnen Planen wollte der Genius sich in die
Welt ergieBen:
Die Stimme wars des edelsten der Strome,
Des freigebornen Rheins,
Und anderes hoffte der, als droben von den Briidem,
Dem Tessin und dem Rhodanus,
Er schied und wandern wollt, und ungeduldig ihn
Nach Asia trieb die konigliche Seele.
Nach Asia der Rhein! Nichts Geringeres . . . Wir sind noch
ganz im Naturmoglichen ; ganz mit dem wirklichen Geist des
38 Vol. Gl/1
1 90 Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
Rheins haben wir bei dieser kiihnen Stelle mitzufuhlen. Erleben
wir nur die Einengungen der Gebirgsziige und die seltsamen
Wasserscheiden im Gebiet des jungen Rheins, so verstehen wir
die Phantasie des Dichters, der im urspriinglichen Drang des
Flusses den Weg der Donau spiirt ; denn wie sollte je — wir
horen gleich davon — der wirldiche Weg des GroBen so aus-
sehen wie die Sucht und Idee des Beginns ! Wir diirfen sogar,
wenn wir uns an eine Stelle in einem andern Gedicht Holder-
lins erinnem, noch weiter gehen in der wortlichen Auffassung
dieses Bildes : in seiner schwabischen Heimat scheinen zu Hol-
derlin Geriichte gedrungen zu sein von einem seltsamen unter-
irdischen Versickerungs- und Austauschverhaltnis zwischen den
Gewassem, die der Nordsee und denen, die dem Schwarzen
Meere zufliefien. So darf sich Holderlin auch in diesem beson-
deren als einen Bruder des deutschen Stromes empfinden : auch
er spiirt unverlierbar einen Urwunsch in der Seele, kein Deut-
scher, kein Abendlander und kein Genosse gesunkener Zeit zu
sein, sondem eher ein mit Seligkeiten beladener iiberschaumen-
der Gefolgsmann des Dionysos an den Ufem des Indus.
Resignation aber vor dem unnennbaren Schicksal muB sem,
nicht weil der Mann kleiner ist, als das Bild und der Wunsch,
die in der Seele leben, sondern eben um der GroBe und der
innern Gewalt willen. Die GroBten sind die, die am tiefsten
ihr Wesen, das feststeht einmal fiir alle und durch nichts zu
andern ist, am wenigsten aber den Weg zu der Erfiillung dieses
Wesens kennen, die ihnen die Gotter zum Los geben :
Doch unverstandig ist
Das Wiinschen vor dem Schicksal.
Die Blindesten aber
Sind Gottersohne, denn es kennet der Mensch
Sein Haus, und dem Tier ward, wo
Es bauen solle, doch jenen ist
Der Fehl, daB sie nicht wissen, wohin?
In die unerfahrne Seele gegeben.
Dieses beides gehort zusammen, und keiner, dessen Thema
dieses Verhaltnis des Geistigen zur Welt war, nicht Goethe,
Gustav Landauer ♦ Friedrich Hdlderlin
191
nicht Fichte, nicht Jean Paul, nicht Nietzsche und nicht Spit-
teler haben dieses Zusammen in so leuchtender Ergebenheit
akzeptiert wie Hdlderlin, in einer Gleichzeitigkeit, mochte man
sagen, von tiefer Beugung vor den Gottern und aufrechtem Stolz
vor den Menschen : die UngewiBheit des Wegs, die Preisgebung
vor der Bahn und aber die unentrinnbare Bestimmung und
Bestimmtheit des Wesens gerade beim Genius. Davon horen
wir in Wendungen, wie sie spater sehr ahnlich Goethe in den
Orphischen Urworten gebrauchen wird:
Ein Ratsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthiillen. Denn
Wie du anfingst, wirst du bleiben.
So viel auch wirket die Not
Und die Zucht ; das meiste namlich
Vermag die Geburt
Und der Lichtstrahl, der
Dem Neugebornen begegnet.
Was aber tate denn der gotterfiillte trunkene Gewaltige,
wenn es ihm gegonnt ware, sein Wesen ohne Hemmung los-
lassen zu konnen? Es ginge wierasend, unaufhaltsam, nach dem
grofien Fallgesetz des Geistes wie der Natur, hinab, immer
geradlinig steil hinab, dem Ziel zu : das Ziel aber ist, die Sprachen
wissen es, das Ende.
Ein Gott will aber sparen den Sohnen
Das eilende Leben . . .
Und darum die Hemmungen ; und aus dem Zusammentreffen
mit ihnen das Brausen und Schaumen des Jiinglings. Ist das
aber iiberstanden, dann kommt — Holderlin weiB es und hat
es im Innern voraus erlebt, der Entbehrende, wie es Goethe
wuBte und erleben durfte, der Gesunde — , dann kommt die
die ganz anders aussieht
als die Kindertraume des Blinden, Dumpfen, Geladenen, Ratsel-
vollen, und die doch ganz seine Art zum Ausdruck bringt. Hier
ergreift uns nun, von dem Ton her, den Hdlderlin aus dem
Wissen von sich und seinem Ergehen holt, und aus der Begeg-
nung dieses leidgesattigten Frohsinns des Dichters mit unserm
Besanftigung, die stille tatige Arbeit,
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
192
Wissen von seinem Schicksal, eine unnennbar heiiige innige Riih-
rung beim Anblick dieses sehr Starken, der sich sehr fiigen will :
In solcher Esse wird dann
Auch alles Lautre geschmiedet, —
Und schon ists, wie er drauf,
Nachdem er die Berge verlassen,
Stillwandelnd sich im deutschen Lande
Begniiget und das Sehnen stillt
Im guten Geschafte, wenn er das Land baut,
Der Vater Rhein, und liebe Kinder nahrt
In Stadten, die er gegriindet.
Ein Philister aber wird er nicht. Lebendig gleitet durch diese
schone gedeihliche Tatigkeit all die Warme und das Himmels-
licht seines Wesens ; und auf ihn soils nicht ankommen, sokann,
wenns sein mu6, auch das Titanische wieder hervorbrechen .
Jugend, solange das Leben wahrt, ist das Zeichen des Erwahlten :
Doch nimmer, nimmer vergiBt ers.
Denn eher mufi die Wohnung vergehn
Und die Satzung, und zum Unbild werden
Der Tag der Menschen, ehe vergessen
Ein Solcher diirfte den Ursprung
Und die reine Stimme der Jugend.
Wir horchen auf bei diesen Klangen. Hart, sachlich, kurz,
wie das unerbittliche Verdikt eines Gottes, mit drohnender
Drohung wird es verkiindet ; wenns sein mufi, auch der HaB,
er horet nimmer auf. DaB diese Harte, in Worten, die nicht an-
ders sein konnen als sie sind, in Worten, die wie nichts anderes
in der deutschen Sprache in alter Originalitat an die judischen
Propheten erinnern, neben der Weichheit und Zartheit aus
Holderlin herauskommt und daB nichts Mythologisches sich
darin ankiindigt, nichts irgend alexandrinisch oder archaisch
Eingekleidetes, sondern ein Zustand unsrer Zeit, das ist ein
iiberwaltigend GroBes in diesem Holderlin der letzten Hohe.
Wie denn ist der Titanismus, die Rebellion, die aufwarts
schieBende, den Himmel stiirmende Kraft unter den Menschen
entstanden ? Der Dichter gibt uns Antwort in Gestalt einer Frage :
Gustav Landaucr ♦ Friedrich Holderlin 1 93
Wer war es, der zuerst
Die Uebesbande verderbt
Und Stricke von ihnen gemacht hat?
Das ist der Grund: nur in der Liebesgemeinschaft, in einer
Gesellschaft der Freiwilligkeit und des Bundes, wo aber die
Freiwilligkeit sich ihrer nicht bewufit wird, wie in unsrer Zeit
der Knechtschaft und zugleich des obenhin wahlenden, tasten-
den Verstandes, sondem wo Freiwilligkeit sich vorkommt als
nicht auBerste, sondem innerste Notwendigkeit und Nicht anders
sein konnen, in einer Gesellschaft, wie Franz Baader es genannt
hat, nicht des Druckes, sondern des Zuges, der Einung und
Innung am Bande des verbindenden Geistes, der aus den In-
dividuen als Gleiches hervorbricht, nur da, wo der Geist nicht
in Wildheit ausbricht, sondem in Freiheit kittet, kann der Be-
gnadete, Erwahlte, der GroBe sich friedlich und schon einordnen
ins Leben der Gemeinschaft, der Gemeinde. Das sind die Zeiten,
wo Munster in herrlicher GroBe der Konzeption und des
Schwungs und in liebreicher Fiille aller iiberreichen Einzelheiten,
in denen selbst die zerrenden und verzerrten Damonen zu Spiel
und Nutzen gebandigt erscheinen, aus tiefer Krypta empor-
singend gen Himmel steigen, — deren Erbauer kein Name nennt ;
die Zeiten der in der Menge aufgehenden Dichter und Kunstler.
Wo aber die Liebesbande verderbt und Stricke von ihnen ge-
macht sind, da kommen die Unholde, die Frevler, die EinreiBen-
den, die Grofien mit Titanentrotz, die Entwurzelten und ganz
Vereinsamten, die gerade darum mit unersattlichem Aufwarts-
streben den Himmel stiirmen, weil ihnen unter den FviBen der
Boden genommen ist:
Dann haben des eignen Rechts
Und gewiB des himmlischen Feuers
Gespottet die Trotzigen, dann erst,
Die sterblichen Pfade verachtend,
Verwegnes erwahlt
Und den Gottern gleich zu werden getrachtet.
Es hat aber einen sehr tiefen Grund, warum GroBe und Be-
schrankung und Liebe zusammengehoren, und warum lieblose
! 94 Gustav Landaucr * Friedrich Holderlin
GroBe, die sich nicht ins Volk einfiigen will, am eignen Uber-
mut zu Grunde geht. Holderlin driickt diesen Zusammenhang
in einer sehr tiefgriindigen Wendung aus, die den alten Mythus
von Tantalus in uns anklingen lafit. Wo Tod und Not nicht
ist, da ist auch Liebe nicht ; im Himmel des Einen ist sie nicht,
sondem in der Welt der Getrennten als Briicke und Sehnsucht
nach dem himmlisch Einen ; die unsterblichen Gotter brauchen
nichts so dringend, als erhabene Sterbliche, heldenhafte Men-
schen, die, trotz all ihrer Herrlichkeit, gerade darum keine Gotter
sind, weil sie Liebe als Not und Notwendigkeit in sich tragen :
Es haben aber an eigner
Unsterblichkeit die Gotter genug, und bediirfen
Die Himmlischen eines Dings,
So sinds Heroen und Menschen,
Und Sterbliche sonst. Denn weil
Die Seligsten nichts fiihlen von selbst,
MuB wohl, wenn solches zu sagen
Erlaubt ist, in der Gotter Namen
Teilnehmend fiihlen ein andrer —
Wen brauchen sie —
Ehrfurchtig raunend, in heiliger Scheu, die einen wundersam
emfachen, kindlichen Ausdruck findet, spricht der Dichter von
diesem Geheimsten : die Entbehrung ist um des Gefiihls, die
Getrenntheit im Raum um des Himmels, Zeit und Tod um des
Ewigen, die Liebe um des Gottlichen willen da ; die Schopfung
der Welt, daB aus dem geeinten Beisammen die Teile wegsinken,
um einander wieder in Liebe zu suchen, entspringt der unbe-
friedigten Not des Vollendeten . Halbgotter brauchen die Gotter ;
aus Gottlichem und Menschlichem, aus Stem und Staub, aus
Himmlischem und Irdischem Gemischte, die ihre Sehnsucht,
wie sie von ihrer inneren Zweiheit stammt, iibertragen in ihr
Verhaltnis zur Welt, in die ihre Tat zu senken ihnen aufgegeben
ist ; solche, die all ihr Gottliches menschlich-Iiebend zur Be-
sanftigung und Gemeinschaft bringen.
Weh der Zeit, weh den Unseligen, die fur ihre Genialitat
keinen AnschluB finden ! Sie sind wie Verfluchte, von den Got-
Gustav Landauer * Friedrich Holderlin 1 95
tom personlich Verfolgte; ihr Geist tritt aus ihnen heraus und
gegen sie als rachender Damon; ihre Tat wird zur Untat; ihre
BereitscKaft wird zur Lahmung. Holderlin — in seiner Zeit —
hats empfunden, in grausiger, oft riihrend klagend ausgespro-
chener Vereinsamung ; anders, krasser, bizarrer, ohne die grofie
Linie, aber farbiger, nicht in solcher Erhabenheit, aber wiitig-
grimmiger, immer jedoch auch in unmittelbarem Erfassen des
Zusammenhangs mit den Zeitumstanden nicht nur, sondern
dem Verhaltnis des Geistigen zu einer geistlosen, liebeleeren
Gesellschaft und im Verstehen der letzten Fragwiirdigkeit und
des tiefsten Sinns der Welt habens die beiden groBen Ver-
lassenen und Selbstpei niger unsrer Zeit, Nietzsche und Strind-
berg, zum Ausdruck gebracht. Holderlin aber tut es mit der
einfachen, letztgiltigen Strenge des modernen Propheten, der —
in diesen seltenen Spriichen vor seinem geistigen Tod — eben-
biirtig neben seinen Briidern aus der hebrai chen Antike steht,
ungleich ihnen, aber nicht den andem, dem Volke, das Urteil
kiindet, sondern sich selbst, dem Geiste, seinem Aufruhr und
seinem MiBverhaltnis zur Welt :
(Den brauchen sie — ) jedoch ihr Gericht
1st, daB sein eigenes Haus
Zerbreche der, und das Liebste
Wie den Feind schelt und sich, Vater und Kind
Begrabe unter den Trvimmem,
Wenn einer wie sie sein will und nicht
Ungleiches dulden, der Schwarmer.
Da spricht aus Holderlins reinem Mund herrschend das
Schicksal den namlichen Befehl, den Goethe in seiner ganz
andem, humaneren, mehr europaischen Art zum Ausdruck ge-
bracht hatte, als er aus seinem Jugendtitanismus und der Mi-
schung aus Gottermut und stachliger Mephistobosheit heraus
zum ersten Frieden gekommen war:
Denn mit Gottern soil sich nicht messen
Irgend ein Mensch . . .
Und:
Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut.
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1 96 Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
Denken wir hier nur daran, daB das Wort Ubermensch uns
von Goethe stammt, und daB er in der letzten, bezeichnender
Weise nicht in dieser Fassung zum Gemeinplatz der Gebildeten
gewordenen Stelle des Gedichtes „Das Gottliche" ausdriicldich
sagt, nicht : Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, sondem :
Der edle Mensch, gerade der Adelsmensch, der hervorragende
Mensch, sei kein Verachter des Volks und kein gottgleich in
seinen Geist Eingeschlossener, sondern hilfreich und gut.
Holderlin war es um der groBen Sache und um seiner eige-
nen, gro6, still und tapfer hinter sich gebrachten Entwicklung
willen notig, in dem Augenblick, wo er den edelgewaltigen Geist
des Auserlesenen in den Orden der Ordnung als dienenden
Bruder einreihte, wo er aus dem hochauf schaumenden Jiinghng
den Vater machte und den Rhein Miihlen treiben lieB, rasch
abzubrechen und als Gegenstuck das Schicksal des Titanen zu
zeichnen, der Lenz bleiben, aber nicht Sommer und Goethe
werden will, des Himmelstiirmers, der sich in Krampf und Wut
verzehrt und verzerrt. Jetzt darf er fortfahren in Schilderung
und Preis dessen, der sich still eingeordnet hat in das wohl-
beschiedene Schicksal:
Drum wohl ihm, welcher fand
Ein wohlbeschiedenes Schicksal,
Wo noch der Wanderungen
Und suB der Leiden Erinnerung
Aufrauscht am sichern Gestade,
DaB da- und dorthin gern
Er sehn mag bis an die Grenzen,
Die bei der Geburt ihm Gott
Zum Aufenthalte gezeichnet.
Dann ruht er, selig bescheiden,
Denn alles, was er gewollt,
Das Himmlische, von selber umfangt
Es unbezwungen, lachelnd
Jetzt, da er ruhet, den Kiihnen.
Nun ruht der Sanger sich selber, in Behagen freilich nie,
aber in einer friedlichen Ergebung, die fast gelassen und fast
M i r
I ¥ $ $ \_-
V
Gustav Landau er ♦ Friedrich Holderlin
197
ohne Zagen Seligkeit ahnt, in der Betrachtung der Kiihnen aus,
die sich zur Ruhe gebracht haben und doch „uniiberwindliche
stark ausdauernde Seele“ haben, die mit sicherem Sinn „aus
heiliger Fulie“ dionysisch, „wie der Weingott torig, gottlich
und gesetzlos“ die siiBe Gabe des Horens und Redens iiben :
der All-liebenden, der Stihne der Erde. Als ihren Reprasen-
tanten nennt er Rousseau und preist das Leben dieses Gewal-
tigen, dessen strahJender Geist, dessen sturmisches Herz Frieden
und Einklang mit der Natur gefunden hat :
Wenn er den Himmel, den
Er mit den liebenden Armen
Sich auf die Schultern gehauft,
Und die Last der Freude bedenket, —
Dann scheint ihm oft das beste,
Fast ganz vergessen, da,
Wo der Strahl nicht brennt,
Am Bielersee, im Schatten des Walds,
In frischer Grime zu sein,
Und sorglos arm an Tonen,
Anfangern gleich, bei Nachtigallen zu Iernen.
So naht die Stunde der Versohnung, der Abend, wo der harte,
scharfe Gott des Lichts sich endlich hinabneigt zu dem Dunkel
der wartenden, empfangenden Erde und Geben und Nehmen
in eins, in Liebe verdammem:
Da feiern ein Brautfest Menschen und G otter,
Es feiern die Lebenden all,
Und ausgeglichen
1st eine Weile das Schicksal . . .
Diese Nachtgesange, die alle das Leben Holderlins reprasen-
tativ einstellen, verflossen, mochte man mit Fichte sagen, in die
Bahn der Menschheit und der Welt, die sich alle mit dem Ver-
haltnis der Geistigen zu dem Volk praktischen Lebens, des
Griechentums auch zum Christentum auseinandersetzen, ver-
sickem alle sechs gegen das Ende hin ins Stillgetroste, so wie
manche Musi kst lie ke zum SchluB nicht die Erhebung bringen,
die man strahlend nennt, sondem wahrhaft, das heiBt allzer-
198
Gustav Landauer » Friedrich Holderlin
streuend, allergieBend allhemieder zu strahlen, zu vertropfen
und zu verbluten scheinen.
Lange hat man in dem Irrtum der Bequemlichkeit und
Eitelkeit, die nicht voraussetzen mag, der tiefste Geist funktio-
niere dem eigenen unahnlich, diese Gesange, eine Reihe philo-
sophischer Aufsatze, die man erst vor einigen Jahren gedruckt
hat, die Sophoklesiibersetzungen mit den Nachworten und die
Ubersetzungen aus Pindar, die alle aus der iiberaus fruchtbaren
Zeit kurz vor und nach dem ersten Anfall des Irrsinns stammen,
mit ihren groBen und kleinen Schwierigkeiten kurzerhand der
Verriicktheit zugewiesen. Jiingere Philologen, die aus den
Kreisen der Philosophic, Nietzsches und Stefan Georges kamen,
haben um die Herausgabe, um die Feststellung der erhabenen
Hohe dieser Stiicke und zum Teil auch um ihre Deutung schone
Verdienste. Noch ist da sehr viel zu tun, und auch ich kann
keineswegs behaupten, alles zu verstehen; manches mag ich
traumhaft fiihlend erfassen, ohne die der Grammatik und fast
der Logik entwachsene Sprache dieser Auseinandersetzungen
des Dichters mit sich selbst, wo er hie und da Voraussetzungen
macht, deren Schliissel vielleicht unwiederbringlich verloren ist,
in die mir gelaufige iibersetzen zu konnen. Andere Stiicke wieder,
wie vor allem die Sophoklesiibersetzungen, machen der Hin-
gebung an das Dichtwerk gar keine wirkliche Schwierigkeit : eine
Anzahl Menschen wissen unabhangig von einander schon heute,
daB Holderlins Odipus und Antigona bei weitem die reinsten
und schonsten und gewaltigsten deutschen Dichtungen nach
dem Griechischen sind. Das Wichtigste bei der weiteren Arbeit
an dieser Hinterlassenschaft wird sein : immer von der Voraus-
setzung auszugehen, daB der Dichter und Denker Holderlin
gesiinderen und starkeren Geistes war als wir, die wir nicht
oder ungeniigend verstehen. DaB sein Him namhch dann
spater nicht mehr mitmachte, hing eben damit zusammen, dafi
er i’hm gerade zu allerletzt zu viel zumutete. Wir diirfen, auf
die kleine Gefahr hin, uns einmal vergebens zu bemiihen — so
viel waren wir seinem heilig niichternen Ernst mindestens
schuldig — als Kriterium nehmen, alles, was tiefsinnig und
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderltn
199
verworren scheint, fur tiefsinnig und nicht verworren zu neKmen
und nur das unverkennbar Kindliche und Primitive, wenn es
ganz klar und unzweideutig sinnlos ist, dem Schwachsinn zu-
zuschreiben.
Holderlins Wesen ist nur von dieser seiner letzten Hohe aus
zu iiberschauen ; von hier aus erkennen wir den Zusammenhang
all seiner Dichtungen. Eine unsagliche Zartheit, Heiligkeit,
Weihe, ist in diesem Letzten in ihm ; wir diirfen an die Augen-
blicke unbeschreiblichen inneren Strablens und selig lachelnden
Einverstandnisses mit aller Welt denken, die uns Dostojewskij
als Scheitelhohe des Epileptikers vor dem An fall und Aufschrei
schildert ; ja wir diirfen, wenn wir nur im Sinne behalten, daB
Holderlin bis zum Letzten und gerade im Letzten immer wach
und wachsend genial produktiv war, an das zarte, weicbe
Streicheln purpurroten Samtes denken, mit dem Oswald Alving
seinen Zustand in der Zeit vergleicht, ehe der Geist seinen
stillen Kampf, seine Arbeit und sein Leben aufgibt ; denn trotz
alien Irren- und Nervenarzten Wiens und der iibrigen Welt
versteben die Dichter mehr von der Seele des Menschen und
der bestandigen Erhohung des Geistes bis zum Augenblick
seines Zusammenbruchs, als scbematisierende Gelehrte und
Handwerker.
Immer ist diese weihevolle Sanftheit Holderlins fest auf das
Gottliche, auf die Aufgabe gerichtet ; jede sonst gleichgiiltig-
konventionelle Wendung wird schliefilich ins still-feierliche ge-
wendet. Es ist ein Pathos in Gehaltenheit ; eine Hohe nicht als
Hochgekommensein oder Hochtreiben, sondem als ebene, gleiche
Haltung. Seine Gedanken dem eigenen Ich, seiner Erhaltung
und Pflege zuzuwenden, ist etwas, dessen er sich als eines Un-
edlen zu scheuen anfangt ; hier sehen wir besonders deutlich,
wie etwas, das die schonste Hohe seines Geistes war, sich dann
auf die Zeit der Krankheit vererbt und da als widerwartige
und eigensinnig-kindische, schmutzige Vemachlassigung seines
Korpers erscheint. Vorher aber war es reinste Reinheit des
Geistes, wie er an seinen Freund Bohlendorf in einem Briefe
sagt: „Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen
200 Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
Tone. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Ge-
dankens im Gesprach und Brief ist Kiinstlem notig. Sonst
haben wir keinen (Gedanken) fiir uns selbst ; sondern er gehoret
dem heiligen Bilde, das wir bilden.“ Diesen Gedanken und
diese Stimmung der nicht einmal entsagenden, der rein ab-
geschiedenen Frommigkeit vor dem Geist und seiner Berufung
auBerte er auch dichterisch in einem der Gesange :
Nicht ist es gut,
Seellos vor sterblichen
Gedanken zu sein, doch gut
Ist ein Gesprach und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu horen viel
Von Tagen der Lieb’
Und Taten, welche geschahen.
Aber er hatte nicht die Menschen zu diesem Gesprach. So
gut seine Freunde von Bohlendorf und von Sinclair und wenige
andere in dieser Ietzten Zeit zu ihm gewesen sein mogen, sie
waren ihm tief untergeordnet und sahen gewifi um auBerlicher
Dinge willen nur selten in reiner Ehrfurcht auf ihn. Wir haben
ja miterlebt, wie es Peter Hille unter den Menschen ergangen
ist ; und um wie viel mehr ins Feme gestaltend, um wie viel
mehr vom Geiste weggeholt und um wie viel ergriffener und
also wie absonderlicher stand Holderlin von seinen Zeitgenossen
und ihrem Alltag weg. Ihm hatten auch Goethe, der sich ihm
entzog, Schiller, der gonnerhaft kuhl zu ihm war. Herder, der
kaum von ihm gewuBt hat, Schelling und Hegel, die zuviel mit
ihrem eigenen Kampf zu tun hatten, nur geniigen konnen, wenn
sie ihn nicht nur als Gleichen anerkannt, sondern grenzenlos
verehrt und hingebend geliebt hatten. Und selbst wenn er diese
warm bergende, traulich heimische Stube der Freundschaft so
gekannt hatte, wie sie ihm fehlte, ware es noch nicht genug ge-
wesen. Ich deute hier nicht auf die Frauenliebe; ich spreche
von dem Volk. Der Dichter, der sich als Kiinstler fiihlte, der
sein heiliges Bild bilden wollte, bedurfte, um stark und dauernd
genug glauben zu konnen, der Beispiele in Volksbe wegungen
und Gliederungen der Masse; er muBte vor Augen sehen in
Gustav Landauer * Friedrich Hdlderlin
seiner Umgebung, dafi etwas von dem werden wollte, was in
ihm aus Prophetie zur Vision und zum gestalteten Bilde er-
wuchs. Wohl ist der Dichter seiner Zeit voraus ; soli er ihr aber
voraus und nicht ausgestoBen und verlassen sein, so mu8 er sie
um sich und hinter sich wimmeln sehen, wenn er sich umblickt.
Wenn Holderlin sich aber umsah, da mochte ihn wohl ein
Zittern iiberkommen, so stark er sich beherrschte, und die Kniee
mochten ihm wanken, ehe er den Weg fortsetzte; und etwas
wie ein Zittern liegt noch in der klaren Durchsichtigkeit, die
an die diinne Luft auf hohen Bergen gemahnt, wenn der ver-
einsamte Dichter sich in der entgotterten Welt sieht und nicht
aufschreit und nicht einmal klagt, sondern leise mitteilend spricht
und schliefilich, mit der ersehnten Miidigkeit und Ruhe spie-
lend, fragt:
. . . indessen diinket mir ofters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein.
So zu harren, und was zu tun indes und zu sagen
WeiB ich nicht, und wozu Dichter in diirftiger Zeit?
Angesichts der franzosischen Revolution, die Aufruhr und
Erwartung in ihm geweckt hatte, qualt er, der in Deutschland,
in unwiirdigen Zustanden, den Geist wie das Volk unterdriickt
und verkiimmert sieht, sich mit der Frage: Sind wir zuriick-
geblieben, fehlt es uns an Tatlust, Schaffenskraft und Initia-
tive, — oder sind gerade wir Langsamen, das Volk der Denker,
zu besonderer, ganz groBerAufgabe f Ur die Menschheit bewahrt ?
Die GeiBel und den Spom dieser Frage richtet er in der so
genannten Ode „An die Deutschen" :
Spottet nimmer des Kinds, wenn es, das albeme,
Auf dem Rosse von Holz mu tig und groB sich diinkt,
0 ihr Guten! auch wir sind
Tatenarm und gedankenvoll.
Aber kdmmt, wie der Strahl aus dem Gewolke kommt,
Aus Gedanken vielleicht geistig und reif die Tat ?
Wer das wuBte ! Wer das hoffen diirfte ! Aber so, immer allein,
immer im Warten!
<•
202 Gustav Landauer * Friedrich Holdcrlin
Und zu ahnden ist sufi, aber ein Leiden auch.
Wie geme mochte er aufgehen, stumm, in Liebe, im
blofien Dabeisein, wenn nicht mehr die Nation geisterhaft kon-
zentriert in ihm, dem Dichter, allein lebte, sondern wenn das
Volk geisterfiillt aufstiinde!
Schopferischer, o wann. Genius unsres Volks,
Wann erscheinest du ganz, Seele des Vaterlands,
Dafi ich tiefer mich beuge,
Dafi die leiseste Saite selbst
Mir verstumme vor dir, dafi ich beschamt und still
Eine Blume der Nacht, himmlischer Tag, vor dir
Enden moge mit Freuden,
Wenn sie alle, mit denen ich
Vormals trauerte, wenn unsere Stadte nun
Hell und offen und wach, reineren Feuers voll,
Und die Berge des deutschen
Landes Berge der Musen sind . . .
In seinen Oden ist Holderlin der Anwalt der Natur, des
Geists und des Volks, welche drei ihm einig zusammen gehoren,
gegen das wiiste Treiben der Gegenwart, das ein Getriebensein
ist, ein arges Erbe der Vorzeit. Ist es der bose Atem eines Un-
holds, dafi die Menschen nicht, in unendlicher Sehnsucht nach
dem stillen Naturgliick, sich ein reines Leben unter einander
schaffen, sondern in wilden Kriegen sinnlos wiiten?
Wer hub es an? wer brachte den Fluch? von heut
Ist’s nicht und nicht von gestem, und die zuerst
Das Mafi verloren, unsre Vater,
Wufiten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.
Zu lang, zu lang schon treten die Sterblichen
Sich gern aufs Haupt und zanken um Herrschaft sich.
Den ‘Hacfibar fiirchtend, — und es hat auf
Gigenem Boden der Mann nicht Segen.
Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
203
Und unstet wehn und irren, dem Chaos gleich,
Dem garenden Geschlechte die Wiinsche nach,
Und wild ist und verzagt und kalt von
Sorgen das Leben der Armen immer.
Du aber wandelst ruhig die sichre Bahn,
0 Mutter Erd’ im Lichte! Dein Friihling bliiht,
{ TReCodiscH wechselnd gehen dir die
Wachsenden Zeiten, du Lebensreiche !
Mit deinem stilfen Ruhme, Geniigsame!
Mit deinen awgeschriebnen Qesetzen auch,
\ Ulit deiner £/ebe komm und gib ein
ftfeiben im Leben, ein Sfferz uns wieder ! *
Die Hoffnung steigt immer wieder in ihm auf, dafi gerade
Deutschland einst, nicht auf den Wegen des Larms und der
Waffen, sondern in Stille und durch den Geist die neue erlosende
Botschaft zur Menschheit bringen werde.
Das Deutsche Reich, das sein pergamentenes Dasein gerade
noch ein paar Jahre fortziehen sollte, gab es damals nur dem
Namen nach ; Deutschland war ein geographischer Begnff, vor
allem aber war es ein Gebilde in dem planenden und gestaltenden
Geiste der Dichter und Seher und als solches etwas, das nicht
den Jahrzehnten, sondern den Jahrhunderten vorausging. Immer
ist die Konzeption des Ganzen das erne, und die Durchfiihrung
von Teilen und Ersatzen das gar sehr andere. Die franzosische
Revolution war eines, das Hochwinden, Schleichen und Drangen
des Biirgertums war ein andres ; der Gedanke des edeln Henri
Dunant war eines, die praktische Durchfiihrung der Genfer
Konvention war ein andres ; und manchmal mochte man wiin-
schen, die Menschheit mochte lieber von einem Dichter ge-
traumt werden als in ihrem Halbschlaf in verstiimperten Triim-
mem taumelnd dahinzustolpern ! So wird man verstehen, daB
• Innerhalb einet Vortrags kann es sich bei Anfiihrungen aus Gedichten nicht um
reine Rezitation, muB es sich vielmehr um Hinweisung handeln. Dies, um die Hervor-
hebungen einzelner Worte und Wendungen zu erklaren, die auch im Druck manchmal
notig waren, um weitere Ausfiihrungen zu ersetzen.
204 Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
es uns angeht, heute wie gestem, und morgen wie heute, wenn
Holderlin in dem Nachtgesang, den er Germanien nennt,
Deutschland als Priesterin schaut, als stillste Tochter Gottes,
Sie, die zu gem in tiefer Einfalt schweigt, —
dieses Deutschland, das unserm Propheten das Land der
Dichter und Denker ist, das vom Himmel „die Blume des
Mondes“, die Gabe der Dichtung und der tiefsinnigen Rede
zum Geschenk erhalten hat : in Einsamkeit redet der deutsche
Geist und sendet „Fiille der goldenen Worte“ „in die Gegen-
den all4* :
Denn fast wie der Heiligen,
Die Mutter ist von allem,
Die Verborgene sonst genannt von Menschen,
So ist von Lieben und Leiden
Und voll von Ahnungen dir
Und voll von Frieden der Busen.
Das ist das Auszeichnende gerade dieses geistigen Deutsch-
land und die Verkiindung der neuen Zeit, daB es nicht, wie
die Staaten, politisch und in Waffen s' vrend, sondern, wie der
Dichter sagt,
Wehrlos Rat gibt rings
Den Konigen und den Volkern.
In diesen Stucken ist Holderlin ein Vorlaufer Fichtes und
seiner vier groBen Redekreise vor und nach Jena von 1 804 bis
1808, und ein Vorlaufer der Geister, die jetzt, nach diesem
Krieg, unserm Volk nicht fehlen werden.
In untrennbarem Zusammenhang mit seiner Sehnsucht nach
einem offentlichen Leben der Schonheit und Freiheit steht
Holderlins Liebesgefiihl und Liebebediirfnis. In seiner spaten
Zeit, als er sich bemiihte,um der heutigen und ewigen Lebendig-
keit willen die griechischen Gotternamen, statt sie als unver-
andert starre und tote Eigennamen zu iibemehmen, nach ihrem
sachlichen Sinn als Gattungsnamen in unsre Sprache zu iiber-
setzen und ihnen so erweckende Bedeutung fur uns zu geben,
setzte er fur Eros Friedensgeist, Geist der Liebe. Ihm war die
Liebe ein Geist des offentlichen Lebens und vom Frieden nicht
Gustav Landau er * Friedrich Holderlin
205
zu trennen, so wie Beethoven spater in seiner groBen Messe bei
der Bitte an die Gottheit um den Frieden „Dona nobis pacem“
mit dem ganzen kriegerischen Gemiit des echten Nachfolgers
Jesu den Himmel zu stiirmen scheint, um den Frieden endlich
auf Erden herabzuholen. Friede, Freiheit und Schonheit, ein
Liebesleben der Selbstverstandlichkeit, das bedeutete Holderlin
das ideale Bild griechischen Lebens; das bedeuteten ihm die
stromenden Krafte der Natur, die alles in gleicher Weise um-
spiilen, das Licht, der Aether.
. . . und liber den Bergen der Heimat
Ruht und waltet und lebt allgegenwartig der Ather,
Dafi ein liebendes Volk, in des Vaters Armen gesammelt,
Menschhch freudig, wie sonst, und ein Geist alien
gemein sei.
Welchen Glanz, welche Feste ahnt er voraus — obwohl es
noch keine Eisenbahnen gab, die die herrlichen Vehikel unge-
heurer Volksfeste waren, wenn wir um den verborgenen Geist
unsrer Emrichtungen wiifiten — , wenn erst diese Emigung in
die Volker, zwischen die Volker kame ; wenn der Kiinstler froh
mitten in seinem Volke, als Ausdruck der Gemeinschaft stiinde
und der Einsamkeitsqual ledig ware:
. . . schon hor ich feme des Festtags
Chorgesang auf griinem Gebirg, und das Echo der Hame,
Wo der Jiinglinge Brust sich hebt, wo die Seele des
Volks sich
Still vereint im freieren Lied, zur Ehre des Gottes,
Dem die Hohe gebiihrt, doch auch die Taler sind heilig...
Denn voll gottlichen Sinns ist alles Leben geworden,
Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den
Kindern
Uberall, o Natur! und wie vom Quellengebirg rinnt
Segen von da und dort in die keimende Seele dem Volke.
Des eignen, des privaten Leids, so instandig stark es ist,
schamt er sich fast so wie der Sorge um die Notdurft ; es schickt
sich nicht, sich abzusondern und in seinem Leid nicht das allge-
meine mitzuempfinden. Darum ist ihm die Form der Ode so
39 Vol. m/i
206 Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
gemafi, die in ihrer Feierlichkeit und Getragenheit jedes Ver-
einzelte zum Biid des Allgemeinen macht und alles exklusiv
und exzentrisch Individuelle von sich weist, die das Weihelied
fiir Chorgesang, fur nationalen Gesang ist, nicht irgend fur Kiim-
mernisse eines einzelnen. Hatten Byron und Heine wahrhaften
Weltschmerz empfunden, so waren sie auch auf die Form ge-
kommen, die das Weltgefiihl fordert. UnfaBbar, daB Holderlin
hatte dichten konnen:
Aus meinen grofien Schmerzen
Mach ich die kleinen Lieder
Er hat seine eigenen Schmerzen mit allgemeinen Maximen
besanftigt; hat sich fiir seine Person die Notwendigkeit und
Zusammengehdrigkeit von Liebe und Leid statuiert:
Denn sie, die uns das himmlische Feuer leihn,
Die Gotter, schenken heiliges Leid uns auch,
Drum bleibe dies. Ein Sohn der Erde
Schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden.
Ist’s denn nicht groBer und arger, daB dies heilige Leid auch
das Ganze, das Vaterland trifft ? Und lebt es nicht doch, so viel
es auch dulden muB, lebt in der Liebe und dem zahen Phantasie-
willen derer, die Vaterland nennen nicht, was sie haben, sondern
was in einiger Glut sie an Vorfahren und Nachkommen bindet?
Daran mag sich noch klammern, darm mag noch aufgehn,
wem alle Hoffnung auf eigenes Gluck und eigenen Herd ge-
schwunden ist:
Wie lang ist s, o wie lange ! des Kindes Ruh
Ist hin, und hin ist Jugend, und Lieb und Gluck,
Doch du mein Vaterland! du heilig
Duldendes! siehe, du bist geblieben.
Fiir ihn, dem die ganze groBe Vergangenheit der Geschichte
und die Welt der Natur bis in die Gefilde des Aethers weithin
lebendig und gegenwartig war, bestand das Gluck der Liebe
auch ohne Befriedigung, auch ohne Beisammensein. Er fiihrte
ein Leben der Erinnerung, wie es die einzige Lebensmoglichkeit
des Einsamen ist, dem nur ganz selten und fliichtig die Wirk-
lichkeit sich neigt. Ihm ist alles Gottliche in der Brust eine
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
207
allverbindende Erinnerung an die Urheimat, und jedes para-
diesische Gefiihl ein ahnungsvolles Aufsteigen des verlorenen
Paradieses. So ward ihm aus Sehnsuchtsqual Erinnerungs-
seligkeit: aber als etwas ganz Wirkliches, Daseiendes, mit dem
er lachelnd und streichelnd umging und das ihm so Ieibhaft war,
nicht wie die gespenstischen Koboldklotze seiner Menschen-
umgebung, sondern wie Sternenlicht in der Nacht; und sanft,
heiter, manchmal gar ironisch gegen sein eigenes Los bekennt er,
im Ungltick gliicklich zu sein:
Festzeit hab ich nicht, doch mocht ich die Locke bekranzen;
Bin ich allein denn nicht? aber ein Freundliches mufi
Fernher nahe mir sein, und lacheln mufi ich und staunen,
Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist.
Diese Liebe, die noch in der Verlassenheit sich vom einst-
mals Gewesenen nahrt, die zeitiiberwindend, raumiiberbriickend
jetzt nur noch ist, weil ihr die vom Schicksal und ihren Helfern,
den mifiratenen Menschen, geraubte Geliebte nichts mehr als
der feme Reprasentant einer ins Allgemeine verschwimmenden
Liebegefiihligkeit ist, diese Liebe hat einstmals, in der kurzen
Spanne, als sie selige Gegenwart und Band eines Paars und
Mensch, das heifit Zweieinheit von Mann und Manmn war,
freudiger, heller, wirklicher die Zeit uberwunden und den
Bogen gespannt:
Wohl gehn Friihlinge fort, ein Jahr verdranget das andre,
Wechselnd und streitend, so tost droben voriiber die Zeit
Uber sterblichem Haupt, doch nicht vor seligen Augen,
Und den Liebenden ist anderes Leben geschenkt.
Denn sie alle, die Tag und Jahre der Sterne, sie waren,
Diotima! um uns innig und ewig vereint.
Sein Zusammennehmen, seine Fassung, seinen schliefilich
ersiegten Trost in Tranen verstehen wir nur, wenn wir wissen
und aus seinen Gedichten in unsre herzinnige Bruderschaft mit
Holderlin nehmen, wie sehr er weinen und leiden kann! Und
wir verstehen es auch dann nur, wenn wir seinen Trost auffassen
als die Einordnung in das hohere Leben einer Menschengesamt-
heit, die ein Abbild einer gottlich geleiteten, geistbefliigelten
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
208
Welt ware, wenn sie fiir den Kiinstler und seine Gestalten den
rechten Platz hatte.
GroBes zu finden ist viel, ist viel noch iibrig, und wer so
Liebte, gehet, er muB, gehet zu Gottern die Bahn.
Er fiihlt wohl, er verdient es, von der heilenden Natur ge-
trostet zu werden ; in all seiner Zartheit ist er stolz genug und
vergleicht sich dem Achill, der sein Liebesleid zur Mutter dem
Meere trug und dort Trost fand. Auch ihn, der wohl weiB,
darum ein Vereinsamter und Ausgestofiener zu sein, weil er ein
Einziger ist, darf die Welt noch nicht entbehren ; ist er kein Held
im mannisch kriegerischen Sinn, so weiB er doch, welch tapfere
Arbeit sein Aufstieg gekostet hat, welche Herkulesarbeiten auch
er verrichtet hat, wie er ein Opfer und Gemarterter war und
doch siegreich erstand, bis er nun zu einem Sanger der Nation,
einem hohen heroischen Trager der einenden Idee geworden ist.
So ruft er denn in seiner Not Erde und Quellen und Walder und
Licht und Aether urn Heilung an:
O sanftiget mir, ihr Guten, mein Leiden,
DaB die Seele mir nicht friih, achl zu friihe verstummt...
So haben wir sein innig gewaltiges, bescheiden stolzes, for-
derndes Lied „An die Parzen" zu verstehen:
Nur e/nen Sommer gonnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Dafi williger mein Herz, vom siiBen
Spiele gesattiget, dann mir sterbe!
Verstehen wir nur auch, warum es so ist und nicht anders sein
kann, dafi diese Gesange hohen Schwungs, nationalen Tones, die
nach Form und rhythmischer Bewegtheit und Fiille dem Chorus
bestimmt sind und den Geist der Gesamtheit zum Ausdruck
bringen, in ihrem Inhalt dagegen durchaus Individuellperson-
liches aussagen, dafi die Geschlossenheit der Nation und ihre
Lust sich seltsam genug auBern in der Tragik oder der Uber-
windung des groBen Einzelnen ! Anders war es auch nicht in den
Hochgesangen gleicher Art Klopstocks und Goethes; und die
Erklarung fur dieses Mifiverhaltnis entscheidender Art geben wir
am besten mit den Worten des Dokuments, das sie an autorita-
Qustav Landau er ♦ Friedrich Holder Lin
209
tiver Stelle erstmals gegeben hat. Varnhagen von Ense in dem
Heft von Goethes Zeitschrift „Uber Kunst und Altertum“,
das 1832 nach Goethes Tod als letztes herauskam, in seinem
bedeutenden Aufsatz ,,Im Sinne der Wanderer" sagt uns den
Grund. Komposition, Form, Rhythmus, Hohe, Schwung,
Verklarung und himmlische Heiterkeit des Seelentons in Goethes
grofiten Dichtungen diirfen uns mcht dariiber tauschen, dafi
auch sie, da6 gerade sie schneidend, zerreifiend, polemisch,
personlich bis zum Subjektiven in lhrem Inhalt sind. Das
Dokument, von dem wir sprechen, sieht den Dichter ,,auf den
Scheidewegen und Ubergangen zweier Zeitalter", und als die
Stoffe seiner Kunst liefert ihm dieser Ubergangspunkt unddiese
Wende „die reife widerstrebende Welt so wie die unreife har-
rende“, und gerade Goethes Epoche bezeichnet Varnhagen in
sehr tiefgreifenden, feststellenden Ausfiihrungen als ,,einen der
Zeitabschnitte, die im Gegensatze des Erbauens und Veremens
mit Recht vom Zerfallen und Zersetzen den Namen erhalten
konnen". Varnhagen zeigt, wie dieser Kampf und diese Auf-
losung von der Reformation an durch die Jahrhunderte geht,
bis er in Goethes Zeit und in Goethe selbst zu einem Gipfel
gelangt ist. Und mit einer Kiihnheit des Gesamtblicks, die
seitdem nicht wieder erreicht worden ist, iiberschaut Varnhagen
— von Rahel, von Fichte, vom Saint-Simonismus gehoben —
das gesamte Werk Goethes, um das Resultat erstaunlich genug
und bis zum Erschrecken treffend in die Entdeckung zusammen-
zufassen: „Goethes ganze Dichtung ist fast nur das Bild der
Zerriittungen einer mit sich selber in Zwiespalt geratenen Welt“.
So ist es und kann nicht anders sein, und dies also ist auch die
Stellung Holderlins zu seiner Zeit. Schon weht in seinen Ge-
sangen die Fahne geeinten Volkes ; schon klingen die Hochtone
und getragenen Weisen des Chors; aber das alles ist unausgrabbar
zutiefst versenkt als konzentrierte Seelengewalt ins Innere des
Tragers des Kiinftigen, des Propheten des Reichs und ist nicht
zu trennen von seinen Schicksalen und Leiden in einer wider-
strebenden Welt, die nicht nur selber tief drunten ist, die auch
ihren Sanger nicht hochkommen lafit. Einmal aber, einmal
210
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
wenigstens im Leben muB er oben sein, ganz oben, um seiner
Berufung und seines Rechts und seiner Bewahrung sicher zu sein,
um dann in Bewufitsein, Erinnerung und Nahgefiihl das Gluck
verlorenen und durch seinen, des Dichters, hochsten Moment
hindurch der Menschheit wieder verheiBenen Paradieses zu
haben, um sich mit Gott und Welt und Werden eins zu wissen :
Ginmaf
Lebt ich wie Gotter, und mehr bedarf’s nicht.
Wohl hat er das auch verdient um die Gotter, um die Natur, die
er von friih auf als ganz nah und vertraut, als gottbeseelt emp-
fand. War er doch schon von Kind auf unter Menschen verwaist
und dem stillen Walten der Natur in Pflege gegeben. In seinem
milden, heiteren Dank an diese treuen freundlichen Natur-
gotter wollen wir die wahrhaft diistere Anklage, nicht gegen
einzelne Padagogen und Einrichtungen, gegen die gesamte
Umwelt des heranwachsenden Kindes nicht uberhoren:
Doch kannt ich euch besser
Als ich je die Menschen gekannt,
Ich verstand die Stille des Aethers,
(Des ‘TJlenscfien Wort verstand ic£ nie.
Mich erzog der Wohllaut
Des sauselnden Hains
Und fieben lernt ich
Unter den Blumen.
Im Arme der Gotter wuchs ich groB.
Brennt es nicht wie von einem gliihenden Stempel, der unsrer
Zeit ein unaustilgbares Schandmal aufpragt, wenn zu diesen
Worten der Ergebung und Abkehr dazu gesagt wird, daB dieses
Gedicht, das im heiter spielenden Ton des Gefafiten und Ge-
borgenen, der seine Natur eins weiB mit der Natur da drauBen,
uns diese Dinge sagt, iiberschrieben ist : Die Jugend — ?
1st damit aber, so darf gefragt werden, der Zeit nicht zu viel
aufgebiirdet ? War er denn nicht em ganz Besonderer ? Warum ist
er denn schlieBlich so grenzenlos allein ? Ganz sicher, er hatte in
seiner Natur die Gabe des Ungliicks, das Talent der Einsamkeit
Aber es herrscht da, wie in jeder Begegnung zwischen Geist und
Gustav Landauer ♦ Friedrich Holderlin
211
Aufierem, was wir ruhig Wechselwirkung nennen diirfen ,• wir
werden einen besseren Namen fiir diesen Zusammenhang nicht
finden. Die Disposition zur Verlassenheit wie zum Irrsinn war
da; sein Schicksal war in seiner Natur vorbestimmt, und wurde
in lhm ganz ausnehmend hellsichtig und hellhorig ; wie er denn
das Leid und sogar die Trostung um den friihen Tod seiner
Diotima dichtend vorwegnabm, ehe sie tot oder krankwar; und
wie er im Fieber aus Bordeaux in die Heimat irrte und als wiister
Irrsinniger wie ein Landstreicher heimkam, wahrend der Brief
des Freundes nach Frankreich reiste, der die Todesnachricht
erst enthielt. Der Grund, der Urgrund seines Elends war als
Erbe in ihm ; aber die sehr triftigen, sehr wirklichen Griinde fiir
all seine im Lauf der Jahre immer wieder einzeln ausgelosten
Empfindungen, Erfahrungen, Schmerzen lieferte ihm die Welt
und die Zeit. Ein besonders Verwundbarer wurde besonders
verwundet: nicht blofi so, dafi er eine besonders verletzliche
Haut hatte, sondern dafi ihn sehr wirklich besonders schwere
Schlage und scharfe Stiche trafen. Kein Wunder, dafi einer,
den solches trifft, die Schicksalsmachte als wirklich, als per-
sonlich empfindet; er war viel zu stolz, um fiir sein widriges
Geschick Menschen, emzelne, Zeitgenossen haftbar zu machen
und Feinde unter den Sterblichen anzuklagen. Wohl aber ein
Wunder der Wunder, ein himmlisch schones Wunder, dafi er
diese Machte nicht — wie Byron, wie Lenau — als tiickische
Damonen nahm, dafi er nicht weltschmerzlich schrie und
wimmerte, sondern dafi er die Gotter als trauten Umgang er-
wahlte und sein Schicksal lieben lernte. 1st in Wahrheit etwas
Idylhsches in Holderlin, so ist gerade dieses Idyll das Zeichen
seines Heroismus, eines Heldentums neuer, wiewohl an heilig
ernste Gestalten der Antike erinnemder, nicht streitsiichtiger,
wild und oberflachlich ausbrechender, sondern aushaltend-
friedhcher Art.
Brauchen wir Helden, die nicht zerstoren und wettern,
sondern bauen, ordnen und segnen, brauchen wir Helden der
Liebe, so ist Holderlin unsrer Zukunft, unsrer Gegenwart ein
fiihrender Geist.
212
Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
Aber gerade als er so geworden war und das oberflachenhaft
schaumende Schillerische Pathos seiner J ugendgedichte abgetan
und aus seinem echten Pathos, seiner Passion, seinem Leiden ein
Reiner und Eigener, ein Einziger hervorgegangen war, da fand er
sich aufs tiefste vereinsamt. „Menschenbeifall“ — so heifit das
Gedicht, in dem sich diese seine Stellung zur Welt ausdriickt:
1st nicht heilig mein Herz, schoneren Lebens voll,
Seit ich liebe? Warum achtetet ihr mich mehr.
Da ich stolzer und wilder,
Wortereicher und leerer war?
Achl der Menge gefallt, was auf den Marktplatz taugt,
Und es ehret der QCnecfit
Nur den &ewa(isamen ;
An das Qdtificfie glauben
Die allein, die es sefber sind.
Liebe und Friede, Geist und Volk, Schonheit und Gemein-
schaft : das alles war ihm zusammengehorig und eins ; und seine
Geliebte, seine eigene Liebefahigkeit wie die Frau, der er seine
Liebe zutrug, waren ihm wieder eins und das Sinnbild der all-
gemeinen Liebe, die er als etwas in uns Vorhandenes, selbst-
verstandlich Leichtes und nur heillos Unterdriicktes, als etwas
Natiirliches, als die Daseinsmacht empfand, die das schone freie
offentliche Leben durchdringen und dem Streit wie der knech-
tisch-rohen Gesinnung ein Ende machen soil.
Es gibt kein Liebesgedicht von ihm, das uns fur private, wenn
auch noch so warme oder gliihende Regungen interessieren will ;
alle die wir von ihm haben, wenden sich ans Menschliche, ans
Gottliche. Von Diotima, der Geliebten, spricht er wie von der
ewigen Aphrodite fur die Gesellschaften der Menschen und das
Reich der Natur:
Komm und besanftige mir, die du einst Elemente ver-
sohntest,
Wonne der himmlischen Muse, das Chaos der Zeit!
Ordne den tobenden Kampf mit Friedenstonen des
Himmels,
Bis in der sterblichen Brust sich das Entzweite vereint
Gustav Landauer * Friedrich Holderlin
213
Bis der Menschen alte Natur, die ruhige, groBe,
Aus der garenden Zeit machtig und heiter sich hebt !
Kehr in die diirftigen Herzen des Volks, lebendige Schon-
heit,
Kehr an den gastlichen Tisch, kehr in die Tempel zuriick!
Denn Diotima lebt, wie die zarten Bliiten im Winter,
Reich an eigenem Geist, sucht sie die Sonne doch auch.
Aber die Sonne des Geists, die schonere Welt, ist hinunter,
Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.
Vergebens sucht der Dichter, vergebens Diotima die Pairs, die
Gleichstehenden : die Gesellschaft ; und darum der immer wieder-
kehrende Ton der Elegie, wo er doch ein Hymnus liber seinem
Volk hatte sein wollen :
...Ach, umsonst nur
Suchst du die Deinen im Sonnenlichte,
Die Konighchen, welche wie Briider doch,
Wie eines Hains gesellige Gipfel sonst
Der Lieb und Heimat sich und ihres
Immer umfangenden Himmels freuten,
die Freien, die Gottermenschen,
Die zarthch grofien Seelen, die nimmer sind...
Die Liebe ist ihm „ein Zeichen der schonern Zeit, die wir
glauben“, und dieser verlassenen „Gottestochter“, die er mit
seinem Gesang pflegt, ruft er — in die Zeiten hinein — zu uns
und iiber uns hinaus — den Wunsch und die Weisung zu :
Wadis’ und werde zum Wald! eine beseeltere,
Voll entbliihende Welt! Sprache der Liebenden
Sei die Sprache des Landes,
Ihre Seele der Laut des Volks!
214
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
Carf Sternheim;
TABULA RASA
E IN SCHAUSPIEL IN DREI AUFZOGEN
DRITTER AUFZUG.
ERSTER AUFTRITT.
Isolde (liest vor): „Eine der merkwiirdigsten Ubergangsformen
zwischen Mischliebe und Distanzliebe ist der KuB. Im Moment
der korperlichen Kufiberiihrung ist die Distanz zwischen den
Personen des Liebesindividuums zweifellos nahe der Minimal-
grenze. Wie nah der KuB dem SchluBakt ist, zeigt klarlich der
Umstand, daB er in seiner sinnlichsten Form das Wollustgefiihl
anzuldingen und erste Tone davon deutlich heraufzulocken
beginnt.“
Net tel: Schon wieder Bolsche!
Isolde: Nicht schon — erst wieder. Meiner Ansicht nach
kann man Menschen, die ins Leben treten, vom Morgen bis zum
spaten Abend nichts Herrlicheres vorsagen als das Liebesleben
in der Natur.
Arthur: Wie fuhrt diese prachtvolle Femmalerei aus einem
greulichen Pessimismus dualistischer Denkform in das Paradies
des Monismus. „Das Tier hat den Menschen erfunden. Er war
Fisch und Wurm und Urzelle.“ Dann sehen wir ihn im Lauf
der Jahrtausende von der Amobe, dem Ichthyosaurus her real
zur Sonne aufsteigen. Aber wie gibt uns dieser Geist nicht nur
in unserem individuellen, sondem im sozialen BewuBtsein Riick-
grat. (Er nimmt Isoldcn da* Buch aus der Hand, schlagt auf und liest.)
Carl SUrnhnm * Tabula Rasa
215
Zur Frage des Mutterschutzes :
politischen Parteien einig werden miissen. Der Konservative
muB hier fiihlen wie der Sozialdemokrat. Els gilt das Volks-
material als solches, das auf dem Spiel steht. Gegen das Kultur-
weibchen, das sich das Amusement der Dinge nicht durch
Schwangerschaften unterbrechen lassen will, gegen den siiB-
lichen Astheten, der das Kindergebaren dreckig findet, gilt es.“
Isolde: Fabelhaft!
,,Hier liegt em Punkt, wo alle
Net tel (Hat wahrend Arthur und Isolde die Gesichter dicht beieinander
ins Buch stecken, still das Zimmer verlassen.)
Arthur: Man muB die Weiber zwingen, die nicht wollen!
Oder — Bilder von riesiger Schlagkraft: „Vom Zeugungsakt
selbst. Ich weiB nicht, ob es dir bei der Selbstbeobachtung des
Zeugungsaktes auf der mannlichen Seite einmal geniigend auf-
gefallen ist, was fur eine wirklich frappante Ahnlichkeit in ge-
wisser Beziehung zwischen diesem Akt und einem anderen, dir
hochst gelaufigen deines Korpers besteht: namlich dem schlich-
ten Akt des Niesens.“
Isolde: Unerhort!
Arthur: „Kitzelvorgang, Schleimhaut, prickelnder Reiz,
eruptive AusIosung.“
Isolde: Ganz fabelhaft’
Arthur: Lassen wir die technischen und organisatorischen
Leistungen, die Deutschland in diesem Jahrhundert aufweist,
einmal ganz beiseite: Dies Werk, der Triumph naturwissen-
schafthcher Vernunft liber den theologisch synthetischen Gott
ist ein Verdienst, um das uns nicht nur die Kulturvolker der
Gegenwart, nein, zwei europaische Jahrtausende beneiden
miissen.
Isolde: Gotzendammerung ! Du tragst das Ganze aber auch
vor, hast eine Eindringlichkeit der Uberzeugungf
Arthur: Konnte mir iiber das Ideal der Sozialdemokratie
Isold
Wie
Monismus
erst der eigene Leib an den erhabenen Vorgangen teil.
Arthur: Freilich.
216
Carl Stcrnheim * Tabula Rasa
Isolde (mlt einem Seufzer): Vierzehn Tage noch!
Arthur: Nach dem Jubilaumstrubel schien es geraten, eine
Pause im Feiern eintreten zu lassen.
Isolde: Und in der Ahnung der Herrlichkeiten, die mit dem
Andammern des Lebensquells bevorstehen — ! (Sie legt die Hand
aufs Buch.) Diesem Manne danke ich viel. Von alien Zweifeln
hat er mich griindlich befreit. Nicht blind gehe ich meinem
Schicksal entgegen ; ich darf sagen, durch ihn ist mir die ganze
Technik des Zeugens und Gebarens gelaufig. Welch kristallene
Klarheit fiirs Leben, Arthur. Keine mystische Geheimnis-
kramerei, sondem eindeutig und nackt stehen sich Mann und
Weib gegeniiber. Findest du nicht, irgendwie reicht dieser
Bolsche an einen Gott?
Arthur: Es scheint manchmal.
Isolde (groBen Blicks und feierlichen Ernsts): Arthur!
Arthur (ebenso): Isolde! (Hsndedruck).
Beide (exeunt).
ZWE1TER AUFTRITT.
Bertha (tritt auf, nimmt das liegengebliebene Buch, beginnt zu lesen,
lacht, liest und bricht in einen Lachstrom aus).
Stander (tritt auf): Was gibt’s?
Bertha (zeigt mit krampfhaftem Lachen auf das offene Buch): Nein !
da!
Stander (nimmt das Buch und liest): Pfui Ttafel! Meinem
Schwiegersohn ?
Bertha (nickt): Herrn Arthur.
Stander (fiir sich): Idiot! (laut) Schweig! Was erlaubst dudir?
Bertha: Ich kanns fiir zwanzig Mark monatlich nicht langer
machen. Nach fiinf Jahren Dienst hatte man Aufbesserung ver-
dient.
Stander: Es gibt keinen Dienst, kein Gehalt. Freiwilligen
Vertrag.
Bertha: Den kiindige ich zum Ersten.
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
217
St ander: Gut. Was sonst?
Bertha: Aber, Herr Stander — ist es denn moglich? Ich soli
von Ihnen fortgehen?
Stander: Du sollst. Gekiindigt zum Ersten!
Bertha: Warum?
Stander: Weil du siindhaft faul stets warst und bist. Dich
von mir masten willst.
Bertha: Das kann Ihr letztes Wort mcht sein, Herr Stander.
Wo Sie mir versprochen haben, niemand auBer mir soil einst
Ihren Leichnam waschen.
Stander: Aus.
Bertha: Aber unser Verhaltnis ist em Gesellschaftsvertrag,
den man nicht —
Stander: Gekiindigt.
Bertha: Ubereinkunft !
Stander: Gekiindigt.
Bertha: Ich will ja alles — was Herr Stander von mir armen
Weibe mag. (Sie weint.)
Stander: Nein, nein, nein. Ich habe es satt. (Er briillt:) Hinaus I
Bertha (schluchzend, exit).
Stander: Dieses war der erste Streich!
Wind weht durch diesen Morgen. Ausgeliiftet wird von oben
bis unten das Haus. Lunge, Hirn und Leber ausgeliiftet. Den
zwanzigsten Mai streichen wir rot im Kalender an. Friihlings-
anfang in meinen Herbsttagen. Spat kommt er, doch er kommt.
(Er zieht ein Schreiben heraus.) Els ist entschieden, wie ich es voraus-
gesehen. Ich habe michzurRuhegesetzt. DiebodenloseAchtung,
die man vor meinem Verzicht empfand, wurde von mir zu einem
Ruhegehalt ausgewalzt. Mit Zuschiissen aus einem Dutzend
Kassen zahlt man mir an viertausend Mark jahrlich. Bis ans
Lebensende ist dafiir, wie mich mein Anwalt versichert, das Ge-
setz auf meiner Seite. Kommen achtzehnhundert Mark Kapital-
zinsen dazu. Nach dieser Feststellung trete ich sechzigjahrig
gehautet auf den Weltenplan und sehe die Systeme um mich, die
ich bisher heimlich und auf Umwegen bekampfte, als ein freier
Mensch an.
218
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Doch der zweite folgt sogleich!
AIs beginne ich zu schweben, habe ich das Gefiihl. Der
Nachste, der mir gegeniibertritt, lernt schon den ganzlich neuen,
und wie mich diinkt, den Originaistander kennen.
DRITTER AUFTRITT.
Der Arzt (tritt »uf).
Slander: Guten Morgen, Herr Doktor!
Arzt: Sie baten mich, vorzusprechen. Da ich gerade Herrn
Flocke sah —
Slander: 1st er unpaBlich?
Arzt: Liegt zu Bett.
Stander: Befund?
Arzt: Bos.
Stander: Wie?
Arzt : Marasmus. Ein sparliches Maschinchen, das zu ebener
Erde eben lief, sollte plotzlich einen steilen Berg hinankeuchen.
Jetzt stehts still. Von morgen ab rollts riickwarts.
Stander: Sein neues Amt iiberbiirdet ihn?
Arzt : Er ist ihm in nichts gewachsen. Nicht an Kenntnissen,
nicht an Arbeitskraf t . Was ihn totet, ist das Mafi der Verant-
wortung, das auf ihm ruht.
Stander: Wirklich?
Arzt: Sein Him ist gesprengt, das Herz gebrochen. Am
schmerzlichsten betrauert er den Verlust seiner Invalidenkarte,
das fortgegebene Anrecht auf Kassenschutz. AIs Arbeiter orga-
nisiert, fiihlte er Person, Leben und Welt. AIs fiihrende Person-
lichkeit isoliert, bleibt er gefiihl- und leblos.
Stander: Was prophezeien Sie?
Arzt: Schlufi in vier Wochen.
Stander: Unfehlbar?
Arzt: Bestimmt nach Menschenermessen.
Stander: Ich dacht’ mirs.
219
Carl Sternheim • Tabula Rasa
Arzt: Er hatte sichs versagen miissen. Bleib, Schuster, bei
deinem Leisten. Verantwortung ist langst nicht fur jedermann.
Ultra posse nemo tenetur.
Stander: Richtig.
Arzt: Ein beklagenswertes Schicksal.
Nun zu uns. Was glbts? Wo fehlts?
Stander: Mir fehlt nichts. Was ich will, ist ein Gutachten.
Dieser Tage wurde ich sechzig Jahre. Wie lange, arztlicher Vor-
aussicht nach, in welcher Kondition ich noch zu leben habe,
wiiBte ich gem.
Arzt: Brauchen Sie ein Kassenattest, handelt es sich urn
Renten ?
Stander: Mit dem heutigen zwanzigsten Mai bin ich zur
Ruhe gesetzt. Die verpflichtenden Zusagen aller in Betracht
kommenden Kassen besitze ich schon.
Arzt: Sie wollen die Wahrheit? Kein Attest?
Stander: Runde Wahrscheinlichkeit.
Arzt: Viel, das wissen Sie, kann ich als Arzt nicht feststellen.
Stehen Sie als Menschengebaude vor mir, sehe ich deutlich nur
die Fassade. Die ist solid. (Befuhlt ihm den Kopf.) Auch die
Wetterseite ; Schieferdachung. Der innere, grobe Mechanismus,
Luft- und Heizungsschlauche — (Er hat ihm das Stethoskop auf
die Brust gesetzt.) Tief und ruhig atmen ! Teufel — Lungen wie
ein Brabanter Rofi. DasHerz? Ein Strombagger, Schiffspumpe.
Nerven ? Das System der Lebensreizempfanger und -verwerter ?
(Er schheGt mit den Handen Standers Augen und offnet sie wieder.)
Phantastisch jung und spriihend lebendig. Von da aus werden
Sie hundert Jahr.
Stander: Aber?
Arzt: Auch Niere, Leber und Magen streiken nicht, wie ich
aus jahrelanger Behandlung weiB. Bleibt das Wesentliche, von
dem ich gar nichts sagen kann.
Stander: Namlich?
Arzt: Das MaB Ihrer Neigung zu innerer Selbstvergiftung
und die Fahigkeit des Blutes zur Verteidigung dagegen. Wie weit
die Galle Faulnis der Safte und ihre Garungen verhiiten kann.
220
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Stander: Zerstorung durch Bazillen, Bakterien?
Arzt: Die brauchts nicht. Wir wissen nicht einmal, ob sie
auBer in medizinischen Lehrbiicbem wirklich schadlich wirken.
Vergiftung durch die Unfahigkeit, verbrauchte Stoffe, die ge~
fahrlich sind, aus dem Haushalt des Korpers auszuschleudern.
Stander: Wie mache icb meinen Leib dazu fahiger?
Arzt: Vermeiden Sie die Laster!
Stander: Korperliche?
Arzt: Zuerst! Trunksucht, Ausschweifung.
Stander: Ich bin kein Wiistling.
Arzt: Dann seelische: Bosheit, Neid, Gram.
Stander: Neid liegt mir fern. Gram suche icb nicht. Ein
SchuB Bosheit hier und da bekommt mir.
Arzt: Wenn Sies so fiihlen, gut. Vor allem aber fege Selbst-
gefiihl, das BewuBtsein der Freiheit und eigenen Willens, durch
die Blutbahnen.
Stander: Das ists, Doktor! Verlassen Sie sich darauf, nur
das ! Und hangts davon ab, vom festen EntschluB dazu, von der
GewiBheit, ihn immer und in jedem Augenblick zu besitzen,
werde ich, das versichere ich Sie — liber hundert Jahr.
Arzt: Ich sehe nichts, das Ihre Voraussage ausschlosse.
Stander: Und wozu dient die Bauchspeicheldriise ?
Arzt: Niemand weiB es.
Stander: Wozu die Milz?
Arzt: Man ahnt es kaum.
Stander: Und der Bazillen sind Sie nicht einmal gewiB?
Ar zt : Die Bakteriologie ist eine Suppe, die man nicht anriihrt,
ohne sich zu verbrennen. Man schiitte sie weg.
Stander: Doktor, wann sind Sie wissenschaftlich einmal
sicher ?
Arzt: Liegt der Kranke tot vor uns, diirfen wir ruhig ver-
sichern, er lebt nicht mehr.
Stander: Nicht immer ist der Arzt des Sterbens Grund?
Arzt: Meist Blutvergiftung.
Stander: Ich danke Ihnen. Jedoch — der gute alte Flocke
unbedingt ?
Carl Sternheim » Tabula Rasa
Arzt: Leider. Unfahig, Antitoxine zu bilden. Zuviel Sorge
und Gram. Guten Morgen. (Exit.)
Stander (vor dem Spiegel): Mit fiinftausendzweihundert,
Schieferdachung und gesunder Blutbereitung habe ich minde-
stens fiinfundzwanzig riistige Jahre vor mir. Es Iohnt !
*
VIERTER AUFTRITT.
Isolde ( mit einem Tablett tritt auf und setzt es auf den Tisch):
Das Friihstiick! Ein Hlihnchen mit Tomatentunke. (Sie lafit den
Vorhang herunter, verhangt die Schliissellocher.)
Stander (setzt sich zum Tisch): Zieh den Vorhang hoch!
Isolde: Den Vorhang? (sie tuts.)
Stander: Die Ttiren mach auf.
Iso lde: Auf? (sie tuts.)
Stander: Stell dich als Abundantia wie am Festabend dort-
hin. Uppig, uppig!
Isolde (tuts).
Stand er : Stillgestanden! Grazioser das Bein. Hoch! Offne
das Haar. LaB deine Mittel spielen.
Isolde (entfesselt ihr Haar).
Stander: Ich mochte, in einer Zeitung, in Biichern ware fett-
gedruckt von mir die Rede. Ich wollte — zum Bersten bin ich
mit Buntheit und Kraften angefiillt.
*
FONFTER AUFTRITT.
Arthur (tritt auf und sieht Isolde in ihrer Stellung): Was bedeutet
der Auftritt?
Stander: Abundantia. Die Fiille. Erinnerst du dich?
Arthur: Ich verbiete meiner Braut, sich irgendwem in sol-
chen Stellungen zu zeigen.
Stander: Ernsthaft?
40 Voi. m/i
222
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
Arthur: Deine Nichte gehort fortan ausschlieBlich mir und
zu mir.
Isolde (auf ihn zu, umschlingt ihn).
Stander: Ihr seid, sieht man euch an, im wesentlichen iiber-
einstimmend, wirklich mit gleichem MaB zu messen.
Isolde: Ich fiihle ganz wie Arthur.
Stander: Das muB ein Vergniigen sein.
Arthur: Was soil die Redensart? Willst du eine Ausein-
andersetzung, findet sie allerdings besser vor der Hochzeit als
nachher statt.
Stander: Hast du etwas gegen mich?
Arthur: Nein.
Stander: Es schien mir so.
Arthur: Durchaus nicht.
Stander: Isolde?
Isolde: Aber Onkel!
Stander: Ihr gebt mir dasZeugnis, bis zu diesem Augenblick
besteht in euch keinerlei Abneigung gegen mich und meine Art ?
Arthur: Ich schatze dich als groBziigigen Charakter aufier-
ordentlich hoch, das weiBt du.
Isolde: Ich liebe dich doch, Onkel!
Stander: Seid ihr vollkommen ehrlich?
Isolde: Ja.
Arthur: Vollkommen.
Stander: So bin ichs auch.
Leider kann ich von meinen Gefiihlen fur euch nicht dasselbe
sagen. Anschauungen und Urteile, die ihr habt und die euch
furs Leben vereinen, sind mir kontrar.
Arthur: Wie?
Stander (zu Arthur): Geradezu widerlich. Vom Augenblick
an, da ich dich genauer kenne, kampfe ich eigentlich bei jedem
deiner Worte mit Brechreiz.
Isolde: Onkel!
Arthur: Aber das ist ja —
Stander: In deiner Person verkorpert sich fur mich der zahe
Schleim der tausend Gemeinplatze und Redensarten, mit dem
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
223
der nach Eigentiimlichkeit durstende europaische MenscK be-
tropft und zu einer klebrigen Masse geknebelt wird.
Arthur: Unerhort!
Stan der : Was aus deinem Mund kommt, hat die Absicht, der
Erbarmlichkeit von iiberall her zum Sieg zu helfen. Christen-
turn, Sozialismus, jeden ursprtinglich heiligen Protest des Men-
schentums, zu einer geschmacklosen Bettelsuppe zu verdiinnen,
die den Lebensnerv reiner Gottesgeschopfe bricht.
Arthur: Horen Sie auf! das ist — !
S tan der : Hinaus ! Nehmen Sie mein Miindel, das mit Mond-
siichtigkeiten fettgeschwemmte Madchen, mit.
Isolde: Arthur! (Mit Aufschrei an seine Brust).
Arthur: Ich — ! Ah — ! Das — !
Stan der: Verpestet drauBen das eigene und anderer Leben
weiter mit sozialer Hinaufentwicklung, mit Mutterschutz, Schlag-
sahne und Bourgeoisschleim. (Da Arthur fuchtelnd Miene zu irgend
etwas macht, briiilt):
Stander: Hinaus!!
Arthur und Isolde (umschlungen exeunt).
Stander (reiCt da> Fenster auf): Luft herein. Wie wohl das tut !
SECHSTER AUFTRITT.
Sturm (nach einem Augenblick tritt auf).
Stander: Das ist eine Uberraschung. Was tust du wieder hier ?
Sturm: Einmal loekt mich die Neugier, das Schlufibild der
kiirzlich aufgefiihrten Lokalposse am Ort selbst zu sehen : Flocke
im SchweiBe seines kleinen Angesichts als verantworthcher
Werkdirektor.
Stander: Die Posse wird zum Trauerspiel. Er stirbt daran.
Sturm: Ich dachte mirs ungefahr.
Stander: Das war keine Kunst.
Sturm: Du hast ihn vorgeschlagen.
Stander: Ohne bose Absicht fiir ihn. Mich im Augenblick
zu retten. Er hatte auch ablehnen konnen, ablehnen miissen.
r.V.V.V.V.V
Carl Sternheim ♦ Tabula Rasa
Aber da safi schliefilich der Haken : unter einem Wust unver-
standener Ideen drangte stiirmisch genug simple Biirgersehn-
sucht. Der Knoten entrollte zur Katastrophe.
Sturm: Ein wamendes Beispiel. — Und du, Stander?
Stander: Und du, Sturm?
Sturm : Meinen Weg gehe ich weiter ; warne und beschwore
die mir anvertrauten Massen unablassig durch Wort und ScKrift
vor den Kodem, die ihnen die kapitalistiscbe Bourgeoisie iiberall
legt. Suche, sie zu behiiten vor dem Verlust ihrer elementaren
Stofikraft durch Annahme einer Halbbildung, die sie weiter be-
gehrlich und unentschieden macht. Halte sie im Mifltrauen
gegen Volksschulen in Sandstein und Mahagoniholzem, in denen
man alien Lehrstoff grofibiirgerlich falscht, gegen Kasemen mit
Sprungfedermatratzen und Wasserspiilung, gegen den Aufent-
halt in Marmorpalasten mit Wagnermusik durch ein verstarktes
Symphonieorchester bei einer Tasse Kaffee in Meifiner Por-
zellan fur dreifiig Pfennig.
Stander: Um sie endlich zu fiihren — wohin?
Stur m : Im gegebenen Moment die Staatsgewalt zu ergreifen.
Stander: Was ist Staatsmacht? Schutzwille des Eigentums.
Sturm: Alle Klassenunterschiede aufzuheben.
Stander: Was schafft Klassengegensatze ? Kapital.
Sturm: Um schliefilich —
Stander: Nicht wie Arthur Flocke im Weg friedlicher Ent-
wicldung.
Sturm: Durch blutige Gewalt!
Stander: Dennoch die Erbschaft des bevorrechtigten Bur-
gers anzutreten. Sich in seine Guter und Ideen festzunisten. Im
Weg, Sturm, unterscheidest du dich von Flocke, und ich gebe
deiner Art schliefilich den Vorzug. Aber am Ziel angekommen
mit einer Menge, die fiir ihren Biirgerberuf, durch tausend
Kanale schon vorgebildet, in Volksschulen, durch Zeitung, Kino
und Theater bourgeoismafiig mit dem einzigen Begriff der Kapi-
talsanhaufung und Verteidigung vergiftet ist, miissen deine und
Flockes Massen unfehlbar die gleichen Cotter wieder aufstellen,
die ihr stiirzt.
<*
Carl Stcrnhcim * Tabula Rasa 225
Sturm: Wir werdens nicht! Niemals!
Stander: Wie hoffst du uniibersehbare, auf immer tollere
Fruchtbarkeit gestellte Menschheit mit einem Fischzug zu heben
aus dem Teich jahrtausendalter Zwangsvorstellungen ; wie sie zu
erlosen von Begriffen, die durch geschickte Bildung endgiiltig
scbeinen ? Wie kannst du die Manner vom Weg ihrer historisch
beglaubigten Tugenden, Weiber aus den Schlupfwinkeln der
ihnen zugewiesenen Vortrefflichkeiten Iocken? Wer spiilt die
Milch im Frauenleib rein von den Giftkeimen des nicht Sein-,
sondern Scheinenwollens, die, dem Saugling eingeflofit, ihn
spater zwingt, eine biirgerliche Geltung zu behaupten, der keine
menschliche Bedeutung entspricht ? Und doch bekennen wir vor
unserem Gewissen, wir besseren Menschen des zwanzigsten Jahr-
hunderts, dafi alle geerbte Lehre nicht mehr wirksam ist unter
Hundertmillionengruppen, die einzig der Sinn der Selbsterhal-
tung durch Zusammenschlufi noch bewegt. Fiir den Volksfiihrer
aber ist es besonders siindhaft, weiter Ideale zu predigen, die das
Gewissen des Einzelnen zur Voraussetzung haben. Gehthinund
formt voraussetzungslos die Sittenlehre, in der zum erstenmal
die Masse des Volks als das zu hegende Einzelwesen erscheint.
Sturm: Wir wollen nichts anderes. Aber wie, wo ist da fiir
uns der Anfang ? Hast du auch dariiber nachgedacht ?
Stander: Ich bin ein alter Mann und durchaus noch von der
Art jener Menschen, die im Grund nur sich selbst ohne jeden
Vergleich und das Wohl der eigenen Seele wollen. Durch Sorge
urns Brot wurde ich bis an mein sechzigstes Jahr verhindert, aus-
schliefihch darauf zu achten und konnte nur durch maskierte
Vorstofie, durch zeitweilige Emporung irgendwelcher Art, die
Verbindung zur inneren Richtlinie festhalten. Den letzten Aus-
bruch hast du miterlebt.
Von heute an aber habe ich freie Moglichkeit und trenne mich
entschieden von aliem, was als Menschengesetz mir hier ge-
predigt wird. Unabhangig von Zunft und Gemeinschaftsidealen,
will ich nur noch mem eigenes Herz durchforschen, die Lehrer
suchen, die meine Natur verlangt, und sollte ich sie in China
und in der Siidsee finden.
Carl Sternheim * Tabula Rasa
Sturm: Ob dein Recht auf dich selbst oder die Pflicht aller
fiir alle Gottes RatschluB mit uns ist, werden wir beute nicht
entscheiden. Doch fallt dir deine Uberzeugung spat im Leben
ein.
Stander: Da liegt der Haken! Ware ich zwanzig, mein
Junge, und tate, was ich jetzt tue, viele wiirde mein Aufbruch
mitreiBen. Dann miifite Prophetie sein, was jetzt nur den Pro-
pheten riihrt: der uns alle geschaffen und unterschieden, will
auch von jedem die anvertraute Person unverfalscht zuriick.
In meiner Fa^on, durchschnittlich begabt in die Welt gestellt,
kann ich mir das Heiligsein erst als Ideiner Rentner mit sechzig
Jahren leisten, doch bleibt es immer noch Verdienst, meine ich,
feste Beziige erst seit Stunden in der Tasche, in das eigene Selbst
unverziiglich aufzubrechen.
Sturm (nach kurzer Pause): Leb wohl! (Er zeigt nach oben zu
Flocke.) Stirbt oben der Alte — die Kinder sind allein — das
alteste Madchen, ein einfaches Ding, hat mirs vielleicht ange-
tan. Ich will hinauf. (Er gibt ihm die Hand.)
Stander: Du hast mich nicht verstanden!
Sturm (sehr kiihl): Ich habe dich gehort. Und wills Gott
wirklich, zeigt sich auch irgendwie und wann der Eflekt. (Exit.)
Stander. Bei seinen geringen Emkiinften erlebe ichs nicht
mehr. (Er setzt den Hut auf.)
Und nun auf Wanderschaft zum Ziel am ruhigen Ort.
Fiir mich, Stander, stehe ich.
Welch Gluck, daB man keine Kinder hat! (Exit.)
Vo r h t n g .
Franz Werfel * Neue Gedichte
227
c Tranz ^XOerfef:
NEUE GEDICHTE
AN DEN RICHTER.
Ich habe meine Lampe ausgeloscht und mich zu Bette gelegt,
in mein fremdes Bette.
Da wallte mir durchs Fenster die bleiche Welt der Nacht, und
der aufgebaute Berg beugte sich iiber meine Brust und
wankte.
Die reifienden Hunde bellten in den schattenlosen Hofen des
mondreichen Dorfes, und ich
Verwarf mich und stand auf und ziindete die unwillige Lampe
wieder an.
Ich will nichts von den Frvichten und Speisen genieBen, die
noch auf meinem Tische stehn, obgleich es mich ge-
liistet.
Ach die Befriedigung vertritt uns Deinen Weg, und wer weich
lcniet, betet heiser.
Mit dem Apfel lenkt der Arzt das kranke Kind von seinem
Weinen ab, urn Fieber zu messen ;
Weh uns, verheert von Lockung und GenuB, allzubereit, die edle
Statte des ewigen Erkenntnisschmerzes zu verlassen!!
0 mein Richter! Meine Feinde haben mich entratselt, durch-
schaut und geschlagen.
Sie verwarfen mich, und ich muBte mich mit ihnen verbiinden.
Sie schalten mich: Scheinmensch, charakterlos, eitel, trage,
gleichgiiltig, zu klein zur Siinde, zu gering zur Wohl-
tat, schwach im Frevel ur*d wertlos in der Reue,
228
Franz Werfd * Neue Gedtchte
Und ich horte sie, und fuhr gegen mich, und gab ihnen Recbt
mein Richter — und mufi mich hassen!
Ich bekenne — und wenn auch dies Eitelkeit ist, weh, vermag
ich nichts dagegen, bekenne dennoch:
Ich war an diesem einzigen Tage so ldein und niedrig, mittel-
maBig und schwach, wie nicht einer an meinem Tisch —
Hoflich war ich aus Angst, lobsprecherisch aus Feigheit, aus
Tragheit zweiziingig und ohne Halt. Liebe vergalt ich
mit boser Hoffnung, Sorge mit sorglosem Schwachsinn.
Els ist nicht die Lust der Zerknirschung, wenn ich mich mit
dem weidenden Vieh vergleiche.
Wie kostlich ist der kommende Tag, mein Richter, wie traumt
man sich wandeln im Gebirg, wie hoffend auf GroBe.
Aber der abgestorbene Tag ist schrecklich, man sieht sich ungem
nach ihm um, wie nach einem Kiibel voll Kehricht.
Wird es immer so sein? Mein Tag immer so sein, bis zum
letzten Tage?
Und wird sich im schmutzigen Kranken noch die alte Sturm-
glocke der Schuld emporen ? !
Mein Richter, ich weiB nichts vom kommenden Tag, von jenem
Tag, nicht ob Du wirst zu Gerichte sitzen, mein
Richter.
Aber Deinen Gerichtstag fiirchte ich nicht, Deine Erhabenheit
nicht, Dich nicht, mein Richter, mich fiirchte ich, ich
fiirchte mich, Mich!
Meine lahme Seele fiirchte ich, mein stummes Herz, den un-
verzweifelten Blick, den Leichtsinn, das So und So,
das leere Achselzucken !
Ich weiB nicht, ob Du bist, mein Richter, aber ich wiinsche,
daB Du bist, mein Richter, und will Deine gute Rute
besprechen.
Franz Werfel * Ntue Gedichte
229
Ich sitze in diesem kalten Zimmer vor meiner Lampe. Horchst
Du an meinem Fenster? Ich kann die Sterne sehn.
Ich wende meinen Kopf scheu zum Fenster und rufeDir diesen
Gesang zu und mache diesen Gesang den Schlafenden
kund.
Meine Lampe erfriert. In das Grab des schrecklichsten Todes
sehe ich, ich sehe den geistigen Tod. Ich fiihle das
fieberlose Ubel, Tragheit des Herzens!
Mit kalten Fingern sitze ich da, ohne Hilfe, und vollig ratios.
Bald werde ich mich unter meine Decke legen, meinen Leib
dehnen und ruhig atmen.
Lafi es nicht zu, mein Gott, dieses Stunde urn Stunde, dies
Heute und Gestern, dies Immer und Ewig!
Aber vielleicht hast Du keine Macht tiber mich, wie ich keine
Macht iiber diesen Gesang habe, der in seiner Wahr-
heit noch gleisnerisch ist.
Und nicht einmal den Wahnsinn darfst Du mir mit seinen
Sperberschwarmen und groBen Steppen schenkeni
230
Franz Werfel ♦ Is! cue Gedichte
TRACHEIT DES HERZENS.
Und immer wieder flieht ein Antlitz fort
Und schwanket iiber fremdem Wasserort.
Unwiederbringlich Aug und Liebeszeichen
Wird keine Reue, keine Qual erreichen.
Mein Gott, wieviele Liebe liefi ich aus,
Nicht kalt, nicbt heiB durchmessend Weg und Haus !
Schlafriger Schacher konnte ich nicht halten
Gewognes Aug, darbietende Gestalten.
Unaufgefundener Blick sank irr hinab,
Arme Umarmung rasselte ins Grab,
Und ich, ein Morder ungeheurer Giiten,
Geh meinen Kreis, den lauen Ort zu hiiten.
Und immer wieder bleiben Arme leer,
Und abgewendet wall ich durch mich her.
So Tag fur Tag das feige Herz zersprechend
Und elend mit Almosen Gott bestechend.
Franz Werfd ♦ Neue Gcdichte
231
LIED NACH EINEM TAGE.
Herr, sehr wenig ist, was ich dir gab,
Deine Flamm ist klein in mir gelungen,
Herr, der Du mich aus den Zeugungen
Fallen liefiest irr in meinen Trab.
Dennoch Fremdling ich war so verwandt,
Und ich sah sich Augen iibermilden,
Und erkannte in deinen Gebilden
Weise Anmut, die ich nicht verstand.
Ach so schwankte ich durch Traum und Kreis,
Durch Spitaler wankend und durch Sale. . .
Nur das schwarze Wiirgen in der Kehle,
Manchmal Trane, war Dein PreisI
<S.
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232
Franz Werfel * Neue Gedichte
DERTEMPEL.
O Tempel, in die
Zarteste Stunde gebaut,
Wenn schon die unermiidlichen
Schmetterlinge,
Die kreisenden, welken an
Der alten Lampe des Weisen und
Die Traumer plotzlich das Haupt
Tauchen aus tausend Fenstem.
Tempel,
In solcher Stunde erschallend,
Lafit du uns gehn
Uber die Treppe.
Aber wenig leuchtet
Die Later ne voran des Priesters,
Wenn tie! der Tierkreis
Briillet und leis im Schlaf.
Wie bald doch steh ich
Und schon im Kuppelsaal.
Dort aber rundet
Der offene Himmel.
Ein Morgen
Macht ihn schon fast
Zum verschwommenen Knaben.
Doch in dem hellen Boden
Findet er sich bemessen
Zu unseren FiiBen wieder
Genau
Im bildenden Wasserteich.
Wie da ruhen
Uber unseren Schultern,
Die einhaltenden Vogel,
Die Planeten sich aus.
Franz Werf el * Ntue Gedichte 233
Sitzen sanft eine Weil’ nur,
Geschlossene Fliigel
Auf atemlosen Saulen.
Trallert einer im Schlaf.
Aber als letzter,
Luzifer schwirrend
Hebt sich hinweg
Morgender Stern.
Mit fernem Gelachter
Spiegelnd Gefieder
Im schon helleren Bassin.
Nun aber seh ich
Wolken griinen im Wasser.
Sehe dreifach
Das Strandgut treiben
Im kleinen Umkreis
Des Brunnenteichs.
Wohl weiB ich,
Und nimmer tauschet mich wer,
Mattes und Morsches.
Drei Dinge schwimmen,
Kleines Brett Noahs,
Binsenkorb Mosis,
Holzspan der Krippe.
Drei Schatten schwimmen
Auf wachsendem Himmel.
Nun aber schreiten —
(Da es doch bald mehr Friihe ist)
Die Manner hinaus,
Die herrlichen
Nach der Abfertigung.
Uber den Brauen
Schimmern die Glatzen vor Osten.
✓ 'S.
234
Franx Werfel * Neue Gedichte
Sie neigen und schreiten,
Die Heiligen schreiten
Hinter Planeten.
Friihe Arbeiter,
Und kiihl
Von diesem Himmel und Frische.
So schreiten sie,
Ohne zu wecken,
Gesenkte Stimen,
Aus alien Tiiren zugleich,
Hinaus aus diesem
Kuppelkreis,
Die Verschmaher der Speise.
Franz Werfel • Neue Gedichte
235
MUDIGKEIT.
Tiefe Sch wester der Welt
Weilt auf bewimpeltem Bord,
Schiitzt ihren Krug vor dem Glanz,
Der schon im Westen zerstiirzt.
Mit dem Gelachter des Volks
Lost sich das Schifflein und schaumt,
Aber die Gotti n und Gold
Rollt mit den Wellen noch lang.
Herz und Atem rersinkt,
Woge, in welchen Schlag?
Mischt schon die Fledermaus
Elemente und Mohn ?
Abendgestade und Blick
Schwindet hin. Kiel und Delphin.
Lebt noch iiber der Bucht
Maulbeer, Limone und 01 1
236
Franz Werfel ♦ Neue Gcdichte
FRAUEN.
(Nach cinem Fieber zu sagen.)
Waren es Frauen nicht.
Die uns an ihr grofies Antlitz hoben. . .
Die uns in weiBen Wagen schoben
Durch die unschuldigen Auen nicht?
In das AbendiibermaB der Stadte
Tempelbrand und Kuppelgoldenwerden
Fiihrten sie uns wieder an der Hand,
Wenn wir den Nachmittag im Sand
Gespielt oder auf griinen Erden
Vor des kleinen Friedhofs eingesturztem Rand.
0 Frau’n, o Doppelspiel,
0 fernste, ferns te Herzen,
So nah, wie nur das Fernste nahe ist.
Nun tragt ihr eure unbekannten Schmerzen
An uns vorbei durch diese Zimmerfrist.
Wir kennen nicht
Euer Gesicht,
Das wir doch kennen aus den hallenden Tagen,
Da wir in seiner tiefen Nahe dichten Nah’ die Augen
aufgeschlagen .
Franz Werfel ♦ Neue Gedichie
237
DER EHRGEIZ.
Ein Weib von scharf und schreitender Gestalt,
Mit keuschem Antlitz, Handen feucht und kalt.
Das Auge dunkelt aus geschwarzter Schlucht,
Die weifie Lippe spannt verruchte Zucht.
Sie nimmt zerkrampft in den verworrenen Schlaf
Ein Lacheln mit, das sie im Spiegel traf,
Und kehrt sie in das Krahn der Friihe heim,
Schmeckt sie auf ihrer Zunge bosen Schleim.
Niemals errotet sie, doch sie erbleicht,
Ihr Mund wird oft, lhr SchoB wird nie erreicht.
Beladen schwankt vor ihr die Mutter, schwach.
Sie streift sie von der Briicke in den Bach.
Und geht mit Gliedern, die sie nicht entlaBt,
Die Sehnen spannend durch das Adelsfest.
Die Masken winken, bis, auf dem sie steht,
Das Scheusal sie — ihr EntenfuB — verrat.
41 Vol. m/i
238
Franz Werfel * Neue Gedichie
MORPHEUS SENEX.
Ich bin der Berg der Schlafe. Durch meine Ritzen wachst Moos
Ich bin an meinem Schenktisch ein langsamer Wirt.
Meine tiefen Augenlider hangen klumpig und groB
Uber BackenfraB zum Lausebart nieder, der klirrt.
Die Baskenwolbung meiner Schenke ist nachtlich befleckt
Von Pestilenz der Lampenhur, die alten Atem haucht.
Die Tische sind, FlieBen, dicke Glaser bedreckt
Von Asche, Speichel und Unflat, den diegute Freundschaft raucht.
Meine Diener sind taube Hexen, sie fahren mit krahendem Fun
Um die Tische, zerbrechen Geschirr und vergieBen Trank.
Meine treuen Gaste Saufaus und Rotzaug liiften ihnen den Schurz,
Wiegen weise das Haupt und priifen den guten Gestank.
Ich riihre immer mit dem Be sen im Suppentopf,
Oder schleife durch meinen Sumpf, oder mache mich naB.
Zwei Greise noch wachen und wackeln, ein Kropf und ein
Wasserkopf,
Lallen und speicheln und schlagen oiiges AB.
Theodor Ddubler ♦ Henri Rousseau
239
Theodor Q5aubfer:
HENRI ROUSSEAU
D OUSSEAU ist voll von Kindlichkeit: das Kind verlangt
*■ ' gemalte Photographien. Auch er malt sehr behutsam. Er
nimmt sich bitter ernst: dadurch wird er ungemein riihrend,
aber niemals komisch. Wer glaubt, Henri Rousseau spiele,
tandle aus Freude am Tandeln, irrt sich. Er hat den hassenden
Blick des Kindes, das beim Spiel, wenn es Spiel fur romantische
Tatsache, innigste Wahrheit halt, sozusagen von einem Er-
wachsenen ertappt wird. Auch er kann dann blutrot werden.
Er fiirchtet sich, auf der Grenze zwischen Genie und grotesker
Figur, oft lacherlich, also blofi grotesk zu sein. Daher seine
Tigerblicke, die ein ganzes Katzenraubtier sozusagen im Satz
nachschleppen. Ich bin noch nie liber einen Tiger so erschrocken.
Bei Delacroix : nur Schaustiick ; hier bei Rousseau : Entsetzlich-
keit. Und er hat die Katze doch bloB eingekafigt gesehen:
folglich wirft er sich tigerhaft auf die Kundschafter in seinem
Dschungel. Denn die kennt er, von Paris aus! Mit einem
Tigersprung beherrscht er seine Sumpfwildnis. Er weiB und
erzahlt uns von den Pflanzenspitzen und Blumenstickereien
vor Tropenhorizonten. Diese Pflanzen erschopfen den Sumpf:
fruchtbar gewordene Dschungelfurchtbarkeit wuchtet vor uns
in die Tigergegend mit Aufklarern. Welche Feuchtigkeit in
Stamm, Rohrgebilde und Blatt. Beinahe chinesische Mystik!
Rousseau ist ein guter, ein hauslicher Mensch, und er katz-
buckelt sehr bedrohlich, wenn man das Biirgerliche, das Philistrose
an ihm abgeschmackt findet. Er haBt ebenfalls das Biirgerliche,
um den Burger in Schutz zu nehmen. Oder auch: er haBt den
Burger, um das Biirgerliche zu verteidigen. Irgend etwas ist
ihm peinlich am Biirgertum, aber er liebt es doch.
240
Theodor D&ubler * Henri Rousseau
Rousseau ist ganz unliterarisch : schon aus diesem Grund
kein Futurist. Er bedeutet als Sondererscheinung sehr viel: in
der eigentlichen modernen Stromung konnte man ihn vorlaufig
iiberspringen. Wir sind aber iiberzeugt, dafi er unmerklich
en ruhigern Periode
muB er sehr bestimmten Einflufi gewinnen.
Etwas hat er gebracht, was die Futuristen anstrebten, ohne
auf ihrem Wege vorlaufig dazugelangt zu sein: den Mythos des
Luftschiffes. Wir meinen eine kleine Landschaft, „An der
Marne“, und dariiber einen beinahe noch ungelenken Doppel-
decker und einen unheimlichen Flugmollusken mit Menschen
in seiner Flohgondel. Im Griin der Gegend steht auch ein Haus,
um seine Beziehungslosigkeiten zu den Luftereignissen anzu-
deuten, unter Baumen. Nichts geht dort drin vor; es birgt keine
Poe-Romantik : die Leute drin habens gewiB sehr hauslich,
wahrend sich oben im Apparat die Insassen mit unglaublichen
Umstandlichkeiten abgeben miissen. Man denke, Menschen die
einen Drachen bewohnen! Und dort unten ists so einfach.
Rousseau ist der erste, der Telegraphenstangen kennzeichnen
konnte. Es wird zum Gewitter um Telephondrahte. Er ist der
ausdriicldich Beflissene um Starkstromkandelaber. Aber alles
das malt er in treuen Grautonen. In bescheidenem Kartoffel-
gelb. In gutmiitigem Feldbraun. Und auf einmal doch wieder
fast bengalisch erhellt bunt : wie vor Hagel und Blitz. Ja, dann
bliihen die Eisenbaume mit Drahtgezweige. Glasblau, porzellan
griin. Es wird sofort losgehn : blitzen.
Die Festungsmauern vor Paris: das silbrige Griingrau der
Bannmeile bei der Hauptstadt. Drin vor dem Diinngrau das
kurze Aprilgriin. Besonders frisch vor der GroBstadt : denn
sehr rasch kommts abermals zur Kahlheit der Baumgerippe.
Einsamkeit vor den Wallen : sogar Schonheit. Eigentlich fort-
wahrend etwas marzartig. Dabei melancholisch. Nervenbe-
ruhigend, wenn man bummeln geht. Was fur Leute wohnen in
der Vorstadt? Brave Biirgermenschen mit ihrem Familienhund.
Hexenhafte Weiber mit ihrer Leibkatze. Braute, die in ihrer
bereits viel gewirkt hat: in einer kiinftig
\A \
Theodor Ddubler ♦ Henri Rousseau
241
wcifien BrautauhnacKung zum erstenmal hafilich sind. Klein-
biirger zum photographieren.
Alles hat sich altmodisch-elegant angetan. Nach einer Uber-
einkunft nebeneinander aufgestellt. Artig, anstandig. Die Sonn-
tagsbinde klein und richtig aufs gestarkte Hemd gelegt. Den
Schnurrbart zurechtgewirbelt, nicht aufgewichst. Die Haare
etwas romantisch gekammt; aber ordentlich. Die Manner sind
oft ein wenig mannequinhaft, die Frauen leicht bosartig. Ver-
bissen altjungferlich : wenn das darzusteUen ist.
Haufig eine Familie auf dem Lande. Die Baume immer ein
Geheimnis : mystisches Geader mit belebenden Herzblattern.
Blattpflanzen mit griinenden Lungenfliigeln. Lauter wachsende,
bliihende Wandererlebnisse in einer menschenerfiillten Wald-
gegend. Der Stadthund ist auch mit hinausgelaufen, er ist so
frohlich, wie ein Hund von drauBen, wenn er in den Schnee
hinaus darf.
Niemand weifi soviel vom Winde zu erzahlen wie Henri
Rousseau. Vom Windhauch in den Baumen. Das ist wie der
Atem einer beseligenden Liebe. Ein Gliicksgeschenk an die
Welt.
Einmal flotet ein junger Mann im hin- und hergewehten
Griin. Sein Weib tragteine Rankenschlange. Em nackterKnabe
mochtedazu tanzen. Ein Hund bellt auf : aus der Tragikheraus,
ein Tier sein zu miissen, daB nicht in die Musik einbezogen
ward. Das Bild heiBt: „Das gliickliche Quartett“. Wir mochten
es ein Quintett nennen, denn eine grofie Blattpflanze hat teil
an der Weihe des Bildes. Auch ein hochgewordenes Graser-
biindel neben dem Mann (die groBe griine Blume aus Blattern
steht beim Weib), ist eine melodische Leibhaftigkeit in der
Gruppe. Also sogar ein Sextett? Die Baume zahlen nicht als
Einzelheiten mit ; sie sind Chor und gehoren dem kiihlenden
Hauch. In den Pflanzen am Boden hingegen ist Einzigkeit,
liebebediirftige Einzelheit: herzhafte Warme.
Botanisch betrachtet Rousseau seine wundervollen Blumen :
sie bleiben voll von Feuchtigkeit, obschon sie oft alle etwas
Asternhaftes unter seinem Schauen abkriegen. Nicht selten
242
Theodor Daubler * Henri Rousseau
reichen sie uns, Blatt fur Blatt, Alabasterhande : weich gezeich-
nete, deutlich veranschaulichte. Auch umgestlilpte Marzgerten,
betupft mit griinlichem Blatt gekn os pe, tragt ein braves Biirger-
madchen vom Lande nach Hause. Ihre Gedanken sind heimlich
einem Laden jiingling zugewandt. Malen lafit sie sich aber mit
einer Kattungardine in Van-Dyck-Aufmacbung. Sie steht vor
einem Gitter wie bei einem Vorstadtphotographen aus den ge-
schmackvollsten Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Die
Landscbaft hinter Gitter ist beinabe sienesisch, farbenmystisch.
Um ihren Kopf dammert ein rosa Schein wie um eine Konigin
der Seelen. Und sie selbst, wie steht sie da? Sie bleibt die
Hauptsache im Bild. Bestimmt: sie ist rundlich geworden, bevor
sie in die Ehe trat. Sie wird in Frieden zwei bis drei Kinder
bekommen.
Ein andres Bild: friedlich ists wirklich auf dem Gutshof,
unter weifigekleideten Kindern und schaumbeflaumten Gansen.
WeiBgewolk schaukelt sich in der Luft. Oben gibts also Wind.
An den geaderten, rostbraunen Baumen kann man nichts
merken. Ein Ahornblatt hangt etwas wie imWindhauch: es
konnte aber zufallig abgeknickt sein. Doch oben in den Wolken
gibts ein Hin und Her. Dabei kein beabsichtigter Kontrapunkt
der Farben. Grauliche Beschaulichkeit mit lila Einfallen und
weifien Verlautbarungen in der Farbenskala.
Sogar eine geschichtliche Feier : das Freiheitsfest. Ein harmlos
lustiger, ganz ungefahrlicher Wind hat sich von einem Hiigel
oder einer Mittagswolke losgemacht und ist in die Gesellschaft
der Menschen geeilt. Es wird soeben getanzt. Um einen Baum.
Fahnen sind in weiten Reihen gehifit: blau, weifi, rot. Letzte
Periickentrager sehn zu. Schnurrbartgendarmen mitDreimastem
auf den Kopfen bleiben backenknochig und rotwangig zugegen.
Vertreterinnen republikanischer Einfachheit stehn hinter Blatter-
gerank so vorteilhaft, dafi sich ihre Kleider auf dem Bilde herr-
lich geziert, warmatmig bestickt ausnehmen. Die da tanzen sind
Bauernvolk: derb und taumlerisch. Paris hat sie befreit. Paris
hat sie beschenkt. Pariser sehn beim Gewippe um den Freiheits-
baum zu. Auf unsichtbaren Drahten drehn sich ein paar Lam-
Theodor Daubler • Henri Rousseau
243
pions: blau, weifi, rot. Sie drehen sich im Windgetandel erst
um sich selbst und dann, etwas rascher , zuriick. Und so sehr
lange Zeit. Am Abend werden sie wohl angeziindet ; Warme
wird sie aufwartsdrangen : sie hangen aber fest, und folglich
werden sie sich beruhigen. Der eigne Warmhauch wird den
Tanz mit den Lauhauchen aufheben. Sie werden regungsloser
herab hangen: blau, weifi, rot.
Ein milder, ein ganz siiBer Friihlingshauch an der glitzem-
den Seine : Kastanienbaume ziehn soeben ihre goldgriinen At-
laskleider an. Wind legt silbeme Scharpen um die Frischge-
wandeten : in den Beeten iiber gutem Humus blaubraune und
gelbblaue Stiefmiitterchen . Ein ganz langer Zug von Malern
bewegt sich durch die Allee: es geht zu den „ Independants** .
Keine Jury darf hier die Hoffnungen nach schwerer Winter -
arbeit knicken.
Die anstandigen „freiesten“ Kiinstler erfiillen ihre Pflicht:
sie ziehen in ihren besten schwarzen Gewandern in Reihen
nach dem Ausstellungsgebaude. Einige sogar mit Schubkarren,
so viel Bilder wollen sie aufhangen. Die Wandgebiihr von 25 Fr.
haben sie ja entrichtet. Das ist ein riihrendes Bild von Rousseau :
er selbst ist auch unter den Pilgernden.
Er hat auch ein groBes, dickes Kind gemalt. Es steht mit
seinem Hampelmann im vergniigtesten Grim. In frischester
Luft: man merkts an den Blattem und Blumen. Drastisch ist
das Baby. Es hat nackte Waden und nackte Arme. Ein tolles
Erlebnis und bereits ein starker Stilausdruck.
So war Rousseau.
244
Gottfried Benn ♦ Die Reise
Gottfried Glenn :
DIE REISE
DOENNE wollte nach Antwerpen fahren, aber wie ohne
* ' Zerriittung? Er konnte nicht zu Mittag kommen. Er
mufite angeben, er konne heute nicht zu Mittag kommen, er
fahre nach Antwerpen. Nach Antwerpen, hatte der Zuhdrer
gedacht ? Betrachtung ? Aufnahme ? Sich ergehen ? Das erschien
ihm ausgeschlossen. Els zielte auf Bereicherung und den Aufbau
des Seelischen.
Und nun stellte er sich vor, er saBe im Zug und miiBte sich
plotzlich erinnern, wie jetzt bei Tisch davon gesprochen wiirde,
dafi er fort sei ; wenn auch nur nebenbei, als Antwort auf eine
kurz hingeworfene Frage, jedenfalls aber doch so viel, er seiner-
seits suche Beziehungen zu der Stadt, dem Mittelalter und den
Scheldequais .
Erschlagen fiihlte er sich, SchweiBausbriiche. Eine Kriimmung
befiel ihn, als er seine unbestimmten und noch gar nicht ab-
sehbaren, jedenfalls aber doch so geringen und armseligen
Vorgange zusammengefaBt erblickte in Begriffen aus dem Le-
bensweg eines Herrn.
Ein Wolkenbruch von Hemmungen und Schwache brach auf
ihn nieder. Denn wo waren Garantien, daB er iiberhaupt etwas
von der Reise erzahlen konnte, mitbringen, verlebendigen, daB
etwas in ihn trate im Sinne des Erlebnisses ?
GroBe Rauheiten, wie die Eisenbahn, sich einem Herrn
gegeniiber gesetzt fiihlen, das Heraustreten vor den Ankunfts-
bahnhof mit der zielstrebigen Bewegung zu dem Orte der
Verrichtung ; das alles waren Dinge, die konnten nur im Ge-
heimen vor sich gehen, in sich selber erlitten, trostlos und tief.
Gottfried Benn ♦ Die Reise
245
Wie war er denn iiberhaupt auf den Gedanken gekommen,
zu verlassen, darin er seinen Tag erfiillte ? War er tollkiihn,
herauszutreten aus der Form, die ihn trug? Glaubte er an
Erweiterung, trotzte er dem Zusammenbruch ?
Nein sagte er sich, nein. Ich kann es beschworen: nein. Nur
als ich vorhin aus dem Geschaft ging, nach Veilchen roch man
wieder, gepudert war man auch, ein Madchen kam heran mit
weiBer Brust, es erschien nicht ausgeschlossen, daB man sie
eroffnet. Es erschien nicht ausgeschlossen, daB man prangen
wiirde und stromen. Ein Strand riickte in den Bereich der
Moglichkeiten, an den die blaue Brust des Meeres schlug. Aber
nun zur Versohnung will ich essen gehn.
Durch Verbeugung in der Tiire anerkannte er die Individua-
litaten. Wer ware er gewesen ? Still nahm er Platz. GroB
wuchteten die Herren.
Nun erzahlte Herr Jansen von den Eigentiimlichkeiten einer
tropischen Frucht, die einen Kern enthalte von Eigrofie. Das
Weiche aBe man mit einem Loff el , es habe gallertartige Kon-
sistenz. Einige meinten, es schmecke nach NuB. Er demgegen-
iiber habe immer gefunden, es schmecke nach Ei. Man aBe es
mit Pfeffer und Salz. Es handelte sich um eine schmackhafte
Frucht. Er habe davon des Tages 3—4 gegessen und einen
ernstlichen Schaden nie bemerkt.
Hierin trat Herrn Korner das AuBerordentliche entgegen.
Mit Pfeffer und Salz eine Frucht ? Das erschien ihm ungewohn-
lich, und er nahm dazu Stellung.
Wenn es ihm doch aber nach Ei schmeckt, wies Herr Mau
auf das Subjektive des Urteils hin, gleichzeitig etwas weg-
werfend, als ob er seinerseits nichts Uniiberbriickbares sahe.
AuBerdem so ungewohnlich sei es doch nun nicht, fiihrte Herr
Offenberg zur Norm zurvick, denn z. B. die Tomate? Wie nun
vollends, wenn Herr Kritzler einen Oheim aufzuweisen hatte,
der noch mit 70 Jahren Melone mit Senf gegessen hatte, und
zwar in den Abendstunden, wo Derartiges bekanntlich am
wenigsten bekommlich sei?
r.V.V.V.V.V
246
Gottfried Benn ♦ Die Reise
Alles in allem : Lag denn in der Tat eine Erscheinung von
so ungewohnlicher Art vor, ein Vorkommnis sozusagen, das
die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich zu lenken geeignet
war, sei es, weil es in seinen Verallgemeinerungen bedenkliche
Folgeerscheinungen hatte zeitigen konnen, sei es, weil es als
Erlebnis aus der besonderen Atmosphare des Tropischen zum
Nachdenken anzuregen geeignet war?
Soweit war es gediehen, als Roenne zitterte, Erstickung auf
seinem Teller fand und nur mit Miihe das Fleisch afi.
Ob er aber nicht doch vielleicht eine Banane gemeint habe,
bestand Herr Korner, diese weiche, etwas miirbe und langliche
Frucht?
Eine Banane, wuchs Herrn Jansen auf? Er, der Congokenner ?
Der langjahrige Befahrer des Moabangi ? Nein das notigte ihm
geradezu ein Lacheln ab! Weit entschwand er viber diesem
Kreis. Was hatten sie denn fiir Vergleiche? eine Erdbeere oder
eine NuB, vielleicht hie und da eine Marone, etwas siidlicher.
Er aber, der beamtete Vertreter in Hulemakong, der aus den
Dschungeln des Jambo kam?
Jetzt oder nie, Aufstieg oder Vemichtung, fiihlte Roenne,
und : wirklich nie einen emstlichen Schaden bemerkt ? tastete
er sich beherrschten Lautes in das Gewoge, Erstaunen malend
und den Zweifel des Fachmanns : Vor dem Nichts stand er ;
Ob Antwort kame ?
Aber safi denn nicht schlieBlich auf dem Stuhl aus Holz er,
schlicht umrauscht von dem Wissen um das Gefahrvolle der
Tropenfrucht, wie in Sinnen und Vergleichen mit Angaben und
Erzahlungen ahniicher Erlebnisse, der schweigsame Forscher,
der durch Beruf und Anlage wortkarge Arzt? Diinn sah er
durch die Lider, vom Fleisch auf, die Reihe entlang, langsam
erglanzend. Hoffnung war es noch nicht, aber ein Wehen ohne
Not. Und nun eine Festigung: mehreren Herren schien in der
Tat die nochmalige Bestatigung dieser Tatsache zur Behebung
von etwa aufgestiegenen Bedenken von Wert zu sein. Und nun
war kein Zweifel mehr: einige nickten kauend.
<*
Gottfried, Benn * Die Reise
247
Jubel brach aus, Triumphgesange. Nun halite Antwort mit
Aufrechterhaltung gegeniiber Zweiflern, und das gait ihm. Ein-
reihung geschah, Bewertung trat ein ; Fleisch afi er, eln wohl-
bekanntes Gericht; AuBerungen kniipften an ihn an, zu An-
sammlungen trat er, unter ein Gewolbe von groBem Gliick;
selbst Verabredung fiir den Nachmittag zuckte einen Augenblick
lang ohne Erbeben durch sein Herz.
Aus Erz saBen dieManner.Voll kosteteRoenne seinenTriumph.
Er erlebte tief, wie aus jedem der Mitesser ihm der Titel eines
Herrn zustieg, der nach der Mahlzeit einen kleinen Schnaps
nicht verschmahte und ihn mit einem bescheidenen Witzwort
zu sich nimmt, indem Ermunterung fiir die andern, aber auch
die entschiedene Abwehr jeghchen iibermaBigen Alkoholgenusses
eine gewisse Atmosphare der Behaglichkeit verbreitete. Der
Eindruck der Redlichkeit war er und des schlichten Eintretens
fiir die eigene Uberzeugung; aber auch einer anderweitigen
Auffassung gegeniiber wiirdeer gern zugeben: da ist was Wahres
dran. Geordnet fiihlte er seine Ziige; kiihler Gelassenheit, ja
Unerschiitterlichkeit auf seinem Gesicht zum Siege verholfen;
und das trug er bis an die Tiir, die er hinter sich schlofi.
Schattenhaft ging er durch den Gang, nun wieder 1m Gefiihl
des Schlafes, in den man sank, ohne einen Wirbel iiber sich zu
lassen, negativ verendet, nur als Schnittpunkt bejaht. Zwei
Huren wuschen den Gang auf, von weitem schon ihn wahr-
nehmend, aber sich in die Arbeit versunken stellend, bis er da
war. Nun erst trat in die Augen das jahe Erkennen, Keuschheit
und Verheifiung aus der Reife des Bluts.
Roenne aber dachte, ich kenne euch Tiere, iiber 300 Nackte
jeden Morgen! aber wie stark lhr die Liebe spielt! Eine kannte
ich, die war an einem Tag von Mannern einem Viertelhundert
der Rausch gewesen, die Schauer und der Sommer, um den
sie bliihten. Sie stellte die Form, und es geschah das Wirkhche.
Ich will Formen suchen und mich hinterlassen, Wirkhchkeiten
eine Hiigelkette, o von Dingen ein Gelande !
Er trat aus dem Haus. Helle Avenuen waren da, Licht voll
Entriickung, Daphneen im Erbliihn. Es war eine Vorstadt;
248
Gottfried Benn * Die Reise
Armes aus Kellern, Kriippel und Graber, soviel Ungelacht.
Roenne aber dachte, jeder Mensch, dem ich begegne, ist noch
ein Sturm zu seinem Gliick. Nirgends meine schwere, drangende
Zerriittung.
Er ging langsam, er schiirfte sich vor. Es war eine ungewohnte
StraBenstunde, ihm seit Monaten nicht mehr bekannt. Er
blatterte das Entgegenkommende bebutsam auseinander mit
seinen tastenden, an der Spitze leicht ermtidbaren Augen.
Aufzunehmen gilt es, rief er sich zu, einzuordnen oder prii-
fend zu iibergehn. Aus dem Einstrom der Dinge, dem Rauschen
der Klange, dem Fluten des Lichts die stille Ebene herzustellen,
die er bedeutete.
Es war eine fremde Gegend, durch die er ging, aber es mochte
immerhin ein Bekannter kommen und fragen, woher und wohin.
Und obschon er einen Patienten jederzeit hierfiir zur Hand
gehabt hatte, so war es doch nicht der Fall, und ihm graute
vor dem Erlebnis, vor dem er stehen wiirde : daB er aus dem
Nichts in das Fragwiirdige schritt, im Antrieb eines Schatten,
keiner Verknotung machtig und dennoch auf Erhaltung rechnend .
Scheu sah er sich um ; hohnisch standen Haus und Baum ;
unterwiirfig eilte er vorbei. Haus, sagte er zum nachsten Ge-
baude, Haus, zum ubernachsten ; Baum, zu alien Linden seines
Wegs. Nur um Vermittlung handele es sich, in Unberiihrtheit
blieben die Einzeldinge ; wer ware es gewesen, an sich zu nehmen
oder zu ubersehen oder, sich auflehnend, zu erschaffen? Ein
bischen durch die Sonne gehen, mehr wollte er ja nicht; es
warm haben, und der Himmel hatte ein Blau: nie endend,
miitterlich und sanft vergehend.
Weit war er noch nicht von seinem Krankenhaus entfernt,
da iibermannte ihn schon die Not. Wohin trug er sich denn,
etwa in das All? War er der Traumer denn, weich streifend
den Hang, oder derHirt auf den Hiigeln? Trat an die Mai-
kastanie vielleicht er, den Ast beklopfend mit dem Hornmesser,
bis in Saft vom Zweige die Rinde glitt und wurde die gehohlte
Flote? Gesange, hatte sie er? War er vielleicht der Freie, der in
Segeln schritt, und uberall die Erde, loschend mit seinem Blick ?
Gottfried Benn * Die Reise
249
O, er war wohl schon zu weit gegangen ! Schon schwankte vor
der Strafie Feld, unter gelben Stiirmen gefleckter Himmel, und
ein Wagen hielt am Saum der Stadt. Zuriick! hiefi es, denn
Heran wogte das Ungeformte, und das Uferlose lag lauernd.
Nun nahm ihn wieder die Strafie auf, schnurgerade und unter
einem flachen Licht. Von Tiir zu Tiir lief sie, und sachlich um
den Fufi der Botenfrau ; aus den Kellem iiber sie wehte die Kiiche
Nahrungund Notdurft; vor dem Spiegel der Herr kammte achtbar
seinen Bart ; ldang der Fufi auf Metall, sorgte fur Entwasserung
das Gemeinwohl ; lag ein Gitterchen an der Mauer, kam im Winter
nicht der Frost, und in ihr Recht traten Forder und Schacht?
Wie einsam steht es um die Strafie, daebte Roenne, sie ist
eindeutig fixiert und wird entwicklungsgeschichtlich kaum durch-
dacht; aber schon und sicher ist es, hier zu wandeln, so dicht
am Leib miindet sie, und eigentlich ist es kein Gehen mehr,
sondem ein Traumen auf dem Riicken des Zwecks.
Dann prangten zwischen Pelz und Locken Damen in den
Abend ihr Geschlecht. Bliihen, Ziingeln, Fliedem der Scham
aus Samt und Bander iiber Hiiften. Roenne labte sich an dem
Geordneten einer Samtmantille, an der restlos gelungenen Unter-
ordnung des Stofflichen unter den Begriff der Verhiillung ; ein
Triumpf trat ihm entgegen zielstrebigen, kausal geleiteten
Handelns. Aber — und plotzlich sah er die Frau nackt — diese
nicht; es miifite die Emiichterte sein, die sich noch einmal
kriimmen liefie.
Da trat ein Herr auf ihn zu, und ha ha, und schon Wetter,
ging es hin und her, Vergangenheit und Zukunft eine Weile
im kategorialen Raum. Als er fort war, taumelte Roenne. Sie
alle lebten mit Schwerpunkten auf Meridianen zwischen Refrak-
tor und Barometer, er nur sandte Blicke iiber die Dinge, gelahmt
vonSehnsiichten nach einem Azimuth, nach einer klaren logischen
Sauberung schrie er, nach einem Wort, das ihn erfafite. Wann
wiirde er der erzene Mann, um den tags die Dinge brandeten
und des Nachts der Schlaf, der gelassen vor einem Bahnhof
stande, wieviel Erde es auch gabe, der Verwurzelte, der Un-
erschiitterliche?
250
Gottfried Bonn * Die Reise
Reisen hatte er gewollt; aber nun schienen Gleise iiber die
StraBe, und schon sank sein Blick. Oh, daB es eine Erde gab,
wirklich griin, stark irden, silbem verfernt, iiber die die Augen
strichen, wie ein Fltigel, und Stadte, flache weiBe, an Kiisten ,
und Kutter, braune, die man hinnahm, liebte und vergaB.
Oder ein Leben um das Radwerk einer Uhr ; um Hyazinthen-
knollen die Hand; die Schulter, die das Fischnetz zog, silbem,
und ihr Abwurf auf den Strand.
Da, durch die helle diinne Luft, in die die Knospen ragten,
und unter dem ersten Stern, kam eine Frau vorbei und toch
blau und langte Roenne nach dem Schadel und legte ihn tief m
den Nacken, bettend, und iiber der Stim stand die friiheNacht.
Roenne schluchzte auf : wer knirschte so tief wie ich unter
dem Stoff, wer ist so geknechtet von den Dingen nach Zu-
sammenhang als ich, aber eben dies schweifende Gewasser, tief,
dunkel und veilchenf arben , aus dem Aufklaff einer Achsel —
mich staubt Zermalmung an.
Zwischen die Strafien rinnt Nacht, iiber die weiBen Steine
blaut es, es verdichtet sich die Entriickung; die Straucher
schmelzen, welches Vergehn!
Nun fiel ein Regen und Ioste die Form. Wohnungen traten
unter Iaues Wasser, in Friihlingsgewolke stand alle Stadt. Uber
ihr aber schwebte er, entriickt, einsam, mit einer Krone irgend
woher. Jah wurde er der Herr mit Koffer, der auf die Reise
ging durch Aue und Land. Schon wogten Hiigel heran, weich
bewaldert; nun briiderlich die Acker; die Versohnung kam.
Er sah die Strafie entlang und fand wohin.
Einrauschte er in die Dammerung eines Kinos, in das Un-
bewuBte des Parterres. In weiten Kelchen flacher Blumen bis
an die verhiillten Ampeln stand rotliches Licht. Aus Geigen
ging es, nah und warm gespielt, auf der Riindung seines Hims,
entlockend einen wirklich siiBen Ton. Schulter neigte sich an
Schulter, eine Hingebung; Gefliister, ein ZusammenschluB ;
Betastungen, das Gluck. Ein Herr kam auf ihn zu, mit Frau
und Kind, Bekanntschaft zuwerfend, breiten Mund und frohes
Lachen. Roenne aber erkannte ihn nicht mehr.
Gottfried Betttt ♦ Die Reise
251
Er war eingetreten in den Film, in die scheidende Geste,
in die mythische Wucht.
GroB vor dem Meer wolkte er um sich den Mantel, in hellen
Bnesen stand in Falten der Rock ; durch die Luft schlug er wie
auf ein Tier, und wie kiihlte der Trunk den Letzten des Stamms.
Wie er stampfte, wie riistig blahte er das Knie. Die Asche
streifte er ab, lassig, benommen von den groBen Dingen, die
seiner harrten aus dem Brief, den der alte Diener brachte, auf
dessen Knien der Ahn gescbaukelt.
Zu der Frau am Bronnen trat edel der Greis. Wie stutzte die
Amine, am Busen das Tuch. Wie holde Gespielin! Wie Reh
zwischen Farren! Wie ritterlicb Weidwerk! Wie Silberbart!
Roenne atmete kaum, bebutsam, es nicht zu zerbrechen. Denn
es war vollbracht, es hatte sich vollzogen.
Uber den Triimmern einer kranken Zeit hatte sich zusam-
mengefunden die Bewegung und der Geist, ohne Zwischentritt.
Klar aus den Reizen segelte der Arm ; vom Licht zur Hiifte,
ein heller Schwung, von Ast zu Ast.
In sich rauschte der Strom. Oder wenn es kein Strom war,
ein Wurf von Formen, ein Spiel in Fibern, sinnlos und das Ende
um alien Saum.
Roenne, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt, zerfallend,
von blauen Buchten benagt, uber den Lidern kichernd das Licht.
Er trat auf die Avenue. Er endete in einem Park.
Dunkel drohte es auf, bewolkt und schauernd, wieder aus
dem Gefiihl des Schlafs, in den man sank, ohne einen Wirbel
uber sich zu lassen, negativ verendet, nur als Schnittpunkt be-
jaht ; aber noch ging er durch den Friihling, und er schuf sich
an den hellen Anemonen des Rasens entlang und lehnte an
eine Herme, verstorben weiB, ewig marmorn, hierher zerfallen
aus den Briichen, vor denen me verging das siidliche Meer.
252 Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient
Xoudwig Q{ubiner
LEGENDE VOM ORIENT
Tjie Menschen brauchen Berater. Sie brauchen im Menschen -
tum Fiihrer. Statt dessen haben sie Krieg.
Und warum werden gerade die feinsten Menschen nicht
Fiihrer ? Warum nicht gerade die edelsten, lautersten, wissend-
sten ? Warum nicht die Sohne der Erkenntnis ? Weil gerade sie
aus lauter Wissen, Edelmut, Anstandigkeit verhaspelt sind in die
diimmste Modemeinung; verfangen ganz im Elend der Ab-
hangigkeit von Gewesenem. Weil sie Optimisten irgend einer
vagen Zukunft sind, die, meinen sie, erfiillet wiirde, auch wenn
man nichts dafiir tut. Unter den Besten, Fahigsten und Den-
kendsten geht immer noch der Aberglaube um, wer Erkennt-
nisse habe, der sei losgesprochen und frei von dem lauten Kampf,
von dem offentlichen Bemiihen um andere Menschen ; entbunden
von jener Durchzwingung der Meinungen, die ja eine Erkenntnis
erst zur Verwirklichung bringen kann : entbunden von der Pro-
paganda.
Aber Ende und Tod beginnt, wenn der Edle, Lautere, Feine
aus Angst vor der Verantwortung, aus Drang in die ruchlose
Isolation des Gelehrten : beginnt, alles was edel, lauter, fein in
ihm ist, zu klassifizieren ; alles, was zukiinftig an ihm ware, als
angeblich langst GewuBtes zu historisieren. Wenn er daran
geht, alles, was er erwunscbt, zu einer bloBen Denkkategorie
zu gestalten.
Die Edlen, Lauteren, Anstandigen haben sich nicht iiber ihr
Schicksal zubeklagen. Sie haben es besser zu machen. Sie haben
ihre Feinheit, Lauterkeit, Edelart nicht zu betrachten, sondern sie
haben sie durchzusetzen. Sie haben sich fur sie zu entscheiden.
Sie haben sich zu entscheiden.
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
253
Ein Wort Emersons: „Wehe, wenn der Allmachtige einen
Denker auf diese Erde sendet. Dann ist alles in Gefahr. Es
ist, als ware ein Brand in einer groBen Stadt ausgebrochen, und
keiner weiB, was aufier Gefahr ist, und wie alles enden wird.
Da ist kein Teil in der Wissenschaft, der nicht morgen eine
Veranderung seiner Lage erfahren sollte, kein literarischer Ruf,
keine sogenannten ewigen Namen des Ruhms, die nicht einer
Priifung unterzogen und verurteilt wiirden. Die besten Hoff-
nungen eines Menschen, die Gedanken seines Herzens, die
Religion der Volker, die Sitten und Morallehren der Menschheit,
alle smd der Gnade einer neuenVerallgemeinerungunterworfen.
Verallgemeinerung bedeutet stets ein neues Einstromen der
Gottheit in den Geist. Daher auch der Schauer, der sie begleitet."
Aber heute sind die Menschen bereit, einem Denker zu folgen.
Nach soviel Grauen ist ihnen keine Erschiitterung der Welt, die
vom Geiste kommt, mehr grauenhaft. Nach soviel Gefahr fur
die Menschheit ist jede Anderung der Welt aus dem Geiste nur
himmlische Sicherheit. Und der Schauer, der eine neueVerall-
gemeinerung begleitet, ware heute nur ein Schauer des Glucks.
Wo diese neue Verallgemeinerung — das vollige Aufstrahlen
unseres realen, taglichen Lebens in einer unbedingten Fiihrung
des Geistes — wo das zu suchen sei, ist die Frage. Sehr edle,
ganz lautere Menschen bieten sich an. Kopfe, deren jedes Stuck
ihrer Lebensgrammatik bis heute hochweihevolle Anstandigkeit
war. Sie sagen, der neueWeg der Menschheit fiihre zu einer
tatsachhchen Unio mystica des Abendlandes mit dem Geiste
des Orients. Die Briicke zwischen beiden sei das Judentum.
Wolle man die Moglichkeit dieses neuenWeges erforschen, so
konne man sie vor allem an der Realitat des Judentums priifen.
Der bedeutendste Sprecher dieser Gruppe, ihr wortmachtig-
ster, klarster Reprasentant ist Martin Buber. Das groBeWissen,
die Strenge gegen sich selbst und die Leidenschaft des Schrift-
stellers geben es Buber an die Hand, die Ideen der Menschen,
welche er vertritt, am umfassendsten und am tiefsten darzu-
stellen. Man hat kein besseres Mittel, diese Ideen zu priifen,
als in Bubers letztem Buch. Dieses Buch ist programmatisch.
42 Vol. m/i
Ludwig Rubiner * Legtnde vom Orient
es vereinigt mit Aufsatzen seine drei Reden vom Judentum. Das
Buch: Qeist des Oudeni urns' ‘ erschien in eben diesen
Wochen bei KurtWolff, dem LeipzigerVerlage, der dasVerdienst
hat, oft programmatische Literatur unserer Zeit zu veroffent-
lichen. Bubers person lichesVerdienst ist es, dieVoraussetzungen
derer, fur die er spricht, ganz aufierordentlich gut formuliert
zu haben.
*
DieVoraussetzungen seien zwei groBe, differente Menschen-
typen. Sie werden der „motorische Mensch“ und der „senso-
rische Mensch“ benannt. Der sensorische Mensch sei im Abend-
lander zu finden, im Europaer, historisch am gepragtesten im
Hellenen. Dieser sei der Rezeptive, der Mensch, der seine Urn-
welt aufnimmt und daraus die Welt findet. Sein Gegensatz, der
motorische Mensch, trage unter dem Drucke einer Idee seine
Welt in die Umwelt hinein. Der motorische Mensch sei der
orientalische Mensch. Der reinsteTypus des motorischen Men-
schen liege im fiir uns sichtbarsten Typus des Orientalen: im
Juden.
Lassen wir zunachst die Frage offen, obwirklich die Begriffe
Abendland — Sensorium, und orientalisch = Motor sich dek-
ken. Jedenfalls, den ,,sensorischen“ Menschen, den Menschen
seiner Umwelt, kennen wir reichlich. Aber sehr wenig kennen
wir den motorischen Menschen, den unbedingt Handelnden.
Er ist einfach seltener. Soviel seltener, als wirkliches Handeln
seltener ist denn Stimmung ; Mitgerissen sein ; Hingabe, noch
ehe dasWissen um Hingabe da ist, im Genufi.
Die Formeln fiir einen sensorischen und einen motorischen
Menschentypus werden als erste Voraussetzung fiir alles Kom-
mende aufgestellt ; aus Griinden, die noch klar werden.
Hier ist zu sagen: Definitionen diirften diesen Platz nicht
einnehmen. Es sind keine Voraussetzungen. Fragen wir nach
dem unbedingt handelnden Menschen, so miiBten wir auch
die starkste Konsequenz ertragen konnen. In Wahrheit sind die
ersten Voraussetzungen fiir den handelnden Menschen: Glau-
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
255
bigkeit. Wissen um das Absolute
serung des Absoluten in der Welt (Geist). Unbedmgtes Durch-
drungensein von dem Kritenum : Wert. Und vor allem : der han-
delnde Mensch ist ein offentlicher Mensch, kem Pnvatwesen.
Eln Mensch des Zusammenhanges, nicht der Isolation. Das
sind die Vorbedingungen fiir die Konstitution des handelnden
Menschen. Man kann lhn, wenn man durchaus will, auch
„motorisch“ nennen. Ob er Onentale oder Abendlander ist,
spielt, wie man sieht, bereits keine Rolle mehr.
Nun heifit es aber: ,,Beide (der motorische und der sensori-
sche Mensch) denken; aber des einen Denken meintWirken,
des andern Denken meint Form.'4 Aber Wirken — wofiir?
Form — wovon? Allzulange horen wir schon das geheimnis-
volle Murmeln der Form-Theorien. Wir machen das nicht
mehr mit! Denn diese vage, doch in sich selbst schon selig ver-
sinkende, inzuchtartige Setzung der Form an sich konnte nur
moglich sein in einem Zeitalter des unsichersten Relativismus.
In einer Zeit, die den blofien Schein einer Sicherheit schon als
Beruhigung und die Sicherheit selbst aufnimmt. — Vor der Idee
des Absoluten verhert aber „Form“ jede Selbstandigkeitsbe-
deutung. Und ,, Wirken" kann doch nur im Sinne desWirkens
zur Formwerdung von Geistigem ausgesprochen werden, im
Sinne der Verwirldichung. Worin sollte denn Wirken sich aus-
sern, wenn nicht in Form. Aber beide, selbst zu Zwecken der
Definition, als Gebilde an sich zu trennen, ist mWahrheit nur
Vermischung. Wird das gut gemacht dadurch, dafi wir es mit
Verwirrern nur aus Liebe zu tun haben? mitVermischern aus
ubergrofier Gerechtigkeit gegen Gewesenes, heute schon Form-
Seiendes; und daft alles dieses von einer tiefen Befangenheit in
mancherlei Neo-Renaissancevorstellungen ausgeht.
,,Der Eindruck, der einen der Sinne des motorischen Men-
schen trifft, geht als Stofi durch alle, und die spezifischen
Sinnesquahtaten erblassen vor der Wucht des Gesamtzustandes."
— Eindruck? Aber welche Welt liebhchster Stillebenmalerei
spricht hier zu uns? Nein, es handelt sich nicht um Fragen
des Zeitstils, nicht um abgetanen Impressionismus ; das ware ja
(Gott). Kenntnis der Aus-
256
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
nur aufierlichstes Symptom. Sondem da rum, daB „Eindruck“
nur da eine Rolle spielt, wo noch die Gipfelung der Relativitats-
philosophie aus dem neunzehnten Jahrhundert die Hauptsache
ist, namlich im sogenannten Grfebnis. Daher spater der ganz
folgerichtige Anbau : „ Wie der Okzidentale die Bewegung, die
bewegte Erscheinung der Welt aus seiner Empfindung begreift,
so ist es dieses sein Wissen um den Kern und Sinn seines Lebens,
aus dem er den Kern und Sinn der Welt erschliefit.“
Em-
pfindung? Nein. Denn nicht Erlebnis treibt zum Handeln,
treibt zu irgendetwas iiberhaupt, sondern der Geist. Wissen ?
Aber wo ist das Kriterium des Wissens, wenn nicht im Abso-
luten? Beim motorischen Menschen sei, nach jener Empfin-
dungshypothese, „das Sehen nicht souveran, es dient nur der
Vermittlung zwischen der bewegten Welt und der latenten Be-
wegung des eigenen Leibes, der befahigt ist, jene mitzuempfinden
und mitzuleben
Die Bewegung der Welt ist es, die er mit
dem Gesicht wie mit den andern Sinnen aufnimmt, und die
sich in ihm fortpflanzt.“ Es ist doch die Rede vom handelnden
Menschen. So mufi man gegen diesen Irrtum feststellen : der
Leib ist vor Gott nicht dazu da, um die Bewegung mitzu-
machen, sondem um sie zu machen ! — Vor lauter Differenzen
kommt es oft zur Flachheit: „Er (der motorische Mensch)
wird weniger des Umrisses inne als der Gebarde; weniger des
Nebeneinander als des Nacheinander“. Aber erstlich ist „Ge-
barde“ schon ein Ruhendes, daher auch in der Hofmannsthal-
zeit ein mit Vorliebe zu verschlafener Pseudo-Bewegtheit be-
nutzter Ausdmck. Und dann: Fur den Handelnden gibt es
kein „Nacheinander“, ebensowenig wie dessen Schulgegensatz,
das „Nebeneinander“ (als Ruheangelegenheit). Die Aufstellung
solcher Gegensatze ist die Konsequenz des philosophischen
Naturalismus von Hochrenaissance-Ideen. „Der motorische
Mensch (der orientalische) spurt die Welt mehr, als er sie wahr-
nimmt ; denn sie erfafit und durchfahrt ihn, sie, die dem Okzi-
dentalen gegeniibertritt.“ Aber das ist einfach nicht richtig.
Denn es gilt ja nur: unter Gott stehen (oder Gott vergessen
haben)! — „Der Okzidentale", meint die Empfindungshypo-
Ludwig Rubtner ♦ Legende vom Orient
257
these, — „begreift seine Empfindung aus derWelt.derOrientale
die Welt aus seiner Empfindung." Aber es handelt sich nicht
urns „Begreifen", sondern ums Handeln! Das Handeln wird
uns diktiert. Ja, gabe es Unterschiede im Handeln. Aber es
gibt nur den einen : von Gott gerufen sein und handeln, oder
Gott vergessen und ruhen. Dieselbe relativistische Willkur, die
das Wissen des Orientalen um den Sinn der Welt aus der Em-
pfindung hypostasierte, zieht auch den Schlufi: „Der Orientale
tragt die Wahrheit im Kern seines Lebens und findet sie in der
Welt, indem er sie ihr gibt.“ Aber woher das Wissen der
Wahrheit? Und scheint nicht hier eine Art von umgekehrtem
Hegel aufgestellt zu sein, etwa : „alles, was „gegeben“ werden
kann, ist Wahrheit!" Doch das ware Gehirnspiel innerhalb
eines Kreises von Definitionen.
Aile diese Voraussetzungen erwiesen sich, aus Mangel an
notigeren, starkeren ersten Voraussetzungen, als geriistlos.
Das Hauptthema derer, fiir die Buber spricht: ,,Die einige
Welt soli — und hier begegnen einander alle groBen asiatischen
Religionen und Ideologien — nicht bloB konzipiert, sie soil
realisiert werden. Sie ist dem Menschen nicht gegeben, sondern
aufgegeben ; es ist seine Aufgabe, die wahre Welt zur wirk-
lichen Welt zu machen." Das ist sehr schon. Und jeder von
uns nimmt diese klare und selbst schon ethisch wirkende Be-
stimmung der Ethik froh an. Aber — im Falle am Ende ,,Ethik"
cils etwas Asiatisches leicht verdachtig gemacht werden soil,
gegeniiber dem abendlandischen Sensoriker, dem hellenischen,
angebhch anethischen Menschen — hier gilt es zu erklaren:
Wir sind nicht Asiaten. Doch selbst wenn Ethik etwas Boto-
kudisches ware, dann noch sind wir fiir sie!
„Hier bewahrt sich der motorische Charakter des Orientalen
in seiner hochsten Sublimierung : als das Pathos der Forderung."
Es gibt gewiB nichts Starkeres auf der Welt als das Pathos der
Forderung. Haben wir andere Aufgaben, als immer wieder,
immer mehr zu fordern, fordern, fordern! Aber, wenn man
die Forderung als Ausdrucksart eines blofien Sondertypus der
Menschheit verdachtigt, macht man siedamit nur unwirksamer.
258
Ludwig Rubiner * Lcgende vom Orient
Doch die Forderung ist die hochste Stufe des scHaffenden und
zeugenden Menschen (nicht des Orientalen allein). Wie man
sie unwirksam, heillos macht, dessen ein Beispiel: „Die For-
derung mag durch eine aanz innerfiefie ’at erfiillt werden;
someintes der Inder der Vedanta, der, das Gewebe des Scheins
zerreiBend, sein Selbst als mit dem Selbst der Welt identisch
erkennt und die wahre, die einzige Welt in der allumfassendsten
Einsamkeit seiner Seele verwirklicht." Aber das ist Unfug:
Diese angeblich innerliche Tat ist keine Tat, Die Verwirk-
lichung in der allumfassenden Einsamkeit der Seele ist nicht
umfassend; schlimmer noch: nicht einmal um ein Gran ver-
wirklicht! Macht denn einer dem Krieg ein Ende, wenn er in
der allumfassenden Einsamkeit seiner Seele den Frieden aller
Nationen verwirklicht? Nein, er verwirklicht gar nichts. Er
umfiihlt nur wohlwollend irgendeine Verwirklichung, die andere
tun. Das ist billig, denn er brauchte sich nicht zu enfsc/ieiden.
Erste Bedingung zum Menschentum heifit : Entscheidet Euch !
Das Thema der Entscheidung gehort ja zum Wichtigsten im
ganzen Leben des Menschen. Keine Handlung ohne Entschei-
dung, ohne Parteinahme fur einen absoluten Wert. Aber man
sollte es doch nicht mit einer Sonderphilosophie umspielen;
man schwacht es sonst ! „Der Jude bringt die Welt zur Einheit,
indem er sic6 enis<£ eidet. ' ‘ Nur der Jude? Warum die Angst
davor, jedem Menschen die Entscheidung nahezubringen ? „Der
in der Entscheidung steht, weifi nichts, als dafi er zu wahlen
hat, und auch das weifi er nicht mit dem Denken, sondern mit
demSein.“ Das ist tief richtig. Aber ist es nur jiidisch? Nein, es
ist menschliches Urphanomen. Wie konnten diese Einsichten
statt Stichworte einer Gruppe — Aufrufe zur Humanitas werden ;
es fehlt immer nur erne kleine Menschlichkeits-Sekunde daran.
„In Wahrheit wirkt die Tat tief und heimlich ins Schicksal der
Welt, und wenn sie sich auf ihr gottliches Ziel, die Einheit
besmnt, wenn sie sich von der *B edingtheit fosmaefit und im
eigenen Lichte, das ist im Lichte Jahves, wandelt, ist sie frei
und gewaltig wie Gottes Tat. . . Was Europa fehlt, ist die
Ausschliefilichkeit der Kunde vom wahrhaften Leben, die ein-
Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient
geborene Gewifiheit, jenes Gins tut not. Dies ist es, was in den
groBen Lehren des Orients und einzig in ihnen schopferisch
besteht. Sie setzen das toahrhafte Leben als das fundamental,
von nicftts anderem abgefeitete, auf nic6ts anderes zurudc*
zufuhrende m efapdgsische tyr inzip ; sie verkiinden den Weg.“
Man lese das nicht als verantwortungslose Weisheit, sondern
als Aufruf, und es ist herrlich. Es bat mit der ganzen Welt der
Menschen zu tun. Aber aus einem unsichtbaren Winkel schwebt
ein Schatten von Angst und Hochmut voriiber ; und alles, was
schon, mutig, wirklich ist, wird vom Menschen abgezogen und
dem orientalischen Menschen zugeschoben. (Dabei: fragte man
heute die Schopfer unserer Zeit, Maler, Dichter, unbedingt
Fordernde, Literaten, nach ihrem Wege, so wiirden sie sagen
miissen, dafi diese Dinge in ihrem Schaffen Selbstverstandlich-
keit und Wirklichkeit sind. Ganz fern von Exotismus und
Seelen-Orient !)
Zuletzt kommtdieserTraditionalismus aus einem ganz naiven
Besitzaberglauben. Es ist die Uberzeugung, dafi aller Besitz der
Welt erhalten bleiben miisse, weil sie sich soviel Miihe darum
gemacht hat. Und nicht bedenken jene, dafi es eine Vorbedingung
des Erfolges aller Miihe ist, dafi man sie sich umsonst macht,
stets bereit, alles Errungene wieder zu opfern, stets vor dem
Nichts-zu-Verlieren-haben! Aber jenen, fur die Buber spricht,
ist unumstofilich gewifi, dafi alles Seiende bewahrt werden mufi.
So unumstofilich gewifi, dafi sie zuerst nicht fur das Handeln,
sondern immer fiir das Bewahren eintreten. Ihre Neigungen
gelten jeder Art von Gewesenheit, von Antiquitatenkult, Biblio-
philenpolitik, Ancien-Regimokratie: „Das Zeitalter, in dem wir
leben, wird man einst als das der asiatischen Krisis bezeichnen.
Die fiihrenden Volker des Orients sind teils unter die aufiere
Gewalt, teiis unter den innerlich vergewaltigenden Einflufi
Europas gekommmen.“ Und dazu ein geradezu riihrendes
Naseriimpfen iiber Chinas moderne Staatsformen. — Aber seit
wann ist denn ausgemacht, dafi Seiendes erhalten bleiben mufi?
Dafi die Erhaltung ein Wert ist? Denn wenn es fiir Gott gilt,
die Welt sich zu nahern, dann schiittelt er sie!
*
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
260
Es geht wahrhaftig nicht um entgegengesetzte Meinungen.
BloBes Rechtbehalten 1st in der Welt gar nichts niitze. Aber,
bei Gott, das hier ist ein Kampf um Ziele.
Sollte
man es
wohl glauben, daB Menschen heute noch, nacb alien unseren
Erfahrungen, oder womoglich trotzdem, der Meinung sind, es
gabe immer noch zu wenig Nationen ; die Welt miisse immer
noch starker nationalisiert werden! DaB sie gar nach dem
Ereignis des Krieges, dieses Endeffektes der allgemeinen Na-
tionalisierung der Erde, immer noch den Zionismus betreiben,
immer noch suchen, die Juden aller Lander zu einer neuen,
geographisch abgesonderten Nation zu machen, unter der Be-
hauptung, die Juden seien schon eine Nation, eine alte !
Darauf lauft die Orientalisierung des menschlich Anstandigen
schliefilich hinaus. Daher riihrt das ewige Sichducken, das
immerwahrende Es-nicht-gewesen-sein-wollen, Nichts-gesagt-
haben- wollen . AlleUmwege der Barockmystik, alle Feierlichkeit
der Rede, aller Glanz junger Fahigkeiten dienen, um aus den
wertvollen Kraft en des Menschen wesens zur Konstituierung
einer nationalenSondergruppe zu gelangen. In jenemProgramm-
buch ist eine ganz wunderbare Darstellung der ersten, not-
wendigen geistigen Situation fiir den scfiaffenden ‘IJlenschen
gegeben. Aber der Autor sagt : fiir den jiidischen ! Um die (still
geduckte) Hochmutsphase des jiidischen Nationalismus unmerk-
lich einzufiihren. Jene Gegend, wo es nicht mehr heiBl: Jude
gleich Sondermensch. Sondem Mensch = gleich Jude.
Indes solche Gedankengange kommen nicht aus irgend einer
spezifischen Naturanlage des Denkers, sondem sind nur ein
schwerer menschlicher MiBgriff. So sagt der Zionist: „Man
falscht den Sinn des Aktes der Entscheidung im Judentum,
wenn man ihn als einen blofi ethischen behandelt; er ist ein
religioser, vielmehr: er ist der religiose Akt, denn er ist die
Verwirklichung Gottes durch den Menschen. “ Da wird also
erstlich angenommen, es gabe einen Unterschied zwischen
Ethisch und Religios. Als ob nicht das Sollen allein und ledig-
lich fiir Gott geschehe! Zum andern, — welche naiv gefiihlvolle
Natur-Milchmadchenmystik, Gott miisse durch den Menschen
Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient
261
verwirldicht werden! Aber diese fatale und allzu pfauenartig
eitle Spatrenaissance-Theologie kommt nur daher, daB man
im Menschen immer durchaus eine Einheit feststellen will.
Man will, versteckt quietistisch, den Wert ausschalten; die
AuBerwertigkeit soli als etwas Hoheres hingestellt werden,
wahrend sie in Wahrheit nur ein Defizit ist. Und also will man
den Menschen auch in seinen offenbaren Minderwertigkeiten
rechtfertigen, wiederum aus Angst vor dem moglichen Resultat
einer Wertung! Wie ungeistig. Wie mutlos. Denn nicht das
kann ja unser hochstes Ziel sein, die Bilderbogenidee : zur
Einheit zu gelangen, sondern das ist es : zur Reinheit zu ge-
langen. Selbst wenn man dabei zur Trennung kommt. Doch
der Zionist baut sein Handeln auf eine vorgebliche Einheit:
„In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Ge-
meinschaft mit Gott.“ Die iibliche pantheistische ekstatische
Konfession. Aber mogen doch endlich die Mystiker aufhoren,
von einer Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu reden.
Denn nie wird diese Gemeinschaft erlebt. Nie hat ein Emster
gewagt, siezu behaupten. Diese Gemeinschaft ist nicht moglich.
Solche Vorstellung von Gott ist allzusehr Damenkloster. Und
stets noch, wo den Menschen Absolutes sicher stand, wo Re-
ligion nicht in Sensual-Pietismus verglitt, wuBte man, daB der
letzte, dem Menschen erreichbare Punkt der Heiligkeit allein
ist: zur Fahigkeit vom <Bewufitsein der Existenz Gottes zu
gelangen.
Aber warum glauben denn diese Mystiker nicht ans Wunder,
sondern nur an ihre Worte ? „Das Psalmwort, Gott ist alien
nahe, die ihn rufen, alien, die ihn mit der Wahrheit rufen —
heiBt: mit der Wahrheit, die sie tun.11 — Nein. Das heiBt es
nicht. „Rufen“ heiBt nie Tun (und hier heiBt es zudem
„Glauben“). — „Die Wahrheit ist kein Was, sondern ein Wie.“
Hier greift man ins Innere der zionistischen Mystik: da liegen
nur die alten ruchlosen Konsequenzen der selbstgefalligsten
Impressionisten- und Formphilosophie. Aber seit deren Wirk-
samkeit ist das Uhrwerk einer Generation abgeschnarrt. Und
hier nimmt der Zionismus durch Selbstverbrennung an sich
262 Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
Rache fur die innere Feigheit seines Kreislaufs um sich selbst:
„Nicht der Inhalt der Tat macht sie zur Wahrheit, sondem
ob sie in menschlicher Bedingtheit cxler in gottlicher Unbe-
dingtheit geschieht. Nicht die Materie der Tat bestimmt dar-
iiber, ob sie im Vorhof, im Reich der Dinge verlauft oder ins
Allerheiligste dringt, sondern die Macht der Entscheidung,
die sie hervorbringt, und die Weihe der Intention, die ihr inne-
wohnt.“ Zu deutsch : es kommt nicht darauf an, was geschieht,
sondern nur, dafi etwas geschieht. Aber das ist falsch, und auf
die fiirchterlichste, gefahrlichste Art. Man sieht es am Krieg.
Denn das Was einer Wahrheit, ihr Inhalt, wird ebenso stark
aus dem Resultat wie aus dem Weg zu diesem Resultat be-
stritten. Erst der ^Weg zum Resultat macht das Resultat sieg-
reich. Daher kann die (eine ausgezeichnete Formulierung Mar-
tin Bubers) ,,Materie“ der Tat — durch die der Weg der Tat
doch gehen muB — unmoglich eine matiere negligeable sein.
— Und was ist „Weihe der Intention4*? Unsinn! Denn nur
die Intention bestimmt die Weihe. Aber erinnert man sich noch
an die vielen intereuropaischen Kongresse vor dem Krieg,
denen nur das Bediirfnis nach Weihe die Intention gab, und
die darum Bluffs waren und auch von fern nicht imstande,
der ganz weihelosen Intention des Kriegs ebenbiirtig gegeniiber-
zutreten ! Man schaue die Zionisten an : sie sind geweiht, aber
es fehlt lhnen jede Intention. Sie wallen, aber sie sind noch
nicht einen vorwartstragenden Schritt gegangen!
Ziehen wir den Schlufi : bei diesem ungeheuren Aufgebot
von Hingabe, Nachdenken, Konnen; bei diesem funkelnd
tauchenden Kreisen einer Rhetorik der Andeutungen kommt
es einzig an auf die schone Geste. Auf Fresko. Judentheater
mit Reliefbiihne. Und das Herz steht einem still, wenn man
daran denkt, dafi von irgend einer Schonheitstheorie der Zio-
nisten das wahre Schicksal, das Leben von Hunderttausenden
Juden abhangen sollte.
„Das innere Schicksal des Judentums scheint mir daran zu
hangen, ob — gleichviel in dieser Gestalt oder einer andern —
sein ^Pathos wieder zur ^Cat wird." Aber das ist doch eine
Ludwig Rubincr ♦ Legend e vom Orient
263
grauenhafte SchauspieiaufTassung des Lebens! Militarmarsche
pflegt man zu komponieren, wenn es im Lande schon Truppen
gibt. Und Pathos hat nur ein Daseinsrecht zur Bestrahlung
von bereits Geleistetem. Doch die hier wollen um des Pathos
willen marschieren lassen, marschieren nach Palastina.
Aber kommt es ihnen nicht auf den Orient an ? Auf den
Orient des ,,motorischen“ Menschen, den altneuen Orient.
Der alte Orient ! — Es ist sehr wohl moglich, daB jene all-
gemeinste menschliche Ehrenangelegenheit, die Gnischeidung,
historisch sichtbar zuerst im Trieb der Juden sich zeigte. Aber
woran sie sich verwesentlicht : alles Denken, Greifen, Fiihlen:
alle taglichen Gegenstande, alle Bilder der Dichterhirne —
alles ist ganzlich ein Teil, nur ein Teil des groBen altorienta-
lischen (iiberjiidischen) Ideenreiches. Der Zionist verteidigt
die biblichen Schriften gegen den (als Beschuldigung kindli-
chen) Vorwurf, sie seien blofie Nachkommen der babylonischen.
Als ob das wichtig ware! Nicht wichtig sind wortliche und
sachhche Ubereinstimmungen oder Abweichungen . Wichtig
ist : daB babylomsches Weltdenken in denselben Grundvorstel-
lungen verlauft wie jiidisches. Literarische Fiihrer des Zionis-
mus sprechen vom Mythos. Aber der Theoretiker, er, der Hoch-
gebildete, der es weifi, und sich gewifi damit auseinanderge-
setzt hat, verschweigt uns, daB wir seit Jahren ganz ungeheuer-
hche Aufschliisse uberdenaltonentalischen Mythos haben. DaB
die groBen Mythenforscher Stucken, Hugo Winckler, Alfred Je-
remias, dafi die Veroffentlichungen der vorderasiatischen Gesell-
schaft uns sagten : Das Weltgefiihl, die Rezeptivitat und die
Ausdrucksart des alten Orients ruhen in einer , uns heute
geradezu unvorstellbaren Art, auf der Abstraktion. Das alt-
orientahsche Weltbild ist abstract: ein Gestirn
Zeiten von ganz anderer, schon sachlich geographischer, prak-
tischen Bedeutung fur alle Bevolkerungsschichten als heute
ist jedem Menschen gegenwartig in seinen Stellungen. Aber
dominierende Bedeutung fur die Welterklarung und die Pro
in jenen
264
Ludwig Rubiner * Legend e vom Orient
duktivitat der Bildersprache bekommt die erstaunliche Tatsache,
dafi man die Gestirnstellungen wirklich vorher festlegen Icann.
Die Zahl kommt zu einer Gefiihlsbedeutung, die sie heute
langst abgeschliffen hat. Die Babylonisten haben das heute
festgestellt, nicht durch Raten, sondem durch machtige, wissen-
schaftliche Einzelarbeit ; und sie haben die Durchsetzung der
gesamten modernen Kultur, die entferntesten Negerstamme
mit eingeschlossen, von babylonischer Sternmythologie aus dem
Anfang des dritten Jahrtausends a. Chr. n. bis in unsere heu-
tigen, gefiihlsmafiigsten, bereits instinktiv gewordenen Ge-
brauche festgestellt. Die Abstraktion auch des alten Orients ist
iiber jede Vorstellung weit entfernt von unserer heutigen Ab-
straktionstatigkeit. Unsere Abstraktion ist Steigerung des Men-
schendenkens bis zur allgemeinsten Giiltigkeit, bis zu einer
letzten Zeichensprache des Denkens, die, iiber die ganze von
Menschen bewohnte Erdkugel hin, das Denken jedes Menschen
einbezieht. Aber die altorientalische Abstraktion ist menschen-
fern. Sie setzt die geozentrische Weltauffassung der Antike
voraus, und sie hat die Anschauung von der Erde als einer
Ebene, iiber der die Stembewegungen in der langsamen Rund-
wanderung des Tierkreises vor sich gehen. Der Zug der Pla-
neten durch die zwolf Tierkreiszeichen beherrscht Gefiihl, Phan-
tasie, Vorstellen und Handeln jenes antiken Menschen volhg.
Das hohe Mysterium, das heilig Esoterische, der Angelpunkt
aller Prophetie und des antiken Messianismus ist die Feststel-
lung, dafi auch der Aufgang der Sonne wahrend des Fruhlings-
aquinoktiums (der Friihlingspunkt, die Kreuzung der Ekliptik
mit dem Himmelsaquator : das himmlische Kreuz) im Tierkreis
weitenriickt, von einem Tierkreiszeichen, um dreifiig Grad, zum
andern in ungefahr 2200 Jahren. Diese Dauer des Verweilens
des Friihlingspunktes in einem Tierkreiszeichen ist „das Zeit-
alter“. Um das Jahr 2900 v. Chr. trat die Welt ins Zeitalter des
Stiers, um 700 v.Chr. ins Zeitalter des Widders ; seitetwa dem
Jahre 1500 unserer Zeitrechnung stehen wir im Zeitalter der
Fische. Schon diese Andeutungen hellen AuBerordentliches auf.
Jedes dieser, ganz subjektiv vom geozentrischen Standpunkt aus
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
265
beurteilten kosmischen Daten ist ein weithin wirkendes Zentrum
riesiger religioser und politischer Um walzungen : der machtigste
wirkende Inhalt jedes iiberindividuellen Handelns der alten Zeit.
Das Wissen um den Wechsel der kosmischen Zeitalter, und die
Vorstellung davon ist heiligste Lebenskunde des orientalischen
Altertums, der groBte Umfang und die reichste Quelle jedes
bewegungschaffenden Mythos.
Aber nicht fur uns!
Jeder heute kennt die astronomischen Griinde, aus denen
jene antike Abstraktion, dieser MutterschoB des orientalischen
Mythos, fur uns keinen echten Gefiihlstrieb mehr gebaren
kann.
Eine plumpe und flach unwissende Aufklarung meinte einst,
Religion — die Auswirkung des Mythos — sei Priestertrug ge-
wesen. Das war dumm und falsch gemeint, denn solange der
Mythos echt war, war auch seine Lebenswirkung wahr. Aber
ebenso dumm, falsch, flach, unwissend und plump ist es auch,
unsrem heutigen MenschlichkeitsbewuBtsein eine neue Ver-
dunklung entgegenzuhalten, und zu sagen: „Humanitas ist ein
iiberwundener Standpunkt; es kommt darauf an, wieder zur
ewigen Wahrheit des Mythos zuriickzukehren, um jeden Preis
von Menschenleben !“ 0 lebensgefahrlicher Irrtum! Keineewige
Wahrheit ist Mythos, sondem nur eine zeitliche. Ebenso
respektabel, ebenso uns fern wie andere zeitlich gebundenen
Gefiihlswahrheiten. Aber heute nicht um das erbarmlichste
Menschenleben wertvoller, wirkungsberechtigter, Iebenszielge-
bender als beispielsweise fiir die heutigen Bewohner Griechen-
lands eine Erinnerung an die zwolf Taten des Herakles. (Die
ungeheure Weltdiskrepanz, das schauerliche Mythoselend des
mittelalterhchen Judentums — dieser Gemeinschaft aus Isola-
tion — tritt zutage in der wertvollen Quellenforschung von
Erich Bischoff : „Babylonisch-Astrales im Weltbild des Talmud
und Midrasch.“)
Dafi auch Zionisten dies wissen, ware vorauszusetzen. Aber
aus einem tiefen Instinkt vemachlassigten sie die Mitteilung, dafi
die wichtigste Dimension der altorientalischen Welt — zu der
266 Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient
das biblische Judentum nur als ein ethnographisches Sonder-
segment gehort — daB ihr Wichtigstes die Abstraktion ist. Sie
sprechen oft von Mythos — und es ist nicht angenehm, daB
dieses Wort, dessen Inhalt doch erst zur Mitteilung von Ge-
heimnissen dient, schon in seinem stilistischen Gebrauch selbst
als geheimnisvoll verdunkelnde Klangschwingung gebraucht
wird. Wer vom Mythos spricht, miisste auBerste Klarheit dar-
iiber schaffen, daC der Mythos eine Versinnlichung durch das
alltagliche Mogliche und Greifbare einer abstrakten Ur-
konzeption ist. Man darf nicht mehr das Abstrakte des orienta-
lischen Blicks verschweigen. Aber der Zionist macht seinem
Gegeniiber dunkle Andeutungen vom Mythos und kniipft an
diese Andeutungen ethische Folgerungen ; Forderungen dessen,
was sein fotfte. Die ethische Folgerung, die er aus dem Mythos
zieht, hei Bt : Auf nach Zion ! Doch wie, wenn man einmal dem
Mythos ins Gesicht blickte? Und wenn man aus anderer —
heutiger — Voraussetzung zu anderer — heutigerer — Folge ge-
langte? Wenn — ganz abgesehen von allem Folgern, ganz aufier-
halb des Folgerns — einem jenes Ethos selbst fadenscheinig
diinkte ? Und wenn von allem nur iibrig bliebe : Der erste Be-
ginn des Menschen : das Ethische ; und die letzte Ausflucht des
Menschen : das Ethische.
Aber das haben wir ja schon lange gewuBt!
Man entgegnet mir : Der Mythos sei iiberhaupt zu jeder Zeit,
iiberzeitlich, der Vorbeginn alles Fiihlens, Denkens, Ent-
schlieBens des Menschen, und jeder Mensch habe im Dunke
seiner Geistesverrichtung den Jahrtausendweg der Menschheit
am Mythos zuriickzulegen. Darauf ware zu antworten: Das ist
von vomherein falsch, denn diese Hypothese entspringt der
willkiirlichen Ubertragung rein naturwissenschaftlicher Prin-
zipien (Phylogenese) auf das Geistige. Es ist aber auch sach-
lich falsch, denn gerade die Tatsache, daB in unserer Kultur
Rudimente rein instinktmassig herrschen, die in ihrer VoII-
kommenheit vor Jahrtausenden die Regenten des bewuBten
Willens waren, zeigt, das wir im Mythos vor einem bloB histo-
rischen Faktum stehen. Jene Lebenserscheinungen unserer
Ludwig Rubtner • Legende vom Orient
267
Zeit, die sich als letzte, verblafite Auslaufer eines Mythos er-
kennen lassen, zeigen vor allem, da6 es in unserer Kultur
Wurmfortsatze Babylons gibt. Sind sie zu bewahren? Wird
etwa jemand den Blinddarm als das herrlichste Symbol allge-
mein iiberzeitlichen Tierlebens preisen? — Man hat mit ge-
fahrlichen Wurmenden des Mythos zu machen, was man mit
dem Wurmfortsatz zu machen pflegt, wenn er Entziindungen
her vorruft .
Aber der neue Mythos? Darauf ist zu fragen: Warum muB
denn durchaus ein neuer Mythos aus der Erde gestampft
werden ? Leben wir etwa fur zukiinftige Mythologen ? Oder,
leben wir nicht vielmehr, um zu handeln! Und wenn durch-
aus der neue Mythos da sein soil, so kann er doch erst kommen,
wenn eine neue Abstraktion da sein wird. Innerhalb des alt-
orientalischen Kosmos konnen wir heute nicht mehr schopferisch
denken. Und gerade das Hauptresultat der babylonischen Ab-
straktion, das bis zu Paracelsus hochwirkend ist, erscheint uns
heute notwendig als eine kunose Bildlichkeit, etwas niedlich
Dichterisches, eine angenehme, oberflachliche Metapher: die
Annahme einer Entsprechung von Himmel — Makrokosmos
und Erde — Mikrokosmos ; die Annahme der notgedrungenen
Parallelitat zwischen Makrokosmos — Himmel — Erde und
Mikrokosmos Mensch. Die letzte grosse Ausschwingung des
babylonischen Gestirnmythos wurde wirkend in der Kabbala.
Aber betrachten wir das Schema des kabbalistischen Menschen
mit seinen mythischen Himmelsentsprechungen : Als Abbild
irgend eines Seins, als Feststellung genommen ist es heute
volliger Unsinn. Aber als Aufzeichnung ethischen Strebens
gefafit — wenn man den alten ethischen Sinn der Gestimbe-
trachtung einsetzt — ist es unendlich schon. Und dabei stellt
sich wieder heraus : Nennt nur das Ethische, das Wollen, das
Streben, das Handeln, und es wird schon durch sein bloBes
Genanntsein lebendig. Noch auf der Hintertreppe ist das
Ethische interessant, das heifit von uns alien als machtigster
Faktor unseres Lebens erkannt. Was bleibt vom Ethos? Alles.
Was bleibt vom Mythos? Eine historische Schabracke.
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
268
Und dazu, fiir den Mythos, Palastina bemiihen? Palastina
nahelegen: deutschen Juden, die zu Friedenszeiten schon
schwer in Frankreich leben konnten ; italienischen Juden, denen
es nicht anders in Deutschland urns Herz war; franzosischen
Juden, denen Amerika zu wenig franzosisch war ! Fiir Menschen,
die bereits Nationen angehoren; fur schon — wie ihre Mit-
biirger — allzu Einnationalisierte, die der Krieg zu noch
groBerem Nationalismus drangte; fiir sie wiederum eine neue
Nation errichten! . .
*
Der Mythos ist langst Gebrauch geworden. Unsinnig ist es,
zu wiinschen, daB der Gebrauch wieder Mythos werde !
Das wissen wir ja, daB wir in alien Richtungen der blinden
Gefiihlshingabe noch heute unter dem Druck des alten Orients
stehen; bis in fcheinbar geistige Sublimierungen : in unserem
Musiksystem, in unseren Sprachbildern, sogar inTraditionellem
unserer Architektur und der bildenden Kunst. Also klar aus-
gesprochen; In unserem bloBen Vegetativleben. Und in den
meisten unserer staatspolitischen Symbole! (Umfassend nach-
gewiesen von Robert Eisler in dem bedeutenden Werke „Wel-
tenmantel und Himmelszelt“. Daraus auch die Suggestivideen
des Imperialismus sich als alte Symbole einer verwesten Mythen-
welt ergeben. Jedoch wenn unser Vegetativleben, unser seelisches
Pflanzenleben unter dem Strahlendruck des Orients steht:
Wichtig ist heute, tausendmal wichtiger, das einzig Wichtige
ist die Frage: Welcher ist der Strahl, der von uns ausgeht?
Deutlicher: Welches ist unser ‘Wiffe?
Und nur ruhevoll platschernd ware die Folgerung : Also auf,
und verstarkt den Orient in Euch noch, auf zum Orient nach
Zion! Ruhevoll verriickt ware das! Es lage ein Fall von uner-
hortestem, inzestuosem Egoismus vor : Ein Mensch glaubt, daB
einer Sondergruppe von Menschen, hier den Juden, bestimmte
wertvolle Krafte eigen seien. Diese Krafte will er — nicht etwa
der Menschheit, die es sehr notig hat, zufiihren, sondem wieder-
Ludwig Rubiner * Legende vom Orient
269
um jener Gruppe selbst, die sie produziert ! Der Zionist schiebt
alles, was stark, bedeutend — womoglich neu — ist, auf Seite
des Orientalen; alles Relativische auf Seite des Okzidents. 0
Typisierung! 1st es nicht Unrecht, mitVolkern und Jahrtausen-
den umzuspringen, nur um einige Begriffe zu destillieren ? O
diinnste aller Legenden!
Doch auch diese Begriffe sind nicht dicht. (Man zeige mir
die Unentschiedenheit etwa und Relativitat der Heilenen.) Nein,
der Theoretiker des Zionismus pflegt ein Abkommling der riihr-
seligen Goethephilologie zu sein, die Wucher mit der Vorstel-
lung vom Erlebnis trieb. Innerhalb dieser Vorstellung ist alles
gleichwertig.
Aber seid gewiB, es gibt Werte auf der Welt ! Also kame es
auf die „Richtung“ an ? Ja, es kommt auf die Richtung an.
Es kommt so auf sie an, daB heute ein minderer Mann, der
reinen Herzens einer Richtung sich ergibt, mehr fur das Gluck,
die Starke und die Menschlichkeit der Menschheit tut als ein
grofier, doch hochst isolierter Solipsist in der „allumfassenden
Einsamkeit seiner Seele“. Er tut mehr. Einfach sachlich leistet
er mehr. — Heute, des wichtigsten Beispiels halber, ein organi-
sierter Genosse. Heute! —
Der Geist kennt nur Verwirklicher seiner Befehle. Je nach
der Art der Triibung, der Einschiebung, des minderen Mittler-
tums zwischen Geist und Verwirklichung gibt es Nationen. Und
nun sucht der Zionist vom Absoluten, vom Geist, einen Spezial-
geist, emen Judengeist abzusondern. Er sucht noch eine weitere
Triibung, Einschiebung bewuBt zu konstruieren, iiber die schon
vorhandenen hinaus. Eine Nation, die in der Luft schwebt.
Er will eine Gemeinsamkeit fundamentaler Art fur die Heutigen
finden, die nicht fundamentaler Art ist. Die Tatsache Juden-
tum, die Tatsache lrgend einer Gemeinsamkeit der Juden —
durch das Faktum: Jude sein — hegt nicht in der Natur,
sondern nur in ihrer Isolation. Woher aber, wird man mich
fragen, eben diese Isolation? Aus dem Kult, antworte ich. Wer
Sabbat macht und beschneiden laBt, ist isoliert.
43 Vol. m/i
Ludwig Rubiner ♦ Legend* vom Orient
Es ist auch nur ein Kult, gar keine wirkliche Religion mehr.
Eine Religion (man wird linden, der zionistische Theoretiker
scheut selbst hier die Klarheit und tritt fiir eine vage Religiositat
ein), die in jeder Einzelheit nichts mit ihrer realen Umgebung
zu tun hat, ist erstens keine mehr, und dann isoliert sie ihre
Vertreter. Der Zionist muB beispielsweise gewohnlich die Juden
gegen den Vorwurf verteidigen, sie standen dem Ackerbau fern.
Er kann anfiihren, daB die meisten und starksten Bilder des
Alten Testaments dem Ackerbau entnommen sind. Schon. Aber,
wie sollen etwa heute Ballin oder Rathenau oder der Zigaretten-
arbeiter Moritz Itzig zu einer Religion stehen, deren wirksamste
Bilder aus (noch dazu veralteten) Methoden des Saens und
Pfliigens genommen sind! Dazu: jedes der (cosmiscfien Bilder
dieser Religion ist einem Weltbild entnommen, das nicbt etwa
nur poetisch symbolischer Art ist, sondern einer ganz historisch
eindeutig bestimmten, physikalischen und astronomischen Na-
turanschauung entspricht. Dieses Weltbild war vor fiinftausend
Jahren regierende Selbstverstandlichkeit. Heute ist ein anderes
regierende Selbstverstandlichkeit. Aber das tangiert eben nur
die kultische Gemeinschaft. Es tangiert nicht im geringsten die
religiose Idee. Nicht unsere glaubig briiderliche Menschen-
gemeinschaft.
Also Aufklarung ?
Ja. Lieber flachste Aufklarung, als Verwirrung aus Tiefe.
Nebenbei: Nie erhoben sich atzendere Aufklarer, als die
pfieten des Alten Bundes, in ihrem Kreis. Ihre Feinde, heute
angeschaut, waren die empfindungsvoll Erlebnisstolzen, Be-
sitzenden ; die auf ihre Geistgeheimnisse eitlen Hihi-Wesen ; die
Mystiker der Bibliotheken ; und die Austeiler leerer Versprechen
aus Tiefe.
Und Gott?
0 er ist fiir uns machtiger da, als fiir Sie Einzelne, die ihn
mystisch immer erst wieder „verwirklichen“ miissen. Fiir uns
ist er Wirklichkeit, und ihm suchen wir nur die Wirldichkeit
unserer Erdkugel zu nahern. Denn fiir ihn sind wir nicht Orien-
talen oder Abendlander — fiir ihn sind wir Gemeinschafts-
Ludwig Rubiner * Legends vom Orient 271
menschen. Menschen der Menschheit. Es gibt nichts, das wesent-
licher ware! Heute benannt: Sozialisten!
*
Immer noch sind wir alle heimlich versucht, nach Blutsunter-
schiedenzu forschen. Das letzte Jahrhundert hat unsere Niistem
so witternd gemacht, unsern Spiirsinn fur Subkutanes so ge-
scharft, dafi uns heute jene Annahme beinahe als zu simpel er-
scheint : Die Juden unterschieden sich von den Nichtjuden durch
den Kult. Doch es ist so. Und dieser Unterschied, den wir in
religionsfremden Gegenden fast nicht mehr zu sehen bekommen,
ist mindestens ebenso geheimnisvoll wie Blutverschiedenheit,
Blutgemeinschaft oder die grobe Naturalmystik von der Ver-
erbung. (Und man mufi die Kraft des Geistes kennen, urn zu
wissen, daB er nicht nur Judennasen formen kann, sondern bei
amerikanischen Einwanderem sogar Amerikanerkinne.) Aber
auch nicht, wie Sombart meint, die Glaubensgrundlagen des
Alten Testaments haben die Praxis des modernen Judentums
geformt — denn gerade fiir diese Hypothese kommt der Mo-
ment, wo Jude, Calvinist und Quaker praktisch ununterscheid-
bar werden! Nein, ein ebenso einfacher wie furchtbarer Vor-
gang hat dem Judentum zu seiner Sondergemeinschaft verholfen :
Sein Kult, im alten Orient zu Hause, stimmt in allem Wesent-
lichen nicht mehr zu den Tatsachen des neuen Abendlands ;
also werden die Tatsachen des neuzeitlichen Landes dem alten
Kult angepafit! Das tut der Talmudkommentar ; dieses un-
glaubliche, jahrhundertlange, aufreibende Bemiihen, angebliche
Gesetze zu finden. Gesetze, nach denen AuBerlichstes verschie-
denster Art in nie gewesener Ubereinstimmung erblickt werden
konne.
Durch Jahrhunderte hindurch stand die jiidische Gemeinde
vor jeder neuen Tatsache absolut fassungslos, unglaubig, skep-
tisch — nur den Kult hat sie nie angezweifelt. Wahrend gerade
der Kult der anderen Glaubensgemeinschaften (— nicht viel-
leicht der Glauben — ) im engsten geographischen Zusammen-
43*voi. in/i
272 Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient
hang mit der jeweilig aktuellen Umwelt steht ! Aber diese ge-
waltsame Selbstisolation der Juden, unglaubig fort von der Welt
ihres Lebens, und hin zu der Zeichensprache einerWelt, die
schon lange nicht mehr da war, die in ihren Zeichen bereits
nichts lebendig einflufikraftig Uberzeugendes mehr bedeuten
konnte; diese erarbeltete Schulung im Nichtsehenwollen, dieses
Gespenstischmachen der wirklichen Welt : das ist natiirlich eine
tausendmal mehr mystische Erscheinung als alle neuzionisti-
schen Mystiken. — Sicherlich gibt es heute noch Liebhaber von
Postkutschen — aus Romanlektiire. Nun aber eine alte Post-
kutsche auf ein modemes Automobilchassis zu setzen ; voman
einen Chauffeur im Postillonskleid, der, weil er nicht trompeten
kann, statt des Posthoms ein signalblasendes Grammophon in
Betrieb setzt: das ist doch eine Magic-City- Idee ! Aber der
Zionismus ist eine Magic-Gity-Idee.
Denn : Menschen haben endlich gelernt, ihreWelt zu sehen,
zu unterscheiden , zu begreifen — im Gegensatz zu ihren Vor-
fahren. Und diese Menschen will man an einen Ort fiihren, der
zwar ihrenVorfahren langst nicht mehr wirklich war, unter dessen
Illusion sie aber ihre nachste Lebenswelt verfehlten! Was nun
sollen diese heutigen Menschen dort, an jenem Ort, dessen
Realitat doch schon zu biblischen Zeiten nicht mit seinem auf
den Himmel bezogenen Plan iibereinstimmen konnte? Sollen
sie vielleicht dorthin ihre neue, wirkliche Lebenswelt impor-
tieren? Sollen sie vielleicht inmitten orientalischer Realitat nun-
mehr einen romantischen Kult des femen Europas pflegen —
weil bisher ihr Ungliick darin bestand, ihre europaische Realitat
liber altestem Orientkult zu vergessen!
Dieses neue Zion ware noch viel schlimmer als jene Post-
kutsche.
Es geht mit dem Zionismus wie mit der Alchemie. Jahr-
hunderte lang suchen Laboranten nach symbolischen Rezepten,
aus Blei Gold zu machen. Und der Sinn der Rezepte war gar
nicht die Erlangung des wirklichen Goldmetalles , sondern eine
Anleitung zur sittlichen Wiedergeburt des Einzelmenschen.
Ludwig Rubiner ♦ Legcnde vom Orient
273
Sollte so nicht der Fall des Zionismus liegen ? Er sagt „Zion“
und meint Reinheit des Einzelnen; er verheiBt Palastina und
melnt das Paradies auf Erden : Die Besitzlosigkeit, die Unbe-
dingtheit des Menschen vor Gott. (Im Gegensatz zum Tal-
mudisten, der, in seine Umwelt verstrickt, sie kiinstlich ne-
gieren will.) Aber die plumpen Tatzen der zionistischen Sudel-
koche aller Konfessionen wollen durchaus den Juden hin ins
geographische Palastina zerren !
„Juden“. Urn wen handelt es sicb da eigentlich?
um Juden als Rasse — die jiidische Rassenreinheit wird
heute selbst von den Rassentheoretikern nicht mehr behauptet.
Rjchi um Juden als Nation — denn das strebt ja der Vul-
garzionismus erst an und behauptet dieTatsache nur riicklaufig.
Sondern, unabhangig selbst von einer Untersuchung des
historischen „Warum?“ (was nur wieder schwankende und
je nach wissenschaftlichen Zeitstimmungen wechselnde Be-
griindungsversuche ergibt), unabhangig selbst von der histo-
rischen Lime muB man flir die Wahrheit feststellen : Es gibt
heute deutlich und greifbar zwei jiidische Riesenkontinente in
der Welt. Die europaischen Juden auf der einen Seite, die Ost-
juden auf der andern. (Dieser Unterschied reicht bis nach
Amerika^) Die klare Betrathtung der menschhchen Situation
beider Teile ergibt die nackte Tatsache: Die europaischen
Juden sind eine Gruppe von gehaBten Menschen. Die Ost-
juden sind eine Gruppe von hilflosen Menschen.
HaB ist etwas, worliber man doch einmal zur Verstandigung
kommen kann. Dagegen Hilflosigkeit ist eine schlimme
Krankheit.
Der Zionismus macht den Kranken stolz auf seine Krank-
heit. Und so schon es ist, jemandem zuzureden, gerade aus
seinen Mankos und negativen Seiten und alien Dingen, die
man vermiBt, sich ein produktives Lebenselement zu schaffen —
so sehr ist doch notig, daB der Ratgeber deutlich angeben kann,
welchem Sinne denn diese Produktivitat diene. Dagegen raten
zionistische Bewegungen den Ostjuden die heilige Bewahrung
27 A
Ludwig Rubtner * Legende vom Orient
ihrer Hilflosigkeit an, zum Zwecke der Produktion derselben
Hilflosigkeit !
Die erste Pflicht des Menschen, die einzige, ist, den Neben-
menschen auf das Niveau der eigenen Verantwortung zu bringen.
Es war einmal eine sehr beliebte Tatigkeit von Damen der Ge-
sellschaft, Striimpfe fur die nackten Negerkinder in Afrika zu
stricken. Das ist, aus geographischen Griinden, komisch; es
war aber, im Letzten, richtig, neu, und verantwortungsvoll ge-
dacht. So sollte es heute guter Ton sein, vomehm, ja — wenn
es sein muss — unausweichlich elegant, die Hilflosigkeit der
Ostjuden zu heilen. Nicht durch Judenschulen hilft man ihnen,
sondem durch Schulen ; nicht durch Betonung ihrer besonderen
Hilflosigkeit, sondem indem man sie zur Selbsthilfe anstachelt.
Wie ? die Japaner tragen Gehrocke oder feldgraue Uniformen ;
in China sind die Zopfe verschwunden ,* und es sollte irgend
einen Grund geben fiir Kaftans, Schlafenlockchen und unter-
scheidende Sitten aus Troglodytenzeit — selbst wenn sie nur
symbolisch gemeint sind. Und gerade dann! Man darf sich
nicht durch die, meist im verachtlichen Sinne gebrauchte
Behauptung einer angeblichen ..Assimilation** vieler Juden
tauschen lassen. Im Kampf gegen die Assimilation lassen sich
die Zionisten gern vom Typus des antisemitisch-nationalis-
tischen Corpsstudenten helfen. Das macht diesen Kampf ver-
dachtig. Dieser Kampf wird gefiihrt gegen die letzten geistigen
Lebensmoglichkeiten des Abhubes der Ostjuden, das heifit gegen
die armsten, verlassensten, unwissendsten, jammerlichsten
Menschen. Satte kampfen da gegen wahrhaft Ungliickliche, ein-
fach Ungliickliche, ohne jeden seelischen Beischmack Ungliick-
liche. Solche, fiir die auch die leiseste Anderung ihrer aujieren
Lage schon das Gluck, das Wunder, das Zion bedeutet. Und
fiir die Zion vor allem Anderung ihrer Lage bedeutet !
Aber der Kampf gegen Assimilierung ist zudem ein Kampf
gegen Nichtvorhandenes. Assimilierung? Aber woher kame
dann das erbitterte Ringen um haltbare Staatstheorien , wenn
es bis heute gelungen ware, auch nur die Assimilierung des
Deutschen an Deutschland, des Franzosen an Frankreich, fest-
Ludwig Rubiner ♦ Legende vom Orient 275
zustellen? Oder haben sich bis heute etwa die Europaer an
Europa, die Menschen der Menschheit assimiliert?
Lieber gehaBt sein, ais hilflos. Hilflosigkeit, selbst im „eigenen
Haus“, laBt das Haus zusammen fallen. Aber HaB hat in dem
Augenblick seine Rolle ausgespielt, wo es gilt, gemeinsam mit
seinen Nebenmenschen fiir die allerdrangendsten, ailemachsten,
primitivsten Aufgaben der Erde zu arbeiten.
276
Glosscn
GLOSSEN
Vier fetlder.
I.
JESUS.
Obwohl alies dieses vielleicht nur
krause und struppige Einbildungen
sind, wirre und wilde Phantasien,
Nachtgebilde, und obwohl ich diesen
Menschen, diesen Jesus, vielleicht, oder
besser: wahrscheinlich iiberhaupt nie
mit diesen meinen Augen gesehen habe,
ihn nie zu Gesicht bekommen habe,
so mochte ich doch beinah glauben,
daB ich ihn einstmals sah, und ich
mochte nicht zweifeln, daB er mir eines
Tages, am spaten Winterabend, da es
schon angefangen hatte zu dunkeln, im
Schnee erschien. Dort, dort in der Vor-
stadt, im AuBenviertel, wo die bleichen,
weiten, gespensterhaften Felder an die
letzten entlegenen Hauser grenzen, wo
die Einode an die Bewohntheit streift,
sie gleichsam leise streichelt, dort be-
gegnete er mir, dort kam er mir mit
stillen und groBen Schritten langsam
entgegen, der Ungeheure, der Unbe-
greifliche. Einem Toten,einemausdem
Grab Entstiegenen, einem schrecklich
und urplotzlich Auferstandenen ghch er,
und das miifite erdochwohl, denn Jesus,
der edle, groBe Freund der Menschen,
ist ja doch wohl schon langst gestorben,
langst begraben, langst nicht mehr
lebendig. Dort aber lebt er im Geister-
scheine des riesig-kalten Abends, fabel-
haft-groB und schon. 0, es ware schade,
wenn dies nur Einbildungen, nur Ver-
zuclcungen waren. An gewisse Dinge
will, will man glauben; man zwingt sich
dazu, und man Icann nicht anders.
Wunderbar waren schon die groBen,
stechend-glanzenden Sterne am Winter-
himmel und die Kalte, die mir Herum-
stehenden durch die diinnen Kleider
drang. Ich schlotterte in meinem diin-
nen Anzug, dessen erinnere ich mich
noch sehr gut, aber eine unendliche,
heiBe, gute Frohlichkeit durchzitterte
mich und machte mich leben, wie ich
nie vorher und nie nachher wieder
lebte. Der Geist ist es, der uns leben
macht, und er, den ich im Zwielichte
hin und her schreiten sah, war ein Geist,
war doch sicherlich hauptsachlich oder
lediglich nur ein Geist, ganz nurGefiihl
und ganz nur Geist. Mich durch-
schauerte, durchgliihte ein Geist, und
alies rings um mich fing an zu singen,
zu reden, zu tonen. Die Stille und die
Liebe in derselben tonten, ich war mir
dessen auf das allerlebhafteste bewufit,
und ich freute mich. Es war ein unaus-
sprechliches Freuen, Hoffen und Glau-
ben und Ueben in mir, und da stand
der Ratselhafte mit Haaren, die ihm in
entziickenden, goldenen Schiangen und
Wellen vom Kopf auf die Schultem
niederfielen, ein Anblick, der mich
starren machte. Das schone blonde Haar
Glossen
277
umloderte ihn wie ein zehrendea Feuer
und dazu sein Blick, nein, ich muB
gestehen, dafi ich etwas so Furchtbar-
Sc hones nirgends sonst im Leben
wieder sah. Solche Dinge sieht man ein-
mal im Leben und nachher nie mehr
wieder, und sollte man auch tausend
Jahre alt werden. Sonderbar ist es
iibrigens, daB sich mir, als ich die
fremdartige Gestalt sah, sogleich der
Gedanke aufdrangte, es sei Jesus, den
ich da vor mir sehe. Ich habe in spateren
Tagen oft besonders hieriiber viel nach-
gedacht, bin jedoch nie recht klug
geworden. Im Klaren iiber irgend etwas
sein, heifit unter Umstanden alles
wieder verlieren. Oft ist das Unklare
am schonsten, und hoheitsvolleGebilde
wollen unddiirfen nicht ganzlich durch-
schaut und erkannt sein. Mit durch-
dringendem Forschen kann man, so
bildeich mir ein, den Gegenstand, statt
ihn nun sich noch besser zu eigen zu ma-
chen, oft auch vernichten undin Nacht
und Unsichtbarkeit versenken, genug,
ich will froh sein, wenn ich mireine Ah-
nung aufbewahre und will weiter nichts
zu wissen begehren. Jesus war also nicht
tot : das war der herrliche Gedanke, und
an ihn klammerte ich mich. Die Liebe
stand dicht vor mir im Schnee mit
wunderbarer Zartlichkeitsgebarde und
mit himmlisch-scheuen Augen, die ei-
nen schrecklichenGlanzbesaBen. Indie
Erscheinung warf ich mein ganzes
Wesen. Aus einer Wirtschaft, die nah
lag, drang wiister Trinkerlarm; es ist
mir dies ebenso unvergeBlich geblie-
ben wie die Holdheit und iiberirdische
Sanftheit der gottlichen Erscheinung.
Ich fragte mich, was Jesus hier wolle,
hier drauBen am auBersten Rande der
Stadt, ob es denn fiir ihn in der Welt
etwas zu tun gabe, und auf was fiir
Art er wohl denken konne, sich bemerk-
bar zu machen. Sonderbare Gedanken
schossen mir durch den Kopf. Ich gin g
dann ins Haus hinein, hinauf in mein
Zimmer, ziindete die Lampe an, setzte
mich an den Tisch, ergriff die Feder
und schrieb auf ein Blatt Papier das
Gesicht und alle Gedanken, die darauf
Bezug hatten, sorgfaltig nieder. Als ich
fertig war, gingich ans Fenster, offnete
es, es war schon spat, und schaute
hinaus in die Nacht, in die der Halb-
mond aus seiner Hohe hinabschaute,
und da sah ich den fremden Mann
immer noch auf der StraBe stehen. Ich
hatte ihm irgend etwas zurufen mogen,
aber ich fand kein geziemendes Wort,
und die Stimme war mir wie abge-
schnitten. Ich schlofi das Fenster und
legte mich ins Bett Am andern Mor-
gen, als ich herunterging, war mir, als
sahe ich die Spuren von des Fremdlings
FuB im Schnee. Er selber war weg.
II.
DER ARME MANN.
Er war ein unscheinbarer, gedriick-
ter, zaghafter, armer Mann. Energie
und SelbstbewuBtsein waren nicht
seine Sache. Stolz kannte er keinen.
Wo hatte er Stolz haben wollen? Er
war klein, unbedeutend und schwach.
Die Zeitung las er mit einem Getiihl
von Bewnnderung. Er staunte groBe
Herren ehrfurchtsvoll an. Alles achtete
er, nur sich selber nicht. Woher hatte
er Achtung vor sich selbst nehmen
wollen? Von Figur war er ebenso un-
ansehnlich und schmachtig wie von
Charakter. Sein Leben bestand aus
Unterwiirfigkeit und Gehorsam. Der
278
Glo $ sen
Sinn seines Lebenswandels war ein
fortlaufendes, armes Sichschmiegen,
Durchschliipfen,Abfinden und Ducken.
Er war und blieb arm* Zart und diinn
war er und geboren zum Dienen und
Nichtsbedeuten. Feig und knechtisch
war er nicht. Hierunter versteht man
etwas anderes. Knechtisch gesinnt ist
der, der anders gesinnt sein konnte
und der eigentlich verpflichtet ware,
anders gesinnt zu sein. Feig ist der,
der da ganz genau weiB, daB er Mut
und Tapferkeit zeigen sollte. Unser
Mann hier wuBte weder von Feigheit
noch von Tapferkeit etwas, er wuBte
nur, daB er ein armer Mann sei. Es
gibt Leute, die durch gemeine, feige
Haltung hoch emporsteigen, wahrend
ihnen, wenn sie sich mannhaft und
charakterfest auffiihren wiirden , das
Leben sauer gemacht werden konnte.
Hier unser Mann dachte keinen Augen-
blick ans Emporsteigen und Laufbahn-
machen, er trug niemals in seiner
armen kleinen Seele einen solchen
vermessenen Gedanken. Irgend etwas
in der Welt bedeuten, war fur ihn zu
Iciihn. Er war fur die Armut geschaffen
und fur die Niedrigkeit geboren. Ach,
was fiir ein kiaglich, armselig Lied
singe und intoniere ich hier? Bin ich
der Musikant der Klaglichkeit ge-
worden? Ihm war immer bang, und
gegenuber den Dingen der Welt, die
er vollkommen respektierte, kannte er
nur ein fortwahrendes Erzittem. Ein
Bureaulist , Kanzlist und Schreiber
war er, so ein diirftiges, armes. Papier
in der Hand hin- und hertragendes,
scheues. schiichtemes, bittendes, um
Erbarmen, Mitleid und Nachsicht
flehendes, armes, schwaches Mannchen
war er. Der Name Mann pafite fur
ihn gar nicht. Er glich einem zarten
Iieben Jiingferchen in Mannsgestalt.
BlaB und abgemergelt sah er aus. Aber
er sah nicht schlecht aus. Ich sah ihn
einige Mai und wie ich ihn sah, hatte
ich ihn lieb, erbarmte und dauerte er
mich, war er mir sympathisch. Auch
redete ich ein paar Mai mit ihm.
Seine Stimme klang leise und gedriickt.
Els war keine rechte Stimme und von
einem Klang war keine Rede. Ich habe
gedriickte, scheue Wesen, sei es ein
Kind, ein Mann, ein armes Frauchen,
ein Hund, oder sonst ein armes Tier,
ein krankes Katzchen usw. immer
geliebt. Ich habe mich von jeher sol-
chen Wesen sogleich aufs Tiefste,
Freieste und Schonste verbunden ge-
fiihlt. Stimme und Nase und Gang
des Mannes waren einander ahnlich.
Stets trug er einen devoten, ehrbaren,
sauberen, furchtsamen, dienstbeflisse-
nen, langen, schwarzen Rock. Der
Rock war ihm wie angegossen, so, als
sei er schon im langen, schwarzen Rock
zur Welt gekommen, um auf derselben
nie zu etwas Hoherem zu gelangen
als dazu: sich vor ihr zu furchten!
Sein zaghafter, feiner, netter, furcht-
samer Schritt bettelte und stotterte
um Verzeihung fiir das Wagnis Gang
und das Verbrechen Auftreten, denn
er fiirchtete stets, er stoBe irgendwo
an und kranke irgend jemanden. Ober
seine Kindheit ist mir nichts bekannt.
Ob er noch lebt, weiB ich nicht. Viel-
leicht starb er. Du Guter, Armer, daB
du in den schonsten, strahlendsten
Himmel kommen mogest, daB dich
Engel mit wunderbarem Gefieder ura-
flattern. DaB dich die siiBeste Liebes-
und Trostmusik umtone, und dafi du
selig seiest im Himmel. Selig sind ja
Glosscn
279
die Armen und Schwachen. Ihnen ge-
hort das Himmelreich ! Er tat nie irgend
jemand weh, trat nie irgend jemand
zu nah und er fiigte nie irgend jemand
etwas Leides zu. Wie hatte er das je
vermocht. Zum Wehtun gehort mehr
Kraft, als der arme Mann besaB. Ein
einziges Mai in seinem stillen, sanften
Dulderleben rebellierte er, begehrte
er auf und stellte er sich, wie man sagt,
auf die HinterfiiBe.
Er trat wegen einer erlittenen Un-
gerechtigkeit, die ihm zu bunt und zu
dick war, vor seinen gestrengen und
erhabenen Herrn Direktor und for-
derte seine Entlassung, welche ihm
allsogleich gegeben wurde:
„Kommen Sie so? Das hatten wir
Ihnen nicht zugetraut. Wissen Sie,
was das ist? Wir wollen es Ihnen
sagen. Das ist so und so, und kurz
und gut: Sie konnen ihre Sachen
packen und gehen. Aufsatzige Ange-
stellte haben wir nicht notig. Voila!44
Und der Arme sah sich auf die
StraBe gesetzt. Er sah sich herzlos
entlassen, wo er in seiner Treuherzig-
keit und seinem Gerechtigkeitssinn
geglaubt hatte, man wiirde sich be-
mtihen, ihn zu bewegen, ferner 1m
Dienst zu verweilen.
Das war in des armen, guten Mannes
Leben das groBe Erlebnis. Kurze Zeit
darauf bettelte er um Gnade und
giitiges Verzeihen, daB ihm der Herr
Direktor doch das Geschehene ver-
zeihen und ihn wieder anstellen moge.
Man hatte Nachsicht mit ihm, und
weil er ein treulicher, fleiBiger und
piinktlicher Arbeiter war, so wurde er
wieder aufgenommen, und der Mann
war gliicklich daruber.
„Ei, Sie miissen nicht aufprotzen,
potz tausend44, sagte der Herr Gewalt-
haber. Das Mannchen kratzte sich im
Haar, schaute demiitig zu Boden und
lachelte.
0 du guter , sanfter , geduldiger
Mann, du liebes gutes Wesen, das nie
ein Unrecht tat, moge Gott dich be-
hiiten. Amen!
♦
Nachtrag:
Mit seinem Gut ging der arme
Mann stets auBerst sorgfaltig um.
Seine Stiefel waren immer peinlich
sauber. Schulden machte er nie. Seine
Wohnung entsprach seiner Beschei-
denheit und Sparsamkeit. Wie viel
Kinder er hatte, oder ob er iiberhaupt
Kinder hatte, ist mir nicht bekannt.
Wenn er eine Frau hatte, so liebte
und ehrte er sie sicher, und wenn er
Junggeselle war, so gab seine Auf-
fiihrung sicher keinen AnlaB zu klagen.
Eine Beschwerde war nie notig gegen
ihn emzureichen. Wenn ihn in der
Wirtschaft die Kellnerin nur nicht
ganzlich sitzen lieB, sondern ihn mit
einiger Freundlichkeit behandelte, so
war er froh. Politisiert hat er stets sanft.
Es versteht sich dies eigentlich von
selber. Er war kein Revolutionar.
Seme Steuern bezahlte er piinktlich.
III.
MORI.
Einmalwar ein Mann, der hieB Mori.
Das war ein eigentiimlicher Mann. Er
ging ganz ordentlich gekleidet. Freilich
war sein Hut ein wenig alt und ver-
bogen. Aber die Hauptsache bei Mori
war, dafi er so ernst war. Er machte
280
Gloss en
ein so ernstes Gesicht. Er schaute dar-
ein, als habe er den Tod vor den Au-
gen. Leute, die den Leuten und dem
Leben ein so ernstes Gesicht entgegen-
setzen, sind nicht beliebt. Mori sah
fast aus, wie ein Ritter des Mittelalters,
wie ein Rauber. Er sah nach Gedanken
aus, und Leute, die nach Gedanken
aussehen, sieht man nicht gern. Man
weicht ihnen aus, als seien sie Ver-
brecher. Der Gedankenreichste wurde
ja ans Kreuz geschlagen und muBte
sterben den jammervollen Tod der
Kreuzigung. Mdri hatte ein gutes Herz,
er war ein guter Mann, ein ganz braver
Mann, nur war er zu ernst. Die Leute
schauten ihn ganz furchtsam an, als
hatten sie Boses von ihm zu erwarten.
Aber Mori war nicht bds, nur ernst
war er. Er konnte nicht lachen, nicht
lustig und fidel sein. Und er konnte
keine Witze machen. Wer nicht lustig,
witzig und fidel ist, wer das Leben
ernst nimmt, der ist schon allein darum
den Leuten ein wenig verdachtig, Mori
schaute alle Leute so bang, so ernst,
so fraglich an. Er war ein unheimli-
cher, ungemutlicher Mann ; die Leute
aber wollen, daB man gemiitlich ist.
So groBe, emste Augen ! Hu, es gruselt
mich! Alles wich Mori aus. Wo er
stand und ging, mochte niemand ste-
hen und gehen. Wo er auftrat, wurde
es mauschenstill. Die Leute hatten
einen seltsamen, unbegreiflichenSchau-
der vor ihm, wie vor dem Grabe. Da
ging Mori zum Madchen Emma, um
sie zu fragen, ob sie ihn liebe. Das
Madchen Emma war lieb und hiibsch,
aber nicht fur Mdri. Sie sagte ihm:
„Ich habe Angst vor dir, du bist so
ernst. Du magst nicht lachen unddu be-
tragst dich nicht wie andere Menschen.
Ich liebe dich nicht und bit te dich, zu
gehen und mich in Ruhe zu las$en.“
Da schniirte sich um Moris Herz eine
unnennbare Trauer, und er ging. Wo-
hin er gehen solle, das wuBte er nicht
recht. Eine Todessehnsucht griff ihn
an, und tief lieB er den Kopf hangen.
Bist du lebensuberdrussig, Mdri ? —
Noch nicht, aber bald! — Da ging
Mdri, weil er sich nach Unterh< und
Verdienst umsehen muBte, zu einem
Herrn und batdenselben um eine kleine
Anstellung. Mdri schaute mit seinen
ernsten Augen den Herm an und dieser
ihn, dann sagte der Herr: „Sie gefallen
mir nicht, ich kann Sie nicht brau-
chen, es tut mir leid, es ist nichts zu
machen, gehen Sie nur lieber wieder."
Da ging Mori, und das arme Herz war
ihm noch schwerer als vorher, es
driickte ihn fast zu Boden. Miide und
matt, wie er sich fuhlte, wollte er in
ein Gasthaus einkehren, um daselbst
zu ubernachten. , .Morgen frith, wenn
ich gut geschlafen habe, ist es mir
vielleicht wieder leichter und besser zu
Mute", sagte er zu sich selber. Der
Wirt sah den ernsten, sonderbaren
Mann, und kaum hatte er ihn unters
Auge gefaBt, so machte er auch schon
eine abwehrende Handbewegung und
sagte: „Tritt mir lieber nicht ins Haus
hinein. Geh dorthin, woher du ge-
kommen bist. Du scheinst mir ein
Strolch zu sein, und ich mag nichts
mit dir zu schaffen haben." Und Mdri
muBte gehen. Da war er der ungliick-
lichste, armste Mann der Welt. Nicht
Liebe und nicht Vertrauen, nicht Brot
und nicht Verdienst, nicht Arbeit und
nicht Anstellung, nicht Kost und nicht
Logis, nicht Essen und nicht Trinken,
nicht Ruhe und nicht Schlafstatte hatte
Glossen
281
er. Er ging zum See. Es war Mitter-
nacht, und keine lebendige Seele war
in der Nahe. Wie Mori ans Wasser
trat, fliisterte das mitleidige, gute Was-
ser: „Komm duzumir, duArmer. Bei
mir hast du’s gut. Da kannst du
schlafen auf den weichsten Kissen.
Ich bin weich und sanft, und wenn du
in meinen Armen liegst, hast du Ruhe.
Ich habe dich lieb, Mori, und ich bin
freundlich, und wer zu mir kommt,
den plagen keine Sorgen mehr, und
aller Kummer hort auf. Komm du,
komml" Da dachte Mori, daB das
Wasser fiir ihn gut sei und ging ins
Wasser.
IV.
DIE ARBEITER.
Es war ein warmer Vorfriihlingstag.
Das Wetter war schon und mild. Die
ersten gelben und blauen Blumen
zeigten sich im Griinen. Die Sonne
lachelte freundlich und der Himmel
glich in seiner siiBen Blaue einer blau-
gekleideten, liebreizenden Prinzessm.
Ein frischer, heiterer Wind strich liber
die jugendliche, frohe Erde dahin. Die
Welt war wie neu geboren, alles war
wie aufgerissen, als habe sich eine un-
endliche Weltfreiheit und ein unend-
liches Erdengliick geoffnet. Liebe,
Sehnsucht und Freiheit schienen wie
selbstverstandlich, und alle Aufrichtig-
keiten, Schonheiten und Offenheiten
traten zutage. Die Nacht und die
Miidigkeiten schienen auf immer ver-
schwunden. Holder, siiBer Friihlings-
sturm, reizende Ahnung, seelenvolles
Drangen brausten aus alien Rich-
tungen liber die Hauser und Felder,
die den gotthch-scheuen Hauch und
Anstrich des Gliickes ohne Namen
besafien. Und niemand arbeitete, nie-
mand nahm ein Werkzeug in die Hand,
niemand ging an diesem Gottertag, an
diesem Wundertag zur Arbeit. Es ging
ein Ruf durch die ganze weite helle
Welt: „Legt jetzt die Arbeit nieder!"
Mauschenstill und wie am Sonntag-
morgen war es, wo schongekleidete
Madchen, mit der Sonntagswonne in
der lieben Brust, feierlich spazieren.
Eine stumme, gewaltig schone Kir-
chenmusik, eine Liebesmusik und eine
Freiheitsmusik, eine Freundschafts-
und Verbriiderungsmusik tonte und
klang daher mit Wogen, hoch hinauf
in das Entziicken und in die freudige
Begeisterung geschleudert und hinab-
geworfen wieder, in ebenso schonen,
kraftvollen Wellen, in alles Weiter-
und Weiter-Ergreifen. Die ganze Welt
war von Liebe und Giite und siiBer
Duldsamkeit so stark ergriffen, daB es
keinerlei Fremdheit und Unfreund-
schaft mehr gab, daB die Menschen
einander unter freiem Himmel und,
ohne daB sie sich naher kannten, an
den Hals fielen und Tranen der Freude
iiber eine solche Seligkeit vergossen.
Ein so bezaubernder Weltgedanke floB
und lautete durch die frohe, aus MiG-
verstandenheiten und Unbegriffen-
heiten auferwachte, auferstandeneWelt,
daB zahlreiche gute, liebeiiberflossene
und freudeiiberstromte Leute, betrof-
fen, still, an der Erde, neben eines
FliiBchens bescheidenem Rand saBen
und standen und in ihre ganziich be-
nommene, libergossene Seele hinab-
weinten. Viele jubelten und schluchz-
ten vor Lust und rangen vor Gluck die
Hande. Ein wunderbaresBeten stromet
liber alle Lippen, und niemand, nie-
mand arbeitete. Es hatte niemand mehr
282
Glossen
arbeiten konnen, und alle nicht mehr
arbeitenden Menschcn begriffen ein-
ander. Els gab keine kalteScheidewand
mehr, es gab keine Verstandnislosigkeit
mehr, es gab keine Entfernung und
keine Fremdheit mehr. Alles war nah,
alles war offen, und jede Frage war
beantwortet, und jedes Ratsei war ge-
l6st, und alles Leid war verschwunden.
Und niemand arbeitete. Aus alien Ge-
genden strflmten die Arbeiter herbei,
harmlos, wie sanfte, gute, kleine Kin-
der, die an der Elternhand vors Haus
traten, urn den freundlichen Nachbar
n i besuchen! Kein Arbeiter arbeitete ;
keiner von den muhseligen Millionen,
die immer arbeiten, die immer tage-
werken, arbeitete an diesem schonen
Tag. Gott im Himmel, du Allmach-
tiger, ich sehe ein, dafi ich traume.
Solch ein schoner Tag darf ja nur ein
Traum sein. DaB doch alle Menschen
glllcklich waren. DaB es keinen Un-
glijcklichen gabe. DaB die Welt ftei sei.
DaB das Leben gut sei.
Robert falser.
Q e fangeneb egrab en .
Es gibt dort im Gefangenenlager
gelbenSand undweichwehendeBirken.
Uber den Sand zieht eine kleine Schar.
Auf schweren Schritten. Einzelne tra-
gen erdenbraune Mantel mit tief im
Nacken sitzenden Miitzen, andere aber
sind schwarz gekleidet.
Russen.
Undvor ihnenan derSpitze schreitet
in weitem Mantel, mit Schlapphut und
schweren Stiefeln der Pope. Wie ein
Wiistenprediger, ein Heiliger, sieht er
aus.
Vor dem Popen aber, getragen von
vier nackengebeugten Mannem, auf
holzemer Bahre ein Sarg, schwarz wie
verbranntes Holz.
Ein totgeborenes Ungeheuer.
Die Sonne brennt.
Und sie beginnen
leise —
— anfangs ganz
zu singen. (Gesang wie Silber-
stimmen mitagyptischen Choren.) Das
alte Borodinolied des Tatentreters Na-
poleon :
„Skaschi-ka djadja wed ne darom
Moskwa spalomaja poscharom Fran-
zuska otdana . . . “
„Sag doch, Onkel, nicht umsonst ward
das durch Feuer versengte Moslcau
den Franzosen gelassen. . .'4
Dann stellen sie sich um das Grab.
Der Pope spricht geweihte Worte. Die
Muskelarme lassen den Sarg ins Grab.
Ein Poltern von brockelnder Erde.
Der Pope hebt die gebraunte Hand
und laBt seine Stimmetonen: ,, ...Von
ihm hattet ihr eins lernen konnen : das
Geben, die Briiderlichkeit. Der Krieg
hat uns zusammengeworfen, wie der
Wind die Blatter. Wir leben getrennt
von denen, die wir lieben. Und wer
konnte uns Liebe geben? Euch, nach
dem Licht des Lebens sich sehnenden
jungen Seelen, die ihr der Liebe be-
durft. Einer liebmeinenden Hand.
Wir wollen nicht an die Heimat
denken. Nein — nicht das Wort aus-
sprechen. Wir konnen nur eins, das
ist, uns einandererganzen. Uns helfen.
Uns Freunde sein. Und seht, ein sol-
cher Freund war er, dessen Bild wir
nicht mehr vor uns sehen. Es sind
schon viele fern ihrer Heimat gestor-
ben. Viele sind nicht mehr — schweigt
stille fur Augenblicke im Leben und
Glosscn
283
gedenket seiner Mutter, die ihn ge-
boren. . . . M
Die braunen Mantel gehen wieder
zursinkenden Sonne. Andere schwarz.
Und vor ihnen, an der Spitze, in wei-
tem Mantel der Pope.
Vor dem Popen aber, getragen von
vier nackengebeugten Mannern, eine
leere Bahre.
Etliche unter ihnen fangen wieder
an zu Iachen. (Was ist ihnen der Tod?)
Dann beginnt wieder das Gelaute
der Silberstimmen und der agyptischen
Chore:
„Skaschi-ka djadja wed ne darom. . . '*
„Sag, Onkel, doch nicht umsonst. . . .
Ne darom. . .
Nicht umsonst. . . . “
fKarl Gdwenberg.
Q, )er daheimgebfiebene CJKut.
Korperliches und geistiges Frei-
fiihlen von allem Umgebenden. In
diesem Freifiihlen schaffend wirken:
das ist der Dreiklang des Mutes.
Unsere geschriebenen Geschehnisse
handeln von nichts anderem als von
Mut. Vom Mut der Eisenkampfer.
Doch das ist der Worterbuchmut, den
jeder leicht findet, weil er gedruckt
steht und sichtbare Taten zeigt. Ich
will nicht reden von diesem, denn fur
ihn gibt es meistens ehrende Zeichen.
Aber die Daheimgebliebenen kampfen
auch im Mute. Greise, Mutter, Frauen,
Braute und Kinder. Ein Turnier gegen
das Unsichtbare in ihnen. Jeder tragt
seinen eigenen Mut in sich wie seinen
eigenen Gott.
Den Gott-Mut zur Arbeit, zum
Schaffen. Zwar gibt es etliche unter
ihnen, die klagen, weil vieles ihnen
fehle. Das Taglichgewohnte. 0, I hr
weifiwestigen Bauche, seid dankbar,
daB Ihr lernen konnt. Lernen, Kanzler
Eurer Selbst zu sein.
Und Mut braucht man zum Schaffen ,
wenn alle Gedanken an die da drauBen
zittern wie zuckende Flammen.
Den Gott-Mut zur Wahrheit. Sich
selbst und andere nicht betriigen. Denn
alle Wahrheit birgt Versuchung und
Leiden.
Gott-Mut zum Entbehren. Entbeh-
rung der Speisen, der Freuden und
der Liebe. Es geht uns wie Sokrates,
der Prachtschmuckdurch Athentragen
sah undsagte: „Jetzt sehe ich, wieviel
Dinge ich nicht brauche.**
Wir sehen jetzt auch, was wir eigent-
lich nicht brauchen. Aber mir scheint,
als seien einige noch nicht gedemutigt
genug, aus dieser Weltkrankheit ge-
lernt zu haben, um in eine hohere Kastc
zu kommen.
Das ist es und muB es sein : Wo alles
kampft, sollt Ihr daheim den Mut be-
sitzen, auf Vorteil zu verzichten. Ver-
zichten auf HaB. Liebet, so wird man
Euch lieben. Man fragte ein kleines
Madchen, das von alien geliebt wurde,
warum jeder es gern habe. Els antwor-
tete: „Ich glaube, weil ich jeden so
sehr liebe. “
Man muB den Mut besitzen, liebe-
volle Wohltaten zu geben. Und wenn
man arm wie ein Stein wiirde.
Sie, die Frauen, welche dulden um
des Geliebten willen, haben uns Wohl-
taten gegeben. Und der 5edanke an
sie sei schon fur uns eine Wohltat.
Fester, fester bindet sich um uns
der Mut zur Pflicht. Jeder hat seine
Pflicht . Und sei er Reiniger schmutziger
Glossen
StraBen. Jeder hat die Pflicht, die ihm
sein Inneres gibt.
Und dann dieses: Wo so vieles zu
Einem gemacht, wo Philosophen und
Handarbeiter beieinander sindv Brutal-
bauern und Feinfiihlende, ist es mehr
als eine Pflicht, sein Selbst, seinen Cha-
rakter zu entwickeln. — „Immer gibt
es dort am meisten Eigenart, wo es am
meisten Charakter gibt/* —
Mut zum Gedulden — die schwere
Last des Wartens. Geduld (trage Tu-
gend?), denn unser ganzes Leben ist
nichts als Warten und Hoffen.
Mut zur Hoffnung, dem blumen-
blilhenden Fruhling des Verworfenen.
Nicht Trauer ist Grdfie des Men-
schen im Ungliick, sondern gottlicher
Gleichmut.
Und auch Frohsinn ist Mut. Der
Mut der Frauen, die Kranke um sich
haben oder Briefe an die Kampfer
schreiben. Es liegt Genie im Frohsinn
wie im Genie Shakespeares.
Die Welt ist ein Brief Gottes an
jedermann.
Auch der Mut ist ein Brief Gottes
an jedweden unter uns.
fKarl Bdwenberg.
3fauser.
Der Zweck des Hauses ist: Schutz*
Das zweite menschliche Verlangen nach
Eigenbesitz aber gibt ihm die gestei-
gerte Form.
Sowurzelndenn schlieBlich tausend-
fach, nach dem Gesetze dieser Zweck-
maBigkeiten, in der tragen Erde:
fei, aufrecht in Scharfe oder Locker-
heit gegen den Himmel.
Unter dieser Form bleibt, emdc6*
tert, das Gemeinsame: der erdene Ap-
parat, die Mauern, Steine, Balken.
Dinge, die wir mit Handen greifen
konnen .
Grfebt unter dieser Form bleibt das
Gemeinsame (und tiefer als der Zweck,
der zu denkende): das Wesen.
Nicht mehr gilt daher in seinem Be-
reich die Abstraktion des Denkers. An
ihre Stelle tritt das natiirlichfreie Ge-
schenk: die Vision: die Gesichte des
Sehers ! Sie fordern Vertiefung, wahrte
sie auch ein Leben lang um Eines
Dinges willen.
Sodann erwachen unter den tausend
Formen, die sich in Rauch losen, die
Rhythmen, die jenen zugrundelagen.
Zu oberst breitet sich die Region
der Zusammenhange. Die von Ver-
trautsein und Sehnen. Mit tausend
Armen greift von innen her Leben aus
dem Gebilde nach alien Seiten.
In einer Landschaft etwa herrschc
einsam das Haus. Seine Fronten ent-
lang, seine Flachen aufwarts, iiber die
Fenster hin bis um den Schlot werde
es lebendig fur uns. Die wir sinngc-
geoff net, bereit sind zu jedemGeschenk.
Kann sein, wir gewahren, wie dieses
Haus sich in Beziehung setzt zu den
Dingen auBer ihm und seiner Art: zu
einem Zaun etwa. Oder, ganz anders:
zu einem Acker. Oder entgegengesetzt
vielleicht : zu einer Tanne. — Wir stehen
unter den Bogen unausgesetzter,ruhiger
Strome. Das Dimensionale (das Haus)
ordnet den vordem chaotischen Raum ;
dieser tritt, ein Medium, unter Soan-
nung bis in seine Partikelchen.
Anders (als jedes einsame Haus)
offenbaren sich jene versammeltenWiir-
fel, die wir Stadte nennen. Seiten nur
Glossen
285
und schiichtern geschieht hier ein Aus-
greifen nach Andersartigem. Zu seines-
gleichen, ihresgleichen vielmehr, ist
ihre Haltung, ihre Bewegung verflichtet .
Es ist da, wie unter Menschen, ein
Aufbrechen von Tugenden und Lastern
aus Machtanspruch. Aber es sind
Hausertugenden und Hauser-, nicht
Menschenlaster.
Wenn wir daher metaphorisch von
ibrer Oberhebung.Verachtung, Demut,
Unterwiirfigkeit sprechen, ihre Armut
verschamt oder zynisch nennen, ihnen
Protzigkeit und Solidaritatsgefiihle, Ge-
fiihle liberhaupt, zutrauen, so tun wir
dies, weil wir zuvor ein Andres, Leben-
diges gespiirt haben: zftrdme, die von
jenen ausgehen, sei es: unsichtbaren
Reichtums, sei es: muffig hauchender
Krankheiten undElende, zudenen uns
ein Grauen neugierig macht.
Es ist offenbar: die Fronten stofien
vorwarts, weichen zuriick, knickenein,
nach dem Gigenwitlen des Objekts.
Unsrem Erleben ist gleichgiiltig die
MaBgabe eines Bauherrn und der Zu-
fall einer Niitzlichkeit, die irgendwo
geschrieben stehen. Kerngefiihle ent-
decken wir, wieSehnsucht und Irrung,
Treue gegen den Schwachen, Liebe dem
Schiitzenden; doch anders in diesen
Wlirfelwesen als in uns Menschen-
wesen.
Das Gewirre der Giebel und Dacher,
der Windschiefen und der Kanten,
skelettiert sich zu einer GesetzmaBig-
keit, die auf jenen Gesichten beruht.
Dem Kiinstler zur Aufgabe wird: die
Losung dieser Mathematik des Zu-
falligen durch andachtige Strenge und
schopferische Hingabe.
Aber weil das Wesen selbst, so sehr
wir nach ihm fahnden, so sehr wir uns
seinem Erleben ausliefern, immer un-
beriihrbar bleibt, darum miissen wir,
die in uns Gefangenen, ohnmachtig des
Pfeilweges, Gleichnisse wahlen. Mit
Farben, Linien, mit Worten, oder,damit
das Unberiihrbare in der Mitte sei,
mit Kontrasten.
Wir versuchen, heifit das, unsre
Sprache zu vergessen und die Sprache
jenes Damons zu reden. Darum sind
Kunstwerke einAusbrechen aus unsrem
Gefangensein.
Nicht geben wir den Dingen von
uns, was sie selbst nicht haben konnen,
wozu sollte die Luge taugen? Willige
Propheten wollen wir sein des Lebens
unter den Oberflachen. Dazu berufen,
daB die unbewufite Welt sich selbst er-
kenne ! Dankbar fiir das Geschenk ihrer
Offenbarungen durch Erkenntnisse
ihrer Ganzheit, und voll von Gesichten
ihres innersten Seins.
Indem wir also des Wesen s pflegen,
enthiillt sich, unter der Region der
Zusammenhange, die letzte, dunkelste,
dem Damon nachbarliche : die der Ein-
samkeit (und des Grauens). Gefiihl der
Stille. Verwunderung. Wir spiiren,
nistend gleichsam iiber Wolken, stau-
nend in Erdkreise, — wir spiiren den
Damon genauer.
Ein Wiirfel offnet sich, entlaBt in
langer Folge Menschen auf die Strafie
(die nicht minder seltsam lebendige).
In ihm wiederum verschwinden Men-
schen, von denen wir wissen, daB sie
drinnen Treppen steigen. Auf aller-
hand Knopfe driicken. Schalter dre-
hen. Tiiren offnen, Tiiren schliefien.
Sich nahren, umarmt schlafen. Kinder
zeugen. Streiten, sterben und geboren
werden. Tausend anderes.
Aber von all dem schweigt das Haus.
286 Glosscn
Ein schwaches Licht, aufblendend, er-
Idschend, ist Zeichen fur Unerhortes.
Es ist, um zu verbergen. Heimlich
zu tun mit seinen Inhalten, eifersiichtig.
Wir empfinden eine besondere Art von
Gleichgultigkeit und von Bosheit.
Selbst — ein extrem Denkbares —
ein Glashaus wahrte, trotz schamloser
EntbloBung, das Trennende stark. Un-
greifbar bliebe alles dab in ter.
Sein Gegenteil: ein kahler Wiirfel,
ohne Offnung, einturig vielleicht,
schleuderte Ahnung machtigen Lebens
nach auBen.
Ungeheurer Ausdruck der Unnah-
barkeit, feindseliger Kalte, der gefes-
selten Wut: zwei solcher Wiirfel sich
nahe zu sehenl Keuchend unterm
Mond, der sich i^ie Blei auf sie lotet.
Gebannt in sonnengrellen Tag, dem
sie fluchen, die Nachtlichen. Grell in
der Nacht, die Gespenstigen. Weil
i mmer und liberal! Fremden, Einsamen.
Damonen.
Je toter und starrer das AuBen, desto
entfesselter das Unsichtbar-Lebendig-
innerel
Zum Rausch drangen sich die Ge-
sichte : es werden Schlote zu aufragen-
den BewuBtheiten . Sagen wir: des
Stolzes. Nennen wirs: des anmaB-
lichen Strebens Himmels und der Holle.
Fenster — Miindungen. Dicher —
Lasten und Leid. Des Kubus selbst
— Ausdruck von Wesen und Inhalt.
Auf dieser Seite, dicht am Irrealen,
sind wir zu Ende. Knapp trennen sich
Tod und Leben. Was etwa noch fol-
gen kdnnte, ist Anarchie des Geistes:
Unformbarkeit.
Die Realitat fordert ihr Mittler-
recht: auszudriicken. (Nicht: zu seinl)
Die *Form taucht endlich auf. Ihr Zu-
falligstes, als letztes, miihelos nach dem
Wesenhaften, erlebt, wird gebandigt,
bezogen — ungefahrlich sein.
Zu bedeuten war: der innerste un~
greifbarste Punkt, das ^VPestn, sei Aus-
gang und Ziel der Darstellung zugleich.
flu&gang fiir die dariiber zu blat-
ternde Form, Um Wahrheit jedem
Pinselstrich, jedem Wort Halt, Be-
ziehung, Giiltigkeit zu geben : auf
Grund des Erlebnisses.
Und ZieL Das heiBt; Durch Ver-
nichtung eben dieser Form als StofF
und Selbstzweck, durch Aufiosung ins
Dienstbare, Durchscheinende — un-
umschrieben das Wesen lebendig-sicht-
bar zu machen, selbstleuchtend: um
des Erlebnisses willen.
Wir ahnen Leben der Seele ohne
den Leib. Soweit auch mag der Da-
mon bestehen, unabhangig der Form.
Wir spiiren Druck und Leben unsicht-
bar bleibender Hauser an ihrem Schat-
ten, der auf die StraBe fallt. Denn es
sind gerade die Schatten die Beweise
von der Dinge Lebendigkeit. Aber
nicht weiter falle Wesen von Form,
als Schatten vom Hause.
Was wir nicht greifen, nur afcnen
konnen, mit Kraft und Demut zu ent-
hiillen, hingegossen sein an diestarken
und feinen Wesensdinge, sei Sehnsucht
und Ziel des Sehers. #
DIE WEISSEN BLATTER
EINE MONATSSCHRIFT
DRITTER JAHRGANG 1916
QUARTAL JULI-SEPTEMBER
VERLAG RASCHER & C§, ZURICH und LEIPZIG
Original from
UNIVERSITY
I.
AUFSATZE
HEFT SEITE
Eduard Bernstein, Volker zu Hause. Erinnerun-
gen V. Vom Leben und Treiben in Zurich .VII 45
Eduard Bernstein, Volker zu Hause. Erinnerun-
gen VI. Geheime Kongresse und die Auswei-
sung aus der Schweiz IX 262
Franz Blei, Balkanvolker VII 1
Theodor Daubler, Matisse VIII 191
Daniel Henry, Der Kubismus IX 209
II.
GEDICHTE
Hans Gathmann, Ruf IX 257
Willy Kiisters, Gebet um Tod IX 258
Walter Rheiner-Schnorrenberg, Drei Gedichte . . VII 14
Alfred Wolfenstein, Bewegung (Presto, Andante,
Scherzo, Allegro) IX 259
III.
DRAMAT ISCHES
Heinrich Mann, Madame Legros. Drama in 3 Akten VIII 1 19
IV.
EPISCHES
HEFT SEITE
Peter Baum, Aus seinenWerken (Verse undProsa) VII 75
MaxBrod, Die ersteStunde nach demTode. Eine
Gespenstergeschichte IX 223
Francis Jammes, Der Hasenroman VII 17
Lu Marten, Geburt der Mutter IX 285
Hans Reimann, Scherze IX 291
V.
GLOSSEN
Georg Brandes, Ein Appell VII 89
Otto Freundlich, Uber eme unveroffentlichte
Schrift IX 297
Rudolf Fuchs, Die Hinrichtung VII 88
Annette Kolb, Ein gutes Buch VII 101
Annette Kolb, Epilog zu den Briefen an einenToten VIII 199
Alfred Lemm, Einiges vom Problem der Form .VII 94
Romain Rolland, Glaube und Hoffnung VII 92
Ludwig Rubiner, Das Paradies in Verzweiflung .VII 97
R. S., Heut und morgen. Notizen VIII 201
R.S., Notizen IX 301
Wilhelm Speyer, ,,Das ist die Holle“ VII 88
Robert Walzer, Besetzt VIII 200
Kleine Dokumente VII 101
VI.
ZEICHNUNGEN
Arthur Segall, Sechs Holzschnitte VIII 113
Franz Bid * Balkanvolker
1
c Tranz ZBfei:
BALKANVOLKER
^ EME INSAME Sitten und Brauche, Trachten und Volks-
lieder definieren nicht, was man eine Nation nennt ; auch
Eigentiimlichkeiten, die man als rassenhaft anspricht, tun das
nicht; auch nicht ein von den Volksindividuen bewohntes ge-
meinsames Territorium; femer nicht eine staatliche Formung,
die sich ein Volk gibt, denn die Nation ist ein weiterer Begriff
als der Staat und kann daher durch ihn nicht bestimmt werden .
Und endlich ist auch das gemeinsame sprachliche Verstandi-
gungsmittel der Volksindividuen nicht das, was ein Volk zu
einer Nation macht, denn das Idiom ist noch nicht Sprache;
und der Umstand, dafi Regierungsakte in diesem Idiom abge-
fafit werden, schafft noch nicht, was man eine Literatur nennt,
so wenig wie die Bibeliibersetzung in das Idiom eines poly-
nesischen Stammes dieses Idiom zu einer Sprache macht im
nationalen Sinne, in dem Sprache nicht nur artikulierte Mit-
teilung durch Worte bedeutet. Es gibt eine deutsche Nation,
die zur Zeit unter drei Staaten lebt. Es gibt eine polnische Nation,
aufgeteilt lebend und ohne eigenes Staatswesen. Es gibt in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika ein amerikanisches Volk,
aber keine amerikanische Nation. Die Brasilianer sind ein
portugiesisches Volk, keine Nation. Es gibt eine tiirkische Nation,
aber keine albanische oder kuzowalachische oder bulgarische
oder serbische; das sind Volkerund Volksstamme, die vielleicht
einmal Nationen werden konnen, — als den einzigen und
sichersten Weg dazu, halten sie eine eigene Staatsform. Aber
die Formung im Staate kann bestenfalles eine Nation schufzen,
nicfif aber sc&affen : aus den in der Monarchic vereinigten
Volkem ist keine osterreichische Nation geworden. Man kann
Franz Blei * Balkanvolker
sagen: Nationen geben sich unter giinstigen territorialen Be-
dingungen aus dem Uberflufi ibres national -kulturellcn Besitzes
eine staatliche Form, Volkem aber wird, wie in Osterreicb,
diese staatliche Form von aufien gegeben: sie erleiden den
Staat, der nicht aus ihrem National-Organischen erwachsen ist,
sondem ihnen aufgepfropft wurde. Was die Volker Osterreichs
vereint, ist ein habsburgisches Hausgesetz, das den vier Nationen
dieses Staates immer noch besser erscheint, als die partikula-
ristische Auflosung in Einzelstaaten, wie dies die noch nicht
Nationen gewordenen etlichen zwanzig Volker dieses Reiches
zu ihrem vermeintlichen Heile wollen . Der eigene, auf Gemein-
schaft des Idioms gegriindete Staat soli, so meinen diese Natio-
nalitaten, sie zu dem machen, was sie nicht sind und durch den
eigenen Staat auch nicht werden konnen : zu Nationen. Diese
mannigfachen Stamme glauben in ihren ehrgeizigenWortfiihrern,
die Deutschen und die Italiener seien erst durch die staatliche
Form, die sie sich gaben, zu Nationen ge worden, und diesem
mifiverstandenen Beispiel wollen sie folgen, gefordert darin
von einer Idolatrie des schlechthin Nationalen, wie es der
dritte Napoleon aufbrachte, und von einer Regierungstechnik
Mettemichscher Erfindung, die in einem gegenseitigen Aus-
spielen der in der Monarchie vereinigten Nationalitaten das
beste Mittel zu haben glaubte, das fur die Dynastie und ihre
Maschinerie notige Geld aus den Volkem herauszukriegen .
Weiter gefordert von einer russischen Politik, die ihr Ziel, die
Verdrangung der Tiirkei aus Europa und die Eroberung Kon-
stantinop>els am besten damit zu erreichen hoffte, dafi sie die
Balkanvolker auf ihre nationale Besonderheit aufmerksam machte
und selbstandige kleine Balkanstaaten protegierte. Die Tendenz
aller dieser Volker zu eigener staatlicher Formung kommt nicht
aus dem Uberflufi eines Lebens als Nation, sondem aus sekun-
daren politischen Motiven, an denen andere Staaten interes-
sierter sind, als die Individuen des betreffenden Volkes, die,
noch um das Notigste beldimmert, sich den Luxus eines eigenen
Staatswesens nicht leisten konnen und wenn sie es tun, ihn
viel teurer bezahlen, als er wert ist. Namlich mit den Mog-
Franz Blei * Balkanvolker 3
lichkeiten, aus einem Volke eine Nation zu werden: den ver-
liehenen Stoat aufrecht zu erhalten und unter schwierigsten
Verhaltnissen zu behaupten, wird die besten Krafte dieses
Volkes so sehr beanspruchen, daB nichts davon fiir die Biidung
einer Nation iibrig bleibt, woran alle nationalen Kirchen und
Bildungsinstitute nichts andem, die dem Staate wohl seine
Funktionare herrichten, nicht aber eine Nation schaffen. Es ist
nicht zynischer Annexionismus, der den koniglich-serbischen
Bauern Anschlufi an Osterreich rat und ihnen sagt, dafi ihr
Konigtum ihnen zu teuer zu stehen kommt und daB sie als
Teil der Monarchic mehr Krafte frei bekommen fiir ihre Bii-
dung zur Nation, die allein wichtig ist. Die Politik, die Oster-
reich gegeniiber seinen Nationalitaten befolgte, ist ja nicht
Effekt eines unabanderlichen Naturgesetzes, wie man an der
Schweiz sehen kann, wo das staatliche Verbundensein dreier
Nationen, die ihre Stammnation in andern Staaten haben,
keiner die nationale Selbstandigkeit nimmt, was ja auch gegen-
iiber einer Nation gar nicht in der Macht des Staates liegt:
ein napoleonisches Deutschland ware niemals national-franzo-
sisch geworden, ware immer national-deutsch geblieben, so wie
die Polen polnisch geblieben sind unter einem deutschen, oster-
reichischen und russischen Staate. Els liegt keineswegs in den
Elxistenzbedingungen der osterreichischen Monarchic, die sie
zwingen, zu verhindern, daB ihre Nationen sich als Nationen
behaupten und ihre Volker zu Nationen werden, wenn sie
dazu die innere zeugende Kraft haben, die allerdings nur sehr
bedingt in einem sprachlichen Idiom wurzelt, weil dieses durch
den bloBen Anspruch darauf noch nicht zu einer nationalen
Sprache wird. Denn Sprache ist noch nicht, wie man sich mit
dem Metzger verstandigt, bei dem man Fleisch kauft. Und
Sprache in diesem nationalen Sinn ist noch nicht, was ein
meist anderssprachiger Gelehrter in einem Buche als Wort-
schatz und Regel aufzeichnet. Sprache im nationalen Sinn ist
geistige Geschichte, ist aufweisbare, immer gegenwartige, offen-
kundige Leistung, unbestritten und unbezweifelt, nicht erst
durch Untersuchungen feststellbar, sondern lebendig vor-
4 Franz Blei ♦ Balkanvolker
handen fur jedermann, nicht von lachelndem Wohlwollen kon-
zediert, sondem dawie dieLuft. Um dieses Selbstverstandliche
wissen auch alle diese balkanischen Volkerschaften, die in den
letzten vierzig Jahren mit dem Anspruch auf ihr sie zu GroBtem
berechtigenden Eigendasein auftraten : da sie ihr Recht aus ihrem
gegenwartigen Leben nicht einwandfrei aufzeigen konnten,
versuchten sie es, aus ihrem einmal gewesenen Leben abzu-
leiten, in der tausendjahrigen byzantinischem Historic etwa,
in deren Verlauf viele dieser Volker einmal „den Staat“ gebil-
det haben, indem sie entweder die Dynastie oder die herr-
schende Klasse oder einen gliicklichen Heerfiihrer stellten.
Andere dieser Volker gehen noch weiter zuriick in der Ge~
schichte, berufen sich, wie die Albanier, auf Pyrrhus, oder wie
die Kuzowalachen auf die Pelasger, mit welchen angeblichen
Ureinwohnern Griechenlands, deren direkte Nachkommen sie
seien, man schon halb im Mythischen ist. Ein iiber den Durch-
schnitt begabtes Individuum eines zwanzigtausend Kopfe
zahlenden Stammes fiihlt sich als Biirgermeister schlecht am
Platze und traut sich zu, Dynastien und Reiche zu griinden,
wofiir er Recht und Titel in einer Geschichte sucht, die er
zur Befriedigung seiner Vorurteile studiert im Grauesten ihrer
Vergangenheit. Dient der Strebsame mit seinen Anspriichen
deraugenblicklichen politischen Konjunktur einer interessierten
Grofimacht, so wird diese ihn unterstiitzen, ihretwillen, nicht
seinetwillen, wie er meint und wie ihm gesagt wird ; um ihn
sofort fallen zu lassen, wenn er der Konjuktur nicht mehr
dient: die neuere Geschichte des Balkans ist voll solcher „Ver-
ratereien", welche Grofimachte an diesen Volkern veriibten,
das heifit an dem Ergeizigen, den sie nicht ans Ziel seiner
Wiinsche brachten. Oder ist voller „Dankesschuld“, wenn es
im Interesse der GroBmacht lag, die Sache soweit zu treiben,
daB es zu einer staatlichen Verselbstandigung kam, die gegeben,
aber nicht geschaffen wurde, und daher auch wieder genommen
werden kann: drei Grofimachte iibernahmen im Vertrage von
1863, betreffend die Jonischen Inseln, die Garantie eines
konstitutionell regierten Griechenland, das heiBt, sie schufen.
Franz Blei * Balkanvolker
5
indem sie schenkten, eine Abhangigkeit Griechenlands von
der Politik dieser drei Machte. Im tiirkischen Montenegro
residierten Bischofe oder Wladikas, die aus den Familien
des Landes gewahlt wurden. Im Jahr 1852 wollte der Wladika
Danilo eine Dynastie griinden, was der russischen Politik sym-
pathisch war. Danilo machte etwas Krieg gegen die Tiirkei,
die 30,000 Mann gegen Montenegro schickte. Aber Rufiland
sammelte Truppen in Befiarabien, und das beunruhigte Oster-
reich riet dem Sultan nachzugeben, was der auch nach einigem
Zogern tat: das Fiirstentum Montenegro gliickte dem Danilo,
weil Rufiland es wollte, nicht weil die montenegrinische
,,Nation“ lieber sterben, als ohne eigenen Staat leben wollte.
Die tiirkischen Eroberer konnten und wollten mit ihren er-
oberten und als Christen verachteten Volkern keinen modernen
Staat bilden. Das machte es Rufiland leicht, fur die Autonomie
dieser christlichen Volker einzutreten, die ,, nicht unter ein mo-
hammedanisches Joch gebeugt werden diirften", — wie es
sagte, — die Tiirkei durch Zerstiickelung ihres europaischen Be-
sitzes aus Konstantinopel zu drangen, wie es dachte. Der bis
zum Mord getriebene Kampf der beiden Dynastien, welche
Serbien zum Gliick eines selbstandigen Konigreiches verhalfen,
ist ein Kampf zwischen Osterreich und Rufiland seit dem ersten
Alexander Karageorg, der zu osterreichisch war, bis zu Michael
Obrenowitsch, der zu russisch war, und den 1 868 die Kara-
georgewitsche wieder umbrachten, was ihnen aber erst mit dem
jetzigen Konig Peter, der Osterreich wieder zu russisch war,
etwas niitzte und im Augenblick schon wieder nichts mehr
niitzt, — wovon allem, wer zweifelt daran, der koniglich-ser-
bische Bruchteil dieses Volkes eine aufierordentliche Forderung
in seinem Aufstieg aus einem Volke zur Nation erfuhr. Als man
1 862 die hellenische Krone einem russischen Prinzen anbot,
beeilte sich das erschreckte englische Kabinett, seinen dtinischen
Kandidaten anzubringen und gab ihm, damit er was in die Ehe
mitzubringen habe und den russischen Kandidaten ausstechen
konne, die Jonischen Inseln und damit dem Volke die Idee von
„Grofi-Griechenland“, von der man in Klein-Griechenland nur
I
6 Franz Bid * Balkanvdlker
^ ^ ^ x *> ^ <» ^ ** ^ ^ ^ ^ 9 m ** -— m a^h 4* — _ + s ^ + ^^4* *
nicht bcstimmt weiB, ob sie mit England gegen Rutland oder
mit Rufiland gegen England zu realisieren sei, was noch durch
Frankreich und Italien kompliziert wird. Die Bulgaren hatten
im Verlauf der russischen Okkupation von 1 828, wie es Heifit,
ihr nation ales BewuBtsein bekommen, das etwas s pater einen
eigenen Staat verlangte. Dieses nationale BewuBtsein agierte
vorerst kirchlich, und zwar auf russische antigriechische Veran-
lassung. Die Bulgaren protestierten gegen den griechisch-ortho-
doxen Patriarchen in Konstantinopel und die griechischen Bi-
schofe, die in der Bulgarei griechische Schulen griindeten und
die slavische Liturgie durch die griechische ersetzten. RuBland
begiinstigte diese kirchlich-autonomen Bestrebungen, in der Er-
wartung, daB daraus staatlich-autonome hervorwiichsen, die im
Sinne seiner antitiirldschen Politik lagen, fiir die sie in einem
GroB-Griechenland Schadigung befiirchten muBte. Die bul-
garischen Kirchendissidenten erinnerten sich nun, daB ihre
Kirche von Rom und nicht von Byzanz gegriindet worden war
und wandten sich an Rom, das ihnen die slavische Liturgie
samt dem Ritus gestattete, und sie bildeten die Gemeinschaft
der Griechisch-Uniierten. Diese Annaherung an den Westen
paBte aber Rufiland nicht, das die Bulgaren vor dem Panhel-
lenismus nur schiitzen wollte, um sie dem Panslavismus zuzu-
fiihren. RuBland erreichte es bei der Pforte, daB diese den
Bulgaren das Recht gab, ihre eigenen Bischofe zu wahlen unter
der Bedingung, daB diese die spirituelle Suprematie des oku-
menischen Patriarchen in Konstantinopel anerkennen, womit
der neue Patriarch aber nicht einverstanden war. Der Firman
von 1870 gab schliefilich der bulgarischen Kirche mit dem
Exarchen ihr eigenes Oberhaupt, womit das Seltsame Ereignis
wurde, daB ein mohammedanischer Fiirst eine christliche
Glaubensgemeinschaft griindete. Der Preliminarvertrag von
San Stefano sollte mit der Tiirkei ein Ende machen, wie es
RuBland wollte. England protestierte, aber Gortschakoff ver-
harrte auf seinem Willen, einem von England gewiinschten
KongreB die tvirkischen Angelegenheiten nicht vorzulegen,
darin wohl bestarkt von seiner Annahme einer guten Verstan-
Franz Blsi ♦ Balkanvolker
7
digung mit Osterreich, dem man Bosnien und die Herzegowina
anbot. Aber Osterreich verlangte viei mehr, und das wollte
man nicht geben. In London war man Osterreichs sicher und
auch Frankreichs, wo bei der Wiederberufung der republika-
nischen Partei der englandfreundliche Waddington den Herzog
Decazes ersetzte. England gab nicht nach. Rufiland rechnete
auf Bismarck, dem man doch zu Sadowa geholfen und an
Sedan nicht gehindert hatte, indem man ihm Osterreich durch
gewisse Drohungen vom Leibe hielt. Bismarck lieB erst eine
Weile den eitlen und ihm widerwartigen Gortschakoff durch
Bravaden sich blamieren, bevor er dem russischen Kanzler
mitteilte, dafi er nicht disponiert sei, seine Politik zu unter-
stutzen. Des kriegsfeindlichen Schuwaloff Verhandlungen in
London bewogen Disraeli, seine Forderungen zu formulieren
und am Kongrefi teilzunehmen. Das Fiirstentum Bulgarien
ging, wie man weiB, daraus noch nicht hervor, wie es San
Stefano sehr groBartig aufgerichtet hatte. Das auf ein Drittel
des russischen Voranschlages gebrachte bulgarische Reich
wurde in zwei Provinzen konzediert, deren eine groBere dem
Sultan zu verbleiben hatte, deren andere eine autonome Ad-
ministration mit einem christlichen Gouverneur bekommen
sollte. England verlangte von RuBland erstaunlich wenig auf
dem Balkan, denn es hatte sich vom Zaren in der asiatischen
Tiirkei viel Wichtigeres verschafft. Offiziell aber iibernahm
England den Schutz des Sultans in Hinsicht auf die musel-
manische Bevolkerung in Indien. Dem Berliner Kongrefi blieb
nach all den Preliminarien eigentlich nicht mehr viel zu tun
iibrig, so lebhaft auch die Debatten waren, als es zur Auf-
deckung gewisser geheim gehaltener Abmachungen kam. In vier
langen Sitzungen wurden Bulgarien und Rumelien gegriindet ;
in weiteren die Unabhangigkeit von Rumanien, Serbien und
Montenegro anerkannt, Serbien um Bosnien verkleinert und
auf Kosten Bulgariens dafiir entschadigt, Montenegro zu
Gunsten der Herzegowina, das heiBt Osterreichs, verkleinert.
Wenn man die 64 Artikel des Berliner Vertrages liest, hat
man nicht den Eindruck, daB hier ein Frieden etabliert wurde.
Franz Blei * Balkanvolker
Die Vertragsmachte waren sich uber den ..kranken Mann“ einig
und wollten ihn kurieren. Das taten sie so, dafi sie ihm Arme
und Beine abschnitten, weil er dann besser wiirde gehen und
besser halten konnen. Das ist politische Cbirurgie, gegen die
nichts zu sagen ist, denn in ihr kommt der Patient nicht hilfe-
suchend zum Chirurgen, sondem dieser zwingt sich dem Pa-
tienten auf. Die Frage ist immer nur, ob die Operation Ord-
nung schaff t, selbst wenn der Operierte draufgeht. Der Berliner
Kongrefi schaffte diese Ordnung keineswegs. Denn alle diese
abgeschnittenen Arme und Beine sollten nach der Meinung der
Vertragsmachte eigentiimlich weiterleben und verfiigten doch
weder iiber Herz noch iiber Him; es waren Volker, nicht
Nationen. Und wer Herz und Him geben sollte, dariiber kann
kein Kongrefi entscheiden : das war also dem freien Spiel der
politischen und diplomatischen Krafte iiberlassen. So wurde
aus dem Balkan der Keimboden aller kiinftigen Kriege im
Streite darum, wer zu dem Bein den Kopf, wer zu dem Arm
das Herz geben sollte. Worum sich erst nur Rufiland und
Osterreich stritten, bekam bald noch mehr Beteiligte, als die
adriatische Ostkiiste fur Italien, Griechenland fur England,
Kleinasien fiir Frankreich aktuell wurden. Ging es nicht mit
der Pretension, fiir Bulgarien oder Serbien Kopf sein zu wollen,
weil ein energisches „Besetzt!“ herschallte, so erfand man oder
schaffte man neue Glieder, die man dem „kranken Mann“ ab-
schnitt: Albanien, Thrazien, Epirus, Mazedonien, die Inseln.
Ein liebendes ethnographisches Interesse, die Sonderheit dieser
Volker zu erhalten, ist es nicht, was die Grofi- und Gern-
grofimachte veranlafit, sich um diese Volker zu kiimmern, die
sie gemeals „unterdriickte Nationalitaten“ anreden, und deren
naive Sonderhaftigkeit sie um so weniger erhalten mochten,
als sie sich gegeniiber den kapitalistischen Umgangsformen
eben der Machte meist abgeneigt zeigen. Was man darum will,
ist, diesen Volkem den „selbstandigen Staat“ zu geben, mit
dem sich reden lafit, denn er mufi ja die Sprache seiner Griinder
sprechen. Da gibt es einen Monarchen, den man dem neuen
Staate aus der Verwandtschaft der Griinder aussucht. Da gibt
F ranz Blei * Balkanvolker 9
es natiirlich auch gleich Staatsmanner, weitblickende, die man
leicht in der — wenn auch und eben weil — offenen Hand hat.
Da gibt es in einem fortgeschritteneren staatlichen Funktio-
nieren Parlamentarier und Wahler, durch die man erreicht,
was man einmal bei dem betreffenden Staatsmann nicht er-
reicht hat. Ginge es nach den nicht-balkanischen Interessenten,
so gabe es auf dieser so volkerreichen Halbinsel einige Dutzend
Reiche, — nur der beschrankten Zahl der zum Griinden be-
rechtigten Grofimachte verdanken wir es, daB die Landkarte
des Balkan nicht so bunt ist wie die des Thiiringerwaldes. Es
konnte in der Nahe der Monchsrepublik Athos als ein pikantes
Vis-a-vis einen jiidischen Staat Saloniki geben, denn die be-
giiterte und gebildete Mehrzahl der Bewohner dieser weder
griechischen noch bulgarischen Stadt sind Juden. Es konnte
einen Staat Kuzowalachien geben, dessen 20,000 Kuzowalachen
sich so lange fiir Griechen hielten, bis im Jahre 1 88 1 Thes-
salien von Griechenland annektiert wurde und der Patriot
Apostolo Margariti die kuzowalachische Nation verkiindete, die
an den Abhangen des Pindus von Mezzowo bis gegen Mona-
stir hin wohnt und ihre eigenen Schulen hat. Dieses Volk
erinnert sich im Jahre 1882, dafi im 12. Jahrhundert ein
Grofiwalachien von der Donau bis zum Isthmus von Korinth
reichte, namlich das zweite bulgarische Kaiserreich, dessen
Bevolkerung nicht, sondern dessen Herren diese Walachen
nur stellten. Margariti versuchte es erst mit den stammver-
wandten Rumanen, die sich aber mehr fiir ihre Landsleute
in Transsylvanien interessieren. Dann wandte er sich an die
Albanier, die er erinnerte, daB die Griechen Fremde in Europa
seien, namlich exilierte Agypter und Phonizier, wahrend die
Walachen und die Albanier die pelastischen Herren des Landes
gewesen seien. Er wandte sich an die Tiirken, die aus dieser
dritten Nation, die weder griechisch, noch slavisch sein wollte,
Vorteile und Geld zogen. Margariti wandte sich noch an die
„lateinischen Briider“ in Italien, an Osterreich, an Leo XIII.
Als er starb, starb auch die kuzowalachische Nation, die ihren
Staat von zuvielen garantiert haben wollte. DaB es kein selbst-
1 0 Franz BUi * Balkanvolker
standiges Reich Mazedonien gibt, dankt man nicht den
Machten, sondern dem Umstand, da8 die Mazedonier zur
Zeit der bulgarischen Griindung durch den Berliner Vertrag
zum groBten Teil in Sofia wohnten, wo sie das politisch
alctive Element bildeten, das auch die rumelische Revolution
im Jahr 1 885 inszenierte. Unter Stambuloff kam eine Zeit,
wo man die Mazedonier als „Fremde“ behandelte und sie von
offentlichen und politischen Funktionen fern hielt. Sie rHchten
sich dafiir an Stambuloff, indem sie ihn umbrachten, gaben
ein bulgarisiertes Mazedonien auf und dachten an ein maze-
donisiertes Bulgarien, dessen Amtssprache das Franzosische
sein sollte — das die Juden in Saloniki sprechen — , weil sich
eine eigene mazedonische Sprache nicht feststeilen liefi und
man sich auf eines der gesprochenen Idiome aus Paritat nicht
einigen mochte. Geringer schienen die Schwierigkeiten und
giinstiger die Aussichten fiir die Griinder bei den Albanern,
die sich selbst Skypetaren, das heifit Sohne des Adlers nennen,
und sich dem Sultan nur unterwarfen, weil er ihnen, auf
Kosten der Nachbarstfimme, erlaubte, ganz nach ihrer Art zu
leben, die sich seit Pyrrhus, ihrem Nationalhelden, nicht ge-
andert hat, unter dem sie Soldner in Tarent waren. Wie
spater Soldner der Bourbonen in Neapel und noch spater der
Griechen und des Sultans. Die siidlichen Tosken sympathi-
sieren mit den Griechen, die in Elbassan am Skombi ihren
nordlichsten kolonialen Vorposten haben; die nordlichen
Ghegen sind die Feinde der Tosken, worin wie in ihren
sonstigen Brauchen die Albaner niemand storen sollte ; eher
miifite man diesen letzten Rest einer homerischen Welt als
eine Art ethnographischen Naturpark in Europa erhalten. Und
nicht nur die Italiener sollten, wie sie es seit Jahren tun, an-
gesehenen Familien dieses Volkes eine jahrliche Pension —
nicht viel, 100 bis 150 Lire — zahlen, sondern alle europa-
ischen Staaten mtifiten mit solchen Geldbeitragen diesen Park
konservieren, dessen Menschen von der Heiligkeit der Arbeit
durchaus nicht iiberzeugt sind, sondern episch hinleben in
Brigandage, Clan- und Familienfehden und im Raub die wesent-
Franz Bid * Balkanvolker
I
liche Form ihrer Unabhangigkeit sehen. Sie erheben Tribut
von den Bauern der slavischen Ebene, die in der Pristina liegt,
mdem sie diese Bauern wie ihre Pachter behandeln. Am
Georgstag steigen sie von ihren Bergen und bestimmen sich
die Hohe des Pachtzinses je nach Bedarf und nach dem Stand
der Ernte; und am Michaelstag kommen sie den Zins holen:
dieser sehr einfache wirtschaftliche Vorgang heiBt Tschetel,
mit tiller Legalitat, die einer solchen Namensgebung inne-
wohnt. Kein Sultan hat je daran gerilhrt. Ja Abdul Hamid,
der MiBtrauische, suchte sich unter den Albanern seine Ver-
trauten und befahl seinen Statthaltern, ein Auge zuzudrilcken.
1878 sammelten sich 100,000 Albaner in Prizrend und zogen
gegen das unabhangig erklarte Montenegro, allerdings ohne
Erfolg. Sie wollten die Integritat des tiirkischen Reiches
schiitzen, unter dem es ihnen vortrefflich ging und — weil
Italien gut fur diesen Zug bezahlte. Abdul Hamid lieB sich
die Albaner etwas kosten, worin die Jungtiirken nicht fort-
fahren wollten. Seitdem versucht es dieses Volk, das die Lire
wie den Gulden seit langem kennt, mit den politischen Vellei-
taten Europas und aspiriert den albanischen Nationalstaat,
soweit er sich mit den alten schonen Brauchen, die man nicht
aufgeben will, vertragt. Vor diesem Kriege gab es drei alba-
nische Reiche auf Probe: ein tiirkisches, ein wiedisches und
ein griechisches Albanien, — das profitabelste zu wahlen war
die Zeit zu kurz, und die Angelegenheit dieses Volkes stockte,
dem wir unter alien Balkanvolkern die meisten Sympathien
entgegenbringen, so viel, dafi wir die pelasgische Abstammung
fur unbestreitbar halten. Ein Volk, das es wie die Ghegen
mit beiden Gottern halt, im Leben mohammedanisch ist und,
wenn es ans Sterben geht, den Popen rufen laBt, weil man ja
doch nicht wissen kann, ein solches Volk darf nicht ruiniert
werden dadurch, daB man ihm einen Staat herrichtet, in dem
es Steuern zahlen, also arbeiten miiBte. Irgendwo in Europa
sollte es ein Volk noch geben, das nicht in Fabriken geht und
keine Handlungsreisenden empfangt.
Staaten, in denen sich nicht Nationen formalen Ausdruck
2 Vol. 10/2
12
Franz Blei * Balkanvolker
geben, sondern welche als Nation noch nicht distinkten Volkern
gegeben werden, fordern diese Volker nicht nur nicht, sondern
ruinieren sie. Sie geben ihr Bestes an den Staat, der keine
andere Voraussetzung hat, als den fremden Willen jener Nation,
der ihn auf dieses Volk gegriindet hat und jederzeit wieder,
weil er nicht in einer Nation gewurzelt ist, aufheben kann:
mit dieser standigen Drohung des Moglichen schafft der Griinder
eine Suveranitat, die das dem Volke fremde und unorganische
Staatswesen doppelt unertraglich macht; es muB ein Staats-
wesen mit aller Kraft aufrecht erhalten — die Nationen bilden
und halten es mit dem UberschuB ihrer Kraft — und dieses
Staatswesen ist nicht einmal sein eigenes, ist nur bedingt sein
eigenes, auf Kiindigung gewissermaBen ! Bedarf schon eine
Nation ziemlicher Energie, sich den selbsttatig und eigenlaufig
werdenden Staat vom Leibe zu halten — und aus ihrem kul-
turellen Gut schopft sie allein diese Energie — so ist ein Volk
dazu auBerstande: es erliegt dem Staate ohne Widerstande.
Wir haben im deutschen Reiche einen Stamm, der so dem
Staate erlegen ist, und in dem jeder einzelne seinen mensch-
heitlichen Sinn erfiillt hat, wenn er den Staatszweck erfiillt
hat. Dieser Stamm ist der kulturfirmste und national schwachste :
die Widerstande fehlten ihm. Er ist Staat, oder er ist iiber-
haupt nicht. Der sehr gering entwickelte Staatsformungswille
der andern deutschen Stamme, besonders der katholisch glau-
bigen, uberlaBt sich diesem einen staatlichen Stamme, der
diese Arbeit der Staatsformung fiir alle tut und tun kann, well
er keine innerenWiderstande zu iiberwinden hat. Ohne PreuBen
gabe es heute vielleicht noch kein deutsches Reich. Aber ohne
PreuBen gabe es immer noch eine deutsche Nation. Und gabe
es als Deutsche nur PreuBen, so gabe es wohl einen preuBischen
Staat, aber keine preuBische Nation.
Es wird dem preufiisch gearteten Volke auf dem Balkan
vorbehalten sein, den balkanischen Staat zu tragen, und den
andern staatlich schwacheren Volkern, sich diesem tragenden
staatlichen Volke zu iiberantworten, das heiBt, aus Nationali-
taten eine Nation zu werden. Hundert Jahre lang haben die
Franz Bid ♦ Balkanvolkcr
13
groBen europaischen Staaten versucht, das Balkanproblem zu
losen, indem sie es zu eigenem Nutzen verwirrten. Man ver-
sucht es vielleicht die nachsten hundert Jahre damit, den
Balkanvolkcrn selber die Losung zu iiberlassen. Der beliebte
wirtschaftliche Handel braucht darunter nicht zu Ieiden, wenn
einmal der weniger beliebte diplomatische Handel ausge-
schaltet ist.
14
Walter Rheiner-Schnorrenberg ♦ Drei Gedichie
after Q\fiem er* & cfinorrenberg :
DREI GEDICHTE
DAN KGEBET
Warum mir dies Gliick ?
Blau des Himmels regnet auf mich herab,
Sonne kleidet mich ganz in Gold.
Zu mir zuriick
FlieBt alle Welt, sie entsproB mir so hold I
Frauen, sie sind mir wunderbar nah,
Schweben wie Engel und wissen es nicht.
Kommt, Schmerzen, Qual!
Werft an die Brust mich dem Firmament!
Mein Weinen ist schauernder Sternenweg.
Alliiberall
Bliiht meiner Liebe Rosengeheg.
0 wer die SiiBe der Dinge kennt,
Und dich, Leben, schluchzendes Wundertal!
V.
*
/'
Walter Rhcincr-Schnorrcnbcrg ♦ Drei GedichU
15
DIE TANZERIN
Nein, plotzlich branntest du im weiBen Licht,
in dich versunkner Blitz von blauer Seidel
Warfst deine Arme, schlank und grausam beide,
warfst deinen Korper wirr mir ins Gesicbt I
Licht Schreitende auf sommerlicher Heide,
flicht mild dein Lockengold in dies Gedicht.
Ja, wirf den Nacken auf das Hochgericht
blitzender Takte, dafi der Gott entscheide,
dem Du entspriihst, der in uns alien tobt,
der jauchzend dein Fontanendasein lobt
und dich entfaltet wie ein buntes Lied.
Tanze dein Traumen weiter, sei entbluht
dem Ewigen, das in den Steinen gltiht
und sich im Glanze heller Augen probt!
16
Walter Rheiner-Schnorrenberg ♦ Drei Gedichte
GEBET DES CHRISTEN IM KRIEG
Der du brausest in Kanonen —
Aufruhr, und im wirren Glanze
Manchmal zeigst ein huschendes Gesicht;
Cast bei Leichnamen, die tbronen
Stumm am Hiigel, fern vom Tanze,
Wirr verhauchend klagend Ucbt;
Der du wanderst in den Graben,
Obne Ziel, verweint und lungernd,
Schleichst um Feuer in erstickter Qual:
Gib uns, blafi in tierisch totem Leben,
Was wir sebnen, dumpf und hungemd ;
Zeig uns deiner Hande gliihend Mai!
Oft gekreuzigt sind wir und sehr bitter
Mit verfluchtem Essig-Schwamm getranlct;
Regungslos im Bajonetten-Gitter
Unsre Leiber blutig eingezwangt.
Heb dich auf im tosenden Gewitter,
Das ob unsern leeren Hirnen hangt.
Mach uns frei, du: Friedensfiirst und Ritter,
Toten-Wecker! Himmlisches Gescbenk!!
Francis Jatntncs ♦ Dcr Hasenroman
17
Francis $ amines:
DER HASENROMAN
BERECHTIGTE OBERSETZUNG VON JAKOB HEGNER
ERSTES BUCH
IN dem Thymian und dem Tau des Fabeldichters vernahm
Langohr die Jagd ; er entlief iiber den aufgeweichten lehmi-
gen Pfad, denn er fiirchtete seinen Schatten, die Heidekrauter
kamen ihm eilig entgegen, die blauen Kirchtiirme standen von
Tal zu Tal auf, er rannte hinab, stiirmte bergan, und seine
Spriinge bogen die Halme, wo die Tropfen ineinanderflossen.
In diesem gefliigelten Lauf wurde der Hase ein Bruder der
Lerchen, er flog iiber die BezirksstraBen hinweg, und am Weg-
weiser iiberlegte er einen Augenblick Iang, eh er dem Feldweg
folgte, der aus dem blendenden Sonnenlicht und der gerausch-
vollen Kreuzung in das dunkle, stille Moos fiihrt.
An diesem Tage war er beinahe an den zwolften Kilometer-
stein angestoBen, zwischen Markt Kastetis und Balansun, denn
seine Augen, in denen die Angst wohnt, stehn seitwarts. Noch
konnte er einhalten. Seine natiirhch gespaltene Oberlippe zit-
terte unmerklich und entblofite die langen Nager. Dann streck-
ten sich seine gelben Landstreichergamaschen mit den vom
Laufen abgestumpften FuBnageln : er hiipfte iiber die Hecke,
in Kugelform, die Ohren auf dem Hinterteil.
Eine gute Weile noch trug er seine Haut aufwarts, indes die
beunruhigten Hunde seine Spur verloren, und wieder abwarts,
bis zur LandstraBe in die Pyrenaen, wo er ein Pferd mit einem
Karren herankommen sah. In der Feme, auf dem Weg, wirbelte
der Staub wie im Marchen vom Blaubart, wenn die Schwester
1 8 Francis Jammes ♦ Der Hascnroman
fragt: Schwester Anna, siehst du noch nichts? Die silbeme
Trockenheit, wie war sie prachtig und duftete bitter nach IVlinze.
Nicht lange, so stand das Pferd vor dem Hasen.
Es war ein armseliger Gaul vor einem zweiraderigen Gefahrt,
und er konntenur noch im Galopp und ruckweise ziehn. Jeder
Schritt erschiitterte sein gelockertes Gerippe, dafi das Geschirr
klirrte, und die helle Mahne flatterte in der Luft, griinlich, wie
der Bart eines alten Seemanns. Miihsam, als waren es Pflaster-
steine, hob das Tier seine geschwulstig aufgetriebenen Hufe.
Langohr erschrak vor der grofien, lebendigen Maschine und
ihrem lauten Gerausch. Er tat einen Satz und floh weiter iiber
die Wiesen, die Stirn gegen das Gebirge, den Schwanz gegen
die Heide, das rechte Auge gegen die steigende Sonne und das
linke dem Dorfe zu. Endlich verkroch er sich in einem Stoppel-
feld, unweit einer Wachtel, die in der Art der Hennen mit dem
Bauch im Sande schlief und von der Warme betaubt durch die
Federn hindurch ihr Fett ausschwitzte.
Der Tag funkelte im Siiden. Der Himmel erblafite unter der
Hitze und wurde perlgrau. Ein Mausefalk schwebte miihelosen
Fluges in immer hoheril, immer weitern Kreisen. Wenige hun-
dert Schritte geradeaus, und die pfauengleich schillernde Flache
eines Flusses walzte das Spiegelbild von Erlen mit sich ; ihren
klebrigen Blattem entsickerte ein herber Duft, und ihre gewalt-
tatige Schwarze brach schneidend in den klaren Glanz des
Wassers. Nahe dem Damm glitten die Fische in Rudeln vor-
iiber. Der Mariengrufi riihrte mit seiner himmelblauen Schwinge
an den Sonnenbrand eines Kirchturms, und Langohrs Mittags-
ruhe begann.
*
Regungslos blieb er bis zum Abend in seinem Stoppelfeld,
nur ein Miickenschwarm belastigte ihn ein wenig, ein Flim-
mern, wie ein Weg in der Sonne. Erst in der Dammerung hiipfte
er zweimal leicht nach vorn und dann zwei andere Male nach
links und nach rechts.
Francis Jatntnes ♦ Der Hasenroman
19
Die Nacht war da. Er wagte sich an den Flufi, wo im Mond-
licht an den Spindeln des Schilfrohres das Gespinst der Silber-
nebel hing.
Mitten im blumigen Gras nahm er seinen Platz, erfreut, dafi
zu dieser Stunde die Tone reiner Wohlklang waren und man
nicht wufite, lockten Wachteln oder Quellen.
Waren die Menschen alle tot? Nur einer wachte draufien;
geschaftig iiber dem Wasser holte er unhorbar sein strahlen-
rieselndes Netz Heraus. Aber er storte nur das Herz der Welle,
das des Hasen blieb in Frieden.
Und da geschah es, dafi zwischen den Engelwurzdolden be-
hutsam eine Kugel erschien. Els war die nabende Freundin.
Langohr lief ihr entgegen, bis er sie tief im blaulichen Heu er-
reicht hatte. Ihre Nasen kamen aneinander. Und einen Augen-
blick lang, mitten im wilden Ampfer, tauschten sie Kiisse. Sie
trieben ihr Spiel. Dann wandten sie sich, vom Hunger geleitet,
gemachlich und Seite an Seite, gegen eine dunkel hinges treckte
Meierei. In dem armlichen Gemiisegarten, wohin sie einge-
drungen waren, gab es knistemden Kohl und wiirzigen Thy-
mian. Nebenan hauchte der Stall seinen Atem; hinter der Tiire
des Verschlages liefi das Schwein sein bewegliches Grunzen
horen und sein Schnuffeln.
So verstrich die Nacht mit Essen und Lieben. Allmahlich,
im Morgenrot, regte sich die Finstemis. Flecken leuchteten von
fernher. Alles begann zu schwanken. Ein Gockel auf dem Hiihner-
stall zerrifi die stille Luft. Er krahte wie besessen und klatschte
sich Beifall mit seinen Fliigelstumpfen.
Langohr und seine Frau verliefien einander an der Schwelle
der Domen- und Rosenhecke. Kristallen tauchte ein Dorf aus
dem Nebel, und im Felde zeigten sich hastende Rtiden, deren
Ruten wie straffe Seile schaukelten ; in der Minze und zwischen
den Halmen miihten sie sich, die von dem Iieblichen Paar geist-
voll geschlungenen Schleifen zu entwirren.
*
20
Francis Jammes ♦ Der Hasenroman
Unter Maulbeeren, in einer Grube, schlug dann Langohr sein
Lager auf, hier verweilte er bis zum Abend, mit offenen Augen.
Hier saB er wie ein Konig, unter dem Spitzbogen der Zweige,
ein RegenguB hatte sie mit hellblauen Perlen geschmiickt. End-
lich schlief er ein. Doch, sein Traum war unruhig und nicht so,
wie ihn der stille Schlummer des schwiilen Nachmittags be-
schert. Fremd war ihm die starre Schlaftrunkenheit der Eidecbse,
die kaum zuckt, wenn sie das Leben der alten Mauern traumt ;
und fremd die zutrauliche Feierstunde des Dachses, der da in
seinem licbtlosen Erdbau sitzt und es kiihl hat. Jedes noch so
kleine Gerausch raunt ihm von der Gefahrlichkeit dessen, was
sich riihrt, fallt und stofit ; ein Schatten bewegt sich unerwartet :
Naht ein Feind? Er weiB, dafi man im Nest nur dann gliicklich
sein darf, wenn alles jetzt ebenso ist, wie es vorher war. Daher
kommt seine Liebe zur Ordnung und verhilft ihm zu seiner
Behaglichkeit.
Denn, warum sollte in der blauen Windstille trager Tage am
wilden Rosenstrauch ein Blatt erzittern? Warum, wenn die
Schatten des Unterholzes so langsam vorriicken, als ob sie den
Tag festhalten wollten, warum sollten sie sich plotzlich regen?
Und warum hatte er sich zu den Menschen begeben sollen, die
nicht fern von seiner Zufluchtstatte die Maiskolben einsammelten,
darin die Sonne lhre fahlen Lichtkorner enthiillte? Seine Lider
ohne schiitzende Wimpern vertrugen nicht die verwirrenden
Wellen der Mittage, gewifi nurdarum verbot sich ihmdieNahe der
Wesen.dieungeblendet in die weifien Flammen der|Sicheln sehn.
Nichts lockte ihn, ehe nicht die Zeit gekommen war, wo er
von selbst ausging. Seine Weisheit war eins mit den Dingen.
Das Leben war ihm ein Tonwerk, und jeder Mifiklang riet ihm
zur Vorsicht. Er verwechselte memals das Gelaute der Hunde
mit einem fernen Glockenschall ; auch nicht die Bewegung des
Menschen mit der des wehenden Baumes ; den Knali des Ge-
wehres und den des knatternden Blitzes; den Blitz und das
Rollen der Karren ; den Ruf des Sperbers und die Dampfpfeife
im Dorfe. So gab es eine ganze Sprache, und ihre Worter waren
ihm bekannt als Feinde.
Francis Jammcs * Der Hasenroman
21
Wer in der Welt hatte zu sagen vermocht, woher Langohr
diese Klugheit und solches Wissen besaB? Keiner wohl, und
keiner kennt ihre geheimen Wege. Denn sein Ursprung verliert
sich in der Nacht der Zeiten, wo die Geschichten alle eins sind.
Kam er vielleicht aus der Arche des Noah, vom Berg Ararat,
an dem Tage, da die Taube, die in ihrem Gurren noch heute
das Rauschen der groBen Wasser bewahrt, den Olzweig brachte,
das Zeichen, dafi die Flut abnahm ? Oder war er, so wie er ist,
geschaffen worden, der Kurzschwanz, der Strohpelz, die Spalt-
nase, der Langohr, der Graustrumpf? Die Hand des Ewigen,
hatte sie ihn fertig unter die Lorbeeren des Paradieses gesetzt?
Gelagert unter einem Rosenstrauch, hatte er vielleicht Eva
belauscht? Wie sie sich baumte gleich einem Fiillen, zwischen
den Schwertlilien die Anmut ihrer gebraunten Beine auf und
nieder fiihrte und vor den verbotenen Granatbaumen ihre gol-
den en Briiste spannte? Oder war er damals bloB ein weifi glii-
hender Nebelstreif? Lebte er schon im Herzen der Porphyre,
war er, unverbrennlich, ihrer Lava entronnen, um nach und
nach, ehe er sich mit seiner Nase in die Welt wagte, den Granit
und dann die Zelle der Alge zu bewohnen? Verdankte er dem
geschmolzenen Jaspis seine Pechaugen ? Dem lehmigen Morast
sein Fell? Dem Seetang seine nachgiebigen Ohren! Dem fliis-
sigen Feuer sein Fieberblut?
Was bekiimmerte ihn seine Herkunft ! Still begniigt lag er in
seiner Grube. Es war im August, ein gewitterschwiiler, zermiir-
bender Nachmittag, der Himmel dunkel, pflaumenblau, hie
und da geschwellt, als sollte er im nachsten Augenblick iiber
der Ebene bersten.
Und schon halite der Regen auf den Brombeerblattern. lmmer
schneller trommelten die schlanken Wasserstabe. Langohr aber
fiirchtete sich nicht, denn die Regentropfen folgten aufeinander
in einer ihm langst vertrauten Ordnung. Und die Nasse fiihlte
er nicht, denn das Wasser fiel auf die dichte Pflanzenwolbung.
Nur ein einzelner Tropfen kam bis zum Grunde der Grube
und schlug immer wieder auf dieselbe Stelle.
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22 Francis Jammes • Der Hasenroman
Und so bangte dem Graustrumpf nicht vor diesem Zu-
sammenspiel. Wohlbekannt war ihm das Lied, worindieTranen
des Regens die langen Stropben bilden, und er wufite, daB
weder Hund noch Mensch, noch Fuchs oder Falke daran teil
haben. Der Himmel war wie eine Harfe, die Silberfaden des
stromenden Regens waren von oben hinunter gespannt. Und
hier unten lieB jedes Ding sie auf seine besondere Art ertonen
und nahm dann wieder sein eigenes Verlauten auf. Von den
griinen Fingern der Blatter rauschten die glasernen Saiten hoch
und dumpf. Hatten die Nebel Seele und Stimme erhalten?
Die von ihnen erweichte Erde schluchzte auf wie exne vom
Sudwind gepeinigte Frau, und dort, woderBoden amrissigsten
war und am trockensten, lieB sich das fortwahrende Gerausch
des Aufsaugens vernehmen, die Inbrunst brennender, dem vollen
Ungewitter hingegebener Lippen.
Die Nacht nach diesem Gewitter war klar. Der Regen war
fast aufgesogen. Auf dem Rasen, wo Langohr sonst seiner
Freundin begegnete, schwebte das Wasser nur noch in dichten
Nebelballen. Es sah aus wie unterirdische Baumwollstauden,
die ihre Hiilsen in der Flut des Mondlichtes gesprengt hatten.
Langs den Boschungen standen die regenschweren Biische
reihenweise wie Pilger, vorniibergebeugt unter der Last ihrer
Sacke und Schlauche. Ringsum Friede. In eine Hand legte sich
die Stirn des Engels. Das Morgengrauen harrte frostdurch-
schauert auf die rosenfingerige Schwester, und das niedergesun-
kene Gras betete zum Morgen auf.
Da plotzlich sah Langohr auf seiner Wiese einen Mann nahen,
und er erschrak gar nicht. Ein erstes Mai seit Urzeiten, seitdem
der Mensch Fallen stellt und Bogen spannt, erlosch der Trieb
zur Flucht in der Seele des LeichtfiiBigen.
Der Mann, der herankam, war angetan wie ein Baumstamm
tm Winter, wie mit wolligem Moos bekleidet. Er hatte eine
Kapuze auf dem Kopf und Sandalen an den FiiBen. Er trug
keinen Stock. Seine Hande lagen verschrankt in den Armeln
seines Mantels, ein Strick diente ihm als Giirtel. Sein bleiches,
knochiges Gesicht hielt er dem Mond entgegen, und der Mond
Francis Jammes ♦ Der Hasenroman
war minder blaB. Deutlich sah man die Adlernase, die Augen,
tief wiedieder Esel, und den schwarzen Bart, worm dieBiische
Flocken von Schafchenwolle hinterlassen hatten.
Zwei Tauben begleiteten ihn. Sie glitten von Ast zu Ast,
hinein in die mildtatige Nacht. Das verliebte Haschen lhrer
Fliigel war wie der Kelch einer entblatterten Blume : als wollte
er sich wieder vereinigen und sich von neuem zur Krone ent-
falten.
Drei armliche Hunde mit Stachelhalsbandern trabten ihm
schweifwedelnd voran, und ein alter Wolf beleckte ihm den
Kleidsaum. Ein Schaf und sein Junges drangen zwischen Krokus
vor und stampften blokend, unsicher und entziickt, auf sma-
ragdgriinen Traubenhyazinthen, indes drei Sperber mit den
beiden Tauben zu spielen begannen. Ein schiichterner Nacht-
vogel pfiff jubelnd inmitten der Eicheln, dann schwang er sich
auf und holte den Sperber ein und die Tauben, das Lamm und
das Schaf, die Hunde, den Wolf und den Mann.
Und der Mann trat heran zu dem Hasen und sprach zu ihm :
„Ich bin Franziskus. Ich liebe dich, und ich griifie dich,
Bruder. Ich griifie dich im Namen des Himmels, der die Wasser
spiegelt und die glitzernden Steine, im Namen des Sauerampfers,
der Rinden und der Korner, womit du deinen Hunger stillst.
Komm und folge diesen Unschuldigen, die mich begleiten und
sich an meine Schritte hangen, so glaubig wie der Efeu, der
den Baum umklammert und nicht daran denkt, dafi sich, viel-
leicht bald schon.der Holzfaller zeigen wird. 0 Hase, ich bringe
dir den Glauben, wie wir ihn der eine in den andern setzen,
den Glauben, der das Leben selbst ist, alles das, was wir doch
nicht wissen, aber woran wir glauben. 0 Hase, liebes freund-
liches Tier, sanfter Wanderer, willst du dich unserm Glauben
anschlieBen ?“
Und solange Franziskus sprach, verhielten sich die Tiere
still, sie lagen und saBen in den Zweigen, im Vertraun auf diese
Worte, die sie nicht begriffen.
Nur der Hase, das Auge weit geoffnet, schien jetzt durch
das Gerausch der Menschenlippen beunruhigt zu sein. Das eine
24
Francis Jarnmes * Der Hascnroman
Ohr nach vorn, das andere nach riickwarts gerichtet, war er
unschliissig, ob er fliehn solle oder bleiben.
Dies sah Franziskus. Er rupfte von der Wiese eine Handvoll
Gras, reichte es dem LeichtfiiBigen, und der folgte ihm nun.
*
Von dieser Nacht an blieben sie Gefahrten.
Niemand vermochte ihnen zu schaden, denn der Glaube
beschiitzte sie. Wenn Franz mit seinen Freunden halt machte,
auf einem Dorfplatz, wo die Leute beim Gedudel einer Sack-
pfeife tanzten, dann, wenn die Ulmen zerflieBen und auf den
dunkeln Wirtshaustischen die Madchen ihr Glas lachend in
den Abendwind heben, bildete man einen Kreis um sie. Und
das junge Volk mit Bogen oder Armbrust dachte nicht daran,
Langohr zu toten, so verwunderte sie sein ruhiges Wandeln,
so grausam erschien ihnen, ein armes Tier zu hintergehn, das
ihnen sein Zutrauen zu FiiBen legte. Sie hielten Franziskus flir
einen Fremden, dessen Gewerb es war, die Tiere zu zahmen,
sie offneten ihm fur die Nacht ihre Scheunen und reichten ihm
Almosen, wofiir er seinen Tieren ihre Lieblingsspeisen kaufte.
Auch fanden die Fahrenden miihelos ihren Unterhalt, denn der
Herbst, durch den sie zogen, war freigebig, die Speicher bogen
sich, man liefi sie auf den Maisfeldern Nachlese halten und
teilnehmen an der Weinernte, mit den Gesangen bei Sonnen-
untergang. Die blonden Magde driickten Trauben an ihre licht-
umspielten Briiste. Ihre Ellbogen leuchteten emporgehoben.
Oben iiber dem blauen Dunkel der Kastanienhaine, in Ruhe,
glitten fallende Sterne. Das Heidekraut in seinem Samt wurde
schwarzer. Wie seufzten die Rocke feme in den Laubgangen.
Jene schauten vor sich das Meer, ein Gemalde an der Him-
melswand,unddiegeneigten Segel, den weiBen Sand mit seinen
Flecken von den Schatten der Tamarisken, der Erdbeerbaume
und der Pinien. Sie wanderten iiber heitere Matten, wo, herab-
gefallen aus der Unbeflecktheit des Schnees, die Sturzwasser
zu Bachen werden, doch glitzernd die Erinnemng noch bewahren
an den SpieBglanz und die Fime.
Francis Jammcs * Der Hasenroman
25
Selbst wenn das Jagdhom erklang, blieb Langohr jetzt
unerschrocken und bei seinen Gesellen. Sie schiitzten ihn und
er sie. Eines Tages wagte sich eine Meute heran und entfloh
beim Anblick des Wolfes, ein anderesmal wieder schlich eine
Katzeden Tauben nach, entwich aber vor den Hunden mit dem
Stachelhalsband, und ein Wiesel auf der Lauer nach dem
Lammchen versteckte sich vor den Raubvogeln. Langohr
schreckte Schwalben ab, die auf die Eule lossturmten.
*
Langohrs bester Freund war einer der drei Hunde mit den
Stacheln, eine Jagdhiindin, gutmiitig, kleinen und gedrungenen
Baus, mit gestutztem Schwanz, hangenden Ohren und gebogenen
Beinen. Sie war artig und umganglich. Ihre Wiege war ein
Schweinekoben gewesen, bei einem Schuster, der des Sonntags
jagte. Nun war der Schuster tot, und niemand nahm sie auf.
So jagte sie in den Feldern, wo sie zuletzt an Franz kam.
Langohr hielt sich immer an ihrer Seite, und wenn sie schlafen
wollte, legte sie ihre Schnauze auf ihn, worauf auch er ein-
schlummerte. Denn alle pflegten der Mittagsruhe, und Traume
erfiillten ihren Schlaf in dem stumpfen Feuer der Sonne.
Franz schaute dann wieder das Paradies, das er hinter sich
gelassen hatte. Ihm war, als betrate er durch das grofie Tor die
himmlische HauptstraBe mit ihren Hausern der Auserkornen.
Es waren niednge Holzbuden, jede gleich der andern, in einem
Schatten, der, hell erstrahlend, zu Tranen der Freude riihrte.
Aus dem Innern hervor leuchteten da ein Hobel, dort ein
Hammer oder eine Feile. Hier auch war kein Ende der erheben-
den Miih. Denn wenn Gott die Menschen bei ihrer Ankunft
in den Himmel fragte, womit er ihre irdischen Werke belohnen
solle, wollten sie immer das behalten, was ihnen zum Paradiese
mit verholfen hatte. Und da war auf einmal eines jeden schlichtes
Wirken irgendwie wunderbar geworden. Handwerker traten
auf ihre Schwellen, und die Tische waren hinausgetragen fur
die Abendmahlzeit. Man horte den Frohsinn der himmlischen
Brunnen. Und auf den offenen Platzen entfalteten sich die
26
Francis Jammes * Der Hasenroman
Engel wie Segelboote und neigten slch in der Seligkeit der
andammernden Nacht.
Die Tiere aber sahn in ihren Traumen die Erde und das
Paradies nicht so, wie wir beides kennen und sehn. Sie traumten
von unzusammenhangenden Ebenen, worin ihre Sinne irre
wurden. Nebel fiel in sie. In Langohr wurde das Hundegebell
ganz eins mit der Sonnenhitze, mit jahem Knallen, mit einem
Sch witzen der Laufe, mit dem T aumei der Flucht , dem Schrecken ,
Lehmgeruch, hellem Wasser, hin- und herschwankenden Moh-
ren, knisterndem Mais, Mondschein und freudiger Aufregung
beim Anblick des Weibchens, wie es mitten im Duft der
Wiesenkonigin erschien.
Sie alle erblickten hinter den geschlossenen Lidern die beweg-
ten Abbilder ihrer Lebenslaufe. Nur die Tauben schiitzten vor
der Sonne ihre lebhaften unruhigen Kopfchen : sie erschauten
im Schatten ihrer Fliigel ihr Paradies.
ZWEITES BUCH.
ALS der Winter kam, sagte Franziskus zu seinen Freunden:
1 1 „Segen iiber euch, denn ihr seid Gottes. Doch bin ich
in Unruhe, denn der Schrei der ziehenden Ganse verkiindet eine
Hungersnot, und dafi es nicht in den Absichten des Himmels
Iiegt, euch die Erde zum Wohltater zu machen. Gelobt seien
die verborgenen Ratschlusse des Herrn."
Das Land um sie war wirklich verodet. Aus seinen straffen
Schlauchen voll Schnee traufelte der Himmel ein fahles Licht.
Alle Friichte in den Hecken waren abgestorben und alle in den
Garten. Und die Komer hatten ihre Schoten verlassen, um
in den Schofi der Erde einzugehn.
. . . „Gelobt seien die verborgenen Ratschlusse des Herrn,“
sagte Franziskus. „Vielleicht will er, ihr sollet mich verlassen
und ein jeglicher seines Weges ziehn, auf der Suche nach Nah-
rung. Trennet euch also von mir, der ich nicht alien zugleich
Francis Jammes * Der Hasenroman
27
folgen kann, wenn euch der Trieb jeden wo andershin flihrt.
Denn Jhr seid im Leben und bediirfet der Speise, ich jedoch
bin auferstanden und bin hier durch die Gn ade, den leiblichen
Bediirfnissen enthoben, und Gott liefi mich erscheinen, damit
ihr von mir geleitet waret bis an diesen Tag. Aber ich weifi
nicht mehr, was tun, und kann nicht langer mehr fur euch sor-
gen. Wollt ihr mich also verlassen, so sei einem jeden von euch
die Zunge gelost, und er sag es offen.“
*
Der erste, der sprach, war der Wolf.
Er hob seine Schnauze gegen Franziskus. In seinem zer-
zausten Schweif fegte der Wind. Er hustete. Lang war das
Kleid seines Elends. Sein klaglicher Pelz gab ihm das Aus-
sehen eines entthronten Konigs. Er zogerte und blickte im
Kreise um sich, von Freund zu Freund. Endlich kam seine
Stimme aus dem Schlund, der rauhe Laut des Winterschnees.
Und wie er seine Lefzen offnete, sah man seine ganze friihere
Entbehrung an der Lange seiner Zahne. So wild war sein Aus-
druck, dafi man nicht wufite, ob er seinen Herrn beifien oder
ihn liebkosen wolle.
Er sagte:
„0 Honig ohne Stacheln! 0 Armer! 0 Sohn Gottes! Wie
konnte ich dich verlassen ? Mein Leben war elend, und du hast
es mit Freude erfullt. In den Nachten, wie muBte ich da den
Atem der Hunde, der Hirten und der Feuerbrande belauschen,
um dann im richtigen Augenblick meine Krallen in die Kehle
der schlafenden Lammer zu versenken. Du lehrtest mich, o
Seliger, die Milde der Obstgarten kennen. Ja eben noch, da
sich mir der Bauch in der Lust nach Fleischesspeise hohlte,
emahrte mich deine Liebe zu mir. Wie so oft war mir doch
mein Hunger willkommen, wenn ich meinen Kopf auf deinen
Schuh legte, denn diesen Hunger, ich ertrage ihn, um dir zu
folgen, und aus Liebe zu dir will ich gerne s ter ben. “
*
3 voi. m/a
28
Francis Jammes ♦ Der Hasenroman
Und die Tauben gurrten.
Sie beendeten ihren frierenden Doppelflug in den Zweigen
eines vertrockneten Baumes. Sie konnten sich nicht zum Spre-
chen entschlieBen. Jeden Augenblick, so schien es, wollten sie
zustimmen, dann wieder, in Schrecken, erfiillten sie von neuem
mit ihren weiBen aufschluchzenden Zartlichkeiten den Wald, der
dieser Anmut lauschte. Sie zuckten wie junge Madchen, die ihre
Tranen und ihre Arme vereinen. Sie sprachen beide zu gleicher
Zeit, als hatten sie nur eine einzige, gemeinsame Stimme:
„0 Franz, milder als der Schimmer des Leuchtkafers im
Moose, lieblicher als der Bach, der uns sein Lied singt, wenn
wir unser laues Nest in den wiirzigen Schatten der jungen Pap-
peln hangen. Was kiimmert uns, daB Reif und Not uns aus
deiner Nahe verbannen und uns vertreiben wollen, hinweg zu
fruchtbaren Strichen? Urn deinetwillen werden wir die Not
lieben und Frost und Reif. Um deiner Liebe willen wollen wir
auf unsere Neigungen verzichten. Und miissen wir vor Kalte
sterben, so wird es Herz an Herz geschehn, o Herr."
*
Und einer der Hunde mit dem Stachelhalsband trat hervor.
Es war die Jagdhiindin, die Freundin des Hasen. Wie der Wolf,
hatte auch sie schon hart unter dem Hunger gelitten und klap-
perte mit den Zahnen. Ihre Ohren runzelten sich, auch wenn
sie sie hob ; ihr Schwanz, zerfahren wie eine Baumwollspindel,
hielt sich unbewegt wagrecht. Die rotgelben Augen richteten
sich auf Franziskus mit der Glut des unbedingten Glaubens.
Und ihre beiden Genossen, die sich anschickten, vertrauensvoll
zuzuhoren, senkten gutmiitig und unwissend den Kopf. Und
sie, die Hirtenhunde, die niemals was anderes gehort hatten als
das Greinen der Schellen, das Bloken der Herden und den
GeiBelschlag des Blitzes auf den Gipfeln, sie warteten ab, gliick-
lich und stolz dariiber, daB die kleine Jagdhiindin bekannte.
Da versuchte diese einen Schritt, aber kein Laut kam aus
ihrer Kehle. Sie leckte die Hand des Heiligen, dann legte sie
sich ihm zu FiiBen.
n
Francis Jamtnes ♦ Der Hasenroman 29
Und das Schaf blokte.
Sein Bloken war so traurig, als hauchte es seine Seele dem
Tod entgegen, schon bei dem bloBen Gedanken an eine Tren-
nung von Franz. Als es nun schwieg, horte man auf einmal
sein von einer befremdlichen Schwermut ergriffenes Lammchen
weinen wie ein Kind. Und das Schaf sprach :
,,Nicht die Munterkeit der Matten, die der Morgen mit sei-
nem Brodem dampft, nicht in den Bergen das SiiBholz, das der
Nebel mit seinem Silberseim beperlt, noch die Streu in der
verraucherten Hiitte, sie alle sind nicht zu vergleichen mit den
Almen deines Herzens. Lieber als dich zu verlassen, ist uns
das blutige und ekle Schlachthaus, das Schwanken auf dem
Karren, der uns dorthin bringt, blokend und die FiiBe ge-
bunden und die Rippen und die Wange auf dem Brett. 0 Franz,
unser Tod ware, dich zu verlieren, denn wir lieben dich.“
Und wahrend dieser Rede hielten Uhu und Sperber, bei-
sammen hockend, unbeweglich stand, die Augen voll Angst und,
um nicht fortzufliegen, die Fliigel fest an den Leib geprefit.
*
Der lezte, der sprach, war der Hase.
In seinem stroh- und erdfarbenen Haarkleid nahm er sich
aus wie eine Gottheit der Fluren. Inmitten dieser winterlichen
Wiiste glich er einer Scholle zur Sommerszeit. Er rief graue
Erinnerung wach an einen StraBenarbeiter oder an einen Land-
brieftrager. In den Schnecken seiner Loffel trug er aufrecht
mit sich die Erschiitterung aller Gerausche. Sein linker Loffel
horchte, zu Boden gesenkt, auf das Knistern des Frostes, in-
dessen der andre, in die Feme gestreckt, die Axtschlage auf-
sammelte, von denen der tote Wald widerhallte.
„Wahrlich“, sprach er, „o Franz, ich kann mich begniigen
mit der moosigen Rinde, die unter den Uebkosungen der
Schneeflocken aufgeweicht und von den winterlichen Sonnen-
aufgangen durchduftet ist. Ofters schon sattigte ich mich daran
jetzt in diesen Ungliickstagen, wo die Brombeerzweige nur
rosige Kristalle sind und die wippende Bachstelze ihren hef-
30
Francis Jammcs * Dcr Hascnroman
tigen Schrei gegen die Larven unter dem Ufereis ausstoBt, die
ihr Schnabel nun nicht mehr erreicht. Und diese Rinden, ich
will sie weiter kauen. Denn, o Franz, ich mag nicht hinsterben
mit den sanften Freunden in ihrem Todeskampf, sondern leben
will ich neben dir und mich nahren von den bittern Fasem
des Bastes."
*
Demnach, und weil die Heimat eines jeden eine andre und
nur fur ihn allein bewohnbar gewesen ware, zogen es also die
Genossen des Hasen vor, sich nicht zu trennen, vielmehr in
diesem Lande des morderischen Winters miteinander zu sterben.
Eines Abends waren die Tauben verwelkt und fielen wie
Blatter von ihrem Zweige, auch der Wolf schlofi seine Augen
dem Leben, die Schnauze auf den Schuh des Heiligen gelegt:
schon seit zwei Tagen hatte der Hals den Kopf nicht mehr auf-
recht halten konnen, und das Riickgrat war wie ein Brombeer-
zweig geworden, mit Kot belastet, im Winde zitternd: sein
Herr kiifite ihn auf die Stirn.
Danach gaben die Wachterhunde, das Schaf, die Sperber,
der Uhu und das Lamm ihren Geist auf, und zuletzt die zier-
liche Jagdhiindin, die der Hase vergeblich zu erwarmen trach-
tete. Sie verschied wedelnd, und Langohr war dariiber so tief
betriibt, dafi er bis zum nachsten Tag nicht imstande war, an
die Eichenrinde zu riihren.
*
Und Franziskus, in dieser Verheerung, betete, die Stirn in
die Hand geschmiegt, so wie im UbermaB des Leidens ein Dich-
ter sein Herz abermals schwinden fiihlt.
Dann, zum Hasen gewandt, sprach er: „0 Langohr, ich
hore eine Stimme mir eroffnen, daB du diese hier (und er wies
auf die Tierleichen) in die ewige Seligkeit bringen muBt. O
Langohr, wisse, es gibt fur die Tiere ein Paradies : aber ich
kenne es nicht. Kein Mensch wird es jemals betreten. O Lang-
ohr, fiihre du dorthin die Freunde, die mir Gott gegeben und
Francis Jammes * Der Hasenroman
31
wieder genommen hat. Du bist verstandig unter alien, und
deinem Verstande vertrau ich die Freunde an.“
Franzens Worte stiegen auf in den erhellten Himmel. Das
harte Winterblau war allmahlich wieder durchsichtig geworden.
Und in dieser Helligkeit wollte es scheinen, als ob die reizende
Jagdhiindin nochmals ihre geschmeidigen Seidenohren auf-
richten werde.
„0 meine Freunde, ihr Toten,“ sagte Franziskus, „seid ihr
denn tot, dieweil ich ailein von eurem Tode weiB? Wodurch
konntet ihr dem Schlaf beweisen, dafi ihr nicht blofi einge-
schlummert seid? Schlaft denn die Frucht der Waldrebe oder
ist sie tot, wenn der Wind nicht mehr ihre leichten Wimpern
beschwingt? Vielleicht, o Wolf, geht vom Himmel nur nicht
mehr Hauches genug, um deine Flanken zu heben? Und ihr,
Tauben, damit ihr wie ein Seufzen anschwellt? Und ihr, Schaf-
lein, damit eure sanfte Klage die Sanftheit noch der iiber-
schwemmten Wiesen erhohe? Und du, mein Uhu, damit dein
Ruf wieder erwache, der Liebesseufzer der Nacht selbst? Und
ihr, Sperber, damit ihr euch aufschwingt vom Boden ? Und ihr,
Wachthunde, dafi euer Schnappen zusammenstrome mit dem
Rausches der Schleusen? Und du, Hiindin, damit deine kost-
liche Einsicht neu auferstehe und du wieder spielen diirftest
mit dem Graustrumpf da?“
*
Auf einmal, von dem Maulwurfshiigel, wohin er sich ge-
lagert hatte, tat Langohr einen Sprung ins Blaue und fiel nicht
zuriick; und dann noch einmal, so leicht als ging es liber eine
Wiese von blauem Klee, sprang er in das Leere hinein, in das
Engelrrtch .
Kaum hatte er diesen Sprung vollfiihrt, fils er neben sich
die kleine Jagdhiindin gewahrte, und er fragte sie voll Freude:
„Warst du denn nicht tot ?“
Worauf sie aufhiipfend zur Antwort gab:
„Ich begreife nicht, was das heifit. Mein Schlaf heute war
ruhevoll und hell.“
'.V«V«VV.
32
Francis Jammes ♦ Dcr Hasenroman
Und Langohr sah, dafi auch die andem Tieie ihm in den
Raum nachfolgten, wahrend auf einer zweiten HimmelsstraBe
Franziskus ausschritt und dem Wolf mit der Hand ein Zeichen
gab, er mogedem Graustrumpf vertraun. Und Isegrim, gelehrig
und beruhigten Sinnes, fiihlte, wie ihn der Glaube abermals
iiberkam, und er schlofi sich an seine Freunde, nach einem
langen Blick auf seinen Herrn und in dem Bewufitsein, dafi fur
die Auserwahlten sogar das Abschiednehmen gottlich ist.
Sie liefien den Winter binter sich. Sie staunten iiber ihren
Gang durch diese Wiesen, die ehemals unerreichbar waren und
so hoch iiber ihnen. Docb das Ver langen nach dem Paradiese
gab ihnen Halt und Sicherheit in dem Himmel.
Auf den Pfaden der Seraphim, die Lichtspaliere entlang,
auf den Milchstrafien, wo der Komet eine Garbe ist, leitete
Langohr seine Genossen; Franziskus hatte sie ihm anvertraut,
ihn zu ihrem Fiihrer erwahlt, weil er Langohrs Klugheit kannte.
Und hatte denn Langohr seine m Herrn nicht bei verschiedenen
Gelegenheiten Proben erbracht von jener Furcht, die der Anfang
der Weisheit ist ? Hatte er bei der Begegnung mit Franziskus
und bei der Aufforderung zum Mitgehn nicht gewartet, bis
ihm der Heilige ein Biischel frisches Gras zu fressen reichte?
Und als alle seine Gefahrten sich aus Liebe zueinander dem
Tode weihten, hatte da er, der Graustrumpf, nicht weiter die
bittere Baumrinde gekaut ?
Darum konnte es dem Hasen auch im Himmel an seiner
Klugheit nicht fehlen ; wich man ab, so kam er immer wieder
auf die rechte Strafie, verstand es, Irrwege zu vermeiden, und
wufite, wie man weder an die Sonne noch an den Mond sttifit,
auch wie man den fallenden Sternen ausweicht, die so gefahr-
hch sind wie die Steine aus den Schleudern ; und sich zurecht-
zufinden mit all den Pfahlen, die die Zahl der zuriickgelegten
Kilometer anzeigen und die Namen der himmlischen Dorfer.
Francis Jammes * Der Hasenroman 33
Die Landschaften nun, die Langohr und seine Genossen he-
re isten, erschienen ihnen hinreiBend und begeisternd, und dies
um somehr, als sie, anders gerichtet a Is die Menschen, niemals
die Schonheiten des Himmels geahnt, sondem ihn immer nur
von der Seite erblickt hatten, doch nicht in der Hohe liber
sich, was ein Vorrecht des Herrn der Tiere bleibt.
Also, Kurzschwanz, Wolf, Schaf, Lam mchen, Vogel, Herden-
wachter und Jagerin stellten fest, dafi der Himmel nicht minder
schon war als die Erde. Und alle, aufier Langohr, dem die
Mars chrichtung zuweilen Sorge machte, genossen einer unge-
mischten Freude auf dieser Pilgerung zu Gott, wo an Stelle
des Himmelfeldes, noch kiirzlich unerreichbar liber ihren
Hauptern, jetzt langsam die Erde unerreichbar wurde unter
ihren FiiBen. Und in dem MaBe, wie sie sich von ihr en tfernten,
ward ihnen diese Erde zu ihrer neuen Himmelskugel. Das Blau
der Meere ballte dort Wolken Schaumes, und die Lichter in
den Buden besternten dort die Weite der Nacht.
*
Allmahlich naherten sie sich den Landem, die ihnen Fran-
ziskus verheiBen hatte. Bereits zergingen der rosenrote Klee
der Sonnenuntergange und die leuchtenden Friichte des Dunkels,
ihre Speise, groBer immer und voller, in ihren Seelen zu
paradiesischen Siifien.
Die Blatter, die brennenden Safte flofiten in ihr Blut eine
sommerliche Kraft, einen frohen Uberschwang, wovon die
Herzen schneller schlugen bei der Annaherung an die kiinftigen
Herrlichkeiten.
*
Endlich gelangten sie zu dem Aufenthalt der seligen Tiere,
zum ersten Paradies, dem der Hunde.
Eine Weile schon vernahm man ein Bellen. Sie kamen an
den Stumpf einer zerfressenen Eiche und sahn darin eine Dogge
sitzen wie in einer Nische. An ihrem abweisenden und zugleich
34 Francis Jammts ♦ Der Hasenrotnan
sanften Blick merkte man, dafi sich ihr Gehirn ein wenig in
Unordnung befand. Els war die Dogge des Diogenes, der Gott
eine Einsamkeit geschenkt hatte in dieser aus dem ganzen Baum
gehohlten Tonne. Unbewegt sah sie die StachelKunde vorbei-
ziehn. Danach, zu deren groBer Verwunderung, trat sie auf einen
Augenblick aus ihrer moosbewachsenen Behausung und knotete
sich selbst wieder an, indem sie mit dem Maule nachhalf —
denn ihre Leine hatte sich gelockert — kehrte dann in ihr Holz-
gewolbe zuriick und sagte:
,,Hier findet jeder seine Lust, wo er sie sucht.“
Und wirklich erblickten Langohr und seine Freunde eine An-
zahl Hunde auf der Suche nach vorgestellten, verlornen
Wanderern. Sie wagten den Abstieg in tiefe Schliinde, um die
Verungliickten dort zu finden, ihnen ein wenig Briihe zu
bnngen, Fleisch und Branntwein, in den kleinen Fassern an
ihrem Hals.
Andre wieder warfen sich in vereiste Seen, in der immer
getauschten Hoffnung, einen Schiffbriichigen daraus hervorzu-
ziehn. Sie schwammen zuriick ans Ufer, zittemd und betaubt,
jedoch befnedigt von ihrer nutzlosen Treue und bereit, sich
aufs neue hinauszustiirzen.
Wieder andre bettelten hartnackig um ein paar alte Knochen
vor der Schwelle verlassner Hiitten an der StraBe und warteten
auf die FuBtritte, die ihren Blicken eine verehrungswiirdige
Schwermut verleihen sollten.
Da war auch ein Scherenschleiferhund, der drehte freudig,
mit hangender Zunge, an dem Raderwerk eines Steines, auf
dem sich kein Messer glatt schliff. Aber seine Augen glanzten
von dem hinnehmenden Glauben an seine erfiillte Pflicht, und
er unterbrach seine Anstrengungen nur, um Atem zu holen
und sich wiederum anzustrengen.
Dann gab es da einen Wachterhund, der wollte ewig verirrte
Schafe in ihre Hiirde zuriickfiihren. Er jagte nach ihnen am
Rand eines Baches, der am Hang eines wiesengriinen Hiigels
leuchtete.
Francis Jammes * Der Hasenroman
35
Von diesem griinen Hiigel, und aus Unterholz hervor-
brechend, stieg eine Meute nieder, die den ganzen Tag Traum-
hiindinnen und Traumgazellen verfolgt hatte. I hr Gelaute, fest-
gehalten auf alten Spuren, erldang wie begliickte Glocken an
einem bliihenden Ostermorgen.
Nicht weit von dieser Stelle richteten sich die Wachthunde
und die kleine Jagerin hauslich ein. Aber als diese von Langohr
zartlichen Abschied nehmen wollte, gewahrte sie, daB er sich
aus dem Staub gemacht hatte, schon seit dem Anschlagen der
Meute.
Und so muBten ohne ihn die Sperber, die Eule, dieTauben,
der Wolf und die Lammer ihren Flug wieder aufnehmen. Sie
begriffen gar wohl, daB er, ein kleinglaubiger Hase, nicht wie
sie zu sterben verstanden hatte, und daB er lieber als sich durch
Gott gerettet zu sehn, sich selber retten wollte.
*
Das zweite Paradies war das der Vogel; es lag in einem
kiihlen Waldchen, ihr Sang tropfte auf die Erlen und krauselte
die Blatter. Und von den Erlen strdmten die Lieder hinab in
den FluB und erfiillten ihn so mit Musik, daB er auf den Schilf-
rohren spielte.
In der Feme zog sich ein Hiigel hin, voll Friihhng und
Schatten. Sein Bau war von einer unvergleichhchen Anmut.
Er duftete nach Einsamkeit: nach nachtlichem Flieder und
dem Odem aus dem Herzen dunkler Rosen, woraus die heiBe
weiBe Sonne trinkt.
Nun mit einemmal, in Pausen, als waren die kristallenen Sterne,
ihr Licht brechend, auf Wasser gefallen, horte man den Sang
der Nachtigall aufgehn. Nichts horte man als den Sang der
Nachtigall. Auf dem ganzen weiten stillen Hiigel horte man
bloB den Sang der Nachtigall. Die Nacht war bloB das Seufzen
der Nachtigall.
Da, in dem Waldchen, stieg die Morgenstunde auf, errotend
wegen ihrer Nacktheit inmitten der gefiederten Sanger, die
noch nicht daran dachten, ihr Zwitschern abzustimmen, so
36
Francis Jammes * Der Hasenroman
schwer waren ihre Fliigel von Gefiihl und Morgentau. Noch
schlugen die Wachteln nicht in den griinen Halmen. DieMeisen
mit ihren schwarzen Kopfchen rauschten in dem Feigendicldcht
wie Kiesel in der Stromung. Elin Griinspecht, beinahe wie ein
Biischel Gras von goldschimmernden Wiesen, eine Kleeblute
auf dem Kopf, zerrifi mit seinem Schrei die Himmelsblaue.
Dann richtete er seinen Flug auf die alten, blendend bliihenden
Apfelbaume .
Die drei Sperber und die Eule gingen ein in diese Blumen-
weiden, und nicht ein Rotkehlchen, nicht ein Distelfink, nicht
ein Hanfling erschraken vor ihnen. Die Raubvogel hockten
sich meder ins Geast, in anmafiender und schwermiitiger
Haltung, und das Auge zur Sonne gekehrt, schlugen sie dann
und wann mit ihren Stahlschwingen gegen den scheckigen Kiel
ihrer Brust.
Die Eule aber suchte den Schattenhiigel auf, um zuriickge-
zogen in einer Hohlung, und zufrieden mit ihrem Dunkel und
ihrer Einsicht, die Nachtigall klagen zu horen.
*
Doch die kostlichste Zuflucht hatten sich die Tauben erwahlt.
Sie safien auf wiirzigen Olbaumen im Abendwehn. In diesem
Garten lebten junge Madchen, die man wegen ihrer tierhaften
Anmut eingelassen hatte, alle die jungen Madchen, seufzend
und wie Jelanger-Jelieber, alle die jungen Madchen, die mit
den empfindsamen Tauben schmachten, von den Tauben
Venetiens an, die den gelangweilten Dogaressen fachelten, bis
zu den Tauben Westindiens, mit dem neckischen Feuer ihrer
orangen- und tabakfarbenen Fischerinnenschnabel ; alle die
Tauben der Traume und alle die traumenden Tauben: die
Taube, die Beatrice aufzog, und der Dante ein Korn reichte ;
und jene, die in der Nacht von der enttauschten Quitteria ver-
nommen ward; und jene, die aufschluchzen muBte auf der
Schulter Virginiens, als sie im nachtlichen Quell, im Schatten
der Kokospalme, vergebens ihre Liebesglut zu kiihlen versuchte ;
und noch die Taube, der die Siebzehnjahrige, bedriickt von
Francis Jammcs * Der Hasenroman
37
der Schwiile des Sommers, im Hausgarten bei den reifenden
Pfirsichen die zartliche Botschaft anvertraut, damit sie sie mit
forttrage, auf ihrem Flug ins Ungewisse.
Und dann waren hier die Tauben der alten, rosenumspon-
nenen Pfarrkirchen : die Tauben, die aus seiner weihrauch-
duftenden Hand Jocelyn nahrte, wahrend seine Gedanken bei
Laurence weilten. Und die Taube, die man dem sterbenden
kleinen Madchen bringt ; und die Taube, die man in manchen
Gegenden auf die heiBe Stirn der Kranken legt ; und die ge-
blendete Taube, die so schmerzlich aufstohnt, dafisieden Zug
ihrer wilden Sch western in den Hinterhalt des Jagers lockt;
und die beste aller Tauben, die in seiner Dachkammer den
alten vergessenen Dichter trostet.
*
Das dritte Paradies war das der Schafchen.
Im Schofie eines Smaragdtales, bewassert von Bachen, die
unter ihrem besonnten Kristall eine Decke unerhorten Griins
zeigten ; nahe bei einem perlmuttemen, pfauengleich schillemden
See, tiefblau und wie Glimmerschiefer, wie die Kehle der Kolibri
und die Fliigel der Schmetterlinge : hier, wo sie das ungetriibte
Salz von dem goldgekomten Granit geleckt hatten, unter dem
Dach ihres dichten WolIvlieBes wie Blatt und Ast unter Schnee,
traumten die Lammer lhren langen Traum.
Diese Landschaft war so rein, so traumhaft klar, daB sie die
Wimpern der Schafchen angesilbert hatte und hinemgeglitten
war in das Gold ihrer Augen. Darin schien alles so durchsichtig,
daB man, tief in ihrem Wasser, so deutlich enthiillten sich die
Umrisse, die gelbgestrei ften Kalkgipfel zu erblicken vermeinte.
In die Teppiche der Buchen- und Tannenwalder waren Bliiten
eingewirkt, von Reif, von Himmel und von Blut, und der sanfte
Wind, wenn er dariiber hinweggeweht hatte, zog noch leichter,
noch bedufteter, noch eisesklarer von dannen.
Gleich einer blauen Meerflut wallten die kostlichen Kegel
der Baume hoch, mit verflochtenem Silbertang. Abwarts, von
den felsigen Zahnen des Gebirges, dampften Wasserfalle. Und
38
Francis Jammcs * Der Hasenroman
auf einmal blokten die himmlischen Herden Gott entgegen ;
und die verziickten Schellen weinten um den Schatten der
Farnkrauter. Und das dunkle Wasser der Grotten brach sich
im Licht.
Gelagert unter wilden Lorbeerbiischen erscbien das wieder-
gewonnene Lamm der Bibel. Seine Pfote ruhte auf seinem
Mund und blutete noch. Seine Wege waren hart gewesen, bald
aber sollte es an dem leicht gesauerten Zucker der Myrten
wieder gesund werden. Schon zitterte es bei dem Laut seiner
zerstreuten Gefahrten.
Einziehend in dieses gelobte Land, ihren bleibenden Auf-
enthalt, gewahrten die franziskanischen Schafchen das Lamm
aus der Fabel des Lafontaine, wie es unter Vergifimeinnicht an
der spiegelhellen Welle graste. Nicht mehr stritt es mit dem
Wolf des Gedichtes. Es trank, und das Wasserlein wurde nicht
triibe da von. Die ungefafite Quelle, fur das Gefiihl durch einen
zweihundertjahrigen Efeu verschattet, verbittert, stromte iiber
den Rasen hin ihre zerbrochenen Wellchen und, fortgerissen
mit ihrem Glitzern, das schneeige Beben des Lammes.
An den Halden der Gliickseligkeit hochhangende Schafe, die
Schafe sahn sie jener Helden des Cervantes, die aus Liebesgram
alle wegen ein- und derselben Schonheit ihre Stadt verlassen
hatten, um in der Feme ein Hirtenleben zu vollbringen. Die
Stimmen dieser Tiere waren die allersanftesten : Stimmen von
Herzen, die insgeheim ihr eigenes Leiden lieben. Sie schliirften
von den Quendelbeeten die immer neuen brennenden Tranen,
die ihre bukolischen Dichter wie Tau hatten fallen lassen aus
dem Kelche der Augen.
Am Rande dieses Paradieses erhob sich ein undeutliches
Gerausch gleich dem unendlichen Wellenschlag. Es war der
Floten und der Klarinetten immer wieder stockendes Schluch-
zen, ein Rufen, von den Abgriinden zuriickgeschnellt, Gebell
der unruhigen Hunde, der Sturz eines umgriinten Steines ins
Leere. Es war der Schwall der Wasserfalle hoch iiber den
tosenden Wildbachen. Wie die Sprache war es eines Volkes auf
dem Wege zu seinem gelobten Land, namenlosen Weintrauben
Francis Jammes * Der Hasenroman
39
entgegen, brennenden Dornbiischen entgegen, Laute, unter-
mischt mit dem Aufschrei trachtiger Eselinnen, die die Last der
vollen Milchkannen trugen und die Hirtenmantel und das Salz
und den schieferig abblatternden Kase.
*
Das vierte Paradies, in seiner fast unbeschreiblichen Nackt-
heit, gehorte den Wolfen.
Auf dem Gipfel eines baumlosen Berges, in der Ode des
Windes, in durchdringenden Nebeldampfen, genossen sie des
Gliickes der Martyrer. Sich also verlassenzufiihlen, empfanden
sie als eine herbe Freude und ebenso dies, daB sie niemals
langer als einen Augenblick lang — und unter welchen Qualen !
— ihrem Blutdurst hatten entsagen konnen. Sie waren die
Enterbten mit dem ewig unverwirklichten Traum. Schon seit
langem konnten sie nicht mehr heran an die himmlischen
Lammer, deren blanke Augenwimpern in dem griinen Lichte
auf- und niederschlugen . Und dann, da keines dieser Tiere
starb, durften sie auch nicht langer den Leib erwarten, daB ihn
der Schafer ihnen hinwiirfe an den immer lachenden Bach.
Und die Wolfe hatten sich bescheiden gelemt. Ihr Pelz,
rauh wie ihr Fels, war zum Erbarmen. Eine Art von klaghcher
GroBe herrschte an dem seltsamen Ort. So tragisch, so unselig
wirkte ihr Erlostsein — man hatte sie, o Mitgefiihl ! , selbst
wenn man sie beim Lammermord ertappte, auf die Stirne kiissen
mogen, voll Zartlichkeit, diese armen Fleischfresser. DieSchon-
heit ihres Paradieses, wo nun auch der Herzenswolf des Fran-
ziskus Wohnung nahm, war in der Trostlosigkeit beschlossen
und in der hoffnungslosen Verzweiflung.
Uber dieses Gebiet hinaus aber erstreckte sich der Tier-
himmel ins Unendliche.
.V*'’
Francis Jammcs ♦ Der Hascnroman
DRITTES BUCH.
I jER Hase nun, der hatte beim Anblick der himmlischen
^ Hundeschar kliiglich das Panier ergriffen. Solange Franzis-
kus bei ihm war, glaubte er an Franziskus. Bald aber, und wenn
auch in den Gefilden der Seligen, hatte seine mifitrauische
Bauernnatur witder Gewalt iiber ihn gewonnen. Und da er sich
hier nicht so recht in seinem Paradies fiihlte, weder eine voll-
kommene Seligkeit auskostete, noch den Reiz der bekannten
Gefahr, gegen die man ankampfen konnte, war er irre geworden.
Er lief also hin und her, mit Unbehagen, er kannte sich nicht
aus, fand sich nicht zurecht und suchte vergebens, was er doch
immer wieder floh und was ihn geflohn hatte. Was war das
nur? War denn der Himmel nicht das Gliick? Wo mochte die
Stille noch stiller sein? In welchem andern Neste hatte der
Spaltnasige einen unbedrohten Schlaf besser traumen konnen
als in diesen wollenen Wiegen, die der Windhauch hinbreitete
unter das bebliitete Strauchwerk der Sterne?
Doch schlief er hier nicht, ihm fehlte die Unruhe und noch
manches andere. In den Graben des Himmels hockend, spiirte
er unter dem weissen Fleck seines Stummelschwanzes nicht
mehr, wie ihn die Feuchtigkeit mit Schauern durchdrang. Die
Miicken, weit weg in ihrem Teichparadies, gewahrten seinen
immer offenen Augenlidern nicht langer das beizende Brennen
des Sommers. Wohin war dieses Fiebern geschwunden? Sein
Herz schlug nicht mehr mit jener Kraft von ehemals, wenn
auf den Kuppen der flammendroten Heiden das Feuerrohr einen
Erdregen um ihn herum versprtihte. Unter der weichen Lieb-
kosung des Rasens sprofite ihm sein sonst sparliches Haar aus
den Schwielen der Pfoten. Und er begann den UberfluB des
Himmels zu bedauern, Ihm war wie dem Gartner, der, Konig
geworden, purpurne Sandalen tragen muB und sich seine Holz-
schuhe zuriickwiinscht, mit ihrem Schwergewicht von Lehm
und Armut.
*
Francis Jammes * Der Hasenroman
41
Und Franziskus in seinem Paradies erfuhr von den Bedrang-
nissen des Hasen und von seiner Verwirrung. Undsein Herzlitt
darunter, daB einer seiner alten Genossen nicht gliicldich war.
Seitdem schienen ihm die Gassen des himmlischen Dorfes,
seines Wohnortes, nicht mehr so friedlich, die abendlichen
Schatten nicht mehr so milde, nicht mehr so weifi der Atem
der Lilien, nicht mehr so heilig der Schein des Werkzeugs in
den Schuppen, nicht mehr so hell die singenden Kriige, deren
Wasser in frischen Garben auseinanderstrahlte, kiihlespendend
iiber die Leiber der Engel, die an den Brunnenrandern saBen.
*
Also begab sich Franziskus zum lieben Gott, und er empfing
ihn in seinem Garten bei sinkendem Tag. Els war dieser Garten
Gottes der einfachste und schonste. Woher das Wunder seiner
Schonheit kam, war unerklarlich. Vielleicht wuchs darin nichts
anderes als die Liebe. Uber die Mauern, ausgekerbt von den
Weltaltern, wucherte dunkler Flieder. Entziickt trugen die
Steine ihre lachelnden Moose, deren goldne Kopfchen an der
schattigen Brust der Veilchen sogen.
In einem zerstreuten Schimmer, der nichts von Morgenlicht
noch von Abenddammerung an sich hatte, denn er war noch
zarter als diese, inmitten eines Beetes bliihte ein blauer Lauch.
Em Geheimnis umgab die blaue Kugel seines Bliitenstandes,
der sich unbewegt in sich verschlossen hielt auf seinem hohen
Stengel. Man begriff, dafi diese Pflanze traumte. Wovon wohl?
Vielleicht von dem Werk ihrer Seele, die am Winterabend in
dem Topfe summt, worin die Suppe der Armen kocht. O gott-
hches Los! Nicht weit von den Buchsbaumzaunen strahlten
die Zungen des Lattichs lautlose Worte, wahrend ein gedampftes
Licht um den Schatten entschlafener GieBkannen lag. Ihre
Arbeit war getan. Und zu Gott, voll heitern Vertrauens, nicht
hochmiitig, noch kriechend, erhob ein Salbei sein geringes
Riichlein.
*
t r *"v
Francis Jatnmes * Der Hasenroman
Franziskus setzte sich neben Gott auf eine Bank unter eine
mit Efeu umwachsene Esche. Und Gott sprach zu Franziskus :
,,Ich weifi, was dich herfiihrt. Man soli nicht sagen, daB hier
einer, Hase oder Milbe, sein Paradies nicht finde. Geh also zu
dem SchnellfiiBigen und frage ihn, was er begehrt. Und sobald
er es dir gesagt hat, will ich es ihm gewahren. Wenn er nicht
wie die andern zu sterben und zu entsagen verstanden hat,
gewiB, so war es, weil sein Herz allzusehr an memer gehebten
Erde hangt. Denn, o Franz, gleich diesem Langohr liebe ich
die Erde mit einer tiefen Liebe. Ich liebe die Erde der Men-
schen, der Tiere, der Pflanzen und der Steine. Franz, suche
den Hasen auf und sage ihm, daB ich sein Freund bm.“
Und Franziskus schritt auf das Paradies der Tiere los, das,
von den jungen Madchen abgesehn, niemals vorher ein Men-
schenkind betreten hatte. Dort fand er den Hasen untrostlich
umherirren ; sowie aber das Tier seinen alten Herm auf sich
zukommen sah, verspiirte es eine so groBe Freude, daB es sich
niederhockte, die Augen erschrockener als je, die Nase kaum
merklich zitternd.
„Sei gegriifit, mein Bruder, “ sagte Franziskus. ,,Ich habe
dein Herz klagen gehort, und ich bin gekommen, den Grund
deiner Betriibms zu erfahren. Hast du zuviel bittere Korner
gegessen ? Warum genieBest du nicht den Frieden der Tauben
und der ebenso weiBen Lammer . . . ? O Maher hinter der
Ernte, was suchest du also unruhig hier, wo doch kerne Unruhe
mehr ist und wo du niemals wieder das Keuchen der Riiden
fiihlen wirst,wie sie herjagen hinter deinem Landstreicherfell ?“
„Mein Freund, “ gab der Spaltnasige zur Antwort, „was ich
suche? ich suche meinen Gott. So lange du mein Gott warst
auf der Erde, fiihlte ich mich befriedigt. Aber in diesem Para-
dies, wo ich verloren bin, weil ich deine Gegenwart entbehre,
du gottlicher Bruder der Tiere, erstickt meine Seele, denn hier
finde ich ihn nicht. “
,,Meintest du denn,“ versetzte darauf Franziskus, „dafi Gott
die Hasen verlaBt und daB sie allein in der Welt kein Recht
auf das Paradies haben ?“
Francis Jatnmes ♦ Der Hasenroman
43
..Dieses nicht," erwiderte ihm der Graustrumpf. „Dariiber
habe ich mir keine Gedanken gemacht. Dir ware ich nachge-
gangen, denn ich habe gelernt, mich in dir so gut auszukennen
wie in der irdischen Hecke mit ihren Flocken warmen Lammer-
schnees, der mein Nest wohnlich macht. Vergeblich habe ich
iiber diese Himmelswiesen hin den Gott gesucht, von dem du
daredest. Dochwahrendihn meine Freunde sogleich entdeckten
und ihr Paradies fanden, irre ich umher. Von dem Tage an, da
wir von dir schieden, und in der Stunde schon meines Eingangs
in den Himmel schlug mein kindisch wildes Herz in Heimweh
nach der Erde.
0 Franz, mein Freund, du einziger, an den ich glaube, gib
mir meine Erde wieder. Ich fiihle, daB ich hier nicht zu Hause
bin. Gib mir meine Furchen wieder voll Kot, meine lehmigen
Pfade. Das heimische Tal gib mir zuriick, wo die Jagdhorner
den Nebel aufriihren; die Wagenspur, von wo aus ich mein
Abendlauten horte, die Meute mit den hangenden Ohren. Gib
mir meine Angst wieder. Gib mir meinen Schrecken wieder.
Gib mir wieder die Erregung, die mich ergriff, wenn plotzlich
ein SchuB unter meinem Sprunge die duftenden Minzen hin-
wegfegteoder wenn im Strauch unter den Quittenbaumen mein
Mund an das Kupfer der kalten Schlinge stieB. Gib mir die
Wiese wieder, wo du mich entdeckt hast. Gib mir wieder die
morgenroten Wasser, aus denen der gewandte Fischer seine
Netze schwer von Aalen herauszieht. Gib mir die blaue Nach-
lese im Monde zuriick und mein furchtsames heimhches Liebes-
spiel in den wilden Ampfern, wenn ich nicht mehr unterschei-
den konnte zwischen einem Blumenblatt, das mit Tau iiberlastet
ms Gras glitt, und der rosigen Zunge meiner Freundin. Gib
mir, o du mein Herz, gib mir meine Schwache zuriick. Und
sage dem lieben Gott, daB ich nicht langer bei ihm leben kann.“
,,0 Graustrumpf," erwiderte ihm darauf Franziskus, „mein
Freund, sanfter miBtrauischer Bauer, kleinglaubiger Hase, der
du lasterst; du konntest deinen Gott nicht finden? so wisse,
um diesem Gott zu begegnen, hattest du sterben miissen wie
deine Genossen."
4 Vol. m/2
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Francis Jammes * Der Hasenroman
, ,Aber wenn ich sterbe, was soli aus mir werden ?“ schrie
der Strohpelz.
Und Franzlskus sagte :
,,Wenn du stirbst, wird aus dir dein Paradies."
*
Wahrend sie sich so besprachen, gelangten sie ans Ende des
Tierparadieses. Hier begann das Paradies der Menschen. Lang-
ohr neigte den Kopf und las tiber einem Pfahl auf einer blauen,
guBeisernenTafel mit einem Pfeil, der die Wegrichtunganzeigte :
Von Kastetis nach Balansun 5 Kilometer
Der Tag war so heiB, daB die Schrift in dem stumpfen
Sommerlicht zu zittern scbien. In der Feme, auf dem Weg,
wirbelte der Staub wie im Marchen vom Blaubart, wenn die
Schwester fragt : Schwester Anna, siehst du noch nichts ? Die
silberne Trockenheit, wie war sie prachtig und duftete bitter
nach Minze.
Und Langohr sah ein Pferdmit einem Karren herankommen.
Es war ein armseliger Gaul vor einem zweiradrigen Gefahrt,
und er konnte nur noch im Galopp und ruckweise ziehn. Jeder
Schritt erschiitterte sein gelockertes Gerippe, daB das Geschirr
klirrte, und die helle Mahne flatterte in der Luft, griinlich wie
der Bart ernes alten Seemanns. MUhsam, als waren es Pflaster-
steine, hob das Tier seine geschwulstig aufgetnebenen Hufe . . .
Da uberfiel ein Zweifel, starker als alle bisherigen Zweifel,
die Seele des Hasen und durchbohrte sie.
*
Dieser Zweifel war ein Schrotkorn, das soeben durch den
Nacken in das Him des Loffelmanns drang. Ein Blutschleier,
schoner als der gliihende Herbst, schwebte vor seinen Augen,
dann die Schatten der Ewigkeit aufstiegen. Er schrie. Die
Finger ernes Jagers schniirten ihm die Kehle zu, wiirgten ihn,
erstickten ihn. Es verlangsamte sich sein Herz, das ehemals
flatterte wie im Wind die bleiche wilde Rose, wenn sie zergeht
Francis Jammcs * Der Hasenroman
45
urn die Stunde, da es Morgen wird und die Hecke die stiBen
Lammer liebkost. Einen Augenblick blieb er unbeweglich in
der Faust seines Morders, matt ausgestreckt, lang wie der Tod.
Dann schnellte er auf. Seine Klauen krallten vergebens nach
dem Boden, sie erreichten ihn nicht mehr, denn der Mann liefi
nicht Ios. Langohr verrann, Tropfen um Tropfen.
Auf einmal straubte sich sein Haar, und er wurde den som-
merlichen Stoppeln gleich, worin er einst gelegen batte neben
seiner Schwester, der Wachtel, und neben seinem Bruder, dem
Mohn ; gleich auch der lehmigen Erde, die seine BettlerfiiBe
benetzt hatten; gleich dem Braun, womit die Septembertage
den Hiigel bekleiden, dessen Gestalt er angenommen hat ; gleich
der Kutte des Franziskus; gleich der Wagenspur, von wo aus
er sein Abendlauten horte, die Meute mit den hangenden Ohren ;
gleich dem starren Felsen, wie ihn der Quendel liebt ; er glich in
seinem Blick, worin jetzt ein Hauch nachtlichen Blaus schwamm,
dem gesegneten Rasenplatz, auf dem ihn einst das Herz seiner
Freundin im Herzen der wilden Ampfer erwartet hatte; in den
Tranen, die er vergofi, glich er dem Engelquell, an dem der
alte Aalfischer sitzt und seine Netze ausbessert; er glich dem
Leben ; er glich dem Tode ; er glich sich selbst ; er glich seinem
Paradies.
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Eduard Bernstein ♦ Vdlker zu Hause
Gduard Bernstein:
VOLKER ZU HAUSE
ERINNERUNGEN
v*
VOM LEBEN UND TREIBEN IN ZORICH
A LS im Jahre 1 877 in Berlin das Denkmal des Freiherrn vom
Stein enthiillt wurde, horte ich tags nach der Enthiillung
beim Beschauen des Denkmals einen Lehrburschen einen andern
fragen : „Du, wem soil denn der da vorstellen ?“ Worauf die Ant-
wort erfolgte: „Det weeste nich ? Det ist der Jeneral Stein“.
An diese Unterhaltung ward ich erinnert, als ich auf der
Platzpromenade in Zurich vor der Denksaule stand, die ein
Reliefbild des ob seiner Idyllen beriihmten Dichters Gessner
zeigt. Zwei Knaben im Alter von etwa 14 Jahren traten heran.
„Du“, forschte dereine, „wer isch jetzt auch der da ?“ „0“, kam
es zuriick, „das isch so e Sangervater gsi“.
Pragt sich nicht in diesen beiden Gesprachen ein Stiick ver-
gleichender Volkerpsychologie aus? In Berlin muBte es ein
General sein, in Zurich war es ,,so e Sangervater".
In der Tat fallt dem Norddeutschen, der nach Zurich kommt,
auf, dafi Komponisten und Musikdirigenten bei den Bildsaulen
der Stadt am reichlichsten bedacht worden sind. Die Musik
spielte eine groBe Rolle in Ziirichs sozialem Leben. Die beiden
grofien Sangerchore Ziirichs — der gemischte Chor und die
Harmonie — erfreuen sich eines weit iiber die Grenzen der
Schweiz hinaus reichenden Rufes, und Ziirichs groBe Musikfeste,
* Siehe das Dczcmbcrheft der Wcificn Blatter, 2. Jahrgang, und die Februar-, Mirz-
und Maibefte, 3. Jahrgang.
Eduard Bernstein ♦ Volker zu House
die fur die Stadt jedesmal ein Ereignis sind, an dem alle Welt An-
ted nimmt, und das durch Aushangen von Fahnen, Veranstaltung
von Umziigen usw. gefeiert wird, ziehen viele auswartige Gaste
von Bedeutung an. Ein zur Zeit meines Ziiricher Aufenthalts
zu Anfang der achtziger Jahre abgehaltenes Sangerfest hatte
unter anderen den greisen Franz Liszt an die Gestade desZiirich-
sees gelockt. Und bekannt ist, welche Rolle Zurich im Leben
Richard Wagners gespielt hat.
Vom Militar dagegen merkte man damals wenig in Zurich,
und was man davon sah, offenbarte auf Schritt und Tritt, dafi
man im Lande des Milizsystems sich befand. Aufierhalb des
aktiven Dienstes trug kein Mensch Uniform. Im Restaurant
Kronenhalle fand sich zu einer Zeit regel mafiig gegen Abend
ein kleiner Kreis geistig hochstehender Personlichkeiten zu-
sammen, an deren Tisch ich zuweilen eingeladen wurde. Zu
ihnen gehorte unter anderen ein Dozent der Kriegswissenschaften,
der zugleich Oberst der Armee war. In seinem Auftreten liefi
der Mann nicht im geringsten den Militar durchblicken, so sehr
ihn, was das AuBere betrifft, sein hoher Wuchs, und geistig sein
groBes Wissen auf militarischem Gebiet (er bekleidete spater
Generalsrang) dazu befahigt hatten. Heutescheintder Militaris-
mus in der Schweiz starkere Wurzeln geschlagen zu haben. Das
kleine Land mit seiner friedliebenden Bevolkerung, die keinen
sehnlicheren Wunsch hat, als aus den Welthandeln der groBen
Nachbarstaaten herausbleiben zu diirfen, ist gegen die Ansteckung
durch seine Umgebung nicht vollig gefeit. Um sich dagegen
wehren zu konnen, dafi es in den Tanz hineingezogen wird,
den der Mihtarismus der GroBmachte zu entfesseln beliebt, zollt
es ihm allerhand Tribute. Auch eine Illustration zum Dichter-
wort, daB der Frommste nicht im Frieden leben konne, wenn usw.
In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigte sich
davon noch wenig, und so gab es denn auch in der Arbeiter-
bewegung der Schweiz noch keinen Antimilitarismus. Nur
wenige Weiterblickende sahen die verraterischen Wolken am
Horizont. Einer von ihnen war der schweizerische Sozialist Karl
Biirkli, der iiberhaupt ziemlich viel von militarischen Dingen
48
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
verstand — seine in das Gebiet der Militarwissenschaft ge-
horende Schrift „Der wahre Winkelried“ ist seinerzeit von
Hans Delbriick in den PreuBischen Jahrbiichem sehr emsthaft
gewiirdigt worden — und dessen Name selten ohne Beiftigung
seines militarischen Titels „Alt-Landwehrhauptmann“ genannt
wurde. In unseren Tagen, wo die Vereinigten Staaten von
Amerika so nahe daran sind, in die Handel Europas emsthaft
hineingezogen zu werden, mag es interessieren, daB Biirkli da-
mals wiederholt erklarte, es gabe kein anderes Mittel, die Schweiz
vor dem Hineinziehen in diese Handel zu schiitzen, als daB sie
sich unter die Fittiche der grofien transatlantischen Republik
begabe und sich fiir einen ihr zugehorenden Bundesstaat erklare.
Karl Biirkli war in vieler Hinsicht ein Original. Von Hause
aus gelernter Handwerker, war er, wie so viele Schweizer, in
jungen Jahren weit in der Welt herumgekommen. Er hatte,
dem Sozialismus mit Leib und Seele ergeben, in Paris noch die
Vertreter des alteren franzosischen Sozialismus : Etienne Cabet,
Victor Considerant und andere kennen gelernt und sich an einer
sozialistischen Kolonialexpedition im Texas beteiligt. Letzteres
trug lhm, als er wieder nach Zurich zuriickgekehrt war und sich
in den politischen Parteikampf stiirzte, von einem ihm feind-
selig gesinnten Pamphletisten eines Tages den Beinamen Alt-
Rauberhauptmann ein, den aber seine Freunde willig als pas-
senden Spitznamen fiir ihn iibernahmen, weil dem so Benannten
bei allem realistischen Denken doch noch ein Stiick Romantik
anhaftete. Er war als Sozialist im wesentlichen Schuler Charles
Fouriers, teilte mit dem Meister die Eigenschaft, einen scharfen
Blick fiir das Tatsachliche mit einer oft sehr kiihnen Phantasie
zu verbinden, und glich ihm auch darin, dafi ihm die Fahigkeit
einer geordneten Darstellung seiner Ideen abging. Er hatte eine
sehr schone Bibliothek, las viel und verarbeitete das Gelesene
oft sorgfaltig. Aber wenn er entwickeln wollte, dann vollzog sich
im Kopfe des Bekenners der Lehre von der Souveranitat der
Triebe so etwas wie Souveranitat der Ideen, und er stolperte
leicht iiber einander ins Gehege kommende Gedanken. Wie fast
alle Sozialisten alterer Schule, gab er sich viel mit Theorien
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Eduard Bernstein * Volker zu Hause
iiber Geld und Kredit ab, und eine Schrift zugunsten von zins-
tragendem, auf Grund und Boden fundiertem Papiergeld brachte
ihn einst mit uns Sozialisten der Marxschen Schule in heftigen
Konflikt. Aber man konnte dem ebrlichen Kauz nicht lange
bose sein. Er hatte mindestens das eine fur sich, daB er selbst
die abstrusesten Gedanken durch drastische Bilder zu beleben
wufite. Meldete unser Alt-Rauberhauptmann in der Ziircher
Sektion der Internationale sich zum Wort, so konnte man sicher
sein, daB er Leben in die Debatte brachte.
Ziirich hatte namlich im Jahre 1 879 noch eine Sektion der
1872 auf dem Haager Kongrefi gesprengten und zwei Jahre
darauf entschlafenen alten Internationalen Arbeitcrassoziation.
Sie pflanzte ihr Dasein als letzte Rose fort, wed ein gewisses
Bediirfnis fur sie fortbestand. Wo anders sollten sich sonst die
Sozialisten verschiedener Nationalitaten, die Zurich beherbergte,
zu gemeinsamen Diskussionen zusammenfinden, als in einem
internationalen Verein? So iiberlebte die Ziircher Sektion die
Mutterorganisation noch Jahre nach deren Tode und hielt im
jetzt verschwundenen ,,griinen Husli“ beim untern Miihlensteg
ihre Sitzungen ; sie tagte, als ich nach Zurich kam, in einer
Wirtschaft der Stiissi Hofstatt. Dort lernte ich die ersten deutsch-
schweizerischen Sozialisten in lhrer Heimat kennen und horte
sie sich in einer Sprache ausdriicken, die eine mich fremdartig
anmutende Mischung von Schriftdeutsch und schweizerischer
Volksmundart war.
Im allgemeinen horte ich ihnen nicht ungerne zu. Die Sprache
hatte etwas Kernhaftes, und die Schweizer unterschieden sich
zumeist von den deutschen Sprechern durch groBere Kiirze und
Pragnanz ihrer Ausfuhrungen. Sie ergingen sich in kerne groBe
Rhetonk; einer von ihnen, ein recht intelligenter Metallarbeiter,
fiel mir dadurch auf, daB er seine Ausfuhrungen, sobald er nach
seiner Ansicht das Notige gesagt hatte, unabanderlich fast rabiat
mit den Worten abbrach: „Hab’ g’schlosse’.“
Starker als das schweizerische war das slavische Element in
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Eduard Bernstein * V other zu Hause
50
der Ziiricher Internationale vertreten, voran selbstverstandlich
die Russen. Doch zahlte Ziirichs Russenkolonie zu Anfang der
achtziger Jahre nurwenigePersonlichkeiten von internationalem
Interesse. Die Tage, wo Peter Lawroff die in Zurich studierende
sozialistische Jugend Rufilands um sich scharte, waren voriiber.
Der gelehrte Verfasser der Historischen Briefe lebte jetzt in
Paris und gab dort in seiner bescheidenen Wohnung in der Rue
St. Jacques Voriesungen, zu denen viele studierte Russen in den
Ferien pilgerten.
Da die Internationale Sektion irgendwelche praktische Aktion
nicht ausiiben konnte, war sie als Verein der reine Debattier-
klub. Man erorterte alle moglichen Fragen der Theorie und
spekulierte liber die sozialistische Praxis in abstracto. So be-
schaftigten wir uns an mehreren Abenden mit der von Karl
Hochberg im Jahrbuch fur Sozialwissenschaft aufgeworfenen
Frage, was die Sozialdemokratie zu tun hatte, wenn sie beim
gegebenen Stande der Entwicklung plotzlich an die Regierung
kame. An einem dieser Abende war auch August Bebel an-
wesend, der damals noch fur seine Tiirklinkenfabrik reiste und
mit diesen Geschaftsreisen Besuche fur politische Zwecke ver-
band. Er horte uns eine Weile zu, zeigte sich aber von dem
Gehorten nicht sehr erbaut ; namentlich einige Gedanken, die
der von Hochberg nach Zurich eingeladene Karl Kautsky und
meine Wenigkeit liber das nach Lage der Dinge Mogliche ent-
wickelten, hatten ganz und gar nicht seinen Beifall. Sie waren
ihm viel zu gemafiigt und wiirden uns, meinte er, wenn wir in
einer Revolution mit so zahmen Vorschlagen auftraten, leicht
Bekanntschaft mit der Laterne machen lassen. Trotz Sozialisten-
gesetz war Bebel damals iiberaus sanguinisch. Die hartnackige
Dauer des schlechten Geschaftsganges liefi ihn hoffen, dafi die
kapitalistische Gesellschaft sich von dem auf ihr Iastenden Druck
nicht mehr erheben werde, und mit Windeseile dem Zusammen-
bruch entgegensteure. Eine falsche Rechnung, die aber dem
im schonsten Mannesalter stehenden Politiker die wunderbare
Spannkraft verliehen, kraft deren er der Partei in Deutschland
damals die unschatzbarsten Dienste leisten konnte.
Eduard Bernstein * V other zu House 51
Dem dahin siechenden Schweizerischen Arbeiterbund, dem
die Internationale Mitgliedschaft als Sektion zugehorte, konnte
freilich auch er kem Leben einhauchen. Diese groBgedachte
Verbindung weir in der iiberlieferten Form nicht mehr aufrecht
zuerhalten. Mit ihr litt auch ihr Organ, die in Zurich veroffent-
lichte ,,Tagwacht“, an Blutleere. Die Verhaltnisse dieses Blattes
waren so proletarisch wie nur moglich. Es ward am Zeltweg in
Hottingen-Ziirich in einem Hauschen von fast vorsiindflut-
licher Einfachheit auf einer altmodischen Presse hergestellt, die
noch mit der Hand betrieben wurde. Ein mafiig groBer Raum,
zu dem man auf einer schmalen Treppe emporstieg, diente
gleichzeitig als Setzersaal, Maschinensaal und Redaktionslokal
— letzteres dadurch, daB in einer Ecke ein Stehpult aus ein-
fachstem Holz und ein ebensolcher Schemel fiir den Redakteur
aufgestellt waren. Im gleichen Raum hielten abends bei sehr
bescheidener Beleuchtung der ortliche AusschuB des Arbeiter-
bundes und andre Kommissionen ihre Sitzungen ab. Da ich
mich sofort nach meiner Ankunft an der Arbeiterbewegung
Ziirichs beteiligte, habe ich noch an mancher der AusschuB-
sitzungen teilgenommen, die ob des ganzen Zuschnitts mich
stets etwas urchristlich anmuteten. Sehr viel weniger Luxus
als bei diesen Sitzungen wird es auch bei den Zusammenkiinften
der ersten Christengemeinden kaum gegeben haben.
Ein humoristisches Vorkommnis bei einer jener Sitzungen
diirfte in seiner urwiichsigen Form nur wenige seinesgleichen
zu verzeichnen haben. Ein Delegierter fiihrte heftig Beschwerde
iiber einen in der vorhergegangenen Sitzung gefaBten BeschluB.
Es wurde ihm erwidert, er sei es ja gerade gewesen, der das
Beschlossene beantragt habe. „Jawohl“, antwortete der Gute
unerschiittert, „ich habe den Antrag gestellt, das ist richtig.
Aber ihr durftet ihn nicht annehmen“.
Redakteur oder, wie man sich in der Schweiz ausdriickt,
Redaktor der ,,Tagwacht“ war Hermann Greulich, ein geborener
Schlesier, der als Buchbindergeselle nach Zurich gekommen
war und dort lange Zeit in durchaus proletarischen und selbst
unterproletarischen Verhaltnissen gelebt hatte. Denn er heiratete
52
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
friih, und friih stellte sich auch Kindersegen ein. Und da oben-
drein auch altere Anverwandte mitzuernahren waren, gmg es
im Haushalt des ungewohnlich begabten Mannes sebr knapp
zu, auch mufite Greulich, wenn die Arbeit im Beruf mcbt
ausreichte, Nebenerwerb suchen, bei dem es nicht wahlerisch
sein hiefi. So hat er zeitweilig als Kaffeeroster auf Taglohn
gearbeitet. Auch als er Redakteur der Tagwacht wurde, blieb
sein Einkommen proletarisch. Denn das bloB zwei- oder dreimal
in der Woche in kleinem Format erscheinende Blatt hatte eine
geringe Auflage und konnte daher auch nur ein bescheidenes
Gehalt zahlen. Um so groBer waren die Anforderungen an den
Redakteur, dem neben der Herstellung des Blattes noch allerhand
Agitations- und Organisations verpflichtungen oblagen. Noch
fehlte der Arbeiterschaft jeder MaBstab fur die Einschatzung
schriftstellerischer Arbeit, hinsichtlich derer ubrigens auch
unter den sogenannten Gebildeten sehr irrige Meinungen ver-
breitet sind. Kurz, der Kampf urns Dasein wurde unserm
Greulich nicht leicht gemacht. Aber er hat sich durchgekampft,
wobei ihm zeitweilig Karl Biirkli helfend zur Seite stand, der
seine geistige Begabung voll zu wiirdigen wusste.
Als ein iiberaus klarer Kopf verfiigte Greulich gerade iiber
die Eigenschaft, die Karl Biirkli fehlte, die Gabe leichtfliissiger
und geordneter Darstellung. Einige Broschiiren, die er verfaBt
hat, sind in dieser Hinsicht wahre Muster, und an manchen
Abhandlungen Biirklis war er stiller Mitarbeiter, der ihnen die
Form gab. Auch einige der beliebtesten deutschen Arbeiter-
lieder haben ihn zum Verfasser, darunter das packende, nach
der Weise der Wacht am Rhein gesungene : „Es tont ein Ruf
von Landzu Land41, das zum Kehrreim das Motto der streiken-
den Weber Lyons vom Jahre 1 83 1 hat : „Arbeitend leben oder
kampfend den Tod“. („Vivre en travaillant ou mourir en com-
battant44.) Heute ist Greulich nach einem Leben voller Tatig-
keit einer der Vertreter der Schweizerischen Sozialdemokratie
im Nationalrat der Eidgenossenschaft und fiillt trotz seines
hohen Alters dieses Amt wirkungsvoll aus. Wie nur wenige der
aus dem ostlichen Deutschland Eingewanderten beherrscht er
Eduard Bernstein ♦ Volker su Hause
53
das schweizerische Idiom. Es bricht sogar nicht selten bei lhm
durch, wenn er zu friiherenLandsleuten ,,schnftdeutsch“ spncht.
Dieses vollige Hineinleben in eine fremde Sprache ist kein
rein intellektueller Vorgang. Els ist zweifelslos zugleich Aus-
flufi einer seelischen Eigenschaft — icb mochte sogar sagen,
einer Charakteranlage. Nach meinen Beobachtungen findet man
es zumeist bei Leuten mit einem starken Anlehnungsbediirfms.
Willenskraftige Menschen konnen sich selbstverstandlich durch
Studium griindliche Beherrschung fremder Sprachen aneignen,
pflegen diesen aber trotzdem sprode gegeniiber zu stehen. Das
Aufgehen in eine fremde Sprache, das keineswegs immer mit
Eindringen in ihren Geist zusammenfallt, ist in vielen Fallen
ein passiver Akt, der durch Einwirkungen des Umgangs herbei-
gefiihrt wird, eine Art unbewufiter oder halbbewufiter Nach-
ahmung, aber kein wahres Erfassen. Daher die Erscheinung,
dass wissenschaftlich gebildete Leute beim Gebrauch einer
erlernten Sprache oft sich viel schwerfalliger zeigen, als Leute
mit nur oberflachlicher Bildung. Solche Leute behalten aber
dafiir eine ganz andere Herrschaft liber die eigene Sprache als
Halbgebildete.
Einen Einblick in das Leben und Wesen des Schweizer-
volkes erhielt ich dadurch, dafi ich in Zurich, so lange ich
unverheiratet war, stets bei Schweizern wohnte.
Schon meine erste Wirtin iiberraschte mich ernes Tages
dadurch, dafi sie, eine einfache Frau aus dem Volke, sich neben
ihrem Zurichdeutsch auch franzosisch auszudriicken wufite.
Ich wohnte aber zu kurze Zeit beiihr, um herauszubekommen,
wie und wo sie das Franzosisch erlernt hatte. Anzunehmen
ist, dafi sie als junges Madchen langere Zeit in der franzosi-
schen Schweiz in Stellung war. Ein sehr grofier Prozentsatz
der Deutschschweizer legt Wert darauf, eine Zeitlang in der
welschen Schweiz gelebt zu haben, und ebenso gehen viele
junge Leute aus der franzosischen Schweiz zeitweise in die
deutsche Schweiz in Stellung, um des Deutschen machtig zu
werden. Und in biirgerlichen Familien ist es eine weit ver-
breitete Sitte, die Kinder in jungen Jahren mit Kindern der
Eduard Bernstein ♦ Volkcr zu Hause
gleichen Gesellschaftsldasse aus dem andern Sprachgebiet aus-
zutauschen, damit jedes die Sprache der andern sich im prak-
tischen Gebrauch aneigne. Kommt dann so em Kind nach vier
oder fiinf Jahren Abwesenheit wieder nach Hause, so hat es
nicht selten die eigene Sprache fast vollstandig verlernt und
will zuerst nur die andere sprechen. Aber es lernt die Mutter-
sprache schnell zuriick, und da es mittlerweile in ein reiferes
Alter getreten ist, behalt es jetzt neben dieser soviel von der
andern Sprache, um sich jederzeit in ihr verstandigen zu konnen.
Alles das wirkt zusammen dahin, dafi sehr viele Schweizer
faktisch zweisprachig sind.
Nach kurzem Logis bei der vorerwahnten Frau in einer der
engen StraBen, die vom Limmatquai hinauf zur Niederdorf-
strafie fiihren, bezog ich ein Zimmer in dem massiven Gebaude
der schonen BahnhofstraBe Ziirichs, das den Namen Zentral-
hof tragt. Els war im vierten Stock gelegen — ich habe beim
Wohnen stets hoch hinaus gewollt — aber geraumig upd sehr
gut ausgestattet . Die Zimmerdecke war so schon getafelt, dafi, als
mir Gottfried Kinkel einmal einen Gegenbesuch machte, er
beim Eintreten ins Zimmer eine ganze Weile stehen blieb, um
dieDecke zu bewundem. Meine Wirtin hatte den ganzen dritten
und vierten Stock des Hauses gemietet und die Zimmer gut
mobhert, um sie so weiter zu vermieten. Sie kam aber, wessen
ich spater inne wurde, sehr schlecht dabei auf die Rechnung.
Die Frau stammte aus einer Patrizierfamilie des Kantons
Bern und war mit allerhand Vorurteilen ihrer Gesellschaftsldasse
behaftet. Sie war erzkonservativ, sprach am liebsten zu mir von
den Neuenburger Legitimisten, den Pourtales, den Rougemont
und ahnhchen Leuten, war sehr entriistet iiber die Mobilisierung
vom sogenannten Biirgergut in ihrem Heimatsort und nahm es
mit Entsetzen auf, als ich ihr eines Tages auseinandersetzte, sie
wiirde am verniinftigsten handeln, wenn sie die beiden groBen
Wohnungen aufgabe, das Mobiliar verauBerte, von dem Erlos
ein Ladengeschaft einrichtete und dieses mit ihrer Tochter be-
triebe. ,,Wo denken Sie hin ? Elin Ladengeschaft halten ? Nie-
mals“, war ihre emporte Antwort.
Eduard Bernstein * Volker zu House
55
Und diese selbe Frau verrichtete im Hause selbst die grobsten
und anstrengendsten Arbeiten, bissie sich buchstablich zuTode
gearbeitet hatte. Mit ihrer Tochter, einem harmlos munteren
achtzehnjahrigen Madchen, aus dessen braunen Augen viel
Schelmerei blickte, besorgte sie die ganze Doppelwohnung
allem, nur an ein oder zwei Tagen in der Woche von einer
Aufwartefrau bei den groberen Arbeiten unterstiitzt. DaB sie
sich und ihreTochter im Hause geradezu zuMagden derMieter
machte, verstieB in ihren Augen nicht gegen die soziale Ehre,
solange nur auBerhalb des Hauses das Ansehen gewahrt blieb.
Aber sie war grundehrlich und uberteuerte ihre Mieter so
wenig, daB sie, wie ich ihr einmal bei einer Unterhaltung iiber
ihreVerhaltnissevorrechnete, selbst wenn alle Zimmer vermietet
waren und kein Mieter die Miete schuldig blieb, bei dem Ver-
mietungsgeschaft noch iiber 700 Franken jahrlich zusetzte.
Indes gab es stets ein oder zwei unvermietete Zimmer und
dazu stets Mieter, welche die Miete schuldig blieben. Dies
manchmal in sehr betrachtlichem Umfange, da den Mietern
sehr viel gestundet wurde. Uberhaupt muB damals in Zurich
die Borgerei noch sehr in Ubung gewesen sein. Ich bin auf
allerhand Falle unglaublicher Kreditwirtschaft gestoBen. Und
vielsagend mit Bezug auf diesen Punkt war der Satz auf einem
Schild, das ein sehr angesehener demokratischer Gelehrter und
demokratischer Politiker, Professor Salomon Vogelin an seiner
Wohnungstiir hatte anbringen lassen: ,,Hierwerden keineBiirg-
schaften gegeben.“
Wie oft muBte der Mann angegangen worden sein, fiir Dar-
lehen zu biirgen, daB er sich entschloB, ein solches Schild vor
seine Tiir zu setzen. Vogelin war urspriinglich Pfarrer gewesen,
hatte als solcher der radikalen Ziircher Reformtheologie gehuldigt
und spater die Kanzel mit dem akademischen Lehrstuhl ver-
tauscht, auf dem er kritische Religionsgeschichte vortrug. Ein
glanzender Redner, der seine Vortrage mit Sarkasmus zu wiirzen
verstand, war erein geschatzter Mitkampfer der Ziiricher Demo-
kratie und stand mit der Arbeiterbewegung in enger Fiihlung,
auf deren Kongressen er treffliche Referate iiber Erweiterung
Eduard Bernstein » Volker zu Hause
der Fabrikgesetzgebung gehalten hat. Pfarrer und Expfarrer der
reformtheologischen Richtung spielten iiberhaupt in der demo-
kratischen Partei Ziirichs keine germgeRolle. Das Hauptorgan der
Partei, der „Winterthurer Landbote“, wurdevon drei gewesenen
Pfarrern, oft als die drei gestrengen Pfarrherren vom Gemsberg
bezeichnet, redigiert. Es fehlte auch nicht an ausiibenden Pfar-
rern, die sich geradeheraus als Sozialdemokraten bezeichneten.
Wie war das anders geworden seit den Tagen von 1839, wo
ein Petitionssturm der Konservativen und Religionsfanatiker es
zu erwirken wufite, dafi der an die Universitat Ziirich berufene
David Friedrich Straufi sein L^hramt nicht antreten durfte.
Der Verfasser des „Leben Jesu“ hat die ihm damals zugefiigte
Unbill lange nicht verwinden konnen und sie der Repubhk auf
Rechnung gesetzt. Als er aber in den sechziger Jahren eines
TagesalsGast nach Zurich kam, wo ihn seine Verehrer gewaltig
feierten, und er nach Tisch mit solchen die Kiinstlergasse hin-
auf zum Polytechnikum emporstieg, da packte es ihn doch, der
Repubhk seinen Tribut abzustatten. In der Nahe des nach
Sempers Entwiirfen errichteten herrlichen Gebaudes blieb er
plotzlich stehen und sagte zu seinen Begleitern : ,,Meine Herren,
Sie wissen, ich bin ein strenger Monarchist und werde es bleiben.
Aber wenn ich hier das Juwel von Zurich vor mir sehe, wie es
von der Hohe herab Zurich beherrscht, dann mufi ich doch sagen,
waren wir in einer Monarchic, so stiinde an dieser Stelle keine
Hochschule, sondern entweder ein Schlofi oder eine Kaserne.“
An schonen Schulgebauden hat es in Zurich und andern
Kantonen der Schweiz sicherlich keinen Mangel. Ich habe selbst
m kleinen schweizenschen Dorfern prachtige Schulhauser ge-
sehen; die Sale der Schulen aber werden in der Schweiz viel
haufiger als bei uns Vereinen aller Art fur Kongrefisitzungen
zur Verfiigung gestellt, und die sozialistischen Kongresse machen
da keine Ausnahme. Indes sind den Sozialisten in der Schweiz
auch schon Kirchenraume fur Versammlungen iiberlassen
worden, womit allerdings nur an den Gebrauch angekniipft
wurde, dem die Kirchenraume in friihern Zeitaltern dienten.
Und nie ist wohl ein Kirchengebaude fiir einen wiirdigeren
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Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
57
Zweck verwendet worden, als am 25. November 1912 das alte
Munster der Stadt Basel, in dessen Raumen an jenem Tage die
besten Redner der internationalen Sozialdemokratie ihre Stimme
fiir den Volkerfrieden erheben durften. Mitte der achtziger
Jahre durften wir in Zurich einen ArbeiterkongreB im Sitzungs-
saal des Schwurgerichtsgebaudes ahhalten, und der Schreiber
dieses, der zu den Vorsitzenden dieses Kongresses gehorte,
konnte den Gedanken nicht loswerden : „Wer weiB, ob Du nieht
bald einmal auf der andern Seite des grtinen Tisches zu stehen
haben wirst“. Denn ich war zu jener Zeit ein arger politischer
Sunder. #
Im Schulgebaude der Stadt Olten hatte im Jahre 1874 der
Kongrefi getagt, auf dem der Schweizerische Arbeiterbund ge-
schaffen worden war. Kein Schulsaal war notwendig, als wir
uns im Jahre 1 880 in der gleichen Stadt Olten, wo die beiden
Hauptbahnlinien der Schweiz sich kreuzen, zu einem KongreB
zusammenfanden, auf dem dieser Bund zu Grabe getragen wurde.
Ein grofieres Zimmer einer Gastwirtschaft geniigte, die erschie-
nenen Delegierten zu fassen. Zugleich mit dem BeschluB, den
Bund aufzulosen und die Organisation der schweizerischen
Arbeiterschaft auf erne neue Grundlage zu stellen, fand auch
der BeschluB Annahme, die „Tagwacht“ eingehen zulassenund
durch ein Blatt zu ersetzen, fiir das der Name „Arbeiterstimme“
gewahlt wurde. Zum Redakteur ward der schweizerische Sozialist
Herter ernannt, ein ehrlicher und bescheidener Mann, der sich
redliche Miihe gab, das Blatt in die Hohe zu bringen, der aber
ebenso wenig wie Greulich das Kunststiick fertig bekam, die
Ungunst der Verhaltnisse zu besiegen. Wie schon friiher erwahnt,
waren dem Bund und seinem Organ die Riickschlage des
deutschen Sozialistengesetzes verhangnisvoll geworden. Speziell
der „Tagwacht“ war in dem Auslandsorgan der deutschen Sozial-
demokratie, das Ende September 1879 in Ziinch unter dem
Titel „Der Sozialdemokrat“ ins Leben trat, eine Art Rivale
erstanden, der ihr den geistig regsten Teil der in der Schweiz
lebenden deutschen Arbeiter entzog.
58
Eduard Bernstein ♦ Vdlker zu Hause
Die mit allerhand interessanten Einzelheiten verquickte Ge-
schichte der Griindung des Ziiricher „Sozialdemokrat“ ist schon
oft erzahlt worden . August Bebel hat ihr im dritten Band seiner
Lebenserinnerungen ein langes Kapitel gewidmet, und so will
ich sie hier iibergehen, so sehr ich selbst bei ihr beteiligt war.
Els lag in der Natur der Sache, dafi, nachdem dieses Blatt ge-
schaffen war, der Ort seiner Herstellung und Versendung so-
lange zu einem Zentrum der deutschen Sozialdemokratie wurde,
als diese kein offentliches Parteileben entfalten konnte. Um die
Redaktion und die Expedition des ,,Sozialdemokrat“ sammelte
sich nun ein ein ganzer Kreis von Personen, und an den be-
deutenderen Orten der Schweiz wurden auf Anregung von Zurich
aus Mitgliedschaften der deutschen Sozialdemokratie gegriindet,
die sich speziell mit den Angelegenheiten der Partei befaBten.
Redakteur des „Sozialdemokrat“ in Zurich war in der ersten
Zeit Georg von Vollmar, liber dessen hervorragendePersonlich-
keit und Bedeutung kein Wort mehr zu verlieren ist. Ihn loste an
der Jahreswende 1880/1881 meine Wenigkeit ab, und mir wie
vorher Vollmar stand von Deutschland aus Wilhelm Liebknecht
als gleichberechtigter Mitarbeiter zur Seite. Die Administration
des Blattes und seine Versendung iibernahm bald nach dessen
Griindung Julius Metteler, seinerzeit mit Bebel, Liebknecht und
anderen einer der Mitbegriinder der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Eisenacher Programms, ein eigener Kopf und
beweglicher Geist, dazu durch seine Tatigkeit als Kaufmannischer
Leiter verschiedener genossenschaftlicher Unternehmungen
ebenso geschaftlich erfahren, wie er sich unter alien Gesichts-
punkten als ganz besonders vertrauenswiirdig bewahrt hatte.
Da die Verbreitung des ,,Sozialdemokrat“ in Deutschland als-
bald auf Grund des Sozialistengesetzes verboten worden war,
mufite seine Beforderung ins Reich auf dem Schmuggelwege
geschehen, undein Stuck Schmuggelarbeit war auch die Weiter-
beforderung der verbotenen Ware von bestimmten Zentralstellen
aus an die vielen Orte, wo der ,,Sozialdemokrat“ bald Leser hatte.
In der Organisation und Leitung dieses Schmuggels hat
Metteler, unterstiitzt durch fahige und hingebende Mitarbeiter,
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
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so Bedeutendes geleistet, dafi das Wort grofiartig keine Uber-
treibung bedeutet. Ein Wochenblatt, mit bis auf liber zehn-
tausend steigender Auflage jahraus, jahrein so sicher liber die
Grenze und zur Weiterversendung zu bringen, dafi es den Be-
stellem Woche fiir Woche mit annahernder RegelmaBigkeit
eines am Ort erscheinenden Blattes zuging, war eine Aufgabe,
von deren GroBe sich Uneingeweihte kaum eine rechte Vor-
stellung machen konnen. Aber sie wurde gelost, und der Mann,
der Metteler in der Praxis des Schmuggels vorgearbeitet hatte
und bis zum SchluB sein energischster Mitarbeiter dabei blieb,
Joseph Belli, hat die an Wechselfallen ernster und heiterer Art
reiche Geschichte dieser Einschmuggelung des Ziiricher „Sozial-
demokrat“ ins deutsche Reich mit lebendiger Anschaulichkeit und
viel Humor in einem Biichlein geschildert, daB auch dem Fem-
stehenden ein Bild von den zu bewaltigenden und bewaltigten
Schwierigkeiten geben wird. Das Buch ist unter dem Titel „Die
rote Feldpost und anderes“ im Jahre 1912 bei Dietz in Stutt-
gart erschienen. Den Namen „Feldpost“ hatte Metteler dem
Stab der vomehmlich unter Beilis Leitung arbeitenden eigent-
lichen Schmuggler zuerteilt, sie aber tauften Metteler ihren
Postmeister, und daraus ist dann spater der Beiname ,,Der rote
Postmeister" geworden, unter dem Julius Metteler im Andenken
seiner Mitstreiter und Jiinger fortlebt. Mettelers imErdgeschoB
eines Eckhauses am oberen Wolffbach in Hottingen bei Zurich
gelegene Wohnung aber und im besondern das zu ihr gehorende
Expeditionszimmer erhielten den Beinamen ,,Der 01ymp“. Denn
hier liefen nun die Faden desjenigen Stlicks Leitung der
deutschen Sozialdemokratie zusammen, das mit dem „Sozial-
demokrat" zusammenhing. Hier auch stiegen zumeist Bebel
und Liebknecht, sowie andere in Deutschland selbst wirkende
Fiihrer der Partei ab, wenn sie in Parteigeschaften nach Zurich
kamen, was jetzt ziemlich haufig der Fall war. Und hier war
ferner das Zentrum fiir die Uberwachung und etwaige Ent-
larvung derjenigen Personen, die sich in den Verdacht der
Spitzelei gebracht hatten oder sonst zweideutige Gesellen waren.
Im ersten Lebensjahr des ,,Sozialdemokrat“ war von dieser
SVol. HI/2
aVa'a
60 Eduard Bernstein * Volker zu Hause
Spezies noch wenig die Rede. Dafiir war es die Bliitezeit einer
geselligen Zusammenkunft, die — ich weiB nicht, von wem —
in Erinnerung an den Berliner Mohrenklub, von dem im dritten
Kapitel dieser Erinnerungen die Rede war, den Namen Zuricher
Mohrenklub erhielt, und in der es oft sehr heiter zuging. In
einem Vereinszimmer der Wirtschaft zum Thaleck in Hottingen
fanden sich an einem bestimmten Abend in der Woche der
Stab des „Sozialdemokrat“, dem ausser Metteler und Vollmar
ein nur des Deutschen machtiger, aber mit riihrender Treue
der Sache seines Ursprungslandes ergebener Sozialist polnischer
Abstammung, Emil Schimanowski, angehorte, der alte Biirkli,
Hermann Greulich, Karl Kautsky, meine Wenigkeit und noch
einige vertrautere Gesinnungsgenossen deutscher, schweizeri-
scher und slavischer Nationalitat, sowie jeweilig anwesende
Gaste zu zwangsloser Unterhaltung zusammen, und da die
meisten von uns noch diesseits des Schwabenalters waren,
wurden gewohnlich auch allerhand Lieder gesungen und ward
viel Scherz getrieben. Metteler war ein sehr guter Gesellschafter,
der es unter anderem trefflich verstand, den Dingenten beim
Absmgen von Liedern zu machen, die so eingerichtet waren,
dafi, wer gewisse Vorschriften, wie Auslassung bestimmter
Silben oder ahnliches, nicht innehielt, einer — stets gern erlegten
— GeldbuBe fiir die Zwecke unserer Partei verfiel. Vollmar,
der musikalisch war, begleitete unsern ,,Gesang“ auf dem Kla-
vier oder trug Lieder mit eigener Begleitung auf der Zither
vor. Karl Kautsky, gelenkig und iiberaus erfinderisch, erfreute
uns, wenn die Stimmung sehr ausgelassen wurde, durch grofie
Heiterkeit auslosende Imitation von Akrobaten oder als Phan-
tasietanzer. Was meine Wenigkeit betrifft, so will ich August
Bebel erzahlen lassen. In der Beschreibung, wie lebhaft es im
Mohrenklub zuging, wenn Liebknecht und er nach Zurich
kamen, sagt er in seinen Erinnerungen:
„Alsdann wurde mit besonderer Andacht das beriihmte ,Lied
vom Biirgermeister Tschech* gesungen, der in den vierziger
Jahren ein Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. mit ziemlich
komischem Ausgang unternommen hatte. Eduard Bernstein
61
Eiuari BfrnsXziK ♦ l zu Hjusp
war alsdann der Vorsanger, den Refrain sang der Chor. Diesem
Lied folgte das ebenso beriihmte ,,Petroleumhed“ und ahnhche
Spottgesange auf die Zustande in Deutschland. Oder Eduard
Bernstein und Karl Kautsky — damals die beiden Unzertrenn-
lichen — sangen ein Duett, das Steine erweichen, Herzen
brechen machte.“
Einen groBen GenuB, den er uns immer wieder gewahren
muBte, bereitete uns der alte Biirkli mit dem Vortrag einer
selbst erlebten Szene aus dem kirchlichen Leben Ziirichs. Sie
spielt in der alten Kirche von St. Peter, an der noch Lavater
gelehrt hatte. Dort amtierte um die Mitte des 19. Jahrhunderts
ein alter Prediger, der dabei unentwegt sein Ziirichdeutsch und
obendrem im breitesten Ziiricher Tonfall sprach. Der bekam
nun rum Heifer einen in Deutschland ausgebildeten und auf
der Kanzel den salbungsvollen Ton der norddeutschen Theo-
logen pflegenden jungen Geistlichen, und wenn die beiden am
SchluB des Kirchenaktes, satzweise sich abwechselnd, das
evangelische Glaubensbekenntnis verlasen, so gab das einen
Zweiklang von groBer Komik, was Biirkli meisterhaft wieder-
zugeben wufite. Dem Leser laBt sich das schwer iibermitteln.
Indes gibt lhm das Folgende vielleicht eine Idee davon :
Per alte Prediger (mit Kehllaut, breitgezogenen Vokalen und
noch breiteren Doppelvokalen) : Ich glaube an Gott den Vater,
allmachtigen Schopfer des Himmels und der Erden . . .
Per Qfelfer (salbungsvolles und hochtonendes Schnftdeutsch) :
Und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn
In dieser Weise welter bis zum SchluB:
Pier alte Prediger (wie oben Ziirichdeutsch): Ich glaube an
den heiligen Gaischt . . .
Per fjfetfer (wie oben norddeutsch) : ,,Eine heilige christliche
Gemeinde . . .
Per a(te Prediger: „Uuferstehig des Flaisches . . .
Per 3ie[fer; Und ein awiges Leben. Amen — “
Zu den slavischen Gasten des Ziiricher Mohrenklubs gehor-
ten auch einige in Zurich studierende serbische Sozialisten, und
diese brachten gelegentlich zwei junge Landsleute mit, die noch
62 Eduard, Bernstein • Vdlker zu Hause
der Prima des Gymnasiums angehorten. Unter der Hand
erfuhren wif, dafi sie die Sohne eines serbischen Fiirsten seien,
der seinerzeit als Hochverrater hingerichtet worden war. Es
waren die Briider Nenadowitsch, Vettern des damals im Exil
lebenden Prinzen Peter Karageorgewitsch, und der eine von
ihnen, der spater in Wien als Arzt lebte, hat denn auch bei den
Aktionen, die 1 903 Peter auf den Thron von Serbien brachten,
eine hervorragende Rolle als Mittler gespielt. Ob er auch mit
dem Mordanschlag auf den Konig Alexander und dessen Frau
zu tun hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Von dem Sohn
eines Mannes, den der Vater Alexanders hatte enthaupten lassen,
wiirde man es schliefilich begreifen. Als ich ihn kannte, fielen
er und sein Bruder mir nur durch ihr bescheidenes zuriick-
haltendes Benehmen auf.
Es wird behauptet, dafi eines Tages Peter Karageorgewitsch
selbst im Mohrenklub erschienen sei. Moglich ist es angesichts
des Vorangeschickten gewiB, doch ist mir damals nichts davon
zur Kenntnis gekommen. Es hatte auch schwerlich irgend
welchen Eindruck auf mich gemacht. Als mir im Jahre 1 883
der eine der Nenadowitsche beim Begegnen auf der StraBe mit
freudestrahlendem Gesicht von der Verlobung seines Vetters
Karageorgewitsch mit einer Tochter des Nikolaus von Monte-
negro Mitteilung machte, entlockte mir dies nur eine konven-
tionelle Bemerkung. Die Hoffnungen der Karageorgewitsche
waren mir Hekuba. So sehr mir auf Grund der Schilderungen
serbischer Sozialisten Milan Obrenowitsch, der damals auf
Serbiens Thron saB, zuwider war, so gleichgiiltig ware mir
seine Entthronung gewesen, wenn sie lediglich zu einem Wechsel
der Dynastien gefiihrt hatte. Auch spielte Serbien damals fur
die groBe Weltpolitik eine wesentlich andere Rolle, als sie die
Geschichte ihm spater zugeschoben hat. Den nationalen Be-
freiungsbewegungen der Serben, wie auch der Bulgaren, stand
ich aber mit ungleich groBerer Sympathie gegeniiber, als da-
mals die Mehrzahl meiner deutschen Genossen.
*
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
63
1m ganzen zahlte der Mohrenklub nur wenige Slaven zu
semen Besuchem. Anfang der achtziger Jahre, nachdem die
Sektion der Internationale entschlafen war, schufen Studierende
slavischer Zunge sich in Zurich einen Verein „Slavia“, der,
wie schon sein Name sagte, Slaven ohne Unterschied der
besonderen Nationalitat umfafite, und dem, wenn er sich auch
offiziel politisch farblos hielt, das demokratische und sozialisti-
sche Element die Farbe gab. Ich habe seinen Griindungsver-
sammlungen beigewohnt und, da die Vereinssprache deutsch
war, auch spater ihm gerne Besuche abgestattet. Es interessierte
mich, das Verhalten der Slaven untereinander zu beobachten,
und ich mu6 sagen, dafi es auf mich einen durchaus giinstigen
Eindruck machte. Namentlich vermieden es die Russen sehr
taktvoll, von der Tatsache, dafi sie die grofie Mehrheit bildeten,
irgendwelchen Gebrauchin der Gestalt von Uberstimmungen
zu machen. Sie zeigten sich von alien Teilnehmem am wenigsten
..national". Aber auch die andem Slaven stelltendie Kamerad-
schaft in die vorderste Reihe. Als im Herbst 1 885 der von
Konig Milan und dessen Hintermannern angezettelte serbisch-
bulgarische Krieg ausbrach, fraternisierten auf einem gerade
veranstalteten Fest der Slavia die einberufenen serbischen und
bulgarischen Studenten in sehr ansprechender Form demon-
strativ miteinander. Auf die Dauer war der Verein indes nicht
aufrecht zu erhalten. Die russischen Sozialisten hielten eigene,
sich endlos hinziehende Versammlungen zur Erorterung ihrer
internen politischen Gegensatze ab, eine russische Bibliothek
mit Lesezimmer ward gegriindet, und so blieben immer mehr
Russen von der Slavia fort. Die nichtrussischen Slaven waren
jedoch noch zu schwach vertreten, um allein einem Verein die
Lebenskraft zu sichem.
Vom Durchschnitt der damaligen deutschen Studentenschaft
unterschieden sich die slavischen Studenten, die ich kennen
lernte, durch ihre groBe MaBigkeit im GenuB alkoholischer
Getranke und ihr Interesse fiir alles, was Demokratie hieB.
Allerdings muBte man sie als eine Art Auslese aus der Masse
der Studierenden ihrer Heimatlander betrachten. Aber was sie
64
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
mir von den Zustanden an den heimischen Hochschulen er-
zahlten, liefi erkennen, daB ihre Lebensfiihrung keine sehr
wesentlich andere, als die dort iibhche war. Unzweifelhaft hatte
bei diesen Volkern die Ideologic einen starkeren Einflufi auf die
akademische Jugend als in dem Lande Kants und Schillers.
Bei den deutschen Studenten Ziirichs liberwog in bezug auf
fast alles, was fiber ihr Fach hinausging, jener Geist, wie er aus
den jetzigen politischen Kundgebungen deutscher Gelehrter
spricht, und den man nicht gerade Ideologic nennen kann.
So mafiig aber meine slavischen Bekannten beim Bier waren,
so unmaBig waren sie — oder wenigstens die Russen — im
Genufi von Tee und Rauchen von Zigaretten. Nur tranken sie
den Tee in recht diinnem AufguB, und die Zigaretten pflegten
sie sich selbst zu drehen. Aber der Menge nach war der Ver-
brauch des Aufgusses ein gewaltiger, und selten war ich mit
Russen zusammen, ohne dafi sie, sei es drehend oder rauchend,
mit ,,Papyrossi“ sich beschaftigten .
Zu einer emsthaften politischen Intimitat kam es zwischen
einigen Russen und uns. Besondere Freundschaft schlossen
Kautsky und ich mit Paul Axelrod, der im Verein mit Georg
Plechanow und Vera Sassulitsch Begriinder der ausgesprochen
marxistischen Fraktion der Sozialisten RuBIands war, und bei
Axelrod lernte ich neben den Genannten auch dessen Landsmann
Leo Deutsch, den Verfasser von ,,Sechzehn Jahre in Sibirien“
(Dietz, Stuttgart) kennen, kurz bevor er infolge irgend einer
Denunziation auf einer Reise durch Deutschland in Freiburg
im Breisgau verhaftet, von der badischen Polizei der preuBischen
und von dieser an RuBland ausgeliefert wurde. Deutsch war
damals ein noch ziemlich junger Mann, der sich lebensfreudig
und willenskraftig gab. Als ich ihn zwanzig Jahre spater nach
seiner Rlickkehr aus Sibirien wiedersah, war er iiber seine Jahre
gealtert und saB meistens still in sich gekehrt da. Wer ihn
denunziert hatte, ist unermittelt geblieben, obwohl sich Julius
Metteler alle Miihe gab, es'herauszubekommen, und die Aus-
findung von Polizeispionen war Mettelers besondere und eifrig
betriebene Kunst, man konnte beinahe sagen, sein Sport. Noch
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
65
vor Deutschs Verhaftung war unserer Genossenschaft auf diesem
Gebiete ein grofier Fanggelungen, dessen Bekanntgabe seinerzeit
erhebliches Aufsehen erregte. Die Geschichte fiihrt uns in das
Lokal zuriick, wo der Mohrenklub zusammenkam und an das
sich eine besondereErinnerung kniipft, die hier erwahnt werden
mag, wenngleich August Bebel sie schon in der Geschichte seines
Lebens mitgeteilt hat. In das Haus zum Thaleck an der Ecke
des Zeltwegs und derSteinwiesgasse, wo in der unten gelegenen
Wirtschaft der Mohrenklub sich versammelte, zog zur Zeit, von
der hier die Rede ist, Ziirichs beriihmter Dichter Gottfried Keller
ein. Als nun eines Abends Paul Heyse bei Keller zu Besuch
war und aus den Parterreraumen lauter „Gesang“ zu ihnen
herauftonte, fragte Heyse, wer denn da unten so larme. „Das
sind de Sozialdemokrate“, antwortete Keller in halbem Ziirich-
deutsch. Worauf der Dichter der „Kinder der Welt“ sich hin-
stellte und sofort mit komischem Pathos deklamierte :
„Dort unter der Schwelle
Brodelt die Holle.“
Obwohl ich leicht Gelegenheit dazu hatte haben konnen,
Keller personlich kennen zu lernen, da der mir befreundete
Reinhold Riiegg sehr freundschaftlich zu ihm stand, habe ich
mir das entgehen lassen. Nicht aus mangelndem Interesse fur
ihn, sondern infolge einer Charakteranlage, die mir auch in
anderer Hinsicht oft im Wege gewesen ist. Eine eigentiimhche
Scheu hielt mich davon ab, Personen von Bedeutung mich vor-
stellen zu lassen, wenn ich nicht politisch mit ihnen zu tun
hatte. Ich konnte das Gefiihl nicht loswerden, dafi ich ihnen
personlich nicht genug brachte, um die Einfiihrung zu recht-
fertigen. Aus diesem Grunde habe ich unter anderem es damals
geradezu vermieden, mit zwei Gelehrten von groBem Ruf, die
in Zurich lebten und die meiner Familie nahe standen, dem
Physiologen Ludimar Hermann und dem Chemiker Victor
Meyer, in Beziehung zu treten, obwohl ich, was letztgenannten
betrifft, fur sein Genie und seine geradezu bezaubernde Per-
sonlichkeit die groBte Bewunderung empfand. Vielleicht auch
gerade deswegen.
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
Aber wenn ich den Dichter des „Griinen Heinrich** nie ge-
sprochen habe, so habe ich ihn wenigstens oft genug gesehen.
Eine Zeitlang pflegte Gottfried Keller gelegentlich auf seinem
Heimweg in der an der Grenze von Zurich und Hottingen ge- 3
legenen Wirtschaft zum Pfauen einzukehren. Dort sa8 er dann
mutterseelenallein und trank seinen Schoppen Bier oder Wein.
Das gleiche tat in einiger Entfemung ich, da auch mir die
Wirtschaft bequem am Nachhauseweg lag, und so hatten wir
beide die beriihmte Epopee vom Bauer und der alten Eule auf-
fiihren konnen — „der Bauer sah die Eule an, und die Eule
sah den Bauer an“ — wenn das Interesse ein gegenseitiges ge-
wesen ware.
„Seinen Schoppen** muB indes bei Keller nicht zu buch-
stablich genommen werden, denn er war, wie die meisten
Ziiricher, ein herzhafter Trinker. Wenn ich ihn aus der Wirt-
schaft heimwandeln sah, hatte ich nicht selten den Eindruck,
als ob er stark geladen hatte. Es wird von ihm in Zurich eine
Anekdote erzahlt, die wohl auch irgendwo schon dem Druck
iibergeben worden ist : Keller wollte einmal spat abends aus
dem Wirtshaus in seine eben erst bezogene Wohnung zuriick
und war des Weges nicht sicher. So rief er einen Voriiber-
gehenden an: „He, chonnet Ihr mir nit sage, wo-n-ich wohn?“
Der Voriibergehende sah ihn erstaunt an : „Der Tuusig, Ihr
seid ja der Gottfried Keller !“ Keller aber wurdebose: „Dummer
Chaib ! Han ich Eu gfraget, wer ich bin ? Ich han Eu gfragt,
wo-n-ich wohn\“
Man hat das dem Dichter nicht zur Unehre nacherzahlt.
Denn Trinken und angetrunken sein gait in Zurich fur etwas
durchaus Rechtschaffenes . So riet mir einmal mein Ziiricher
Arzt als Mittel gegen den mich gerade qualenden Schnupfen,
abends vor dem Einschlafen sechs Glas starken Grog zu mir zu
nehmen, und fiigte hinzu : „Ich tue das auch ofters prophylak-
tisch“. Starke Trinker waren iibrigens auch mein Landsmann
Beust und seine Sohne. Der Jiingere versuchte einmal, unseren
Wilhelm Liebknecht unter den Tisch zu trinken. Aber der Alte
war wetterfest, und das Gefecht blieb unentschieden.
Eduard Bernstein « Volker zu Hause
67
Mir selbst ist der Zuricher Weindurst versagt geblieben, ob-
wobl ich mehrere Jahre an der Quelle safi. Ich wohnte bei einem
guten Gesinnungsfreunde, der fiir ein groBes ungarisches Wein-
haus reiste, und da mein Verhaltnis zu ihm und seiner Familie
ungemein freundschaftlich war, wurde mir Wein in Fiille ge-
boten. Ich habe indes nur wenig Gebrauch davon gemacht.
Uberhaupt lebten gerade die Matadore des Mohrenldubs
auBerst mafiig, was nicht nur daran lag, daBwir, mitAusnahme
Hochbergs, der aber bloB Gastrollen bei uns gab, alle nur iiber
schmale Mittel verfiigten. Vollmar, der viel vertragen konnte,
trank im Hause gar nicht und im Wirtshause wenig. Metteler
riihrte keinen Tropfen Alkohol an, Kautsky tat es ihm am lieb-
sten nach, ebenso Karl Hochberg, und wessen ich mich an
nennenswerten Leistungen auf diesem Gebiete riihmen konnte,
gehorte damals schon der Vergangenheit an. So daB, da Vollmar,
Kautsky und ich obendrein auch nicht rauchten. Benoit Malon,
der im Sommer und Herbst 1 879 in Zurich wohnte, in der Vor-
stellung, die er sich als Franzose von der Besonderheit der
Deutschen gemacht hatte, durch uns vollstandig erschiittert
wurde. Sein Bild von einem Deutschen war ein Mensch ge-
wesen, der furchtbar rauchte und Unmassen Bier vertilgte.
*
Und nun zum Spitzelfang zuriick. Eines Tages im Jahre 1 884
erschien in der Wirtschaft zum Thaleck ein Kaufmann, Elias
Schmidt, aus Dresden und stellte sich dort verkehrenden So-
zialisten als Gesinnungsgenossen vor. Er hatte, erzahlte er, im
Geschaft Bankerott gemacht und sich nun mit dem Rest des
Seinigen gefliichtet. Von Gesinnung sei er mit Leib und Seele
Sozialist, was er durch sehr radikale Redewendungen zu be-
kraftigen suchte. Daneben machte er gute Zeche und war mit
dem Traktieren recht freigebig. Wir alteren Parteigenossen
merkten ohne weiteres, dafi mit dem Sozialismus des Mannes
nicht viel los war, so dafi er an uns nicht heran konnte. Nur auf
eine Anzahl jiingerer Sozialisten, darunter den sehr naiven Wirt
des Thaleck, den schweizerischen Sozialisten J . Obrist, machte
68 Eduard Bernstein * Volker zu Hause
er mit seinem Radikalismus und seiner anscheinenden Gut-
miitigkeit einigen Eindruck, so dafi unsere Warnungen, sich nicht
mit ihm einzulassen, bei ihnen auf unfruchtbaren Boden fielen
und sogar von etlichen als ungehorige Bevormundung zuriick-
gewiesen wurden. Wenn mein Gedachtnis mich nicht tauscht,
ist damals im Thaleck das Wort Olymp fiir unser Hauptquartier
am Oberen Wolffbach geschmiedet worden. Jedenfalls ist es zu-
erst von Leuten gebraucht worden, die, ohne Titanen zu sein,
Ursache hatten, dem Hauptquartier zu ziirnen. Els gab recht
bose Worte, und wir fingen an, das Lokal zu meiden.
Endlich schopfte aus einem nicht weiter zu erwahnenden
Grunde auch der gute Obrist Verdacht und riickte mit noch
einem Genossen dem Schmidt auf den Leib, Willig liefi der
Biedermann sein Zimmer durchsuchen, wo sich auch in der Tat
nichts vorfand, das erlaubt hatte, auf Spitzelei zu schliefien. Als
man aber darauf bestand, auch den Inhalt seiner gefiillten Rock-
taschen zu durchsuchen, ward er blaB und bekundete plotzlich
einen unaufschiebbaren Drang nach einem unnennbaren Ort.
Man lieB ihn gewahren, merkte aber, als er zuriickkam, daB,
was er dort erleichtert hatte, eben seine Taschen waren. Weitere
Nachforschungen lieferte in wenig appetitlicher Umhiillung ein
ganzes Biindel Bnefe, die nicht appetitlichere Korrespondenz
des Schmidt, die dessen Spitzeltum auBer jeden Zweifel stellte,
in die Hande der Untersucher. Der edle Bankrotteur hatte mit
dem Chef der Dresdener Kriminalpolizei in lebhaftem Brief-
wechsel gestanden und, da er von diesem nur maBige Bezah-
lung erlangen konnte, auch sich der Berliner und Stuttgarter
Polizei angeboten und mit dem in Miilhausen im ElsaB sta-
tionierten und offenbar mit dem Geheimdienst im Schweizer
Gebiet betrauten Polizeikommissar Kaltenbach Verbindung an-
gekniipft. Die Briefe des Genannten an Schmidt wurden, sorg-
faltig gereinigt, dem von Metteler angelegten Spitzelarchiv der
Sozialdemokratie einverleibt, ihr Inhalt aber ward mit gebiih-
renden Kommentaren in einer Broschiire veroffentlicht, die im
Verlage der Volksbuchhandlung Hottingen-Ziirich unter dem
Titel „Die deutsche Geheimpolizei im Kampfe mit der Sozial-
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
69
demokratie“ erschien. Sie ist langst vergriffen und nur noch Hier
und da in Bibliotheken zu haben, hat aber nicht jedes Interesse
verloren. Man erhalt durch die Briefe interessante Einblicke in
den Verkehr der Geheimpolizei mit ihren Agenten. Im allge-
meinen ist er durch das Sprichwort bezeichnet : „Man liebt den
Verrat und verachtet den Verrater.“ Deutlich tritt die Tendenz
hervor, die Spitzel moglichst kurz zu halten und gewissermaBen
nach dem Stuck zu bezahlen. Je mehr und je wichtigere An-
zeigen, um so besser die Bezahlung und umgekehrt. Ein be-
quemes und, reinkommerziellbetrachtet, auch rationelles System,
das aber auf dieMenschen, gegeniiber denen es angewandt wird,
die verderblichste Wirkung ausiibt.
Els ist das beste Mittel, aus dem Spitzel einen Lockspitzel
— oder wie man das Wort agent provocateur sonst iibersetzen
will — zu machen. Um seine Beziige nicht zu verlieren, son-
dern sie womdglich noch zu steigern, geht der nach dem Stuck
bezahlte Spitzel, wenn ihm der Berichtstoff ausgeht, leicht dazu
iiber, sich solchen zu ,,machen“, das heiBt, die Leute, die er
ausspioniert, nach Moglichkeit zu Handlungen zu veranlassen,
welche sie sonst nicht begingen. Selbst Agenten der Polizei,
denen eine feste Lohnung ausgesetzt ist, unterliegen dieser
Versuchung. Denn da sie nicht in einem Beamtenverhaltms
stehen, sondern jederzeit gewartig sein miissen, daB lhnen ihr
Dienst gekiindigt wird, heiBt es auch fur sie, darauf Bedacht
nehmen, daB sie guie Berichte liefern konnen.
Fiirdiesedepravierende Wirkung des Systems der politischen
Geheimpolizei kamen im Laufe der Jahre Beispiele der ver-
schiedensten Art zu unserer Kenntnis, darunter einige wahr-
haft erschiitternder Natur. Denn nicht immer war der Kund-
schafter der Polizei von vornherein ein Verrater. Mancher hatte
sich uspriinglich zu anscheinend harmloser Berichterstattung
oder mit inneren Vorbehalten anwerben lassen, die sein politi-
sches Gewissen ihm vorschrieb, und ward sich erst spater inne,
daB er der Gefangene eines Systems geworden war, das fur
seine Werkzeuge keinen moralischen Aufstieg kennt. Erlahmte
er unter dem Druck dieser Erkenntnis in seinem Eifer, so lieBen
70
Eduard Bernstein • Volker zu Hause
seine Brotgeber ihn kiihl fallen, und das nicht immer sehr sanft.
Es kamen Beispiele vor, wo man sich schwer dem Verdacht
verschliefien konnte, dafi Obere einen unbrauchbar gewordenen
Agenten selbst der Gegenpartei in die Hande gespielt hatten.
Wie das auf andern Gebieten der Spionage ja auch vorkommt.
Je mehr die Verbreitung des ,,Sozialdemokrat“ wuchs, um
so starker mehrte sich auch das Personal der Polizisten und
Polizeiagenten, deren Mission es war, den Schleichwegen des
Schmuggels und den verschiedenen Verbreitern auf die Spur
zu kommen. In den Zentren der Bewegung im Reiche selbst
ward nach Kraften gespitzelt, in den Grenzgebieten Deutsch-
lands nach der Schweiz zu wurde die Uberwachung verscharft,
und in Zurich suchten immer zweifelhaftere Gestalten sich an
die Vertrauensmanner der Partei heranzudrangen. Selbstver-
standlich ware nichts vorteilhafter gewesen, als in der Zentrale
Einblicke in das System des Vertriebs und seine Hauptadern
zu erhaschen, da man damit die Schliissel zu alien weiteren
Verbindungen in der Hand gehabt und die Moglichkeit gewonnen
hatte, immer wieder den ganzen Organismus durch Schlage an
bestimmten Stellen lahm zu legen . Indes trotz aller Bemiihungen
haben es die Sendboten und freiwilligen Zutrager der Polizei
nie erreichen konnen, diese Aufgabe zu losen. Der „01ymp“
erwies sich ihnen alien als unzuganglich. Dagegen konnte der
,,Sozialdemokrat“ immer wieder Entlarvungen von Spitzeln
zur Kenntms bringen.
Und nicht nur Spitzel mufiten abgewehrt werden. An jede
aufierste Opposition drangen sich, namentlich wo sie vom Aus-
land her wirkt, Leute heran, die irgend einen personlichen Groll zu
befriedigen haben oder von Abenteurerdrang getrieben werden,
es einmal mit dem politischen Umsturz zu versuchen . Sie werden
dadurch gefahrlich, dafi sie meist einen unbandigen Tatendrang
entfalten, der sich in allerhand tollen, die Bewegung nur bloB-
stellenden Projekten Luft macht. Der literarische Kampf kann
ihnen nicht personlich genug, der politische nicht wild genug
gefiihrt werden, bis — ihr Zorn verraucht ist oder ihrer Aben-
teurerlust sich ein anderes Feld der Betatigung darbietet und
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
71
sie dann den Beruf in sich fiihlen, aus Umstiirzlern zu Rettem
des Vaterlandes zu werden.
Ein mustergiiltiges Exemplar dieser Gattung war ein Haupt-
mann a. D. von Ehrenberg, der sich um die Mitte der achtziger
Jahre bei uns in Zurich einfand. Der Mann war nicht unbegabt,
aber von einem rasenden Ehrgeiz und Rachedurst besessen.
Er behauptete, ein SproBling aus dem Geschlecht der Zahringer
und in dieser Eigenschaft legitimer zu sein, als die regierende
Familie des badischen Herrscherhauses . Als Militar hatte er
sich im deutsch-franzosischen Krieg Auszeichnungen erworben,
spater aber sich durch eine Schrift gegen den Paradedrill und
ahnliches miBliebig gemacht, sechs Monate Festungshaft auf-
diktiert bekommen, die er in Wesel absafi, und nach deren Ver-
biiBung den Abschied erhalten. Nun briitete er Rache, und da
er sie in der siiddeutschen Volkspartei, der er sich zuerst zu-
wandte, nicht befriedigen konnte, sollte die Sozialdemokratie
ihm dazu Vorspann leisten.
Er kam nach Zurich, und da er von einem vertrauenswiirdigen
Genossen eine Einfuhrung erhalten hatte, fand er ZulaB am
Oberen Wolffbach. Auch war der erste Eindruck kein un-
giinstiger, Als kleiner, schlank aber kraftig gebauter Mann trat
er zunachst sehr bescheiden auf und liefi sich anscheinend ohne
groBen Widerspruch etwas sagen. Als ich ihm z. B. auf seine
Bemerkung, er gedenke unseren Arbeitern in Zurich kriegs-
wissenschafthche Kurse zu geben, erwiderte, ich konne ihm
nicht dazu raten, was fiir die Arbeiter davon in Betracht kame,
wiirde ihnen ja doch beim Militar schon beigebracht, schwieg
er sofort. Tatsachlich aber bedeutete sein Schweigen alles, nur
nicht Zustimmung. Vielmehr hatte ich es mit dem Einwurf
ein fiir allemal bei ihm verdorben. Was er plante, war, sozia-
listischen Arbeitern dieWissenschaft des Putsches beizubringen.
Daraus ist in der Weise, wie er sich das wohl gedacht hatte,
nichts geworden, wenn sich auch schlieBlich ein paar unruhige
Geister fanden, denen ein Mentor seines Schlages gerade ge-
fehlt hatte. Aufierdem veroffentliche er die Anweisungen fiir
den Putsch, die er dem „Sozialdemokrat“ zugedacht hatte.
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Eduard ,
'ernstein ♦ Volker zu Hausc
unter der Firma von „Ratschlagen fiir die Verteidigung Ziirichs
im Falle einer feindlichen Invasion" in der Ziiricher „Arbeiter-
stimme“. Die Artikel verraten den sachkundigen Militar, sie
verraten aber auch einen hamischen Geist, dessen Phantasie in
Brutalitaten schwelgt. Und dafi die Brutalitat bei ihm nicht
nur Phantasie war, hatte sich, wie wir spater erfuhren, beim
Militar in seinem Verhalten den ihm untergebenen Soldaten
gegeniiber kundgetan und zeigte sich nun in der rohen Art,
wie er seine Frau, ein sehr hiibsches und liebes Personchen,
terrorisierte. Dabei war er Vegetarier und glaubte als rich-
tiger Phantast seine Hinneigung zum Proletariat dadurch
bekunden zu miissen, dafi er die Gartnerei erlemte und
in einem kleinen Anwesen, das er gepachtet hatte, mit Vor-
liebe grobe Erdarbeiten verrichtete. Indes dauerte diese De-
monstration seiner Volksfreundlichkeit nicht allzulange. Ernes
Tages erhielten wir von emem in Paris lebenden Sozialisten
ungarischer Nationalist das Stiick eines von Ehrenbergs Hand
geschriebenen Flugblatts, worin heftig gegen den Ziiricher
„SoziaIdemokrat“ losgezogen wurde, der durch seine unerhorte
Mafiigung die Partei korrumpiere — dies zu einer Zeit, wo tat-
sachhch der „SoziaIdemokrat‘‘ bei der Mehrheit der Fiihrer der
Partei in Deutschland als die Stimme der radikalen Opposition
der Partei in hochster Ungnade war. Aber dam it nicht genug,
hatte der Hauptmann, wahrend er auf der einen Seite mit den
Anarchisten in Verbindung getreten war, gleichzeitig versucht,
mit den um den General Boulanger gruppierten franzosischen
Revancheleuten politische Geschafte zu machen. Er hatte ihnen
mitgeteilt, dafi er den Plan der Festung Wesel in der Hand
habe, durch seinen EinfluS auf die Sozialdemokratie in der
Lage sei, erne Erhebung ms Werk zu setzen und im gegebenen
Fall diese Festung zu nehmen, und hatte als Kosten fiir die
Vorbereitungen, die er auf Wunsch treffen werde, eine fabel-
hafte Summe Geldes genannt. Indes scheint man in Paris auf
sein Angebot nicht eingegangen zu sein, zumal man durch
Mittelspersonen in Erfahrung gebracht hatte, wie es in Wirk-
lichkeit mit des Hauptmanns Einflufi auf unsere Partei stand.
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
73
Auch hatten wir Personen, die an einzelne von uns mit der
Frage herangetreten waren, wie sich die deutsche Sozialdemo-
kratie in einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich
verhalten wiirde, in keinem Zweifel dariiber gelassen, daB, wenn
Frankreich Krieg anfinge, es trotz Sozialistengesetz und unbe-
schadet unserer Stellung zur elsafi-Iothringischen Frage, die
deutsche Sozialdemokratie zu Gegnem haben wiirde. Ob Ehren-
berg davon erfahren hat, weiB ich nicht, war es der Fall, so
wiirden die Beschimpfungen, mitdenen das erwahnte Flugblatt
insbesondere den Schreiber dieses bedachte, ihre guten Griinde
gehabt haben.
Aus dem franzosischen Geschaft wurde nichts, statt dessen
nahmen die Schweizer Behorden, die von der Sache Wind
bekommen hatten, nun den Mann aufs Korn, da seine Trei-
bereien nach ihrer Ansicht die Neutralist der Schweiz zu
kompromittieren drohten. Ehrenberg wurde als der politischen
Spionage verdachtig in Untersuchungshaft genommen, und —
siehe da — unter seinen beschlagnahmten Papieren fand sich unter
anderem das Konzept eines Berichts an die deutsche Qesandt-
schaft in Bern, worin liber die im Stabe des „Sozia!demokrat“
tat i gen Personen und deren Gepflogenheiten Angaben gemacht
wurden und der Schreiber sich anbot, eines Sonntagnachmittags,
wenn Metteler mit Frau den gewohnten Spaziergang in die
Umgebung Ziirichs mache, in dessen Wohnung einzubrechen
und alle wichtigen Briefe und Adressenlisten zu stehlen. Der
Idealist undTyrannenhasser war vorsichtigerweiseeine pohtische
Riickversicherung eingegangen.
Beim Verhor zeigte er sich in Ausfliichten uberaus gewandt,
gebrauchte aber wiederholt eine so obszone Sprache, daB ihn
der verhorende Polizeihauptmann Fischer ermahnen muBte,
wenn nicht auf ihn, so doch wenigstens auf den Protokollfiih-
rer Riicksicht zu nehmen. Als man ihm eines Tages gestattete,
zum Wechseln der Kleidung in Polizeibegleitung einen Besuch
in seiner Hauslichkeit zu machen, nahm er diese Gelegenheit
wahr zu entwischen, floh nach Deutschland, schrieb dort ein
giftiges Buch iiber die Demokratie in der Schweiz, wurde auch
74
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
in Deutschland verhaftet, verstand es dort gleichfalls zu ent-
fliehen und tauchte schliefilich eines Tages im Transvaal auf,
wo er zur Zeit des Burenkrieges wieder eine zweideutige Rolle
gespielt zu haben scheint.
Ware der Mann nicht so voller kleinlicher Bosheit gewesen,
so wiirde er immerhin mit seinen vielen Streichen den Mittel-
punkt eines Spionenromans haben abgeben konnen. Aber es
fehlte ihm jede menschlich versohnende Eigenschaft, ohne die
wir uns einmal fiir niemand interessieren konnen. Aufier seinen
durchaus in peronlichem Arger wurzelnden Rachegeliisten hatte
Ehrenberg nichts von einer Leidenschaft an sich, war er Be-
rechnung bis ins Kleinste hinein. Ob er jemals ein Spitzel im
genauen Sinne dieses Wortes war, ist zweifelhaft. Nicht aber
zweifelhaft ist, daB er der Gattung der skrupellosesten Verrater
angehorte.
Das gleiche kann man jedoch bei weitem nicht von all den
Leuten sagen, die als Spitzel auf unsere schwarzen Listen ge-
kommen sind. Es waren Personlichkeiten darunter, von denen
man Grund hat, anzunehmen, daB sie bewufit keinen Sozialisten
ans Messer geliefert haben, andere, die unter dem Beruf, dem
sie verfallen waren, wirklich seelisch gelitten haben. Das Ka-
pitel der Spitzel und Spitzelentlarvung gehort zu den an Tragik
reichsten Abschnitten der Geschichte des Ziircher „Sozial-
demokrat“. Unvermeidlich war es, daB bei der zunehmenden
Intensitat des Kampfes mit den Polizeiwerkzeugen gelegentlich
Personenverwechslungen unterliefen und vor Leuten gewamt
wurde, die sich Unvorsichtigkeiten, aber keine absichtliche An-
geberei hatten zu Schulden kommen lassen. Eine Warnung im
„Staatsanzeiger“, wie der „Sozialdemokrat“ von den Genossen
im Reich genannt wurde, hieB aber unter Umstanden Achtung,
und mancher Schmerzensschrei von Leuten, die uns heilig be-
teuerten, daB sie zu Unrecht in Verdacht gekommen, hat mir
schlaflose Nachte verursacht. Diese Kehrseite unseres Kampfes
vergessen nur zu leicht diejenigen, denen die Zeit des Sozialisten-
gesetzes heute aus derEntfernung romantisch verklart erscheint.
Peter Baum ♦ Aus seinen Werken
Gieier Q}aum :
AUS SEINEN WERKEN
‘Peter ‘Baum , der PurslicP, f&nfundviersigjdfxrig,
vor ‘Verdun gef alien iff, Pint er Id fit vier ‘BdcPer .
Gs erscPienen : die SedicPte „ Qott und die cCrdume“
1902 bei flxel £ Juncker , die ‘Kovellen „0m alien
c PcPlofi" 1908 bei ‘Paul Cassirer, die ‘Romane
„cfpu/c“ 1905 bei der ‘DeutscPen ‘Verlagsanstalt
Concordia und ,£Kammermusik“ , das reifste ‘WerP,
19m — Purs vor Ulusbrudi des IKrieges — im
SHyperi oncer tag.
WINTERMORGEN
Droben, wo sie schliefen,
Wachen Wolken auf,
Tuen ihre Tiefen
Allem Lichte auf.
Selige Fernen griifien sich
Blauen Auges, still.
Eine Sehnsucht, die nicht reden will,
Uberschiittet mich.
Wie des Friihlings Raunen
Uber Walderschnee
Duftet durch das Weh
Ein entziicktes Staunen.
6 Vol. IH/2
.>*
le
76
Peter Baum ♦ A us seinen Werken
NEIN!
Nein! ich schwamm durch deine Nebelstunden,
Horte selber das losgekettete Kreischen —
All das Hollengetlimmel von dunklen Hunden
Dich zerflelschen.
Aber Ich weifi deine rauhen Kliifte,
Deine steinernen Felsen zu riihren.
Gliihend will ich bei deinen Todesgottern
Meinen Sonnenaufgang schiiren.
Ja, wir steigen! Wie aus dunklem Frohne
Meine Sonne durch die Himmel siedet,
Und meine sonnengoldne Krone
1st aus Quadern des Lichts geschmiedet.
DU!
Du ! Ich werde dich doch als Beute davontragen,
Meine bosen Stunden muBt du biiBen
Und mit zagen, siifien
Worten mir von deiner Liebe sagen.
Warte, bald ducke ich mich, und dann packe ich dich
Alle Nachte liege ich auf der Lauer.
Ein langes Meer von Trauer
Schiittete Wildheit in mich.
WENN OFT ICH STAUNE
Wenn oft ich staune, daB ich nicht
Wie jener Baum im Winde bebe,
DaB selbst ich Stirn und Arme hebe
Und wandle wie das Sonnenlicht —
Peter Baum * A us seinen Werken
Dann ist ein Lachen iiber mir,
Und staunend fiihl ich, wie mich biegt
Und auf und nieder wiegt
Das helle Lachen iiber mir.
WENN FRECH DER ABEND NIEDERBLECKT
Wenn frech der Abend niederbleckt
Mit blutbefleckten Wolkenzahnen,
Und in den Hausem — dumpf, versteckt —
Sich Menschen ineinander qualen.
Dann schleiche ich durchs Heiderohr
Und grinse in die groBe Leere,
Recke den Kopf hervor —
Heule nach meiner Seele.
WENN DIE NACHT FALLT
EINE NOVELLE
Die Lebensbaume, die auf dem Grase kauerten, sie waren
nur furchtsame Hiiter. Sie wagten nicht, ihre Konigin gegen
den Himmel zu recken. Inmitten des Rasens stand eine groBe
Zeder. Rund und ragend trug sie die Dunkelheit aus den
matten Schatten der Dammerung empor.
In der Halle, die vor dem finsteren Hause ihr Licht aus-
breitete, verstummte das Sprechen, wenn die Schritte, die im
Garten umgingen, naher kamen. — Eben noch war der groBe,
hagere Mann oben gewesen, um seine Frau und ihren Vetter
zu begriifien. Ohne abzulegen, trat er dann wieder ins Freie.
Er wufite, man kannte das bei ihm. — Schon seit geraumer
Zeit trieb er sich bis tief in die Nacht drauBen herum.
Er wuBte: jetzt horen sie ihn aus dem Tore gehn. — Laut
spricht er mit dem Knecht.
Peter
aunt * A us seincn Wcrken
Nun gab er dem Reh Futter. Er erhob sich und fuhr fort,
im Garten aufund ab zu wandern. Er bemerkte das Stillwerden
bei seinem Nahen und versuchte, ob es wiederkehrte. Das
Lachen erhob sich hinter seinem Riicken, wie die Springflut
bei Neumond.
Kein Mifitrauen hegte er. Vor ihm stand friihes Erlebnis.
Da entziindete sein VerwirrtwerdenbeimEintrittdesEhemanns
dessen Verdacht. Der wollte sich damals mit ihm, dem nur
erst traumenden Knaben schieBen. — Auch als er noch Schuler
war, errotete er, wenn einer in der Klasse vom Lehrer zur
Rechenschaft gezogen wurde. Immer fiihlte er sich als Tater
und erschrak, wenn ein anderer fiir ihn unschuldig verurteilt
wurde.
Jetzt geht er wieder auf das Haus zu. Er wird sie wieder
erschrecken, — die Unschuldigen.
Der Mann im Dunkeln tragt eine Flinte auf dem Riicken.
Dicht vor der Treppe bleibt er stehn. Totenstill war es plotz-
lich dort oben. Er schamte sich. Er wollte kein Knecht Rup-
recht sein, der die Rute und einen Eishauch in die warme
Kinderstube trug. — Freut euch, Kinder, ich store nicht eure
Freundschaft.
Mit weit ausholenden Schritten ging er zur Laube.
Dort sich hinsetzend, offnete er einen drahtvergitterten
Kasten. Die gezahmte Dohle flatterte erschrocken auf das
faserige Holz des Tisches und schritt vorwarts — auf ihn zu.
Ihre kurz gestutzten Schwingen breiteten sich auseinander.
Sie stand mit gespreizten Fliigeln, wie liebeswerbend vor ihm.
Sie zupfte an seinem Barte, immer die Schwingen weit geoffnet.
Auch da im Lichtschein ein Werben, das Freundschaft
geworden war. Der Vetter ist ihr zu nah, wie ihm der Vogel
zu fern ist. — Immer leidenschaftlicher reiBt der Vogel an
seinem Barte.
Jah erhebt sich der Mann. Seine haarige Hand fahrt mit dem
Vogel ins Bauer. Durch das Tor, iiber die Wiese geht er dem
Wald zu. Fiihlt er Eifersucht. — Ihre Arme, ihr Nacken —
sie gehoren ihm. Freundschaft gonnt er ihr, auch er pflegt
Ptitr Baum ♦ A us scintn Werken
solche. Aber nicht immer mochte er bei ihr sitzen. — Abend
fiir Abend treibt es ihn, herumzuscbweifen.
Auf dieser Wiese sah er manchmal in der Dammerung
Bdcke, die um ein Weibcben kampften. — Der Starkste bleibt
immer Sieger. — Gleichmafiig scbreitet er weiter. — Die
Lichter der Fenster hocken triibselig furchtsam in der Finster-
nis. Die Wolkenwalle decken den Mond, der vorsichtig die
SchieBscharten entlang gleitet.
Er streift durch ein paar Holzungen. Nun steht er vor den
dicken Eichen, die mitten im Wege ragen. Mit einem Schild
sind sie geschmiickt, das ihren Namen verkiindigt. — Amalien-
Eiche. — Es ist nicht mehr zu lesen. — Eine rohe Art. Schandung
des Waldes. An den Schildern merkt er, daB er sich auf dem
Gute seines Schwiegervaters befindet. — Auch der Vetter seiner
Frau hatte sich iiber den Vandalen lustig gemacht. Ein feiner
Kerb Sie paBten nicht zueinander. Immer errotete er und
konnte ihm nicht ins Gesicht schauen. — Verwundert horchte
manchmal der hagere Mann auf, wie mannlich und unbefangen
er zu seiner Frau sprach, wenn er sich von ihm unbeobachtet
glaubte. — Die beiden paBten auch gut im Alter zusammen.
Zur Freundschaft! Zur Liebe wahlt sie den, der Erlebnisse in
der Stimme und in den Augen tragt.
Der Junge sagt, daB niemand fiir seine Taten verantwortlich
sei. Das sind Worte, die auch er einmal im Munde trug. Wenn
man aber alter wird, bringt man Zucht und Ordnung unter
das Gesinde.
Jetzt weiB er, wohin er will. Dort in dem Gasthaus trifft er
Bekannte. Er eilt auf das Haus zu und geht vorbei. Lieber will
er zum Wasserfall. Dort, wo der Flufi weiBen Schaum zur
Tiefe rollt. Wenn dann der Mond durch eine Lichtung der
Wolken schwebt.
Der Mann bleibt stehen. Wird dort einer erschlagen. Nein.
Nur der Vetter seiner Frau glaubte es, ais er die Eulenschreie
horte. Von alien Seiten kommen sie jetzt. Was die Stadter fiir
Ohren haben.
Peter Baum ♦ Aus seinen W erken
Er geht doch wohl zuriick ins Gasthaus. Aber da fragen sie
ihn wieder, ob er mit seiner Frau erziimt sei. Soil er denn
ewig zu ihren Fiifien sitzen. Das habe er friiher getan, sagen sie.
Die Liigner.
Er bleibt wieder stehen und pfeift. So pfifF er seinem Hund.
Gestern hat er ihn tot geschossen, weil er ihm den Vogel nicht
brachte. Der Jahzorn.
DaB er nun doch des Vaters Gut und des Nachbars Tochter
erworben hat. Dafier von ihrem Haupte, das in der Nacht iiber
zartem Halse thront, traumt, er, der Ba jade rein unter Palmen hat
tanzen sehen.
Einst, da hat er Prediger werden wollen. Sein Vater und
seine Briider verachteten ihn darum. Dann blies er die christ-
liche Kanzel aus. — Eine runde Flamme war sie gewesen, in
deren Hohlung er stehen wollte, voll Heiligkeit — voll Liebe
zu der Menschheit.
Dannn wurde der Glaube dunkel. Das Heil der Menschen,
er konnte es nicht mehr fassen. Es zerflatterte vor ihm, wie die
Karawanen und Schlosser, die ihm in der Wiiste als Trugbilder
erschienen waren.
Dann liebte er die Natur. Viel hat er gesehen.
Er lebte in vielen Erdteilen.
Er trat aus Felsen. Abgrundtief lag der Flufi unter ihm und
seiner Flinte. Da war ihm die Welt klein geworden.
Die Buchen waren jetzt wieder ernst und ragend um ihn
wie friiher.
Als er sein vaterliches Gut iibernahm, dachte er, es gleich
zu verkaufen. — Im weiBen Kleide aber saB sie neben ihrem
graubartigen Vater. Sie hatte runde, weiBe Knochel und neckte
ihren Vetter. Dann blickte sie zu ihm hin, dem Fremdgewor-
denen. Bliiten warf sie ihm in Haar und Bart und sagte, er
sei ein indisches Gotzenbild.
Die Hirschgeweihe, die Holztafelung — sie senkten ihn in
die Kindheit.
Als er sie auf den Felsen trug und iiber den mederstiirzenden
Gischt hob, schrie sie. Der Mond war damals so von Wolken
Peter Baum ♦ Aus seinen Wet ken
81
umdrangt wie heute. — Dort schleuderte einer seiner Vor-
fahren sein ungetreues Weib in den Schaum. So die Sage.
Das erzahlte er ihr nachher. Da wollte sie, er solle sie noch
einmal dorthin tragen. — Nachher hielt sie ganz still iiber den
weifien Wellen.
Der Mann steht am Wasserfall. Er klettert den Felsen hin-
auf. In ein paar Satzen ist er oben.
Als er da sitzt, kommt wieder seine Kindheit iiber ihn. Er
weifi nichts mehr von den Wassern fremder Lande. Er treibt
iiber der Unendlichkeit. Uber ihn treibt die Unendlichkeit.
Wolkenzauberfrauen, die den Mond bannen.
Des Mannes Hinterkopf fallt auf den Felsen. DaB er hier
als Junge gelegen hat, hier auf dem glatten Gestein, das war
doch recht gefahrlich. Das Brausen des Wassers will das wache
Leben mitnehmen.
So regungslos stehen die Walder. Oben am Himmel gehen
Wolken.
Ein Zorn hammert tief in ihm ein Schwert. Er schliefit die
Augen.
Gertrud, lege deine Hand um meine Stirn wie ein Diadem.
Der Bajaderen Haut ist nicht so weiB wie deine. Singe. Sie
haben keine Seele, keine blaue Seele. — Er lacht hafilich. —
Die bietet sie dem Vetter dar, wenn er fort ist.
Da schliefit er wieder die Augen. Schwere Wachtraume
umdrangen ihn. Die Wolken und der Mond; nein: weifie
Frauen liegen mit dem Antlitz auf der Erde. Mit dem Riicken,
den Hiiften und Beinen sind sie fest an den Boden geschnallt. —
Die Mondscheibe wird vom Riemen losgelassen. Sie rollt. —
Ein kurzes Stohnen und ein ohnmachtiges Wehren der auf
dem Riicken zusammengeschniirten Arme. — Kopf nach Kopf
trennt sie von den ungetreuen Korpern. Der Mann fahrt auf.
Er sinkt wieder zuriick. Dort iiber der Wiese das flackrige
Licht. Sein Haus steht da. Er mochte es zudecken.
„Ein Offenbaren unseres Schuldgefiihls zeugt von keinen
Verbrechen!“ murmelte er. „Unsere Gesichter sind unserer
82
Peter Baum » A us semen Werken
Phantasie weiche Tonmasse, in die sie den Ausdruck pragt,
den sie will.4*
Da steht er im Zimmer seiner Frau. Er weiB, da6 die Halle
vor dem Hause erloschen ist. Die Flamme blaht sich wie ein
unformliches Tier. Es tanzt iiber der Kerze. — Nun hort er
deutlich Gertruds Stimme.
„Nein! 0 nein! SchlieBe die Tiir! Er kann wie eine Katze
schleichen, wenn er will. Ein tiickischer Tiger ist er dort
drauBen geworden. Er schiefit uns beide tot.“
Der Mann reiBt die Flinte an die Schulter und spnngt in
die Hohe. Wie sie sich da umschlingen, bringt er sie beide
zur Ruhe.
Ein Knall und StoB der Flinte. Kopfiiber stiirzt er in den
Strom, der ihn zur Tiefe schleudert.
KAMMERMUSIK
FRAGMENTE
. . . Der Morgen kam wie ein Gaukler durch die Fenster
und trieb Schattenspiele. Er gliihte Wein in die Glaser, Glut
in die Marmorflammen der Vestalinnen und in ihre durch-
aderten Wangen.
Verhagen saB im groBen Lehnstuhl und hatte die Mappe
von lyrischen Fragmenten vor sich. — Er wachte gern iiber
den Schlaf hinaus. Dann kam die verklarte Wachheit, in der
man von der Formtarantel gestochen wurde. Die Verse sprangen
dann in ihm hoch, blutige Fontanen, ebenso die Bilder vor
geschlossenen Augen. — Nach langen Nachtmarschen, auf der
Flucht vor Feinden haben sich die Cotter geformt, sagte er.
*
Es war nachmittags. Guilbert von Ariman und er waren
in seinem Musiksalon. Die Bilder und Statuen glanzten im
Dunst der durch die weitoffenen Fenster stromenden Sonne.
f i
•f
Peter Baum * A us scinen Werken
83
— Guilbert webte am Spinett, und sein Freund blies dazu
die Flote. — Erst ais die Dammerung die Notenkopfe ein-
sackte, horten sie auf. Sie saBen noch lange in dem warmen
Netze der Musik halb gefangen. Spat erst stand Verhagen auf
und fiillte die Glaser. Da begann erst wieder eine Unter-
haltung. Guilberts lange diirrastige Kriegergestalt reckte sich
hoch, so daB seine schwarzen Augen liber dem Raume
schwebten. Uber blassem Antlitz seine runde Stirn, eine
Kanonenkugel.
Er sagte schief lachelnd :
„So hast du das Bild ihm gleich wieder abgekauft. Fiir uns
bleibt nie etwas iibrig.“
„Ich glaube selbst, daB er nicht so bald wieder solchen
Kolibri fliegen laBt.“
Sie sprachen von dem Bild des jungen Malers Berton.
Georg, nach dessen Einfall es ausgefiihrt worden war, sagte:
„Morgen holen es meine Diener. — Die kleinen Schuhe der
jungen Frau sind schillernde Eidechsen, die bald, wenn der
Regen aufhort, uber den Kies rascheln werden. Entziickend
ist die Bewegung des Galan, dessen Kopf vor dem Regen
unter den schiitzenden Schirm des Reifrocks gefliichtet ist.
Das Bild strahlt ganz zart, wie ein bleichsiichtiger Regenbogen.
— Freilich von dem Bild, das ich Walther zur Hochzeit
schenken werde, verspreche ich mir auch viel.“
„Hat er es schon begonnen?“
„Nein. — Natiirlich ist es einwenigpathetisch. — Die Kleine
ruht im goldenen Nachen, den ihr blaues Kleid iiberstrahlt.
Ihn ziehen sich blahende Schwane, deren schimmernde Un-
schuld mit den flockigen Wolken liber ihnen wetteifert. Ich
denke, er wird daraus ein rlihrendes Mysterium von Farbe
machen.“
Des Dieners Gesicht erschien in der Tiir. — Sie verliefien
langsam den Raum. Das Gesicht Verhagens war etwas ver-
wittert im Gegensatz zu jenem bleichen, jugendlichen. Walther,
der Poet mit den Negerkiefern und der weiBen Stirn, kam
noch hinzu. An der Tafel saBen sie bei drei Gedecken. —
Peter Baum ♦ A us seinen Werken
Wahrend des Speisens unterhielten sie sich zwischen kleinen
Pausen.
Guilbert sagte: ,,Gestern war ich beim Chevalier von
Gaumer.“
„Ach ja,“ meinte Georg, ,,der Philosoph. Er zeigte mir
bedeutende Plane, die er bei Hofe vorlegen wollte. Aber er
konnte sich kein Ansehen geben, weil er stotterte."
,,Und auch sonst ein Kriippel ist. Solche Leute bleiben
bei all ihren groBen Gaben verachtlich.“
Georg blickte erstaunt auf : ,,Selbst wenn er ein guter Kopf
ist?“
,,Ein Geist mag er dann sein, aber kein Mann.“
Walther sagte: ,,Er ist ein phlegmatischer Mensch. Seines
Vaters Geliebte hangte sich an ihn. Dafiir verstieB er sie
beide, emport, dafi sie an solchem Halbaffen, wie er sagte,
Gefallen fand. Sie gerieten ins Elend. Er ging betteln fur
sie und deckte sie nachts mit seinen Kleidern zu.“
„Es beriihrt ekelhaft, wenn man von einem Mann riihrende
Ziige erzahlt. Sein Vater hatte fiir mein Gefiihl wohl recht.“
Georg liebte Guilbert in solchen Momenten, weil er noch
Gefiihle hatte, die friiher wohl haufiger waren. Ganz wunder-
bar kam es ihm manchmal vor, wenn er ihn so reden horte.
Guilbert lachte : „Ubrigens, man ifit bei dir herrlich. Na
ja, auch deine Zunge ist wunderbar abgetont. Man sollte
dich nicht nur bei der Wahl eines Buches oder Kunstwerkes,
sondern auch eines Koches zu Rate ziehen. “
„Wer beachtet denn mein Urteil?“ fragte Georg lassig.
,,Alle, das weist du.“ — Doch beneidete er ihn nicht darum.
Ein gestorter Organismus erhoht die Empfindlichkeit im Ge-
schmack. Er aB von allem nur einen Bissen.
Georg erzahlte : „Eine junge Frau wollte ein Kind haben, das
mir ahnlich ware. Sie hangte mein Bild ihrem Bett ge
in Hoffnung, aber vergebens. Der Junge hatte die abstehenden
Ohren ihres Gemahls. Darnach legte sie den Aberglauben ab
und suchte, verniinftiger geworden, mich zu verfiihren, auch
ohne Erfolg freilich. Da beschwor sie meine Seele aus dem
Peter Baum ♦ Aus scincn Werken 85
Traum der Nacht. Sie muB wohl nicht unerbittlich geblieben
sein. Die Dame behauptet wenigstens, daB ihr Sohn, der junge
Lord Hastings, mein Ebenbild sei. Keiner auBer ihr sieht die
Ahnlichkeit.“
..Merkwiirdig. Ja, das sind deine Liebesabenteuer.*4
„Ich liebte eine andere. Ich hafite aber nach und nach in
den Gefiihlen Stiimperarbeit mehr noch wie in der Kunst.44
„Du sagtest doch immer : Zu Gefiihlen kann man sich iiber-
reden.“
„Ja, es ist qualvoll. Illusionen, aus denen man immer wieder
herausstiirzt.“
*
Das Gerucht war entstanden, daB Georg und die beriihmte
Schonheit, die Herzogin von Regnard, ein Verhaltnis hatten.
Guilbert erzahlte es lachend Walther. Guilbert safi vor seinem
grofien Glaskasten mit den Steinen. — Er war dabei, sie neu
zu ordnen.
Er sagte: „Die Arten sind oft in ihren Verwandtschaften
so schielend. Es gehort auBerordentlich viel schopferische In-
tuition dazu, sie mit Sicherheit zueinander zu legen.44
„Solche Frau mit sechs Kindem,'4 fuhr er fort, „ist abscheu-
lich auBerhalb ihrer Spitzen. Wenn das Mieder fallt, sinken
auch die Briiste. Ohne die andem Entstellungen im sechs-
maligen Kampfe mit dem Storch.44
„Ach, die Miitterlichkeit macht erhaben und riihrend,44 er-
widerte Walther. „Fiir barbarische Zeiten magst du recht
haben. Die Pflege, die man heute einer Frau, nachdem sie ge-
boren hat, zukommen lafit, tilgt auch den letzten Rest der
Kriegsnarben.“
„Nein. Von zwei Kindem kann eine Frau genesen. Sechse
machen zur Hexe. Das Gesicht kann entziickend bleiben. Es
lohnt sich wahrhaftig nicht, “ fuhr er fort, „eine Frau zu be-
sitzen, die schon geliebt hat. Der erste macht sie in der ersten
Nacht vollig zur Sklavin. In jener Nacht wird ihr Wille ge-
brochen. Wenn sie spater einem andern sich gibt, ist es immer
86
Peter Baum • A us semen Werken
ein Scheinleib, den er umfangt. Georg mufi sehr verhungert
sein, dafi er solcher Frau in die Grube geht.“
Er war in guter Laune und erzahlte viel. Er setzte sich friiher,
wenn in irgend einem Winkel der Erde ein Krieg ausbrach,
auf sein Pferd, um auf einer der beiden Seiten zu kampfen. —
Einmal kam er, zum Spott seiner Freunde, an, als die Fehde
schon beigelegt war. ..Nirgends liebt sich so siiB,“ sagte er zu
Walther, ,,als zwischen den Pausen der Gewehrfeuer.“
Ein paar Tage darauf, als er die Herzogin und sechsfache
Mutter traf und sich mit ihr unterhielt, war er bezaubert. Er
hatte noch nie diesen Charme an ihr bemerkt.
Sie war eine galante Frau. Der Ruch des Heldenmutes
witterte um ihn. Ihn zu lieben, war durchaus eine Ehre.
Sie sagte von Georg: ,,Ach, er ist herrlich, aber er wollte nie
versprechen, mich morgen noch zu lieben. Er sagte immer:
das wird sich ergeben. Das Abschiedessen aber war reizend.
In der Aussicht, mich loszuwerden, versprach ermirewigeUebe.
Er wird es nicht halten. — Walther von Ariman,“ setzte sie
nachdenklich hinzu, „ist jedoch riihrend anhanglich an alle
Frauen, die er geliebt hat.“
„Es ist unbegreiflich,“ dachte Guilbert, als er morgens
schied, „wie man solche Frau so leichtherzig fahren. lassen
kann. Der Kelch des Lebens,“ sagte er seit der Zeit, ,,aus dem
alle trinken diirfen, schwebt an ihm ungenossen voriiber.“
Dabei kam es ihm nicht zum Bewufitsein, dafi in diesem Falle
Georg doch getrunken hatte.
Guilbert liebte sie lange. In der Zeit zeichnete er sich gerade
oft aus. Als er einmal zum Duell ging, sagte er: „Sei unbe-
sorgt. Keiner kann an mich heran. Meine Arme sind zu lang.“
Ein andermal sollte er einen Wettritt mit dem beriihmtesten
Reiter machen. Als sie ihn in der vorhergehenden Nacht bat,
sich zu schonen, antwortete er lachend : „Ich kann nur auf
einem Pferde mit langen Stelzen sitzen. Ich kann nicht ver-
lieren. Meine Beine sind zu lang.“
Eines Morgens erwachte er in ihrem Himmelbett. Er war
aus ihren Armen nur fur eine Stunde eingeschlafen. — Neben
Peter Baum ♦ A us seinen Wcrken
87
sich fand er statt lhrer eine Holzpuppe in lhrer GroBe, mit
scKon geschnittenem und bemaltem Gesicht und wundervoll
hohen Haaren. Auf der heraushangenden Zunge klebte ein
Zettel. Er las: „Dieses UbermaB von Liebe ertrug sie nicht.
Da sie eine Frau ist, die man nie verlaBt, muBte sie fliehen.
Eine ewige Seligkeit ermlidet die Augen beim Notenlesen.
Darum brach sie diese Melodie ab. Mich liefi sie zuriick, um
dich fur die erste Minute zu trosten.“
Sie sagte nachher, sie sei nun mal veranderungssiichtig ge-
wesen. Ihm es zu sagen, habe sie nicht gewagt. Er sei so jah-
zornig. Sie habe sich in ihrem leicht brennbaren Bett gefiirchtet.
Seine Ntistern hatten gewifi Feuer geschnaubt.
Er flog in groBem Zorn in seine Kleider. Seinen Degen, den
er aus der Scheide gerissen hatte, tat er erst auf der StraBe
wieder hinein. Wahrend er hereinsank, fiel ihm allerhand
Widerwartiges von ihr ein: ihre kreischende Stimme in der
Erregung. Einmal sah er sie ohne ihren Flechtenbau auf dem
Kopf. Es gibt nichts Enttauschenderes bei einer Frau als diinne
Haare. Das Schlimmste war — sie aB viel, — daB sich oft
nach dem Souper ihr Bauch spannte.
Er sprach spater immer mit echt gefiihltem Grauen davon,
daB sie so lange Georgs Geliebte gewesen war. Er war ja auch
von ihr fur ein paar Tage befangen gewesen, gab er vor sich
und andern zu, mehr nicht.
r:
r
:i
GLOSSEN
*Die SJfinrichtung .
indes das nacktc Herr sich feierlich
verlor —
Wir standen auf der StraBe vor dem Wir standen auf der Strafie vor dem
Tor.
Hohl brandeten die Herzen bis ans
Ohr.
Schon traten jene tot und hiefJen nns
im Chor,
wenn es vo ruber war (jetzt tei es bald
so weit),
die Stimen zu verneigen still vor dcr
Gerechtigkeit,
aJIein mit Lachen aufzurauscben
schrill vor der gefallten Nieder-
trachtigkeit.
Die Luft ging hin und her und war
wie leichter Wein.
Da . . Sckattengang . . aus dem ver-
lomen Haus . . zu zwein . .
hoch mit dem Letzten glomm gedampft
im Abendschein
das tote Herz empor, von der gereckten
Hand getragen!
Dumpf dreimal fiihlt leb tief die Stir ne
mein in rauhen Staub geschlagen,
und alle schlugen hin und niemand,
niemand konnt ein Lachen wagen.
Nur einer
hi
da wir Iagen
ragt
man
und Idagt den Abend an und klagt
den Wahn,
den Himmel, die Gewalt, und klagt
es alles an.
Tor.
*Rodoff (Fqc6&, <7 rag .
1 Vas ist die Dio He!
it
fTD as ist die Holle,'* pflegte Strind-
berg zu sagen, und er meinte damit:
eben dieses Leben hier, und nichts,
was vordem war, und nichts, was zu-
kunftig sein wird, son dem eben dieses
Leben sei jene Holle, mit der die
Religionen uns drohen. . .
Gut, ich ube in diesem Kneg cine
anstrengende und keineswegs gefahr-
lose Tatigkeit aus: ich bin Armierungs-
soldat. Man hat uns in der Kammer
die Uniform ernes der vomehmsten
preuBischen Garderegimenter gegeben,
und das ist ein wenig bizarr, denn wir
sind sonst mit Ehren nicht uberhauft.
Wir arbeiten emst, immer mit Hin-
gebung an dieses gewisse Stiick Erde
vor uns, im P asser, im Schlamm, wir
husten auch viel .... gut, gut, Sie
werden nicht glauben, daB ein Mann
in meinen Jahren, ein Mann von 43
dieser hollischen Jahre, hier vor das
Publikum tritt, sich zu beldagen. Man
tut seine Pflicht. . . Aber man sollte
dorh denlcen. daB ein Mann in meinen
? a ri r'i \ /
e
Arm
'w i \ M
t Y'r< rr1:
I I r U-i I
OF M f
GAh
Glosscn
Jahren jedenfalls des Nachts, wenn er
in sein Quarticr zuriickkehrt, — etwas
crmudct und nicht ganz frfihlich, zu-
mai wenn es noch gilt, die EBgeschirre,
die Stiefel und die Kleider zu reinigen ;
man soli te den ken, daC solch ein Mann
wenigstens des Nachts seinen siiBen,
hi n dam mem den Frieden hatte.
Nein. Es kommen Traume. Es kam
ein Traum:
Ich empfing daheim in meinem
Zimmer, ich frftstelnder, unselig
liebender Gatte, Besuch von meinem
Freund. Wirsprachen stunden-, aber
stundenlang von alien guten, leben-
bliihenden Dingen. Wie er davongeht,
begleite ich ihn, trunken vor Gliick
liber diese Stunde und iiber diesen
einzigen Freund, bis zu meiner Haus-
treppe. Dort aber steht meine Frau, —
Anna stehet dort, in einem gelben
Friihjahrskostiim und mit Danisch-
Lederhandschuhen, steht dort tief ge-
biickt wie cine alte Frau und scheuert
mit den so zart bekleideten Handen
dieStufen unsererTreppe. Schrecklich
ist das anzusehen, dieser Gegensatz:
die Handschuhe und der nasse Kot-
lappen, den sie halten. Ich pr esse die
gefalteten Hande an die Stim und
sinke zu ihren FiiBen, deren Rosenrot
ich ahne, hemieder. „Anna, geliebtel
Du verrichtest den niedrigsten Dienst
in unserem Hausl Und haben wir
nicht Magde genug?" Sie richtet sich
Idndlich ahnend auf, blickt hinter mich
und spricht mit einer trunkenen Demut
in ihren Augen : „Ja, ich scheuere die
Treppe. . . Dieser hat es befohlen,
bis er aus deinem Zimmer zuriick-
kehrte/4 Ich wende mich um. Mein
Freund, der Bruder meiner Jugend
und meines ihm immer jungen Herzens,
ist hinter mir, mit einem sograusamen,
so verwiisteten Gesicht, so herrisch
zerrissen und gliihend-wild in wol-
liistiger Bosheit, wie keines Nero Ge-
sicht je gewesen ist.
Das ist die Holle, meine Herr-
schaften, von der Strindberg zu
sprechen pflegte. Und hier haben Sie
ein Stuck Krieg, von dem Sie sich in
Ihren Feuilletons nichts traumen lassen.
tyjffiefm Speyer.
Gin S%ppe((.*
Jede der kampfenden Groflmachte
behauptet, daB der Krieg, den sie fiihrt,
Notwehr sei. Jede ist die Oberfallene,
jede kampft fiir ihr Dasein. Fur jede
ist der Mord Notwehr, wie sie jede
ihrer Liigen eine Notliige nennt. Da
also keine der Michte den Krieg ge-
wiinscht hat, so laBt sie denn Frieden
schlieBen !
Nach einem Krieg von bald zwei-
undzwanzig Monaten scheint indessen
der Frieden ferner, als je. Einer jeden
der kampfenden Machte ist es darum
zu tun, vor allem die Zivilisation zum
Siege zu fiihren, und diese Zivilisation
wird genannt : entweder geistige Ober-
legenheit oder das Recht, oder die Frei-
heit, oder der Sieg des biirgerlichen
Geistes iiber den Militarismus.
Die Zivilisation! Die erste Frucht
dieser Zivilisation ist gewesen, daB die
wahrheittotende russische Zensur sich
iiber die Erde verbreitet hat. Die
* Erichien in der Kopenhagener Zcitung
..Politikcn'* und wurde ron Oiwaid-Munchcn
Ubersetzt.
90
G lessen
nachste, dafi wir zu der Zeit der Men-
schenopfer zuriickgekehrt sind. Nur
dafi man in der barbarischen Vorzeit
jedes Jahr vier oder fiinf Kriegsgefan-
gene einem gefiirchteten Gott zum
Opfer umbrachte, wahrend man jetzt
vier oder fiinf Millionen Menschen den
Abgottern opfert, die man anbetet.
Lamennais hat gesagt: ,,Der Satan
flofite den Unterdriickern der Volker
einen teuflischen Gedanken ein. Er
sagte zu ihnen: ,Nehmt in jeder Fa-
milie die kraftigsten Manner und gebt
ihnen Waffen ! Ich will ihnen zwei Ab-
gotter geben, die sie Ehre und Treue,
und ein Gesetz, das sie Pflichttreue,
Gehorsam nennen werden. Sie werden
diese Abgotteranbeten und sich diesem
Gesetz blind unterwerfenV* Wir fol-
gen diesem Kampfe gegen den Mili-
tarisms, wahrend dessen der Zwang
des Militarismus sich bis zu dem ein-
zigen Staate verbreitet hat, der sich
frei davon gehalten hatte, und wahrend
dessen die biirgerliche Macht ganzlich
ausser Spiel gesetzt wurde — jene
biirgerliche Macht, jener biirgerliche
Geist, fiir deren Oberherrschaft iiber
die militarische ein Jahrhundert lang
gekampft worden ist.
Wir folgen diesem Kampf fiir die
Freiheit, wahrend dessen sowohl von
den Fiirsprechern der Freiheit wie von
den Machtanbetern jede Schiffsladung
aufgetrieben und jeder Brief geoffnet
wird, sogar jeder Privatbrief zwischen
zwei Neutralen.
Wir folgen diesem Kampf fiir eine ho-
here Kultur, wahrend dessen Deutsch-
land Belgien mit FiiBen getreten hat,
Osterreich-Ungarn Serbien, England
Griechenland, RuBlandPolenundOst-
preuBen — diesem Kampfe fiir das
Recht, wahrend dessen das Recht ganz-
lich auBer Kraft gesetzt, und statt
dessen die Staatsriicksicht aufgetreten
ist — diesem Kampf fiir die Unab-
hangigkeit der kleineren Staaten, wobei
die Unabhangigkeit von beiden Seiten
gekrankt, bei Seite gesetzt, abgeschafft
wird.
In den kriegfiihrenden Landern er-
sehnen die Heere natiirlich vor allem
den Sieg, am starksten aber ersehnen
sie den Frieden. Die biirgerliche Be-
volkerung stohnt iiberall nach Frieden.
Die Regierungen, die hoch zu Pferd
sitzen, driicken die Sporen in die Seiten
des miiden Pferdes.
Der Wunsch nach Frieden wird
nicht zum Wort kommen.
In den neutralen Landern fiihlt sich
die offentliche Meinung nicht berech-
tigt, sich fiir den Frieden auszuspre-
chen. Die offentliche Meinung steht
zumeist auf jenem Nahmadchenstand-
punkt, der es mit der einen oder andern
der kampfenden Parteien halt und dar-
iiber vergifit, sein Gewicht in die Wag-
schale des Friedens zu werfen. Unter
den neutralen Machten gibt es eine
die groBere Bedeutung hat, als alle die
iibrigen zusammen. Ziehen die ameri-
kanischen Freistaaten vor. Geld an dem
Krieg zu verdienen oder ihren EinfluB
zu gebrauchen, um Frieden zu stiften?
Gibt es iiberhaupt niemand, der fur
Frieden ist, auBer der gesunden Ver-
nunft und dem gesunden Empfmden?
Den Ruf nach Frieden, der sich
bald in alien Staaten erheben wird,
schimpft man Feigheit. Aber wenn
die Menschen schweigen, werden die
Steine reden. Die Steine der Ruinen
rufen nach Frieden, nicht nach Rache.
Und wenn die Steine schweigen, so
Glossen
91
rufen Felder und Wiesen mit Blut
besprengt, mit Leichen gecfiingt.
Die ganze Welt steht unter der
Henschaft der Schadenfreude. Die
einzigeFreude istdiejenige, im Interesse
der Selbsterhaltung andern Boses zu-
zufiigen. Man torpediert mit Gluck.
Man bombardiert mitausgezeichnetem
Erfolg. Einer schieflt sein zwanzigstes
Flugzeug herunter. Und es wird geju-
belt. Fragt jemand: wie konnt ihr
jubeln ? — dann wird mit jenem Satz
geantwortet, den man als jesuitisch
verdammt, als teuflisch gestempelt hat:
Der Zweck heiligt die Mittel. Die
Grausamkeit ist Pflicht ge worden, das
Mitgefiihl heifit Landesverrat. Die
Deutschen leiden Hunger und Not.
Die Alliierten geniessen es. Die Belgier
und die Serben werden unterdriickt
und geknechtet. Die Deutschen und
die Osterreicher geniefien es.
Die Polen verhungern, die Juden
aind in ein grenzenloses Elendgesunken.
Die Kampfenden sind auBer stande,
das Ungliick zu beheben.
Alle Kriegfiihrenden sind stolz auf
die Tapferkeit und das heldenmiitige
Aushalten ihrer Leute. Beide Parteien
behaupten, daB bei den Gegnern die
niedrigsten Leidenschaften losgelassen
seien, und beide haben leider recht.
Die Zentralmachte erklarent daB sie
den Frieden wollen. Man sieht aber
nicht, daB sie bereit sind, irgend etwas
zu opfern, um ihn zu erreichen.
Die Alliierten wollen keinen Frieden
bevor nicht der „endgiiltige Sieg" ge-
wonnen, das heifit: ehe sie nicht das
erreicht haben, was sie in bald zwei
Jahren vergebens anstreben, und dem
sie, wie es scheint, immer noch nicht
naher gekommen sind.
7 Vol. m/2
Wasauchgeschehen.welcheSchlacht
auch gewonnen oder verloren wird,
was fur wert voile Schiffe auch ver-
senkt, was fur Luftschiffe auch herun-
tergeschossen werden, wieviele von
den Mannern der kampfenden Machte
auch getotet oder verwundet oder
gefangen genommen werden, das eine
ist gewiB: alles wird mit Waffenstill-
stand und Verhandlung enden.
Warum denn nicht jetzt mit den Ver-
handlungen beginnen ? Es sieht nicht
danach aus, als ware durch weiteres
Ermorden etwas zu gewinnen. Der
Frieden ist die Sybille, deren Bucher,
das heifit deren Schatze erkauft werden
miissen, die aber weniger und teurer
mit jedem Tag werden. Wir wissen
es : wir sollen die Zermalmung abwar-
ten. Aber es wird nichts aus der Zer-
malmung werden, blofi aus
Massenmorden . Keine von den zwei
kampfenden Parteien lafit sich zermal-
men. Und wenn man sagt, dass man
nicht Deutschland, sondern nur seinen
Militarismus vernichten will, dann ist
es, als mochte man das Stachelschwein
nicht beschadigen, sondern ihm blofi
seine Stacheln ausreiBen. Beide Par-
teien wollen aushalten bis zum bitteren
Ende. Jeder Tag wird bitterer, als der
vergangene war. Was durch Frie-
densverhandlungen gewonnen werden
kdnnte, das geht bei Verlangerung des
Krieges unzahlige Male verloren. Es ist,
als ware keine andere Ordnung menscb-
licher Streitigkeiten und menschlicher
Wettkampfe moglich, als durch Minen
dem
und Granaten. Wie wird die Zukunft
urteilen? Dafi es in unsern Tagen in
ganz Europa keinen einzigen Staats-
mann gegeben hat. Mit einem groBen
Staatsmanne auf jeder Seite ware der
92
Glosscn
Krieg nie ausgebrochen . Mit einem
groficn Staatsmanne auf einer der
Seiten hatte dcr Krieg kein Jahr ge-
dauert. So nahmen die Gener&le den
Staatsmannern die Macht ab.
Die Zukunft wird sagen: jene Zeit
war eine, wo man das Zeitalter der
Religionskriege als barbarisch betrach-
tete, und wo man nicht verstand, dafi
die Nationalitatskriege schlimmer sind.
Jene Zeit war eine, die die Kabinetts-
kriege fiir veraltet hielt und nicht ver-
stand, daB die Handelskriege noch
roher sind. Die Geschichte der Reli-
gionskriege war eine furchtbare Farce,
die Geschichte des Weltkrieges war
eine einfaltige Tragddie.
Der Krieg sollte am liebsten ohne
allzu harte Demutigung fiir jede der
kampfenden Parteien endigen. Sonst
wird der Gedemiitigte bloB liber den
nachsten Krieg briiten. Und man muB
sich dessen erinnern, daB die Demiiti-
gung, die dem Feinde zugefiigt wird,
kein verlorenes Menschenleben ersetzt.
Jedes Menschenleben ist ein Wert.
Aber die Menschen sind ja nicht gleich.
Der Trost ist nicht groB, daB wir tau-
send Mann verloren, der Feind aber
zehntausend.
Niemand weiB, ob unter den Tau-
send nicht Der war, der die Ehre seines
Landes und der Wohltater der ganzen
Menschheit geworden ware.
Ein Shakespeare oder ein Newton,
ein Kant oder ein Goethe, ein Moliire
oder ein Pasteur, ein Kopemikus, ein
Rubens, ein Tolstoi kann unter den
hunderttausend von gefallenen zwan-
zigjahrigen Englandern, Deutschen,
Franzosen, Polen, Belgiern, Russen
gewesen sein.
Was bedeutet das Verriicken eines
Grenzpfahles, der Gewinn einer Pro-
vinz gegen den Verlust einer solchen
Personlichkeit 1 Der Gewinn ist ein
vorlaufiger, der Verlust unersetzlich.
Der Gewinn ist der eines einzelnen
Staates, der Verlust der des Menschen-
geschlechtes.
Jeder sieht, wie das Vermogen der
Menschheit wahrend des Krieges
verschwindet, bis zuletzt keiner die
Kriegskosten bezahlen kann.
Aber der Verlust von menschlichen
Werten, die schlimmste Art von Ver-
armung, wird nicht mitgerechnet.
Was wir erleben, ist, daB die weifie
Rasse die Vorstellung ihrer Oberlegen-
heit in der Vorstellung der schwarzen,
braunen und gelben Menschen hSchst-
selbst vernichtet. Sie hat ihre Hilfe
gebraucht, sie fiir ihr Schlachten von
WeiBen gelobt. Wie konnte es anders
sein, als daB dies sich rachte?
Die Presse der Kriegfiihrenden
betrachtet als ihre Aufgabe, die Ver-
bitterung zu vertiefen und damit die
Begeisterung zu erhohen. Sie sollte
bedenken, daB der verodende HaB,
den sie also hervorruft, den Krieg Iange
uberlebcn wird. geQrg
Gfaube und &foffnung.
I.
AN DIE EWIGE ANTIGONE *
An alle Frauen richte ich diese
Worte, nicht allein an die Englande-
rinnen und an die Suffragettes. Wenn
es mir logisch erscheint, dafi die Frau
* Auf die Bitte der ,, International Women
Suffrage-Alliance44 schrieb Romain Roliand die-
aen Aufruf, den 9fannafi ‘Ultytrsen mit Er-
machtigung des Verfauers Qbersetzt hat.
Glossen
93
die Gleichheit der Rechte mit dem
Manne fordert, so glaube ich nicht
genug an die Vorziige des ailgemeinen
Stimmrechtes, soweit et die Manner
angeht, um mehr daran zu glauben,
soweit es die Frauen betrifft.
Die starkste und die einzig wirk-
same Handlung, die mir in unser aller
Macht zu sein scheint, Mannern wie
Frauen, ist die rein individuelle Hand-
lung von Mensch zu Mensch, von
Seele zu Seele, die Tat durch das Wort,
durch das Beispiel, durch das ganze
Leben.
Dieses Tun, Frauen Europas, iibt
ihr nicht geniigend aus. Ihr sucht heute
die Plage zu bannen, die die Welt ver-
heert, den Krieg zu bekampfen. Das
ist gewifi gut, aber es ist zu spat. Ihr
hattet diesen Krieg in den Herzen der
Manner bekampfen sollen, ja bekamp-
fen kdnnen, bevor er ausbrach.
Ihr kennt nicht genug eure Macht
iiber uns. Ihr Mutter, Schwestern,
Kameradinnen,Freundinnen,Geliebte,
von euch hangt es ab, wenn ihr nur
wollt, die Seele des Mannes zu formen.
In euren Handen ist er ein Kind. An
der Seite der Frau, die er achtet und
die er liebt, ist der Mann immer ein
Kind. Warum Ieitet ihr ihn nicht?
Ich wage mich eines person lichen
Beispiels zu bedienen. Was ich Gutes
oder nicht gerade Schlechtes in mir
habe, verdanke ich einigen unter euch.
DaB ich in diesem Sturm meinen uner-
sc hutted ichen Glauben an die mensch-
liche Verbriiderung habe bewahren
kdnnen, meine Liebe zur Liebe und
meine Verachtung fur den Ha6, ist das
Verdienst von euch Frauen. Um nur
zwei von euch zu nennen — meiner
Mutter, einer Christin, die mir seit
meiner Kindheit den Sinn fiir das
Ewige gab — und der groBen Euro-
paerin Malwida von Meysenburg, jener
reinen Idealistin, die mir in ihrer Ab-
geklartheit des Alters die Freundin in
meinen Jiinglingstagen wurde. Wenn
eine Frau die Seele eines Mannes er-
losen kann, warum erldset ihr sie nicht
alle? Zweifellos weil zu wenige von
euch sich selbst erlost haben. Damit
fanget also an! Das Dringendste ist nicht
der Sieg der politischen Rechte (wohl
verkenne ich nicht deren praktische
Bedeutung). Das Notwendigste ist der
Sieg iiber euch selbst. Horet auf, der
Schatten des Mannes zu sein; horet
auf, die Gefolgschaft seiner Sucht nach
Diinkel und Zerstorung zu bilden.
Habt den klaren Blick fiir die briider-
liche Pflicht des Mitgefiihls und der
gegenseitigen Hilfe, der Vereinigung
aller Wesen, denen das hochste Gesetz
eigen ist, die darin iibereinstimmen,
sich vorzuschreiben: Den Christen die
Stimme Christi; den freien Geistern
die freie Vernunft!
Doch wie viele von euch in Europa
sind heute in denselben Strudel hinein-
gezogen, der die Gemiiter der Manner
mit sich gerissen hat. Anstatt sie auf-
zuhellen, steigert ihr durch eure Er-
regung den ailgemeinen Aufruhr.
Schafft zuerst den Frieden in euch
selbst! ReiBt den Geist des verblen-
deten Kampfes aus euren Herzen !
Mischt euch nicht in das Ringen! Ihr
beseitigt nicht den Krieg, wenn ihr
Krieg mit dem Krieg fiihrt. Bewahret
zuerst eure Seele vor dem Krieg, indem
ihr die Zufcunft, die in eac6 raHt,
vor der Feuersbrunst rettet. Auf jedes
Wort des Hasses unter den Kimpfen-
den antwortet mit einer Tat der Barm-
94
Glossen
herzigkeit und dcr Liebe fiiralle Opfer.
Seid, schon allein durch cure Gegen-
wart, dcr stumme Widerspruch, dcr
aus der Verirrung der Leiden schaften
entspringt. Seid der Zeuge, dessen
klarer und mitleidiger Blick uns iiber
unsere Unvemunft erroten lafitl Seid
der lebendige Friedc inmitten des
Krieges — die ewige Antigone, die sich
dem Hasse verschlieBt, und als sie
leiden sieht, nicht mehr zwischen ihren
feindlichen Brudern zu unterscheiden
weifi.
II.
FREIHEIT.*
Dieser Krieg hat uns gezeigt, wie
zerbrechlich die Schatze unserer Zivili-
sation sind. Von alien unsern Giitern
hat sich das am wenigsten widerstands-
fahig erwiesen, worauf wir am meisten
stolz waren : die Freiheit. Jahrhunderte
an Opfern, geduldigen Anstrengungen,
Leiden, Heldentum und hartnackigem
Glauben hatten sie allmahlich erobert;
wir atmeten ihren goldenen Hauch ; sie
zu geniessen war uns so natiirlich, wie
wir im groBen Luftstrom atmen, der
iiber die Erde weht und jede Brust er-
quickt . . Ein paar Tage haben geniigt,
uns dieses Lebenskleinod wieder zu
nehmen ; in ein paar Stunden hatte sich
auf der ganzen Erde ein erstickendes
Netz iiber die zittemden Fliigel der
Freiheit gebreitet. Die Volker haben
es gekniipft. Mehr noch: mit ihrer
vollen Zustimmung. Und wir haben die
alte Wahrheit neu gelemt: „Nichts
bleibt ein Besitz. Alles mufi, jeden Tag
von neuem, erobert werden oder geht
verloren“ . . .
* Geschrieben fiir die er«te Miinummer
des „Avanti'\
O verratene Freiheit, entfalte deine
verwundeten Fliigel neu in unsern
treuen Herzen. Eines Tages werden sie
wieder ihren glanzvollen Aufschwung
nehmen. Dann wirst du von neuem
das Idol der Menge sein. Dann werden
sich deiner riihmen,diedich jetzt unter-
driicken. Aber niemals schienst du mir
schoner, als in diesenTagen desElends,
wo ich dich arm, nackt und zerschlagen
sehe. Deine Hande sind leer ; du kannst
denen, die dich lieben, nichts geben als
die Gefahr und das Lacheln deiner
stolzen Augen. Aber alle Giiter der
Welt wiegen dieses Geschenk nicht auf.
Die Kammerdiener der offentlichen
Meinung, die Hoflinge des Erfolges
werden uns das nicht ausreden.
Und wir wollen dir folgen, geschan-
deter Christus, mit erhobener Stirn:
denn wir wissen, daB du auferstehen
wirst aus dem Grabe.
domain \ Tlottand .
Giniges vom 'Probfem der ‘Form.
Der Mensch ist hineingesetzt in das
zeitlose Geschehen der Welt, dasohne
Oben und ohne Unten, ohne Anfang,
Mitte und Ende an ihm vorbeitobt.
Ehemals, in dem Tierstadium, war er
selbst ein willenloser Mitlaufer ohne
Bewufitsein. Aber allmahlich stellte
sich dieses ein, und es ergab sich ein
Abstand zwischen ihm und der Welt.
Er sah sie. Aber wie konnte an dem
ununterbrochenen Fliefien sein Auge
etwas erkennen? Wie sollte er etwas
von ihr aufnehmen konnen, wenn sein
Blick nicht hier und dort Halt finden
konnte? Wie konnte er selbst sich
Glosscn
95
dagegen wehren, wieder hineingezogen
zu werden in das boden- und decken-
osc Chaos? Der Mensch mufite das
,auBer und urn sich" einteiien. Er
muBtc das Grcnzenlose formen. Des-
halb ist Form im letzten Sinn stets
cin „Anhalten“ des Geschehens. Und
von dieser Notwcndigkeit aus und
durch sie wird wohl der Geisi des
Menschen seinen Aufschwung genom-
men haben.
Das Tier ist heute selbst noch Welt.
Es muB, wahrend der Mensch will.
Im „Wollen“ liegt das Wissen umsich
selbst, zu dem vom Wissen um die
Welt kein zu weiter Schritt war. Der
Hund weiB nur um die Welt und
braucht sich deshalb keinen Stand-
punkt zu ihr zu erwerben.
Der primitivste Ausdruck der Form
ist die Wiederholung. Der Mensch
teilt das eigene Leben im groBen Gan-
zen durch sie. Die Essens-, Schlafens-
und Arbeitszeiten, geben dem tag-
lichen, Ferien, Feste, Jahreszeiten.dem
Gesamtleben die Stationen durch ihre
regel massige Wiederkehr. Der Geist
hat diese genau so notig wie der Kor-
per. Es ist anzunehmen, daB die
meisten Menschen ihren Halt in affem
verlieren wiirden, wenn sie an einem
Tag morgens um 2 friihstiicken, am
nachsten nachmittags um 6 und den
dritten mittags um 1 2. Sie wiirden
allmahlich iiber ihr ganzes Handeln
die Obersicht verlieren, welche die
Wiederholung — durch Teilen in
Abschnitte — ihnen gab. Sie wiirden
in der Luft schweben, und der feste
Standpunkt ihres Ichs zu ihren Taten
und zur Welt wird ihnen entgleiten,
Kaum ein Menschlicher wird die
Anarchie ertragen.
In den Gfandiungtn des Menschen
gerinnt sein Sein zu einer festen orm .
Die Taten sind Symbole fur sein
Wesen. Und der Mensch ist einge-
richtet, daB sein Inneres mit seinen
AuBerungen iibereinstimme. Denn in
der Form liegt eingeschlossen, daB er
sich an ihr halte. Dies kann man am
iiberraschendsten dort erkennen, wo
Menschen den Sinn einer aufgerich-
teten allgemeinen Form, etwa der
Sittlichkeitsgesetze, langst verletzten
und nun sich als an das Letzte angst-
lich an das iibrig gebliebene leere
Gebaude klammern. Diese werden
meist aus Worten bestehen, welche ja
die zuschnellst geronnenen Formen
des Wesens bilden. Je ziigelloser eine
Gesellschaft ist, desto hoher stehen
die Formalitaten im Wert. Diese
stiitzende Eigenschaft der Form lafit
es als erklarlich erscheinen, dass man
allmahlich das eigene Selbst verliert,
wenn ein Sein durch zwingende Griinde
andauernd mit dem Handeln nicht
iibereinstimmt. Die Arbeit, die man
tut, die Menschen, mit denen man
zusammen kommt, die Grundsatze,
nach denen man lebt, sind objektive
AuBerungen, die unter widrigen auBe-
ren Lebensumstanden nicht demlnne-
ren eines Wesens zu entsprechen
brauchen. Vollkommen nach seiner
Beschaffenheit wird sich kein Mensch
sein auBeres Leben gestalten konnen.
Aber man unterschatzt gemeinhin die
haufigen MiBverhaltniBe zwischen Sein
und Ausdruck. Denn es bleibt nicht
dabei, daB der betreffende Mensch
darunter gewohnlich leid^t, — es bc-
einfluBt ihn auch. Das Handeln wirkt
auf die Menschen zuriick. Dies kann
psychologisch leicht begriindet werden
96
Glossen
Als objektiver Tatbestand druclct sich
die eigene Handlung im Menschen ab.
Er nimmt sie auf, wie die von Frem-
den. Durch andauemde Wiederholung
hinterlaBt sie immer tiefere Furchen.
Die Hemmungen, die der eigene Or-
ganismus dem Eindringen von Unge-
massem entgegenstellt, werden pro-
portionell schwacher. Der standi ge
Eindruck zieht die Seele immer mehr
zu sich. „Die Macht der Gewohnheit"
hat gewirkt. Es ist also nicht gleich-
giiltig, wie man handelt. Es wird oft
gesagt : ich bin in Wirldichkeit nicht so,
das ist die Hauptsache. GewiB, aber
wenn einer nicht sehr stark dagegen
arbeitet, wird sein Wesen hiniiberge-
zogen. Der Mensch hat die Oberein-
stimmungmit seiner Lebensform notig.
Die unterstiitzt ihn durch ihr fest um-
rissenes Sosein. Denn der Mensch
selbst ist eben auch ein Teil jener un-
befehligten, chaotisch flieBenden Welt.
Er Hdli sich an seinen Handlungen.
Ich greife unter den unzahligen Bei-
spielen eines heraus, welches zeigt, wie
der Mensch auf die Wiederholungen
angewiesen ist. Der Verkehr, den der
einzelne hat. Menschen, die immer mit
neuen Menschen zusammenkommen,
werden im Charakter flatterhaft und
unbestandig werden (vorausgesetzt,
daB nicht schon solche Veranlagung
sie zu dem unruhigen Leben trieb.
Die Menschen, mit denen man zusam-
menkommt, sind auch Eindriicke. Mit
der Wiederkehr desselben Eindruckes
ist dem Leben ein deutlicher Ein-
schnitt und somit Ruhe gegeben.
Das „immer anders44 des personlichen
Lebens treibt den Menschen in die
Nihe der haltlosen Welt, in der kein
Augenblick dem nachsten gleicht.
Die Einzel handlungen, ehemals per-
sftnliche Formen, versteifen sich in der
Gesellschaft zu allgemein giiltigen
Formeln, zuGesetzen, Dogmen, Zere-
monien. Dafi diese sich allmahlich
unter der Zeiten Anderung zu weit vom
Einzelnen entfernen und durch „Na-
turalismus" wieder herangeholt, d. h.
umgeschaffen werden, ist bekanntlich
das ewige Spiel der Kulturgeschichte.
Heute arbeitet das Individualitatsgefiihl
in hervorragendem MaBe gegen alle
Formeln, die doch fur jeden gel ten
sollen. Das moderne Empfinden will
sich seine Gesetze individuellgestalten.
Es braucht fiir jeden Fall eine neue
Form. DaB hierdurch fiir die Schwa-
cheren die Haltlosigkeit, fiir welche
unsere untergrabene Zeit gesorgt hat,
noch vermehrt wird, ist klar. Das Sub-
jektive kann von schwachen oder un-
ehrlichen Charakteren beliebig gedehnt
werden. Prinzipiell ist die jedesmal
neu erlebte individuelle Lebensform
das Ideal. Doch besitzen nur wenige
Menschen die Produkti vitat, jede Hand-
lung mit eigenem Blute zu durchpul-
sen. Fiir diese Relativitat wird also die
Gesamtheit niemals reif werden.
Das Problem der Form zeigt sich,
wie viele andere, im VergroBerungs-
spiegeldesKiinstlerischen.Denn Kunst
ist neben anderem Steigerung, Inten-
sity des Lebens. Der erste AnstoB zur
Kunstausiibung war irgendein AuBe-
rungstrieb, ein Bediirfnis, innere Ener-
gien los zu werden. Die Form, die
hierflir gefunden werden muBte, war
im Anfangsstadium der kiinstlerischen
Kultur wie in den Lebensformen die
Wiederholung. Das erkennt man am
besten in der Musik, die als alteste
Kunst gilt. Wilde Volker pflegen noch
Glossen
97
heute eine Musik, die aus einer An-
einanderreihung von Tonen besteht,
welche bestandig wiederholt werden.
Der musikalische Rhythmus herrscht
noch vollig, der doch nichts anderes
ist als Einteilung des ungeheuren Welt-
durcheinander auf dem menschlichen
Wege der Zeit in Laute. So wird auch
die erste Musik gewesen sein. Ihre
Komplizierung wird das Variations-
bestreben in den ffllitieln veranlasst
haben. Anstatt der Wiederholungen
wurden Anlehnungen gesetzt, innere
Ahnlichkeiten, die vorangegangenen
Kombinationen entsprachen. Und
dann tritt auf einer hohern Stufe zum
bloBen Formbestreben das Zwedcbe •
streben. Alles ordnet sich einer be-
stimmten Ausdrucksabsicht unter. Das
Werk erhalt einen „Sinn“. Dieserwirkt
auf Grund derTatsache, dafi der Kom-
ponist die Tone an der Welt erlebt hat,
auf das J2>eben zuriick. Es ist sinn-
voll geworden. Kraft der hoheren syn-
thetischen Zusammensetzung des
Kiinstlers vermag nun die Musik jenes
erlosende Gefiihl auf die Zuhorer aus-
zuliben: daB die Welt in ihren Seelen
einen Sinn erhielt.
Auch die Komposition in der Ma-
lerei ist eine Rhythmisierung der Welt
mittels Farbe und Flache. Sinnliche
oder sinngemaBe Anlehnung aneinan-
der,komplizierteWiederholung. In der
Dichtung ist dies noch am klarsten in
ihrer musiknahesten und unmittelbar-
sten Art zu erkennen: in der Lyrik.
Der Reim ist ja noch offenkundige
Wiederholung, und die naturalist ischen
Bestrebungen, ihn zu durchbrechen,
waren ein Teil des Kampfes der Indi-
vidualitat gegen die For men. Heute ist
wieder ein Hang zur festen Form in
der Lyrik wie in alien Kiinsten be-
merkbar. Die Sehnsucht der allzu be-
wegten Zeit ist Ruhe.
Es werden nun auch Ursache und
Grenzen der naturalistischen Ziele vor
30 Jahren kenntlich. Die Menschen
jener Zeit fiihlten Stolz wegen aller
ihrer naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Errungenschaften, liebten (im
ganzen) die Erde und waren ihr nah.
Diese Erdennahe, die sich im Benutzen
der Formen der Natur in der Kunst
auBert, konnten sie jedoch nicht allzu-
lange ertragen. Die inneren Konse-
quenzen der wissenschaftlichen Fort-
schritte und des neuartigen Wirt-
schaftslebens machten sich in der
geistigen Untergrabenheit und infolge-
dessen Haltlosigkeit fiihlbar, und die
Kunstform wird wieder moglichst erd-
fern und festgefiigt.
Alfred Gemm .
*Das ‘Paradies in erzxoeiflang .
Ferdinand Hardekopf gab heraus:
„Gesestfic6e‘' ( I m Verlag der ,$ktion“
[Franz Pfemfert], Berlin - Wilmers-
dorf , 191 6^. Hardekopfs Buch ist das
schlachtenfemste dieser zwei Jahre.
Jeder seiner Satze handelt von den
biirgerlichen Katastrophen des einzel-
nen und von seinen Rettungen. Das
gab es noch nicht in der deutschen
Literatur; sie war mit der Form be-
schaftigt, weil sie zu wenig zu verlieren
hatte. Verzweiflung ist erst da, wo
einer zu verlieren hat; Ausfliichte wer-
den erst anerkannt,wo noch zuretten ist.
Irgendwo in der Weit kann Harde-
kopf Briider finden, Empdrer in alten
Glossen
Literaturtraditioneft, die ihrer eigenen
Bemhigtheit mit dem Sprung in den
Abgrund drohten: Walter Pater, der
fast Baudelairische Selbstmordlust in
die dlinne, spiegelnde Oberflachenhaut
de* ungewohnlichsten Curialstil-Eng-
lisch leitete; den Franzosen Lautri-
amont, der mit fanatischer Offenheit
und dichterisch geatzter Theologen-
sonde sich scbmachvoller Absichten
bezichtigt; und den nahesten Laforgue,
der die eigenen Ideen zwingt, ihn
hohnend zu zerquetschen. Dieses Ge-
schlecht ist stets bereit, sich selbst
unrecht zu geben, um aus noch grofierer
Verzweiflung die Ruckschwingung zur
Erde auch grofier zu machen. (Es sind
aber keine Aufriihrer. Denn Insurgen-
ten haben eine geradezu unfaBbare
Naivitat darin, sich selbst recht zu
geben, auch wenn sie schon iangst
in Ehren und Ministerien eingeriickt
sind.) Von den Kindern dieses Ge~
schlechts kann die Literatur Unend-
liches gewinnen ; aber die Welt selbst,
die Erde, durch Anderung wenig, und
nur auf sehr indirektem Wege. (Umso
falscher Iibrigens jene Argumentation,
die behauptet, der indirekte Weg sei
der einzige!) Fragt man sie, die stets
riicksichtslos offen gegen sich sind, so
wollen sie nichts anderes als : Literatur
machen. Sie wollen den Weg berei-
chern, den man zu den Hausem der
Ideen zuriicklegen muB. An der Wahr-
heit des Weges ist ihnen alles gelegen,
an der Wahrheit der Ideen nichts.
Hardekopfs „Lesestucke“ bereichern
die deutsche Literatur. Mit einem Ruck
springen Auge, Mund, Hand der deut-
schen Sprache auf ein hohes Niveau.
Von der Hohe des Niveaus werden wir
durch nichts abgelenkt: keine geheime
Absicht soil mit Stilhiilfe geschmuggelt
werden; ein Ziel, zu dem Schreibkunst
fortrisse, ist nichtgesetzt ; keine ethische
Angelegenheit auBerhalb der gedruck-
ten Seite wird der Verwirklichung zu-
getrieben ; nicht einmal eine Amoral.
Mit Offenheit ist nichts anderes ange-
strebt, als das Niveau selbst.
AuBerordentlich ist die Klarheit
solcher Menschen. So ist derTitel von
Hardekopfs Buch wortlich zu nehmen.
Die Gedichte, Essays, Novellen des
Bandes sollen zum Lesen da sein, allein
fiir die Beseligung des Aufnahmepro-
zesses zwischen Leserauge und Leser-
gliick. Der Leser mache das Buch
zu — er ist entlassen. Handeln danach
soil er nicht. Mit einer Sicherheit, die
unter Deutschen ungewohnlich ist, be-
grenzt Hardekopf diese Welt des Lesers
zu einem wahrhaften Welt
,,Ich presse zu Linien die lastigen
Bache
Und denk* die ent-olten in ebenen
Plan;
Ich hasse den Raum, ich vergottre die
Flache,
Die Flache ist heilig, der Raum ist
profan.
Ich werde mich listig der Plastik ent-
winden
Und laB euch geblaht im gedunsenen
Raum.
Ich denke die Iieblichsten Schatten zu
finden
Im gefalligen Teppich, im flachigen
Traum.“
Sofort merkbar: diese Vorsatze sind
nicht Armut, sondem Leidenschaft.
Selbst wer den HaB nicht glaubt,glaubt
die Vergotterung; und die Selbstbe-
zichtigung der List gibt iiber alles Auf-
Glossen
schluB, liber Kampf, Katastrophen,
Entscheidungen, liber die namenlose
Verzweiflung bis zur Selbstschmahung,
und die resignierte Freude auf einen
Ausweg.
Flucht, Ausweg, Rettung sind : Auch
die Welt nicht mehr zu lesen mit einer
Oberideenwelt, sondem nur noch sich
zu kiimmern um den Weg zwischen
emem unbestreitbaren Faktum und
dem Menschen, der diesem Faktum
gegeniibersteht. Nur noch nach ihren
Funktionen die Welt anzusehen. Ober-
haupt nur noch eine Funktionswelt zu
kennen.
Funktionswelt; man horcheauf ! Wir
wissen heute in alien Landern so
ungeheuer viel davon, wer die Men-
schen dirigiert, daB es kostlich ist, end-
lich einmal wieder zu erfahren, wie
sie funktionieren. Durch Hardekopfs
Fahigkeit zur abgekiirzten Wiedergabe
der Funktionen, fiihlt man Menschen-
wesen wieder in ihre Wiirde und ihren
urspriinglichen Wert als Mensch ein-
gesetzt. Hardekopf erdenkt das Para-
dies: Eine reine Funktionswelt, in der
jede Bewegung kristallinisch durch-
schimmcrnd fur ein wahrhaftes Sein
eintritt. — O Verzweiflung! —
Die Scharfe, das Aufregende in der
Zusammenfassung der menschlichen
Funktionen bleibt stets auf derselben
Hohe der unbedingten Aufrichtigkeit.
Grenzen gibt es nicht, und ein sachli-
cher Unterschied durch die Form des
Lesestiickes besteht nicht. Es ist gleich,
ob Hardekopf Gedichte, Aufsatze, No-
vellen, Dramatik schreibt; mehr in Be-
tracht, als die Differenz des Lyrischen,
Monologischen , Erzahlenden, Zwie-
gesprochenen, kommt das Gemein-
same in alien diesen: die Feststellung ;
die Absolutheit, Indiskutabilitat der
Feststellung. Wo Hardekopf feststellen
kann, ist ein Thema fiir seine Kata-
strophenmusik da. Wer mochte, bei-
spielsweise, heute noch imstande sein,
ungelangweilt jene plumpe Vari£t6-
verklarung mitanzusehen, die eine Zeit
lang sehnsiichtige Schriftsteller aus
allzu niedriger, grober und gemeiner
Nietzscheinterpretation konstruierten 1
Hardekopf unternimmt, trotzdem vom
Variate zu sprechen, verklart nicht,
sondem stellt fest, teilt Chansonetten-
Akrobaten - Zuschauer- Gattungsf unk -
tionen aus, so wie er die Funktion des
Zigarettenrauchens feststellen wiirde.
Und liber seinen Vari£t£kapiteln konnte
als Motto das Wort einer Fee aus dem
Marchenstiick „Schlangenweib“ des
hdhnisch unbekiimmerten Gozzi ste-
hen: „0 Himmel, eh* das Publikum
ungeduldig wird, mogen lieber die bei-
den Hauptpersonen zugrunde gehenl“
Aber man tausche sich nicht dariiber,
was denn die Feststellungen eines sol-
chen Schriftstellers sind : es sind weder
Beschreibungen noch Psychologie. Jede
dieser aufgezeichneten Funktionen ist
das aufierste Ende, das herausragende
Spruchband eines ganzen Biindels von
Symptomen. Jede menschliche Funk-
tion, die Hardekopf not iert, ist nichts an-
deres als geradezu das Stenogramm eines
Menschenschicksals. Es gibt unglaub-
liche Enthiillungen. In der Erzahlung
,,Manon“ entschleiert der Leser einfach
das Geheimnis der Konventionalitat.
Manon ist ein junges Madchen, nichts
anderes als ein harmloses junges Mad-
chen, die mit riihrendem Eifer sich in
erotische Abenteuer einlaBt, aus Kon-
ventionalitat. Sie ist gar nicht bei der
Sache, nur beim Abenteuer (weil man
100
Glossen
offenbar so etwas tut). Und der Mann,
der ihr Geliebter scin will, wird unfehl-
bar hingerisscn durch ihre scheinbarc
Erfahrung in Liebesintrigen (die ganz
aus {Conventional itat besteht), und stets
vollig entwaffnet durch die wirkliche,
ungeheure Einfalt des jungen Madchens,
die er nicht sieht, nicht kennt, nicht
erwartet — ausG>nvenu. Davonerfahrt
man als von einem Leserereignis. Wo
Leiden, Erregungen, MiBverstandnisse
der Personen auftauchen, sind sie nur
in ihren Funktionen mitgeteilt, und
dadurch fur den Leser zu der Aufre-
gung und Spannung geworden, die
sonst hochstens ein Detektivroman
aufbringt.
Aber wozu ist der Leser da? Um
unterhalten zu werden? Nicht das ist
Absicht. Woher die „Lesestiicke“ und
woher die Hingabe an den einzigen
Weg zwischen Schreiber und Leser?
Hier ist kein Spiel. Hier ist Verzweif-
lung. Teleologie taucht auf; ein wildes,
schluchzendes Durchdrungensein von
Unausweichlichkeit der Erbsiinde. Un-
vermeidlich wird die Welt als Gegebe-
nes hingenommen, und das Erhabenste,
das ein Mensch erreichen kann, ist,
aus den Ereignissen Abstraktionen zu
gewinnen. Vielleicht sind diese Denker
die einzigen, die den Begriff Siinde
wirklich kennen. Hardekopf sagt einmal
bissig:
„Nie gelingt ein Dasein richtig;
Nur der Dicht-Extrakt bleibt wichtig.44
Er kennt die gottliche Richtigkeit.
Aber sein SchluB ist nicht (wie ich
personlich ihn ziehen miiBte): wenn
das Dasein nicht richtig gelingt, miissen
wir — anhand des Dichtextraktes — es
richtig macfxen ! Diese Konsequenz
wtirde er, beispielsweise mir, als mdg-
liche Funktion aner kennen, doch sich
selbst wiirde er sie nicht gestatten. Aus
einer unausschopfbaren Resignation,
die ihm schon iiber die Verzwciflung
hinaus zu der Schopferkraft einer Pas-
sion geriet.
Man danke ihm fur diese Offenheit
hier (welcher Schriftsteller versteckt
nicht sonst den Gedanken!):
,,Da$ Leben: eine blague aus
Schleim und Eiter.
Das Buch besteht und hilft
euch weiter.44
Nur ist es nicht wahr, daB uns heute
wirklich das Buch weiterhilftl Hilft
uns nicht heute mehr als gutgemeinte
Ratschlage aus der Vergangenheit: daB
noch riicksichtslose Offenheit mdglich
ist ?
Volker mit einer langen Literatur-
gewohnheit sehen bei einem Schrift-
steller nicht auf Einzelheiten, sondern
auf dieTotalsumme seiner Arbeit, aufs
Oeuvre, auf die lebendige Druckseite,
die von Buch zu Buch, quer durch die
gelben Riicken der Volumina sich ver-
vielfaltigt, auf die Legende, die ein
Schriftsteller aus seinen Werken von
sich selbst schafft.
Das tun die Deutschen (mit geringer
Literaturerfahrung) nicht. Sie sehen
aufs Stuck. Wenn ein deutscher Autor
dreiBig unvergleichliche Bande ge-
schrieben hat und darnach in irgend
einem Druckwinkel der Zeitschriften
ein kleines, schlechtes Gedicht produ-
ziert, so ist er geliefert.
Geht es nun schon bei den Deut-
schen urns wertvolle Einzelstiick, so
mogen sie wenigstens im Fall Harde-
kopf ein positives Ergebnis aus ihrer
Neigung zur Einzelkritik gewinnen!
Das Buch „Lesestiicke44 ist nur ldein,
Glossen
101
es ist von Zeile zu Zeile voll-
kommen. Man miiBte von jeder Seite
sagen, daB sie auf dem Hang liber
einem Abgrund geschrieben sei; mit
der auBersten Hingabe an Vergangenes ;
mit dem unwiderru flic hen wilden Aus-
druck des Fertigseins.
Denn wodieVerzweiflungdes Autors
die Dinge dieser Welt zu ihrer letzten
Vergeistigung zusammenschlagen laBt,
entsteht die Augenlust des Lesers.
£udwig *Jtubiner,
Gin gates *Buc6.
Ich weiB nicht f wie sich andere zu
dem in Ton und Haltung vorbildlichen
Buch gestellt haben, das Hans Vorst
unter dem Titel „Im Kriege durch
Frankreich und England'4 bei S. Fischer
erscheinen lieB. Mich hat keines aus
der Kriegszeit in ahnliche Aufregung
verse tzt.
Ich muBte es oft hinlegen, auBer
stande, weiter zu lesen, so iiberwal-
tigend ist das Heimweh, das es aus-
lost.
Stadte, Reisewege, vertraut und
plotzlich ungangbar, umwehen uns mit
ihrer Atmosphere; und an Bilder und
Erinnerungen, die wir taglich neu ge-
waltsam in uns verdrangen, wird hier
grausam gerlihrt.
Unabsichtlich. Denn hier wirkt alles
unabsichtlich und ganz durch sich
selbst. Einfach weil dieser Deutsche,
der kein deutscher Staatsangehoriger
ist, so daB er Frankreich und England
befahren konnte, ohne Feindseligkeit
das Verfeindete schaut, ihm mit Ver-
standnis und mit einem fiihlenden
Herzen entgegentritt. Einfach deshalb.
Es gereicht dem Berliner Tageblatt
zur Ehre, die Berichte Hans Vorsts
veroffentlicht zu haben. Manner wie
er gereichen den Deutschen zur Ehre.
fflnnetie 9Cotb .
ZfQeine G5o(cumente.
DIE AHNEN.
Zuerst, um mit den Grundlagen zu
beginnen, die Ahnen.
lfNun, die Ergebnisse unserer Vo r~
geschichtsforschung beweisen, auf wie
hoher Stufe unsere Ahnen gestanden
und welch reichen Schatz sie gegen das
romische Wesen hergegeben haben.
Dies aber setzte ihnen zu ihrem Scha-
den das entgegen, was ihnen selbst in
ihren Hundertschaften und ihren lok-
keren Volkerschaftsbundnissen gefehlt
hatte: den durchgebildeten Staats-
gedanken, gegen den sie nicht aufzu-
kommen vermochten.
Unter der karolingischen Renais-
sance trat dazu das schwere Opfer des
eigenen Glaubens an die Weltreligion
des Christentums. Und doch, wenn
auch diesen Vorvatern von Kaiser
Karl die Freiheit ihrer heiligen Haine
und ihres aus Naturanschauung heraus
geborenen und in der Tiefe seiner
Symbolik mit der Natur selbst in
reinstem Einklange stehenden Gestirn-
dienstes geraubt ward: die Sehnsucht
nach dem alten Heldentrotze konnte
der Sachsenschlachter nicht im Blute
der viertausendfiinfhundert zu Verden
Enthaupteten ersticken! Sie ist der
Glossen
Gral geblieben, dutch dessen Reinheit
das Chnstentum der germamschen
Welt sich vor dem aller ubrigen Volker
einschlieBlich des englischen unter-
scheidet ; insbesondere lebt in den
Heiligen des deutschen Katholizismus
die alte Heldenverehrung und die
ganze Innigkeit und Zartheit des ger-
manischen Jungfrauendienstes fort.
Die Staatsauffassung war selbst
untei Heinrich dem Vogler, dem
Deutschen Konige, noch durchaus
die Erbauffassung des Gebietsstaates
geblieben, von gemeinschaftlichem
VolksbewuBtsein zeigt sie keine Spur.
Erst in den Kreuzziigen, aus der Er-
kenntnis gemcinsamer Gegensatze zu
den sprach- und wesensfremdenKreuz-
fahrern heraus entwickelte sich das
Verstandnis dafiir, daB das bis dahin
im Gegensatze zum kirchlichen Latein
gering geschatzte Dietsche, d. h. das
Volkische, um alle Deutschbliitigen
ein gemeinsames Band schlinge. In
Walther von der Vogelweide hat die
,,tiutsche zucht, die vor gat in allem"
dann ihren edelsten Verherrhcher, der
vielgeschmahte preuBische ,,Milita-
rismus*4 seinen ersten Verkiinder ge-
funden.“
So Fritz Bley in der Literarischen
Beilage der (Deufsc6en ages%eHung ,
KANT, SCHILLER UND DIE
DEUTSCHEN KATHOLIKEN.
Es bleibt zu erfahren, wie die Enkel
das Werk der Ahnen fortgesetzt haben.
Sie sind das Volk Kants und Schillers.
Aber da stellen sich gleich gewisse
Schwierigkeiten ein. Gehoren die
deutschen Katholiken auch zu diesem
Volk, gehoren sie dazu oder nicht?
Der Zentrumsabgeordnete Pieper,
papstlicher Hauspralat und General-
direktor fiir das katholische Deutsch-
land, veroffentlicht in den Katho-
lischen Monatsbrief en , die in neutralen
Landern die deutschfeindliche Propa-
ganda, besonders auf kirchlichem Ge-
biet, bekampfen sollen, einen Aufsatz
iiber die Mobilmachung der sittlichen
Krafte wahrenddes Kriegcs in Deutsch-
land. Und sagt:
,,Kein Volk hat mehr wie das
deutsche in seinen groBen Dichtern
und Denkern, ich nenne nur ScfiiUer
und {Kant , das Gebot der sittlichen
‘Pftichterfuffung verherrlicht und sei-
nem BewuBtsein eingepragt. Auf die •
sem Boden des deutschen Pflichtbe-
wufitseins konnte auch das katholische,
kirchliche und private refigidse Beben
so wurzefcrdftig werden und solche
Fruchtbarkeit im gesamten offent-
lichen Leben wahrend der langen
Friedenszeit entfalten. Von diesem
BewuBtsein der sittlichen Pflicht vor
Gott und dem Vaterlande ist auch
jetzt daheim, im Riicken unserer
tapferen Truppen, die Kriegsarbeit des
deutschen Volkes getragen, von der ich
in der Kriegsarbeit des Volksvereins
nur einen Ausschnitt gab; denn die
ubrigen katholischen Organisationen,
der Charitasverband, die Arbeiter-,
Jugend- und sonstigen Vereine sind
auf ihrem Sondergebiete im gieichen
Geiste und mit ahnlicher Arbeits-
methode tatig.“
Also: Ja, die deutschen Katholiken
gehoren zum Volk Kants und Schillers.
Aber nein, sie haben mit Kant und
Schiller nichts gemein, sie wollen und
konnen mit ihnen nichts gemein haben.
Glossen
103
Dies versichern die Trierer *Petrus*
bfditer, die dem papstlichen Hauspra-
laten nichts geringeres, als eine unge-
biihrliche „9Cantre£fame“ vorwerfen :
,,Mit Schmerzen,** tont es aus den
Petrusblattem zuriick, „mit Schmerzen
haben wir diese Ausfiihrungen, auf
deren Boden ein ..Zusammengehen
der Anhanger aller Konfessionen und
Parteien" — wo von in den „Katho-
lischen Monatsbriefen" ebenfalls die
Rede ist — erfolgen soil, gelesen und
uns dabei in Gedanken gefragt, was
wohl der Katholik im neutralen Lande
dazu sagen werde, wenn er die quasi
offizielle AuCerung der Anschauung
des Generaldirektors einer Organi-
sation von acht- bis neunhundert-
tausend deutschen Katholiken liest und
zwei Namen als ZKaupivertreier einer
‘Pbifosopfije gefeiert findet, die der
tKatholik absofut ablefinen mufi, wie
es gerade Pius X. neu eingescharft
hat. Und es ist ein verfidngnisvoffer
CJrrtum,vimn geglaubt wird, in Schiller
und Kant das fruchtbare Erdreich fin-
erne wurzelkraftige Entwicklung des
katholisch-kirchlichen und privaten
religiosen Lebens gefunden zu haben,
in Schiller und Kant den Ausdruck der
katholischen Lehre vom Gebot der
sittlichen Pflichterfiillung zu wissen.“
Die Frage bleibt of fen.
HEIDENMISSION.
Inzwischen widmet sich Max Scheler
im fflochland dem Studium iiber
„Soziologische Neuorientierung und
die Aufgabe der deutschen Katholiken
nach dem Krieg/‘ Die Arbeit ist
interessant. Schade, daB Scheler im-
mer schlechter schreibt. Er scheint
keineswegs, nach dem Erfolg seiner
gesammelten Kriegslesefruchte, die er
zu dem dickleibigen, aber in zu-
sammengenahten Fetzen schlottemden
..Genius des Krieges“ verarbeitete,
iiber sich selbst erschrocken auf
halbem Weg Halt machen oder gar
umkehren zu wollen, wie ich lange
glaubte und besorgten Freunden er-
zahlte. (Wozu ich einigermaBen be-
rechtigt war.) Vielmehr erfahren wir
durch die ZKdfniscfie *Voffc8*eitcmg,
dafi der ..beriihmte Philosoph Max
Scheler“ sich bekehrt habe; auch
„werde von manchen anderen, die
noch folgen sollen, bereits gesprochen .* #
In dem komischen Heldenlied vom
lippe-detmoldischen Soldat, der ganz
allein Krieg fiihren muss gegen ein
feindliches Heer und naturlich, eins,
zwei, totgeschossen wird, heiBt es:
..Seine Seele flieht zu Gott, wo die
Kanonen stehen.“ Diese Artilleristen-
phantasie ist lustig genug. Jedoch,
man sieht, wir haben Zeitgenosscn,
die Ernst damit machen.
EIN DEUTSCHER.
Am 14. Juni veroffentlichte das
Berliner Tageblatt in seiner Morgen-
ausgabe eine Zuschrift des @r. *Fr.
cerster , Professors an der Univer-
sitat Miinchen, die verdient, als eines
der erhebendsten Zeitdokumente auf-
bewahrt zu werden. Die in jedei
Hinsicht auBergewohnliche Erklarung
lautet :
..Nach den alarmierenden Notizen,
die in diesen Tagen iiber meinen
Universitatskonflikt erschienen sind.
104
Glossen
und nach dem scharfen Proteste der
Fakuitat gegen meine Stellungnahme,
darf ich den Lesern wohl folgende
ruhige Darlegung des ganzen Falles
geben:
Ich habe im januarhefte der Friedens-
warte 1916 ein Referat iiber die ,,mit-
teleuropaische* 4 Staats- undGeschichts-
philosophic von Konstantin Frantz ver-
offentlicht, die bekanntlich von Richard
Wagner ala „wahrhaft deutsche" po-
litische Philosophic gefeiert worden
ist. Wer Frantz* t, Deutsche Welt-
politik44 (Chemnitz 1882) durchliest,
der wird erstaunt sein liber den in-
timen Zusammenhang all dieser Ge-
danken mit brennenden aktuellen Fra-
gen, und wird es durchaus begreiflich
finden, daB ich diese Gesichtspunkte
gerade jetzt in die Diskussion getragen
habe. Wir haben ja doch nicht blofi
Krieg zu fiihren, sondern auch neue,
riesige politische Probleme durchzu-
denken — ware das nicht der Fall, so
wiirde ein Buch wie Naumanns „Mit-
leleuropa*4 nicht ein so aufierordent-
tiches Interesse gefunden haben, auch
wui den nicht neuerdings die All-
deutschen Blatter den Vorschlag propa-
gieren, Polen an das Deutsche Reich
anzugliedem. Fur aolche iibernatio-
nalen Foderativentwicklungen hoch-
komplizierter Art haben wir in unseier
nationalpolitischen Tradition gar keine
Ankniipf ungen — wir bediirfen dazu
einer ganz griindlichen Neuorientie-
rung des politischen Denkens. Oder
will man in einer Zeit, in der wir alle
auf alien Gebieten so duichgreifend
umlernen miissen, eine nationalpoli-
tiache Orthodoxie proklamieren, auf
die dann die Profesaoren einen Anti-
Modernisteneid zu achworen haben?
Man lasse doch das Ausland ruhig
achwatzen, was es will — wir sollten
unsere furchtbar ernsten Angelegen-
heiten unbeirrt mit jenem alten griind-
lichen und kritischen Geist durch-
denken, auf den wir mit Recht stolz
sein diirfen. Sind wir nicht wahrlich
stark genug, um uns solche innere
tire; fieri in der diskussion erlauben
zu konnen ? Konstantin *1 ranif ist der
eigentliche dkifosopk des mHteteu.ro*
pdiscken Gedankens und muB darum,
auch wenn man manches ablehnen
wird, gerade heute ernster als je ange-
hort werden — treten doch die Pro-
bleme des neuen Europa mit jedem
Tage gebieterischer vor unsere Ge-
danken und vor unsere Staatsmanner !
Mit ihrer offentlichen Erklarung
hat die Miinchener philosophische
Fakuitat zweifellos einen schweren
MiBgriff begangen. In einer Zeit, in
der von alien Seiten der „Abbau der
politischen Zensui** gefordert und nicht
nur von den obersten Reichsbehorden,
sondern auch vom obersten General-
stabschef als wiinschenswert hinge-
stellt wird — in einer solchen Zeit
hatte eine wissenschaftliche Korpo-
ration wohl darauf verzichten diirfen,
die kritische Revision unserer neueren
politischen Entwicklung als Gefahr-
dung des Vaterlandes zu stempeln.
Unser Staatswesen steht doch keines-
wegs auf so wackligen FiiBen, daB
sofort das amtliche Eingreifen der
Fakuitat notig wiirde, wenn das Bestre-
ben nach grundlicher Neuorientierung
des volkerpolitischen Denkens einen
mit der Pflege politischer Padagogik
und Ethik betrauten Kollegen zu
radikalem Zweifel an gewissen poli-
tiach-historischen Dogmen fiihrt. In
Glossen
105
so erschiitternden und verantwortungs-
vollen Zciten bleibe den Universitaten
und ihren obersten Behorden jede
Angstlichkeit fern, man gebe die ganze
Kraft des unbestochenen und vor-
urteilslosen Denkens frei — so wie die
alten Seefahrer inmitten der Wasser-
wiiste eine Taube in hohere Atmospha-
ren steigen liefien, damit sie endlich
festes Land erspahe.
In der offentlichen Erklarung der
Miinchener Fakultat findet sich ein
Satz, bei der der Kenner des freiheit-
lichen Geistes der deutschen Univer-
sitatsgesetze sich an den Kopf faBt:
,,Die Mitglieder der Fakultat werden
jedem Versuche, sie (diese Meinungen)
unter der Autoritat des Lehramts in
der akademischen Jugend zu verbrei-
ten, mit vollster Entschiedenheit ent-
gegentreten.“ Wohin zielt dieses?
Seit wann hat in Deutschland die
Fakultat irgendwelche Disziplinar-
oder sonstige Gewalt iiber die Lehr-
ausiibung eines ordentlichen Pro-
fessors? Oder will man diejenigen
Studierenden, die der Sympathie mit
meinen Ansichten verdachtig sind,
irgendwie die Macht der Majoritat
spiiren lassen?
Wenn schon die Riicksicht auf den
Eindruck im Auslande so mafigebend
sein soli, so hatte man wahrlich besser
getan, durch eine solche Aktion nicht
der gewiB unwahren Behauptung des
,, Temps** einen Schein von Berechti-
gung zu geben, da6 die deutschen
Q/nrversrtdfen zurzert „geistig vdttig
tmrformrerf* seien.
Die Miinchener Neuesten Nach-
richten verkiinden bei dieser Gelegen-
heit: „Derartige schiefe und unhisto-
rische Auffassungen . . . konnen durch
die akademische Freiheit nicht mehr
gedeckt werden, weil sie, namentlich
wahrend des Krieges (also nicht blo6
in der Kriegszeit ! !), das Ansehen des
Vaterlandes im Inland und Ausland
gefahrden.“ Ob die Anreger der gegen
mich gerichteten akademischen Aktion
nicht einen Schrecken vcr dieser Inter-
pretation der Lehrfreiheit bekommen,
die doch genau so dehnbar ist wie der
Begriff des ,,groben Unfugs“ oder der
,,Verachtlichmachung staatlicher Ein-
richtungen*4 ? Und mit solchen Aus-
legungen der Lehrfreiheit will man die
Behauptungen des Auslandes von der
Knechtung der deutschen Seele durch
die Staatsgedanken widerlegen?
Es ist gewiB zu verstehen, wenn so
ausgezeichnete und von den reinsten
Absichten geleitete Gelehrte, wie sie
gerade die Miinchener philosophische
Fakultat beherbergt, durch meinen
scharfen VorstoB gegen gewisse heilig
gehaltene Oberzeugungen in Starke
Erregungen und Repressivaffekte ge-
kommen sind. Aber gab es denn gar
keine Hemmungsinstanz gegen eine
Aktion, deren ganzlich unakademischer
Charakter den Beteiligten wohl all-
mahlich selbst argerlich zum BewuBt-
sein kommen wird?
Man macht mir die Veroffentlichung
meines Aufsatzes in der Schweiz zum
Vorwurf. Dabei wird iibersehen, daB
die Friedenswarte zwar in Zurich
erscheint, die groBte Zahl ihrer Abon-
nenten aber in Deutschland und
Osterreich hat. (Gerade mit Erschei-
nen der betreffenden Januar-Nummer
hat dann die allgemeine Beschlag-
nahme eingesetzt.) Mein Aufsatz —
der ilbrigens auch in einer nord-
deutschen Tageszeitung abgedruckt
Vv*r
wurde — ware z. B. als Beitrag der
,,Siiddeutschen Monatshefte“ weit
me hr im ganzen $ usfand be lean nt
geworden, als es durch den Abdruck in
der Friedenswarte geschehen ist .
Das ,,Erscheinen jenseits der Reichs-
gienzen** hat also fur die Verbreitung
ernes Artikels im Auslande keine ent-
scheidende Bedeutung.
Die ganze Hetze hat ihren Ausgangs-
punkt in der Berliner Zentrale des
evan gefisdien ‘Bandes, die unablassig
am Burgfrieden riittelt und der es
schon lange auf die Nerven fiel, daB
ich eine gerechte Wiirdigung des
Kulturbesitzes unserer katholischen
Mitbiirger als ein Gebot wirklich na-
tionaler Gesinnung bezeichnet hatte —
genau so, wie ich das gleiche auch von
der Gegenseite verlangt habe. In jener
Zentrale ist ein Flugblatt hergestellt
worden, in dem mit anerkennens-
werter Geschicklichkeit der wahre
Sinn meiner Aufsatze durch Heraus-
reiBen einzelner Satze und Wendungen
geradezu entstellt worden ist. Diese
Nummer der * Deutsch-evangelischen
Korrespondenz wurde in alle Welt
versandt ; eines Morgens war halb
Miinchen im Besitz dieses Hetzblattes,
das mich dem Generalkommando zur
Behiitung empfahl ; man mufi wohl
annehmen, daB ein besonderer deutsch-
evangelischer Flieger nachts den gan-
zen Vorrat iiber der schlummemden
Stadt entleert hatte. Dieses Flugblatt
erregte nicht nur die Kollegen, sondern
es drangen auch einige Demonstranten
in meinen etwa 100 Kopfe zahlenden
Horsaal, dessen Horer sich jedoch wie
ein Mann durch mtnutenlanges Klat-
schen und Trampeln gegen die Ein-
dringlinge erhoben, die dann abzogen.
Dieser Sachverhalt ist durch von
Miinchen an die deutsche Presse
abgesandte Berichte derart auf den
Kopf gestellt und durch abenteuerliche
Erfindungen ausgeschmiickt worden,
daB ich auf diesem Wege an die Gifuk
der deutschen Freese appelliere, sic
moge von dieser meiner Richtigstellung
und Rechtfertigung Notiz nehmen —
im Unteriassungsfalie miiBte ich den
betreffenden Retlaktionen sagen: „Ihr
habt kein Recht, euch iiber die Liigen-
presse des Auslandes zu entriistenf*
Prinzipiell sei noch folgendes be-
merkt: Els scheint weiten Kreisen des
deutschen Volkes, und ganz besonders
vielen Vertretern des Gelehrtentums,
noch nicht zum BewuBtsem gekommen
zu sein, daB die groBe Parole fiir den
wahren Patrioten heute lautet: „Um-
lemen!“, und daB die gegen wartige
Weltnot in eine Phase getreten ist, wo
alles andere am Platze ist, als dngst -
defies und reiibares fftnfclammem an
lie b geworden e Q/berdefervn gen . Die
Cberlieferungen after Nationen sind
mit Blut und Schuld schwer befleckt,
und der gegenwartige Weltkrieg ist die
,,Summa4* des langmiitigen Wclt-
gerichts iiber das furchtbare Treiben
der bisherigen europaischen „Historie .
Darum hinweg mit allem unfreicn
Gotzendienst gegeniiber der politi-
schen Vergangenheit — strecket tuck
muiig „nac6 vomeri* , wenn ikr Gu*
ropa aus diesem fur chi bar enBfut bade
erreffen wo fit/ Wir haben jetzt nicht
me hr bloB Krieg zu fiihren, dieses
Gebot ist nicht das einzige Gebot der
Stunde, dem alle Seelen sich unter-
werfen miissen — nein, wir hinter der
Front, wir haben jetzt die heilige
Pflicht, alles zu tun, daB die fftimo*
Glossen
107
durch
sphare geschaffen werde, in der allein
die Entspannung der Leidenschaften
kommen und die Stimme der Ver-
nunft sich Gehor verschaffen kann.
Dieses geschieht gewiB nicht
Rufen nach Frieden urn jeden Preis.
Davon ist auch das deutsche Volk mit
Recht himmelweit entfernt. Worauf es
ankommt, das ist zunachst nur eine
neue onart : In alien Landern miissen
sich immer lauter Manner vernehmbar
machen, die es offen aussprechen, daB
ein Ausweg aus dieser Holle von Wut
und Starrsinn gar nicht moglich ist,
wenn wir uns nicht alle entschlossen
von dem alten Geist des Volkerver-
kehrs abwenden, unseren Anteil an des-
sen Siinden offen und ehrlich beken-
nen und zunachst einmal in innerster
Seele ein neues Guropa lieben und aus-
denken lernen. Nur durch diese innere
Q/mhehr und die dement sprechende
1 Vonart , nicht aber durch ein blofies
allgemeines Friedensangebot, komme
es von hiiben oder von driiben, konnen
die ruhigen Elemente in alien Landern
an das Werk gerufen werden. Deutsch-
lands groBe Cberlieferungen ver-
pflichten uns, in dieser Richtung die
Hegemonie zu ergreifen. Ohne all-
seitigen ,^%bbat/‘ m der *Vd{/cerver*
Beifung und in der eitlen und gottfosen
(Jefbstgerechiigfceit wird kein Friede
kommen, sondern die Volker werden
sich bis zum Verbluten zerfleischen, so
wie es ein Japaner gesagt hat : „Lasset
uns ruhig abwarten, bis Europa sein
Harakiri vollzogen haben wird/* Soil-
ten aber zwei Jahrtausende europa-
ischer Gesittung wirklich nicht ver-
hindern konnen, daB wir Europaer
samt und sonders mit bidden, hilflosen
Gesichtern in den Abgrund fahren,
wobei noch jeder einzelne einen Lob-
gesang auf seine herrliche Vergangen-
heit und seine schneeweifie Unschuld
anstimmt?
In einer leitenden englischen Zeit-
schrift (Hibbert Journal) wurde neu-
lich eine deutsche Broschiire bespro-
chen, die sich gegen die Volkerver-
hetzung wendet. Der Rezensent (Prof.
L. Dickinson-Cambridge) schrieb :
„Man sieht, es ist keine Nation von
Barbaren, in der solche Stimmen
laut werden/* Nun also! Lasset uns
mitten im Tumult der Verhetzung das
Unsere tun, damit endlich die euro *
pdische oJiimme auf alien Seiten
triumphiere und die Zeit komme, wo
„die Rachegottinnen fern abdonnemd
die Tore der Holle hinter sich zu-
schlagen!** —
In der Deutschen Tageszeitung wur-
de in einer, offenbar von einem
Miinchner Kollegen des Professors
Forster herriihrenden, aber anonymen
Zuschrift dazu bemerkt, daB Lehr-
freiheit nicht gleichbedeutend sei mit
$1 arrenfreiheit . . ,
„REALPOLITIKER.“
I.
Aus einem Leitartikel der Gvenmg
eJiandard an ci}. £james Gazette vom
31. Mai:
„Es ist kein Zufall, wenn in alien
Landern — England eingeschlossen —
Friedensgeriichte umlaufen. Die trei-
bende Kraft ist Deutschland, welches
durch eine eigens fur diesen Zweck
geschaffene Organisation unter Neu-
tralen und Kriegfiihrenden drei Ge-
danken zu verbreiten sucht, namiich:
8 VoL m/2
108
Gloss en
1 . dafi die Verbandsmachte unmog-
lich gewinnen konnen ;
2. dafi ein baldiger Friedensschlufi
fur sie und die europaischeZivili-
sation die einzig mogliche Ret-
tung ist ;
3. dafi ein als siegreich anerkanntes
Deutschland mit sich reden lassen
wird.
Inzwischen setzen die Deutschen und
ihre Verbiindeten auf mehreren Fron-
ten ihre wiitenden Angriffe fort.
Sollten diese von Erfolg gekront sein,
so wiirde damit die Schaffung einer
dem Frieden giinstigen Stimmung
aufierordentlich gefordert werden. Man
konnte dann auch den Appell an das
Gefilhl fallen lassen und die alien
empfindsamen Seelen eigene erbarm-
liche Feigheit fur seine Zwecke aus-
nutzen. Anderseits fande man im
Falle eines Fehlschlages einen gut
vorbereiteten Boden vor, um Un-
einigkeit zwischen die Verbandsmachte
zu saen und Neutrale zu bestechen.
Es gibt unter uns zwei Sorten von
Menschen, welche wissentlich oder in
aller Harmlosigkeit der deutschen
Propaganda zum Opfer fallen. Die
einen sind Warren oder ihnen ver-
wandte Gefdfilsmensclien ; die anderen
kosmopotHische {Handler und Geld*
menscfien, welche wieder Geld ver-
dienen wollen und ihr Geld zu hohen
Zinsen ausleihen mochten. Der Ein-
flufi der letzten Klasse ist ein, wenn
auch grofier, so doch begrenzter. Um
so tiefergehend ist aber leider der Ein-
flufi der Gefiihlsmenschen, und zwar
nicht so sehr durch das, was sie im
Parlament und durch die Presse ver-
breiten, als durch das Unheil, das sie
durch Briefe, Gerede an ihren Arbeits-
statten und dergleichen anrichten und
wodurch wohl die auf einen ungliickli-
chen Frieden gerichteten Bestrebungen
ihren unheilvollen Ausdruck finden.
Dafi diese Propaganda im Lande
geduldet wird, ist unverstandlich. Die
Erfahrungen, die wir mit den irischen
Sinn Feiners gemacht haben, sollten
uns mifitrauisch gegen unsere eigenen
Sinn Feiners machen, deren Waffen
dadurch, dafi es die Waffen von Feig-
lingen sind, nicht weniger todlich
werden. In keinem Lande der Welt
wiirde einer Gesellschaft wie der
,, Bruderschaft der Wehrpflichtgegner"
oder der ,,Vereinigung fur demokra-
tische Kontrolle** von der Regierung
erlaubt werden, ihre zerstorende Tatig-
keit auszuiiben.
Wir fordern von der Regierung eine
scharfe Stellungnahme diesen Bestre-
bungen gegenliber, und von den Mit-
gliedern des Parlaments und den nicht
im Kriegsdienst tatigen Behorden ver-
langen wir, dafi sie das ihrige zur Auf-
klarungdes Volkes tun und die deutsche
Mar von einem hoffnungslosen Remis
richtigstellen.
Wir befinden uns am Vorabend der
grofien Anstrengung der Verbiindeten,
die, wie wir hoffen, mit Erfolg gekront
sein wird. Darum ist vor dem End-
siege a lies Wried en sg erede ein Verrai
am tVaterlande, der als solcher ge-
brandmarkt werden muB, in welcher
Verkleidung er sich auch zeigen moge.“
Hauptartikel des Grafen Reventlow
in der Deutschen Tageszeitung, am
14. Juni, Morgenblatt, iiberschrieben :
Von moralischen Schuldkontos. (Die
Glossen
109
kursiv gedruckten Stellen sind in der
Deutschen Tageszeitung gesperrt.)
,,In der Kolnischen Zeitung be-
schaftigt sich, wie heute morgen im
telegraphischen Auszuge mitgeteilt
wurde, der Leiter des Wiener Frem-
denblattes mit RuBlands Schuldkonto.
Kurz vorher war in der Deutschen
Tageszeitung in einer Skizzierung der
drei Tage, welche dem Befehle zur
deutschen Mobilmachung vorausge-
gangen sind, ebenfalls die Rede von
den russischen Vorbereitungen und von
der Mobilmachungsorder. Sodankens-
wert uns der neue osterreichische
Beitrag auch scheint, so vermogen wir
die Bemerkung doch nicht zu unter-
driicken, daB es zu einer irrefiihrenden
und in ihren Wirkungen nachteiligen
Verschiebung und Verdunkelung wich-
tiger Gesichtspunkte fiihren muB,
wenn jetzt nach zweijahriger Kriegs-
fiihrung immer wieder die .Schuld-
frage‘ in den Vordergrund gestellt
wird. Wie die Lage und eine Fulle
unanfechtbarer Angaben erweisen, und
zwar ein fiir alle Male, liegt die soge-
nannte Schuldfrage fest. Ihre Er-
orterung hatte im Anfange des Krieges
eine gewisse Berechtigung, weil immer-
hin die Moglichkeit bestand, neutrale
Machte aufzuklaren und dadurch einen
EinfluB auf ihre Stellungnahme zu
gewinnen. Wie gesagt, die Moglich-
keit bestand, aber tatsachlich sind
die deutschen Erwartungen durch-
weg getauscht worden, denn gerade
bei denjenigen Machten, an deren
Aufklarung es der deutschen Regierung
besonders lag, hat die Luge unserer
Feinde auf der ganzen Linie und
dauernd gesiegt. Das Sprichwort von
den kurzen Beinen der Luge ist Lugen
gestraft worden ; ein Beweis iibrigens
auch dafiir, daB diese Volker und ihre
Regierenden an der Wahrheit kein
Interesse hatten, sondern diejenige
Version annahmen, welche in der
Linie ihrer Neigung und Politik lag.
Mittlerweile sind viele Monate ins
Land gegangen und es ist schon lange
nicht mehr einzusehen, was fiir einen
positiven Zweck noch die Beteue-
rungen und Beweise der Unschuld
Deutschlands am Kriege haben sollten.
Wer es glauben und wissen wollte,
der glaubt und weifi es langst, wahrend
die iibrigen sich in ihrer gegenteiligen
Meinung durch Schwiire und Belege
nicht irremachen lassen. Auf der
anderen Seite aber steht die unseres
Erachtens nicht unbedenfcliche Wir-
kung, daB innerhalb der deutschen
Bevolkerung durch fortwahrende Wie-
derholung der Unschuldsbeteuerungen
unbewuBt die Oberzeugung grofi
werde, damit werde irgend etwas
^Wir (cliches g exconn en oder rrgendein
fur die Zuhunft drohendes *21 bei be*
seitigt . Ein sole her Irrglaube ware
schon deshalb schadlich, weil er die
Aufmerksamkeit und das in *Deutsch-
land [eider so sparliche realpolitische
Onteresse ablenfcen und schwachen
wurde , um eines moralischen Whan*
toms xvillen . Friedensschliisse und die
Friedensbedingungen sind noch nie-
mals deshalb andere geworden, weil das
eine Volk das andere und das andere
das eine mit Schuld- und Unschuld-
beweisen iiberhaufte. Wohl aber ist es
von groBter Wirkung auf den Verlauf
der Kriege gewesen, welches von
kriegfiihrenden Volkem seinem Gegner
oder seinen Gegnern gegeniiber den
Wert des Momentes der Zeit, m ^hin
110
Gloss en
der Schnelligkeit des Handelns schon
in den ersten Anfangen erkannte und
verwirklichte. Man denke nur an die
Kriege Friedrichs des Grofien. Der
Siebenjahrige Krieg war ein Verteidi-
gungskrieg im hochsten Sinne des
Begriffes fiir Friedrich, und er begriff,
dafi er, um ihm gewachsen zu sein,
zuvorkommen miisse. Deswegen blieb
es doch ein Verteidigungskrieg. Els
liefien sich aus den letzten zwei Jahr-
tausenden zahlreiche Beispiele hierfiir
anfiihren, fiir die Bedeutung ent-
schlossener Zeitausnutzung und ebenso
entschlossener Ausnutzung aller Waf-
fen im Kriege. Die russische Politik
ging im Einklange mit der militarischen
Leitung von jenem Gesichtspunkte
aus. Schon lange vor dem Befehl zur
Mobilisierung wurde im ganzen rus-
sischen Reiche mobil gemacht, ja man
kann die Probemobilmachungen wah-
rend der Balkankriege schon als Vor-
spiel der Mobilmachung von 1914 in
gewissem Sinne ansehen . Hatte der Zar
aber den formellen Mobilmachungs-
befehl einige Tage spater gegeben, als
er es getan hat, oder ware der deutsche
Mobilmachungsbefehl drei Tage friiher
erfolgt, so wtirde doch fRufi lands
(Jchufdkonto* genau das gleiche ge*
wesen sein, ndmlich ein in kemer
‘Weise provozierter fflngrrff auf die
\ TJlitteimdchte . ‘Und ‘Deutschland
wdre auch bei friiher erfolgter <IJlo*
bifisierung genau in demselben Dlafie
der Jlngegrrffene a ewe sen.
Selbstverstandlicn liegt es uns fern,
derartigen Forschungen, wie sie der
Leiter des Wiener Fremdenblattes
anstellt, einen gewissen Reiz abzu-
sprechen ; im Gegenteil, dieser Reiz ist
entschieden vorhanden. Aus den ange-
deuteten Griinden aber erscheint es
uns poGtisch bedenklich, gerade ange-
sichts der deutschen Neigung zu all-
gemeinen moralischen Betrachtungen
und dazu die Politik mit ihren Motiven
und treibenden Kraften und Entwick-
lungen unter den moralischen Gesichts-
punkt zu stellen. EJne solche Betrach-
tungsweise wird durch alle Erfahrung
ad absurdum gefiihrt. Ganz unbe-
greiflich vollends ist die gelegentlich
laut gewordene Betrachtung, dafi
Deutschlands Handlungsweise und Art
des Vorgehens vor und in diesem
Kriege besonders fiir eine spatere
Qeschichte wichtig sei und deshalb
unter diese Riicksicht beeinflufit wer-
den miisse. Wie kein einzelner Mensch,
so kann und darf noch viel weniger ein
Volk etwas tun oderlassen,/>j der 0f off"
nung, dafi dann spdter dieses oder
jenes von ihm geschrieben werde ; am
allerwenigsten aber vor und in emem
IKriege, der dber (Jem oder ‘Tlichtsem
entscheidet . Die Qeschichte ist etwas
vollkommen oTekunddres und dazu da,
um die ‘Vergangen he it zu v erst e hen.
Die Konsequenz aus der obigen Auf-
fassung wiirde sein, dafi der einzelne
und ein Volk fiir die Garantie einer
anerkennenden Grabschrift sich derart
moralisch benehmen, dafi unmoralische
Gegner sie urns Leben brachten. —
Fiir ein Volk — der einzelne kann
unter Umstanden mit sich machen was
er will — heifit es: sein Geben und
seme Zukunft sichem, und den kom-
menden Generationen iiberlassen, was
sie an Geschichte zu schreiben fiir
richtig halten. Was ferner die Ge-
schichtschreibung anderer Volker von
unserm Volke spater sagen sollte: wir
wdfiten nichts, was dem deutschen
\ i
V
Glossen
111
Votfce gfeichg&ftiaer sem kdnnte,
wenn es nan stark genug ist“
mvergeltungs-
MASSNAHMEN.”
Die Vlorddeutsdie &([gememe Zei*
txmg schreibt unter der Oberschrift
‘Deutsche and franzdsische $ustiz :
Zwei in Deutschland lcriegsgefangene
Offiziere, Leutnant Defcass 6 und
Leutnant iHerve , wurden vor kurzem
wegen Gehorsamsverweigerung kriegs-
gerichtlich zu 1 und I1/* Jahren Fe-
stungsgefangnis verurteilt. Sie hatten
sich geweigert, dem Befehl, zum
Appell anzutreten, Folge zu leisten,
indem sie Krankheit vorschiitzten.
Dem deutschen Vorgesetzten, der sie
zum Appell abholen sollte, leisteten sie
tatlichen Widerstand, Leutnant Herv£
liefi sich aufierdem zu Schimpfworten
hinreifien. Das Urteil wurde durch
das Kriegsgericht gesprochen und nach
eingelegter Berufung durch das Ober-
kriegsgericht bestatigt. Trotzdem es
sich hier also urn ein rechtsgultiges
gerichtliches Urteil handelte, liefi die
franzosische Regierung, ohne daB sie
den Versuch machte, die Rechtskraft
des Urteils zu priifen oder irgendwie
anzufechten, als VergeltungsmaBregel
zwei kriegsgefangene deutsche Offi-
ziere in Festungshaft iiberfiihren. Die
deutsche Regierung ist durch diese
franzosische WillkiirmaGregel zu einer
GegenmaBnahme gezwungen worden.
Fur jeden der bet’den deutschen Offi-
ziere wurden d're/franzosische Offiziere
in ein deutsches Festungsgefangnis
iibergefiihrt, in dem sie so lange ver-
bleiben werden, bis die beiden deut-
schen Offiziere ins Offiziergefangenen-
lager zurilckgekehrt sind.
Gleichzeitig hat die deutsche Regie-
rung ein nicht zu rechtfertigendes Ur-
teil, das gegen den in Frankreich kriegs-
gefangenen Leutnant der Reserve
Erler ergangen ist, mit Vergeltungs-
mafiregeln beantwortet.
Leutnant Erler ziindete beim Vor-
marsch auf Paris auf Befehl seines
Vorgesetzten ein Haus an, aus dem
Zivilisten (Freischarler) auf deutsche
Soldaten geschossen hatten. Fur diese
vollig gerechtfertigte Mafiregel trug
nach militarischen Gesetzen nicht er die
Verantwortung, sondern ausschliefi-
lich der Vorgesetzte, der den Befehl
erteilt hatte.
In seinem Tagebuche erwahnte
Leutnant Erler die Anziindung des
Hauses. Er fiel kurz darauf schwer-
verwundet in franzosische Gefangen-
schaft. Der Vermerk im Tagebuch
fiihrte zu einem Gerichtsverfahren
wegen Brandstiftung, das mit der Ver-
urteilung Erlers zur Degradation und
20 Jahren Zuchthaus endete. Trotzdem
die deutsche Regierung ein umfassen-
des Entlastungsmaterial fiir Erler, das
seine Schuldlosigkeit auBer Zweifel
stellte, nach Frankreich sandte, lehnte
die franzosische Regierung die Wieder-
aufnahme des Verfahrens ab, weil das
Entlastungsmaterial keine neuen Tat-
sachen enthielte.
Leutnant Erler befindet sich im
Militarzuchthaus zu Avignon und
wird als gemeiner Strafling behandelt.
Er liegt in demselben Schlafsaal mit
den anderen Zuchthauslern und hat
taglich zehn Stunden lang Matten und
Korbe zu flechten. Geistige Be-
schaftigung ist ihm nicht gestattet.
>AA<
'A*A*A*A*
112
Glossen
Die deutsche Heeresverwaltung hat
daf&r zedn franzdsische Offiziere in
Militarstrafanstalten iibergefiihrt, in
denen sie unter gleicher Behandlung,
wie sie dem Leutnant der Reserve Erler
zuteil wird, verbleiben, bis dieser
Offizier in ein Offiziersgefangenenlager
verbracht ist.
Da Deutschland etwa die dreifache
Anzahl an leriegsgefangenen franzd-
sischen Offizieren hat wie umgekehrt
Frankreich, kann man hier etwaigen
weiteren franzdsischen Repressalien
ruhigen Blutes entgegensehen.
MENSCHENSTIMME.
In der *Victojre, wo Gustave Herve
den Ausdruck menschlicher Gefuhle
fur die Zeit nach dem Gelingen der
grossen Offensive vertagt hat, erhebt
sich trotzdem die Stimme des Paul
Hyacinthe Loyson:
„Nein, nicht fiir einen einzigen
Augenblick geben wir zu — wir haben
nicht das Recht, es zuzugeben — wir
weisen es ab wie ein Verbrechen gegen
den Geist — mit dem ganzen Zorn
unseres Gewissens, das notigenfalls
starker ist als unsere Vemunft, ver-
werfen wir jene Prophezeiung von den
,,hollischen Kriegen", die in Ewig-
keit, inmitten eines morderischen Uni-
versums, durch die halluzinierten Jahr-
hunderte sich walzen sollten. Eher das
Nichts, als diese Verruchtheit ! Eher
mit unseren eigenen Handen unsere
kleinen Kinder in ihren Wiegen er-
drosseln, als sie fiir die Orgie von
Mordern groBziehen!
Nein, wir werden die Blasphemie
nicht erlauben, dafi der Krieg ein Ideal
sei...
Nein, wir sprechen den Krieg nicht
frei, weil er soviel Heldenhaftes her-
vorbringt, denn er bringt noch mehr
Verbrechen hervor, und wer diese
Dinge ein einziges Mai gesehen hat,
behalt fiir sein Leben beschmutzte
Augen und errotet vor Scham, wenn
er sie zum Himmel hebt.
Aber muB man es noch laut hinaus
schreien, damit die Steine selbst es
hdren?"
Verantwortlich <Rene Sc6rdcefe.
Fur Oitcr.-Ungarn: Hugo Wien I, Bauemmarkt 3. — Im Vcriag von *Rasc6er A Ore.
Ziirich i und Leipzig, Talstrasse 15. — Druck von ftenteti Biimpliz (Bern).
9ptutpsxj0H OfMS * m>tos "WV
HI
Arthur Segall ♦ Seeks HolzschntUe 115
116
Arthur Segall ♦ Seeks Holzschniite
Arthur Segall ♦ Seeks Holzschnitte
Heinrich Mann * Madame Legros
119
£55 feinricfi <T7(cmn:
MADAME LEGROS
DRAMA IN DREI AKTEN
PERSONEN;
Madame Legros
Die K&nigin Marie Antoinette
Die Comtesae d* Ore hat
Die alte Marquise de Sarcll
Eine Verwandte des Ehepaares Legros
Madame Touche
Fanchon
Madame Crozet
Legros
Der junge Chevalier d'Angelot
Der Abbi de Zorane
Der Baron de Clainrauz
Vignon
Ein Akademiker
Ein Offizier
Ein TOrhiiter
Nachbarn und Nachbarinnen des
Ehepaares Legros
Volk
Soldaten
Paris 1789
ERSTER AKT.
Die grSBere Hal ft e der Buhne wird von dem Laden des Ehepaares Legros
eingenommen. Er ist nach der Seite offen und hat Auslagen von WeiBwaren,
auch auf der engen Gasse, die zwischen hohen alten Hausem (das schonste
ist der Gasthof zum f,Wei6en Pferd") nach dem Hintergrund verliuft, Dort
Sffnet sich der Platz der Bastille, einer ihrer Turme bildet den AbschluB.
Man sieht nur sein unteres Stockwerk.
Heinrich Mann • Madame Legros
ERSTE SZENE.
Madame Legros. Die Verwandte.
Verwandte: Das Haubchen ist hiibsch. Der Herr Graf
von Coutras hat richtig gewahlt: es wird dem Fraulein Palmyre
gut stehen. Finden Sie nicht, Madame Legros?
Madame Legros (an der Kasse, schreibend) : Der Herr Graf
hat gewahlt, was ihm passend schien.
Verwandte: 0 nein, sondern ich selbst habe es ausgesucht
und es dem Herrn Grafen aufgenotigt. Der Herr Graf wiirde
dieses andere hier genommen haben, aber es ist nicht schon
genug fiir Fraulein Palmyre. Ich bin ihre gute Freundin.
Madame Legros: Ich denke, du bist bei uns im Dienst und
wirst schon darum einem Kunden die bessere Ware empfehlen.
Verwandte: Nun ja . . . Ich konnte das Haubchen gleich
h intragen.
Madame Legros: Du weiBt, dafi ich noch die Schleifen
daranzunahen habe.
Verwandte: Das kann auch ich tun.
Madame Legros: Bildest du dir ein, man wurde den
Unterschied nicht sehen?
Verwandte: Ich habe doch auch schon Geschmack erlernt,
seit ich in Paris bin. Ich bin keine Bauerin. Herr Legros ist
mein Vetter, er wird mir erlauben, was ich will.
Madame Legros: Die Schachtel mit den Strumpfen ist
nicht fortgeraumt, und ein so teures Jabot treibt sich am Boden
umher; das Fraulein aber hat keinen andem Gedanken, als zu
einem Ballettmadchen zu laufen und wieder den ganzen Abend
hmter den Kulissen nach galanten Herren auszuschauen.
Verwandte: Ich brauche nicht erst auszuschauen. Sie,
Madame Legros, gonnen niemandem ein Vergnugen. Sie denken
nur an sich.
Madame Legros: Ich denke an das Interesse des Herm
Legros. Dafur bin ich seine Frau.
*
Heinrich Mann • Madame Legros
I2t
ZWEITE SZENE.
DieVorigen. Legros.
Legros: Guten Tag.
Madame Legros: Guten Tag, lieber Mann. Wie geht es in
der Werkstatte? Bist du zufrieden mit deinem neuen Gesellen?
Legros: Er ist ein tiichtiger Mensch. Aber darum handelt
es sich jetzt nicht.
Madame Legros: Ichsehediran,daGdu Arger gebabt hast.
Legros: Meister Ambroise war da wegen der Bezahlung
der Wolle.
Madame Legros: Es ist noch nicht der Zahltag.
Legros: Meister Ambroise brauchte das Geld. Seine Frau
ist schon Iange krank. Er hat Schwierigkeiten.
Madame Legros: Du hast es ihm gegeben?
Legros: Freilich haben auch wir es schwer — wie alle Welt
jetzt. Aber ich sagte mir, man muB einander helfen.
Madame Legros: Was du tust, ist recht, lieber Mann.
Legros: Obwohl: — wer wird eines Tages uns helfen?
Madame Legros: 0! dahin wird es nicht kommen. Und
wenn du heute Geld ausgegeben hast, so haben wir hier es
wieder eingenommen. Der Herr Graf von Coutras hat unser
schonstes Spitzenhaubchen gekauft, das fur vierhundert Pfund.
Verwandte: Ich habe es ihm aufgeschwatzt !
Legros: Vielleicht hast du es ihm aufgeschwatzt. Madame
Legros aber hat es angefertigt. Das ist noch mehr wert.
Madame Legros: Aber Lob verdient doch nur sie: ich
nicht, denn du bist ja mein Mann.
Legros: Das ist wahr.
Madame Legros: Nun haben wir bald kerne Spitzen mehr.
Wann werden endlich die aus Alenfon kommen?
Legros (befangen): Das frage auch ich mich. Kann sein, daft
sie schon da sind und beim Stadtzoll iiegen. Dabei fallt mir
ein, dafi dein Vetter, der Zollbeamte, uns lange nicht besucht
hat . . . Was tust du da ?
122
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros: Ich muBan das Haubchen des Frauleins
Palmyre noch die Schleifen nahen.
Legros: Tue das spater. Jetzt solltest du zu deinem Vetter
auf das Zollamt gehen und ihn fur Sonntag zum Mittagessen
laden.
Madame Legros: Gleich jetzt?
Legros: Ich schulde ihm die Hoflichkeit.
Madame Legros: Kann nicht Lisette gehen?
Legros: Das ware nicht hofiich genug.
Madame Legros: Ich tue, was du befiehlst, lieber Mann.
(Sic macht tich zum Ausgehen fertig.)
Legros: Und sage deinem Vetter, daB wir eine fette Gant
haben werden! . . Und sei zuriick zum Essen!
Madame Legros: Niemand soli es dir bereiten, ais nur
ich. Es ist weit, aber ich werde eilen. (Ab.)
«
DRITTE SZENE.
Legros. Die Verwandte.
Legros: Bring mir die Leiter her! . . Nun? Ich glaubegar,
man weint ?
Verwandte: Els ware nicht zu verwundern. Ich habe das
teuerste Haubchen verkauft, — und wie werde ich belohnt?
Ich darf nicht einmal meine Freundin besuchen.
L e g r o s (trostend) : Madame Legros ist sonst nicht hart. Warum
verbietet sie dir ein harmloses Vergniigen ?
Verwandte: Und sie verbietet es mir in Ihrem Namen!
Legros: Sie glaubt wohl recht zu tun.
Verwandte: Aber wollen denn auch Sie, Herr Legros, ein
Madchen nur langweilige Pflichten lehren?
Legros: Was soil ich dich sonst lehren?
Verwandte : Wenn Sie es nicht wissen . . . Ich hatte gewiinscht,
daB em ernsthafter Mann sich meiner annimmt. Aber auch bei
Heinrich Mann • Madame Legros
123
meiner Freundin kann ich manches lemen. £s ist Fraulein
Palmy re vom Opemballett.
Legros: Das ist eine Freundschaft, die ich nicht billige.
Verwandte: Warum denn nicht ? F raulein Palmyre ist aus un-
serem Dorf . Sie mag mich leiden, ich kann Zofe bei ihr werden.
Legros: Zofe bei einem Madchen ohne Herkunft?
Verwandte: Der Herr Graf von Coutras schiitzt sie. Schon
jetzt ist sie reich.
Legros: Und auch du mochtest es wohl auf diesem Wege
werden. Man kennt das. Man wird achtgeben miissen auf dich.
Madame Legros hatte recht, als sie dich nicht fortliefi.
Verwandte: Statt dessen ist sie aelbst fort: zu dem Zoll-
beamten, ihrem Vetter.
Legros: Was soil das! Hiite dich!
Verwandte: 0! Wie Sie jetzt bdse sind. Noch soeben
waren Sie so lieb mit mir, dafi Madame Legros es nicht hatte
sehen diirfen .
Legros: Ich weiB, was ich Madame Legros schulde: einer
Frau, so treu und unschuldig.
Verwandte: Weniger unschuldig als Sie.
Legros: Und von einer Gradheit, an der du dir ein Beispiel
nehmen solltest.
Verwandte: Aus Gradheit tut sie wohl, als wiifite sie gar
nicht, warum sie auf das Zollamt geht.
Legros: Sie geht, weil ich es ihr befehle. Du aber bring
mir die Leiter her.
Verwandte: Einen Augenblick. Madame Legros versteht
so gut wie wir beide, dafi sie die Spitzen von Alen^on zollfrei
in die Stadt schaffen soil, ihrem Vetter wird sie dafiir eine fette
Gans anbieten; und wer weifi, ob nicht noch etwas.
Legros: Was sagst du da? Ich werfe dich hinaus!
Verwandte: Dann gehe ich geradeswegs zu F raulein Palmyre.
Legros: Ah! Dort lemst du solche Dinge. Madame Legros
denkt an Arges so wenig wie ich selbst. Ihr Vetter sieht sie
gern ; er ist ihr Pate, und wer beim Zoll keinen Freund hat,
zahlt, bis er ruiniert ist.
9 Voi. in/2
124
Heinrich Mann * Madame Legros
Verwandte: Ich hake es nicht bose gemeint. Aber giauben
Sie mir, Herr Legros, die Frauen sind einander wert. (Nahe bei
ihm :) Kein Mann braucht sich ihretwegen Bedenken zu machen.
Le g ros : Spitzbiibinnen wie du, gibt es gleichwohl nicht viele.
Verwandte: Fort, Madame Legros kommt.
*
VIERTE SZENE.
Die Vorigen. Madame Legros.
Madame Legros kehrt zuriick, nachdem sie, Nachbarn bcgriiOend,
die Gasse entlang bis unter den Turin gegangen ist und dort etwas vom
Boden gehoben hat. Sie halt ein Papier, liest, sieht sich gngstiich um,
scheint nicht zu begreifen. Sie tritt achtlos auf die Schwelle, ist entsetzt,
da die andem sie sehen, und versteckt das Papier.
Legros: Man hat wohl Geheimnisse?
Madame Legros: Ich kann nichts dafiir. Plotzlich hielt
ich es in der Hand. Ach . . .
Legros (entreifit ihr das Papier).
Verwa ndte (neugierig herbei).
Madame Legros (verbirgt ihr Gesicht).
Legros: Was ist das? Wer hat es dir gegeben?
Madame Legros: Es fiel vom Turm.
Legros: Von welchem Turm?
Madame Legros: Von der Bastille.
Legros: Vorhin sagtest du, jemand habe es dir zugesteckt.
Madame Legros: Es ist so ungeheuerlich, dass ich mich
mitschuldig fiihlte, als ich es las.
Legros: Du?
Madame Legros: Alle Menschen sind mitschuldig.
Legros: Ein Narr hat es geschrieben. Und du verlierst
deine Zeit daran.
M adame Legros: Ein Narr? Ein Mensch, der seit drei-
undvierzig Jahren unschuldig im Turm sitzt.
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
125
Legros: Ein Spafivogel. Vielleicht Argeres. Es gibt Leute,
die Unzufriedenheit mit dem Konig und seiner Regierung saen
mochten. So einer hat den Wisch in die Luft geworfen.
Madame Legros: Ich sah ihn herabflattern . Ich erhob
den Blick: auf dem Turm, ganz droben auf der Plattform,
war ein Mensch, der winkte. Eine Sekunde — und bevor ich
recht gesehen hatte, rifi ein Soldat ihn zuriick.
Verwandte (liest stotternd den Brief): 0 Voriibergehender !
Wer du auch seiest, ein Unschuldiger ruft dich an. Unter der
vorigen Herrschaft, zur Zeit Seiner Majestat unseres gnadigsten
Konigs Ludwig, ward ich in die Bastille geworfen, wegen eines
unzarten Versuches, die Aufmerksamkeit der Frau Marquise
von Pompadour auf mich zu lenken, und seit dreiundvierzig
Jahren hat man mich hier vergessen. Nicht einmal meine
Wachter wissen mehr, wer ich bin. O Freund, dem der Wind
oder Gottes Atem dieses Blatt vor die FiiBe weht, sag du es
den Menschen! Sag ihnen, was keiner mehr weifi, so viele ge-
boren werden und sterben: ich heifie Latude und bin ein Un-
schuldiger, der leidet ! (Ergriffenes Schweigen.)
Madame Legros (hat sich abgewandt, seufzt schwer).
Verwandte: Das ist grauenvoll . . . Und so wunderbar,
als ob es der Herr Pfarrer erzahlt hatte.
Legros (peinlich beriihrt): Es ist ein armer Mensch. Aber mit
solchen Dingen befafit man sich nicht. Es ware unklug. Wir
werden zu niemandem da von reden.
Madame Legros: Es ist wahr: wie soli man es den Leuten
sagen. Niemand wird uns glauben. Man wird uns eine ab-
scheuliche Erfindung zuschreiben und uns fur schlecht ansehen.
Legros: Man wird uns vor allem fur dumm ansehen.
Madame Legros: Was also tun.
Legros: Bei Gott! Es fur uns behalten!
Madame Legros: Wie?
Verwandte: Ich sage es alien! Wird man neugierig sem!
Ich gehe in die Bastille und frage den Soldaten Colas, den ich
kenne, ob er von solchem Gefangenen weifi.
126 Heinrich Mann • Madame Legros
Legros: Du wirst deine Zunge hiiten, oder du lernst mich
kennen.
Mad ame Legros: Was heifit das?
Legros: Els heifit, dafi du den Wisch da verbrennen wirst.
Und ohne Federlesen! Wir sind anstandige Leute, mit den
Angelegenheiten von Staatsverbrechern haben wir nichtszutun.
Madame Legros: Aber es ist ein Unschuldiger !
Legros: Das sagt er. Der selige Konig wird gewuBt haben,
warum er lhn in den Turm gesetzt hat.
Madame Legros : Der Konig ist tot. Das alles ist so lange
her. Wo sind die, denen Latude geschadet hat, wenn er denn
jemandem geschadet hat . . . Ach! was soil das. Ihr habt gehort,
was er sagt, dieser Mensch. Ihr habt die Wahrheit gehort wie
ich. Ihr habt keine anderen Ohren als ich. Alle Menschen ver-
stehen das.
Legros: Da du Ohren hast, so hore gefalligst. Ich bin dein
Mann, und ich befehle dir, den Mund zu halten.
Madame Legros (beugt sich): Du bist mein Mann . . .
Aber du bist gut. Willst du mich etwa priifen ? Als wir kiirzlich
verheiratet waren und du mich noch nicht kanntest, da unter-
lieBest du emst mit Absicht, den Verkauf einer Haube ms Buch
einzuschreiben, und gingst fort, um zu sehen, ob ich das Geld
nehmen wiirde. Aber hast du es denn heute noch notig, dich
zu iiberzeugen, daB ich ehrlich bin? (Sie schmiegt sich an ihn.)
Legros: Du bist eine brave Frau. Du hast immer fiir den
Nutzen deines Mannes gearbeitet. Daher weifit du auch ganz
gut, wie wir jetzt uns verhalten miissen.
Madame Legros (schmeichelnd): Ehrlich bleiben, wie ich es
damals geblieben bin. Nicht mitschuldig werden am Unrecht,
das geschieht. Was sage ich : schuldiger als alle, die nicht dar>
um wissen. (Oberredend:) Man wird dich riihmen, lieber Mann.
Man wird dich hoch ehren. Denn jeder ehrliche Mann hatte
es auch getan.
Legros: Man konnte wirklich glauben, daB den Frauen
der Verstand nie fertig wachst. Wenn du einem Voriiberge-
henden sagst, daB er falsches Geld gemacht hat : meinst du, er
*
Heinrich Mann
Madame Legros
wird dir um den Hals fallen und dir danken ? Wir aber sollen
nun denen, die die Macht haben uns selbst einzusperren, mit
der Behauptung kommen, sie hielten einen falschen Gefange-
nen fest. Wer dich hort, halt uns fur toll.
Madame Legros (beschwdrend): Mann ! Es handelt sich um
einen Menschen!
Legros: Ganz abgesehen da von, daB niemand mehr sich
in unseren Laden getrauen wird, aus Furcht vor der Bastille,
der wir uns so leichtfertig aussetzen. LaBt man uns auch un-
geschoren, so sind wir dennoch ruiniert.
Madame Legros: Und wenn wir schweigen, wird das
Brot, das wir essen, ein unehrliches Brot sein.
Legros: Hiite dich, Frau! Ich bin ein Burger von Paris.
Ich esse mein Brot in Ehren.
Madame Legros: Du hast es immer getan. Kiinftig aber
wirst du es nicht mehr tun. Sieh dort hinten den Turm:
ein Mensch sitzt darin, der schuldlos leidet — seit so langer
Zeit schon, daB niemand mehr sich daran erinnert. Dort ist
der Platz mit den vielen Menschen ! Die Eltem all dieser sind
auch schon iiber den Platz geeilt, und auch damals schon lag
jener eine an seiner Kette. Wenn nun ihre Kinder grofi sein
und dort lustwandeln werden : wie ? Soli er dann noch immer
liegen und leiden? Wahrt das Unrecht in der Welt ewig?
Jetzt verstehe ich, was man meint, wenn man den Kleinen von
der Erbsiinde spricht.
Legros (seufzt): Els ist wahr, die Welt ist bose, und wird es
wohl immer bleiben. Den Machtigen geht es gut, denn sie
denken nicht daran, wie wir andem bedriickt sind. Du muBt
die Spitzen von Alen?on akzisefrei durchs Tor bringen oder
wir wiirden den Laden sperren mussen. Unsereiner hat genug
zu tun, daB er nur durchkommt zwischen all den bedrohlichen
Mach ten. Was dem Nachbam geschieht, darf uns nicht kiim-
mem. Wir mussen die Augen schlieBen, sonst kommt es auch
an uns.
Madame Legros: Und wenn es kame! Denkst du denn,
ich kann mir es wohl sein lassen, wenn gleich nebenan jemand
1 28 Heinrich Mann * Madame Legros
um Hilfe schreit? Hier in der schattigen Gasse geborgen, auf
Kunden warten ; die Leute abwehren, die unser Geld wollen ;
essen, schwatzen und endlich die T iir schlieBen, um mit meinem
Mann schlafen zu gehen ? Am £nde meiner guten, behaglichen
Gasse aber klirren Ketten, und jemand schleppt sich, ein Skelett
und ewig weinend, durch feuchte Keller. Du willst mich glauben
machen, es sei nichts ? Ich hore es doch : er schreit ! (Sic Halt
aich die Ohren zu.)
Legros (gibt der Verwandten ein Zeichen, die Tiir zu schlieBen).
Madame Legros: Auch durch die Tiir hore ich es.
Legros: Du selbst schreist, die Leute werden aufmerksam.
Madame Legros: Sie sollen kommen! Sie sollen horen!
Ich kann nicht die einzige sein, die so viel weiB!
Legros: Nochmals, ich bin dein Mann, ich kenne die Welt
besser. Ein Kind brauchst du, und du wirst an die Geschichten
der andern nicht mehr denken.
Madame Legros (stiller): Ein Kind. Ich hatte eins. Es ist
gestorben, bevor ich es gebar.
Legros: Du sollst wieder eins haben.
Madame Legros (aufleuchtend): Ja! Es kann wieder eins
kommen. Siehst du, daB nicht alles so schlimm ist, wie du
sagst? Auch der Turm dort kann sich offnen und der Mensch,
der drinnen begraben ist, wieder leben.
Legros: Da von will ich nichts horen.
Madame Legros: Dann bist du verstockt : du Armer ganz
allein. Die Menschen aber wollen das Gute, o, das weiB ich.
Ich brauche sie nur zu rufen, zu ihnen zu sprechen, und gleich,
noch in dieser Stunde, werden sie mit mir gehen und den Un-
schuldigen herausfordern.
Legros: Sie hat den Verstand verloren!
Madame Legros: Verzeih! Ich habe dir immer gehorcht,
ohne zu fragen. Jetzt gehorche ich dir nicht mehr. (StdBtdie
Tur auf:) Liebe Nachbam! Herr Vignon! Madame Touche!
Legros: Um Gott!
Die Ve rwandte: Das ist spaBhaft!
#
4
Heinrich Mann * Madame Legros
129
fOnfte szene.
Die Vorigen. Vignon. Madame Touche. Fanchon. Nachbarn
und Nachbarinnen.
Madame Legros: Ein Unrecht ist geschehen. Ihr sollt es
wissen.
Vignon: Sie wiinschen, Madame Legros?
Madame Legros: In der Bastille sitzt ein Unschuldiger.
Ein Nachbar: Nur einer?
Madame Touche: Was hat er getan?
Madame Legros: Niemand weifi es mehr, solange ist es
her. Er hat mir geschrieben; wir miissen ihm helfen.
Ein junger Mann: Ich hole meine Axt.
Zwei Altere: Komm, Nachbar! Man darf das nicht horen.
(Sie entfemen «ich.)
Madame Legros: Gute Herren, Sie sind Christen.
Vignon: Ich habe Philosophic, Madame.
MadameLegros: Herr Vignon, Sie wissen, als jener Rauber
Sie anfiel dort an der Ecke : Sie stieBen Hilferufe aus, und die
ganze Gasse sturzte herbei, Sie zu retten.
Vignon: Es ist wahr, aber der Konig ist kein Rauber.
Ein Nachbar: Der Konig setzt oft aus grofier Gute die
Schlingel in den Turm, damit die Famiiie von ihnen befreit ist.
Eine Frau: Der Herr von Talmont hatte nichts verbrochen,
und dennoch muBte er hinein.
Eine andere: Er hatte dir den Hof gemacht. SeinemHerrn
Vater gefiel das nicht.
Ein anderer Nachbar: Wenn Sie nicht mehr hiibsch
sind, Madame, wird Ihr junger Herr wieder heraus diirfen . . .
Madame Legros, so wird es auch mit dem sein, der die Un-
vorsichtigkeit begangen hat, Ihnen zu schreiben.
Madame Touche: Els ist ihr Liebhaber, wozu regt sie
sich sonst auf.
Die Frauen (Uchen).
Verwandte: Horen Sie das, Herr Legros?
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros: Sie irren sich, mein Herr! Siealleirren
sich! Die Frau Marquise von Pompadour war es, die ihn ge-
fangen setzen liefi; und da sie gestorben ist, bat man ihn
vergessen.
Vignon: Die Marquise von Pompadour? Man sollte alles
vergessen, was sie getan hat.
Madame Legros: Man muB es doch gutmachen! Nach
dreiundvierzig Jahren !
Fanchon (in Trauerkleidung): Mein Vater starb mit dreiund-
vierzig Jahren.
MadameLegros: Und als er geboren ward : sieh, Fanchon,
da verschwand ein Mensch namens Latude — und blieb ver-
schwunden. Das erste Mai heute spricht wieder jemand seinen
Namen aus. Dein Vater ging 43 Jahre umher. Denke daran,
wie oft er lachte, und wie oft er dich kiifite. Jedesmal hat ein
anderer dort unten im Turm gestohnt. Sehen nun alle diese
Jahre nicht anders aus?
Fanchon (schluchzt).
(Betretenet Schwcigen.)
Vignon: Wenn man jederzeit daran denken wollte, wie es
den andern geht, es gabe kein Vergniigen mehr.
EineFrau: Es muB doch Vergniigen geben.
Madame Touche: Mein Mann ist von einem Dachziegel
erschlagen worden, obwohl er nichts verbrochen hatte.
Eine Alte: Wer weiB. Gott tut nichts umsonst.
Madame Touche: Was sagt sie? Will die alte Kupplerin
meinen Mann beleidigen? (Sie dringt auf die Alte ein.)
Die Manner (trennen die beiden).
Der junge Mann, der die Axt holen wollte (zu der
Ahen):GroBmutter, hier sind schlechte Leute, komm fort!
Madame Legros: Warum tut ihr einander Unrecht. Wir
sind schon so schuldig. Wir haben ein so groBes Unrecht zuge-
lassen. Kommt doch mit! Ihr seht ja, man muB es gutmachen.
Vignon: Madame Legros, es sei mir erlaubt, Ihnen in
nachbarlicher Freundschart zu sagen: Sie fangen an, uns zu
Heinrich Mann * Madame Legros
131
langweilen. Sie, eine anstandige, ruhige Biirgersfrau, hetzen
hier die Leute aufeinander, und warum? Wegen irgendeines
Lumpen, der sein Leben lang nicht aus dem Loch herausge-
kommen ist.
Ein Nachbar: Was hat Madame Legros? Wir kennen sie
doch. Sie ist die ernsthafteste Geschaftsfrau des Viertels.
Eine Frau: Ich sage, dahinter steckt eine Liebesgeschichte,
das andere sind Erfindungen.
Frauen: Seht Legros! Der dicke Legros! Er steht dabei
und laBt sie sich aus der Stirn wachsen !
Verwandte: Sind Sie ein Mann, Herr Legros? Ich werde
Ihnen auch nicht mehr schon tun.
Legros (macht sich gewaltsam Platz) : Madame Legros t Hast du
mir jetzt Schande genug gemacht? Augenblicklich komm ins
Haus!
Fan chon: Er tut ihr weh!
Frauen: Sehen Sie nicht, Herr Legros, dafi Ihre Frau krank
ist? Eine so brave Frau.
Legros (halt Madame Legros, die schwankt) : Tatsachlich, sie muB
noch krank sein. Es ist das Kind, das tot zur Welt kam. Ver-
zeihen Sie, meine Herren!
SECHSTE SZENE.
Die Vorigen. Volk. Spater Soldaten, ein Offizier.
Madame Legros (macht sich los): La6 mich, Legros! Sieh
was dies fur Menschen sind! Sie wissen nun, da6 es einen
Unschuldigen gibt, der leidet, und wollen dennoch weiterleben
wie bisher : ihren Kram verkaufen und Wein trinken. Ich ver-
achte euch! Die Welt diirfte untergehen, wenn nur eure Gasse
stehen bleibt! Aber man soli sie euch zu schanden treten.
Herbei, Leute, herbei!
Volk (ist vom Platz her in die Gasse gedrungen).
Die Nachbarn (werden auseinandergedrangt, sie fliichten sich in
die Hauser und sperren die Tore).
132 Heinrich Mann ♦ Madame Legros
Madame Legros (unter dem Voile): Helft mir, ich bitte euch!
Stimmen: Was gibt es? Wer schreit da!
Madame Legros: Ihr wi8t nicht, es geschehen ungeheure
Dinge. Eure Kinder werden euch nicht mehr lieben, wenn sie
davon erfahren.
Stimmen: Was will die Frau? Sie soil auf den Prellstein
steigen, damit man sie hort!
M adame Legros (getchoben, ersteigt driiben am Hause den Stein):
Leute vom Volk! Aus dem Turm der Bastille ist ein Brief
gefallen, von einem Menschen, der unschuldig gefangen sitzt.
Ihr sollt ihn befreien!
St immen: Los! Das ist mal ein Spa6! . . Du hast wohl
Lust, Miitterchen, dich hangen zu lassen? . . Wo ist der Brief?
Lies ihn vor!
Madame Legros: Ich weifi nicht mehr wo er ist. Aber
seht ihr es nicht in meinen Augen, die ihn gelesen haben, wie
schrecklich er war? Da: meine armen Hande, sie haben ihn
gehalten und noch zittern sie!
Stimmen: Es ist wahr, sie ist ganz aufgeregt . . Man sagt,
dafi in der Bastille die groBten Schandtaten geschehen. Man
sollte einmal nach dem Rechten sehen.
Ande re Stimmen: Wirsindarme Leute, Madame. Wenn
Ihnen Unrecht geschehen ist, suchen Sie sich einen Machtigen,
der Sie beschutzt!
Eine dumpfe Stimme: Ich war dabei, als damals ein
wenig Larm gemacht wurde, weil alle hungerten. Ich habe von
einem Soldaten Blei in den Arm bekommen, aber kein Brot.
Madame Legros: Einige Tage hattet ihr nichts zu essen
und begeht schon Gewalttaten. Dort im Turm aber sitzt ein
Mensch, der nicht nur hungert. Ihn friert im Dunkeln, und
langer, als die meisten von euch auf der Welt sind, hat er die
menschliche Sprache nicht mehr gehort. Welche Gewalttaten
sind grofi genug, um das zu rachen!
Stimmen: Sie hat recht: es gibt Verbrechen, die das Volk
nicht erfahrt. Die Herren dort oben begehen nichts als Ver-
brechen! Es sind Mdrder!
*
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
133
Eine Frau: Meiner Tochter haben die Hascher das Haar
abgeschnitten und sie nach Amerika geschickt.
Eine andere (hoKniscH): So eine ist deine Tochter? Nun
treibt sie eben ihr Gewerbe bei den Wilden !
Ein IndlVlduum (das von der Auslage der Legros etwas wegstiehlt) :
Und wer ist das Weibsbild, das sich da auf dem Prellstein zur
Schau stellt? Schneidet ihr die Haare ab!
Legros (von derMenge im Laden eingeschlossen, stiirzt vor): Schlin-
gel, du hast mich bestohlen, und sie ist meine Frau!
Das Individuum (macht sich davon).
Stimmen: Sie ist seine Frau! Was will sie dann?
Legros: Siehst du es, Madame Legros, wofiir man dich
halt!
Madame Legros: Und wenn ich es ware, eine Dime:
die Schande ware geringer als jetzt ! Mag fur eine Dime jemand
selbst sterben.
aber schliefit sie denn einen schuldlosen
Menschen lebend ins Grab ein? Das tue ich, das tust du
und du
ihr alle tut es ! Befreit ihn !
oder ihr seid seine
Grabwachter und seine Hyanen. Ehrloser seid ihr, als die, die
am Galgen hangen! Eine stinkende Pest seid ihr!
Stimmen: Das ist zu arg! Sie beschimpft das Volk, dies
Weibsbild! Reifit sie herunter! Schneidet ihr die Haare ab!
Herunter mit ihr!
Madame Legros (hilt aich an einem eiaemen Ring in der Mauer):
Zerrt an mir, ich stehe fest! Ich habe Kraft fur euch alle!
Ihr werdet sehen, wie ich den Turm des Unschuldigen offne!
Dann wird die Welt schon sein! Jetzt ist sie verdiistert von
dem Turm, Seht ihr etwa den Himmel? Konnt ihr jemals
lachen? Ich muB den Turm aufbrechen, damit ihr wieder
Iachen konnt. Ich tue es fur euch, weil ich euch liebe. Sagte
ich euch das noch nicht?
Eine Frau: Sie ist schon! Und sie spricht wie ein Engel!
Ein Mann: Was wird dann viel anders sein? Wir werden
immer leiden.
Madame Legros: Er wird euch so gliicklich machen, der
Unschuldige! Er wird euch belohnen! Glaubt ihr denn, daB
134
Heinrich Mann » Madame Legros
er nicht reich ist ? Und schon ? Ein Unschuldiger ist so schon !
Du wirst ihn lieben, du da. (Beugt sicH zu einer Frau nieder:) IcK
sehe dich schon ihn herzen, mit deinen frechen Lippen. Nicht
du!
Legros: Sie hat den Verstand verloren! Sie sehen es doch,
meine Herren!
Stimmen: Ist denn Geld in dem Turm? Wenn sie weifi,
wie man ihn aufmacht . . . Sie hat recht, wir wollen die Ge-
fangenen befreien! Freiheit fur alle!
Eine gellende Stimme: Die Soldaten!
Madame Legros (schreit): Die Hascher! Lafit sie nicht
herein! Sie haben auch ihn in den Turm geworfen. Verjagt sie!
(Handgemenge im Hintergrund.)
Madame Legros: Verjagt sie! Tot et sie! (Sie springt hinunter
in das Gedrange:) Macht Platz, wir marschieren gegen die Ba-
stille! Der Unschuldige wird befreit! Mogen alle sterben, die
Soldaten, die frechen Reiter dort auf dem Platz, die herzlosen
Damen in ihren Sanften, die Morder!
Die Men ge: Nieder die Morder! Zur Bastille!
Madame Legros: Der Turm wird Blut speien! Das Blut
des Unschuldigen soil alle ersaufen ! (Sie ringt mit einem Soldaten.)
(Die Soldaten sind vorgedrungen, das Volk weicht und fliichtet.)
Der Soldat: Dies ist die Megare. Keine Furcht, Herr
Leutnant, ich halte sie.
Der Offizier: Gib acht, es scheint, sie wird ohnmachtig.
Nehmt die Gefangenen zwischen euch, und los, zur Wache!
Die V erwandte der Legros (kommt aus einem Versteck
hervor): Herr Legros, da haben Sie es, was Madame Legros
anrichtet. Ich habe schon gelacht.
Legros: Herr Offizier, ich bitte Sie um Verzeihung. Die
arme Kranke hier ist meine Frau.
Der Offiz ier: Dann kommen auch Sie mit zur Wache!
Legros: Ich bin ein geachteter Burger, mein Herr, der
Besitzer des Ladens zur Eiche des Konigs Rene.
Heinrich Mann * Madame Legros
135
Der Offizier: Ein geachteter Burger, (lessen Frau die
Menge zu Gewalttaten aufreizt? Das mochte ich sehen.
Vignon (aus dem Gasthof gegeniiber): Ich bezeuge es, Herr
Leutnant. Sie kennen mein Haus, es ist der Gasthof zum
weifien Pferd. Madame Legros war immer erne der ernsthaf-
testen Geschaftsfrauen des Viertels. So sehr man entriistet sein
muB, das Geschehene ist unbegreiflich.
Frauen (aus den Hausern): Unsere Nachbarin auf der Wache!
Es ware eine Schande fiir uns alle.
Legros: Wenn sie doch krank ist, mein Herr! Ich sage
Ihnen, daB sie ein totes Kind hatte, es sind kaum vierzehnTage.
Ihr ist eine Schwache im Kopf zuriickgeblieben.
Fan chon: Haben Sie Mitleid mit ihr, mein Herr!
Der Offizier: Und die andern Gefangenen? Ich kann
nicht die eine begiinstigen.
*
SIEBENTE SZENE.
Die Vorigen. Chevalier.
Chevalier: Herr Leutnant, ich habedie Ehre, mich Ihnen
vorzustellen . Ich bin der Chevalier d’Angelot.
Der Offizier: Die Ehre ist bei mir, mein Herr. Ich heiBe
Ramon.
Die Frauen: Ein Herr vom Hof!
Vignon: Man hat von ihm gehort. Er ist ein Freund der
Konigin.
Chevalier: Die Frau Grafin d’Orchat und einige Herren
haben dort hinten vom Platz her den Auftritt mit angesehen,
den diese Person veranlaBt hat. Die Frau Grafin ist lebhaft
interessiert. Auch der Herr Marquis von Launay war mit uns.
Sie kennen ihn, Herr Ramon?
Der Offizier: Ich habe die Ehre, den Herm Gouverneur
der Bastille zu kennen. Alle diese Herrschaften und auch Ihre
Person, Herr Chevalier, sind mir bekannt.
136
Heinrich Mann • Madame Legros
Chevalier: Dann werden Sie nicht zogern, meinem Er-
suchen zu willfahren und die Frau sogleich in Freiheitzusetzen.
Es liegen Staatsgriinde vor, die sich ihrer Verhaftung wider-
setzen.
Der Offizier: Ich gehorche, mein Herr. (Zu den Soldaten:)
Formiert euch ! Marsch : (Ab.)
(Die Gasse leert sicb.)
Legros: Wie soil ich Ihnen danken, mein Herr!
Chevalier: Indem Sie mir erlauben, meine Freunde in
Ihr Haus zu fiihren. Die Frau Grafin d'Orchat hat den Wunsch,
Ihre Frau kennen zu lemen.
Legros: Zuviel Ehre! Madame Legros, bedanke dich bei
dem Herrn.
Ch evalier (fiihrt Madame Legros bei der Hand in den Laden;
halblaut): Mufi ich Ihnen sagen, daB es vor allem mein eigener
Wunsch war, Sie zu sehen, Madame?
Madame Legros (erwacht aus ihrer Ermattung): Das Volk
hat mich nicht verstanden, und es ist schwach. Nun leidet der
Unschuldige noch immer.
Legros: Der Unschuldige! Ist sie nicht ein kleines Kind,
das nach einem verbotenen Spielzeug jammert ? . . . Verzeihen
Sie, mein Herr, ich sehe Kunden eintreten.
Chevalier: Man muB zugeben, Madame, dafi Ihr Gatte
Sie noch weniger versteht als das Volk. Und es ist doch nicht
schwer.
Madame Legros: Nicht wahr, mein Herr?
Chevalier: Es geniigt, Sie anzusehen. Die Revolte steht
Ihnen gut zu Gesicht, Madame Legros.
Heinrich Mann • Madame Legros
137
ACHTE SZENE.
Die Vorigen. Comtesse. Abbe.
Abbe (vor der Schwelle des Ladens): Mut, Madame.
Comtesse: Der Plan war doch kiihn, in die Hohle des Un-
geheuers einzudringen. Aber alles ist besser als die Langeweile.
Legros: Die Herrschaften wollen sich meine bescheidenen
Dienste gefallen lassen?
Comtesse: Danke, mein Herr. Sie sind der Gatte der
Frau, die so interessant scheint?
Legros: Ich bin der Strumpfwirker Legros, der Dame zu
dienen .
Abbe: Die Frau Grafin erlaubt Ihnen, ihr einen Stuhl an-
zubieten.
Legros (nimmt der Verwandten den Stuhl aus der Hand): Stelle
das Essen zum Feuer!
Verwandte (ab).
Abbe (zu Madame Legros): Die Frau Grafin und wir haben
dem interessanten Schauspiel beigewohnt, Madame.
Legros: Ich spreche der Frau Grafin und den Herren mein
Bedauern aus.
Abbe: Bnngen Sie vielmehr Ihren Dank dar. Die Frau
Grafin hat sich unterhalten.
Comtesse: Mehr als das: ich war hingerissen, entziickt.
Endlich habe ich eine Re volte gesehen.
Madame Legros: Dann werden Sie den Unschuldigen
zu befreien helfen, Madame! Ich wuBte es!
Comtesse (weicht zuriick): Wie Sie darauf losgehen!
Abbe (zu Madame Legros): MaBigen Sie sich, Madame. Sie
haben gesehen, wohin Gewaltsamkeiten fiihren.
MadameLegros: Els handelt sich um einen Unschuldigen!
Chevalier: Das sagen Sie.
Comtesse: Unschuldig oder nicht, seine Geschichte ist
spannend.
Madame Legros: Niemand kennt sie mehr, seit dreiund-
vierzig Jahren!
I sTi
L.J \ M
<
V
138
Heinrich Mann * Madame Legros
Comtesse: Bitte ! Ich weifi sie von Herrn de Launay selbst.
Chevalier: Der Herr Gouverneur, der gerade mit uns
war, hat sich beeilt, uns von den Schicksalen des Gefangenen
Latude zu unterrichten, — der iibrigens dafiir sorgt, dafi man
ihn nicht vergifit. Denn er hat zahlreiche Fluchtversuche ge-
macht. Freilich ist er jedesmal wieder ergriffen worden.
Madame Legros: Warum so viel Grausamkeit ? Was hat
er getan?
Legros: Keine indiskreten Fragen, Madame Legros!
Chevalier: Eines Morgens, als er sehr jung war —
Abbe: So jung wie Sie, Chevalier, und ohne sich so hoher
Gunst zu erfreuen.
Chevalier: Noch auch die Bedenken zu hegen, die I hr
Kleid verleiht, Herr Abbe.
Abbe: Mein Kleid! Wissen Sie wohl, daB ich mein Brevier
von meinem Lakaien lesen lasse?
Chevalier: Der junge Latude also fand einst auf seinem
Kopfkissen den liebenswiirdigen Gedanken, der Frau Marquise
von Pompadour eine Hollenmaschine zu schicken.
Abbe: Eine kleine, billige Hollenmaschine.
Comtesse: Mir ware sie noch immer zu groB gewesen.
Abbe: Reize, wie die Ihren, Madame, wird auch der ver-
derbteste Bosewicht nicht zerstoren wollen.
Chevalier: Latude wiirde Sie zum mindesten selbst ge-
warnt haben vor seinem Geschenk. Der Frau von Pompadour
schrieb er einen Brief, der sie auf die Gefahr aufmerksam machte,
und stellte sich ihr dann personlich vor, um seine Belohnung
in Empfang zu nehmen. Sein Ziel war ein Posten in ihrer Nahe.
Er war verliebt. Aber die Marquise hatte Zeit gehabt, die Hand-
schrift des Briefes mit der Aufschrift des Paketes zu vergleichen.
Es schien ihr bedenklich, einen so unternehmenden jungen
Mann als Sekretar anzustellen: sie schickte ihn in die Bastille.
Comtesse: Eine Hollenmaschine aus Liebe: ich weifi nicht,
ob ich widerstanden hatte!
Mad ame Legros: Sie hatten nicht gestraft, Madame, weil
man liebte!
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
139
Abbe (seufzt): Wer sagt Ihnen das.
Madame Legros: Sie hatten nicht eine Jugend abgebro-
chen! Hatten nicht in einem Augenblicke des Zornes verfiigt
iiber ein ganzes Leben!
Comtesse: Ich bin nicht grausam. Sie riihren mich, Ma-
dame. (Zu den Herren:) Zu denken, daB ich Furcht hatte. Sie hat
nichts Schreckliches, sie ist sogar wohlerzogen.
Abbe: In den Zeiten des Aberglaubens wiirde man gleich-
wohl einen Teufel aus ihr vertrieben haben.
Madame Legros: Es ist wider die Natur und als ob Gott
gestorben ware!
Chevalier (mit Ironie): Wir alle, Madame, sind wider die
Natur.
Abbe: Und als ob Gott gestorben ware.
Chevalier (wievorher): Sie vergessen, Madame, daB wir in
einer alten Ordnung leben, mit Rechten, Vorrechten und mit
Op fern.
Abbe: Sie vergiBt alles.
Madame Legros: Ich denke an den Unschuldigen, und
alle sollen an ihn denken!
Legros: Madame Legros, du fallst den Herren lastig. Danke
ihnen fur ihre giitigen Aufklarungen.
Abbe: Herr Legros, Sie haben eine merkwiirdige Frau.
Chevalier (wievorher): Wenn wir auf einer noch jungfrau-
hchen Erde am ersten Tage die Augen aufschliigen, dann viel-
leicht wiirden wir die Dinge so sehen, wie Madame Legros sie sieht .
Comtesse (seufzt): Es ware reizend . . . Meine Herren, es ist
ein Gliick, daB wir gekommen sind : ich werde mich nie mehr
langweilen. Wir haben einen Fund gemacht. Wir haben ein
schones Beispiel von Tugend gefunden. Chevalier, Sie miissen
die Konigin davon verstandigen.
Abbe: Da Sie sich iiber die Tugend mit der Konigin stets
verstandigen.
Comtesse: Madame Legros, ich verstehe Sie, denn ich bin
empfindsam wie Sie. Sagen Sie mir alles! Sie kennen denHerrn
Latude !
10 Vol. m/2
140
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros: Nein, Madame.
Comtesse: Er schreibt Ihnen. Sie haben den Leuten ge-
sagt, er sei reich, er sei schon. Sie wollten nicht, dafi eine andre
ihn liebt. Haben Sie ihn denn im Kerker besucht?
Madame Legros: Icb habe erst heute von ihm erfahren.
Hatte ich sonst bis heute leben konnen?
Comtesse: Wo ist sein Brief?
Madame Legros: Erist mir im Gedrange abhanden ge-
kommen.
Comtesse: Das ist es, was ich mir sagte. (Zu den Herren:)
Herr Latude hat dieser Kleinen niemals geschrieben. Sie ist
empfindsam, wie ich. Sie hat seinen traurigen Zustand im Geiste
geschaut. Sie war mit ihrer transzendenten Person bei ihm im
Kerker. Wie sie interessant ist!
Madame Legros: Ich verstehe Sie nicht, Madame, Sie
sind gelehrter als ich.
Comtesse: Ich mochte Ihnen helfen. Sie gefallen mir.
Ich begreife die Verirrungen, die aus Empfindsamkeit geschehen.
Madame Legros: Bedenken Sie, Madame, ein so langes
Leben des Jammers ! Die furchtbare Tiefe der feuchten Wande,
aus denen er nach einem menschlichen Herzen geschmachtet hat !
Comtesse: Sie sind dies Herz!
Chevalier: Auch mich bezaubert es. DieReize der Schuld
sind grofi, ich gestehe es. (Nahe zu Madame Legros :) Aber sie waren
nicht mehr vorhanden, begegneten wir nicht zuweilen der Un-
schuld.
Abbe: Ihre Galanterie, Chevalier, kommt zu spat. Von
diesem Herzen hat die Tugend Besitz ergriffen.
Comtesse: Sie miissen zu mir kommen, Madame Legros.
Sie miissen einer empfindsamen Gesellschaft Ihre Angelegen-
heit vortragen ! Versprechen Sie mir, dafi Sie kommen !
Madame Legros (eingeachuchtert): Ich fuhle mich nicht
wiirdig, Madame. Es ware eine Aufgabe, die mir Furcht macht.
Comtesse: Ich bxirge Ihnen fur ein Ihrer wiirdiges Pu-
blikum und fiir einen Empfang, der Ihren Verdiensten ent-
spricht.
A
Heinrich Mann * Madame Legros
Ml
Madame Legros: Was efwarten Sie von mir, Madame?
DaB ich wiederhole, was Sie schon wissen ? Sie sagen, daB Sie
das Gute wollen. Sie sind reich und machtig; die Herren sind
es auch. Wenn Sie die Last von mir nehmen und den Un-
schuldigen befreien wollen : ich wiinsche mir nur, in die Stille
zuriickzukehren .
Abbe: Im Gegenteil! Sie miissen sich zeigen, oder man
wird aufhoren, sich fur Sie zu interessieren.
Comtesse: Sie miissen die Sitten der schonen Welt er-
lernen. Nichts erreicht man ohne Kunst und Galanterie. Herr
Legros, predigen Sie Ihrer Frau Vernunft!
Legros: Die Frau Grafin ist sehr gnadig gegen dich, Ma-
dame Legros.
Madame Legros: Ich war bereit, ins Gefangnis zu gehen
fiir den Unschuldigen. Ja, ich ware fiir ihn gestorben. Dies aber :
wenn er es wiiBte, erwiirde denken, ichverhohne ihn. Ich kann
nicht, Madame.
Comtesse (fiiHrt das Lorgnon an die Augen) : Man sehe mir diese
kleine Wilde an . . . Wird sie wenigstens geruhen, mir zu ver-
sprechen, daB sie keiner anderen Einladung folgen will, bevor
sie bei mir war?
Legros : Verzeihen, Frau Grafin, wir sind einfache Leute . . .
Aber da Sie Madame Legros in Ihrem Hause zu sehen wiin-
schen, will ich Sie bitten, daB Sie zuerst versuchen, was das
unsere Ihnen bieten kann.
Comtesse: Ich bin nicht so stolz wie Madame Legros.
Legros: So werde ich es wagen, Ihnen einen Gascogner-
wein vorzusetzen, der mir von einem Vetter dort unten kommt.
Einen Bauemwein ; — denn die Bauern, Madame, sind unsere
Vettern, sogar die dort unten.
Comtesse (zu den Herren) : Diese Einladung ist bezaubernd
naiv.
Chevalier: Ich weiB nicht, ob sie so naiv gemeint ist, wie
sie klingt.
Comtesse: Wir werden ein Biirgerheim sehen, meine
Herren. Langst habe ich solch eine Idylle ertraumt.
1 42 Heinrich Mann * Madame Legros
Legros: Wenn die Herrschaften sich bemuhen wollen.
Comtesse
Abb6
Madame Legros (folgt langsam).
Chevalier (schlie&t vor ihr die Tur).
*
NEUNTE SZENE.
Madame Legros. Chevalier.
Chevalier: Madame, ich verspreche diskret zu sein, wenn
Sie mir schon jetzt verraten wollen, wann Sie im Hause der
Frau Grafin d’Orchat zu linden sein werden.
Madame Legros: Ich habe nicht gesagt, daB ich hingehen
werde, mein Herr.
Chevalier: Ich weifi: Sie sind zu klug, sogleich zuzusagen,
aber Sie sind erst recht zu klug, nicht hinzugehen.
Madame Legros: Warum zweifeln Sie an meinenWorten ?
Ch evalier: Ich sehe Ihre Handlungen: sie sind nicht wah-
lerisch — und werden es schwerlich sein.
Madame Legros: Es ist wahr: so Ungeheures ist ge~
schehen, dafi man wohl nicht wahlen darf.
Chevalier: Sehen Sie?
Madame Legros: Andere vermogen mehr als ich. Sie,
mein Herr, vermogen so viel mehr.
Chevalier: Siehaben nichts iiberhort. Ich soli dieKonigin
interessieren fiir Sie?
Madame Legros: Fur einen Unschuldigen ! Mein Herr,
ich flehe Sie an. Sie sind jung, wie sollten Sie nicht groB-
herzig sein.
Ch evalier: Madame Legros, Sie sind nicht gliicklich.
Madame Legros: Ich war es immer. Jetzt bin ich es
nicht mehr.
Chevalier: Ich begreife, daB in der Enge hier der Ehrgeiz
einer solchen Frau nicht lange seine Nahrung findet. Und man
hafit, was unerreichbar scheint.
(Ab mit Legros.)
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros: Wovon sprechen Sie? Ein Unschul-
diger darf nicht langer leiden. Es ist so einfach, da8 niemand,
der es erfahrt, daran zweifeln kann.
Ch evalier: Els ist so einfach, meinen Sie, im Namen eines
Unschuldigen die Leidenschaften aufzuregen, das Volk gegen
seine Herren zu schicken, uns selbst bei unserem Gewissen zu
packen und wehrlos zu machen. Verstehe ich Sie?
Madame Legros: Sie sind zu klug. Sie haben mich im
Zorn gesehen, und vielleicht war es Verzweiflung. Das ist vor-
iiber. Ich hasse niemand; ich liebe nur den Unschuldigen.
Chevalier: Sie sind bewundernswert, Madame Legros. Ich
halte Sie fahig, Ihren Hafi zu verleugnen, vor sich selbst sogar,
um uns durch Mitleid und Tugend beizukommen. IhreTranen
sollen denBoden lockern, den Ihre Wut nicht sprengen konnte.
Sie sind der geschickteste unserer Feinde. Ich ware geneigt,
Ihnen zu helfen, Ihren Aufstieg zu erleichtern, um Sie eines
Tages, entlarvt vor aller Welt, zu besiegen!
Madame Legros: Siewiirden nur die Unschuld besiegen,
Chevalier: Sagte ich besiegen? Das meine ich nicht. Sie
am Werk sehen, Sie heraufwachsen sehen, wie die Gefahr, —
die ich liebe, wie die Leidenschaft, — die in mir selbst ist. So
gefallt es mir. Ich gehe durch diese Stadt, die nach noch un-
vergossenem Blut riecht. Ich sauge den Dampf der Begierden
ein und das Gift der Geister. Gerechtigkeit, Vernunft und
Tugend: ich glaube nicht an sie und trage sie dennoch, ich,
den sie niederwerfen sollen, im eigenen Herzen I Taglich ziingelt
eine Revolte auf : ich genieBe den feindlichen Augenblick, in
dem ich atme. Denke, wie ich jung und verloren in diesen
Augenblick hineingeboren bin, worin alles, und sogar ich selbst,
auf meinen Untergang drangt, — und will in keinem andern
leben. Ich liebe meine Zeit, dies Fest des Hasses. Nie wufite
ich es so gut, wie heute, in der Gasse hier, als eine Frau nach
Blut schrie. War es nicht meins, wonach sie schrie? Sie soli
es haben ! du List wild und gefahrlich : ich liebe dich, und ich
will dich! (Packt sie an.)
1 44 Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros (ringt sich loa): RiihrenSie mich nichtanf
Wer darf mich anriihren, soiange der Unschuldige im Turm
sitzt! . . (Ruhiger:) Sie verdienen Mitleid, mein Herr. Es istwohl
sehr schwer, das Gute zu glauben und zu wollen, wenn man
so klug ist wie Sie. Tun Sie es dennoch. Aus Ihrer Sprache
hore ich, daB Ihr Herz sich danach sehnt.
Chevalier: Heuchlerinl
Madame Legros: Sie irren. Ich bin nur demiitig — und
darf es sein, weil ein Unschuldiger so viel mehr Unrecht er-
leidet, als mir je geschehen kann. Helfen Sie mir!
Chevalier: Sie bezwingen sich, denn Sie denken an die
Konigin.
Madame Legros: Sagen Sie es ihr, mein Herr, daB ein
Unschuldiger leidet!
Chevalier: Und daB Madame Legros seine Retterin ist.
Madame Legros: Nicht meinetwegen : — sagen Sie esum
der Konigin selbst willen. Sie konnen sich wahrhaft freuen
doch nur der Gunst einer Konigin, die keinen Unschuldigen
leiden lafit.
Chevalier: Esist nicht leicht, Sie zu iiberfiihren, Madame.
Wenn ich nun fiir das, was Sie wollen, meinen Preis stellte:
wie ich Sie kenne, wiirden Sie nein sagen und sich auf mein
Herz berufen.
Madame Legros (senktden Kopf).
Chevalier: Aber das niitztlhnen nichts: den Preis mtissen
Sie zahlen, und eines Tages werden Sie es tun. Ihr HaB wird
so lange anwachsen, bis Sie mir Ihre Liebe versprechen werden.
Madame Legros (sieht ihn an): So verspreche ich sie Ihnen
denn gleich jetzt.
Chevalier: Ist das Ernst?
Madame Legros: Helfen Sie mir, und ich gehore Ihnen,
— wenn Sie dann noch wollen werden . . . Denn bis dahin
werden Sie erkannt haben, daB ich, auch in den Armen eines
anderen, nur dem Unschuldigen gehoren wiirde.
*
Heinrich Mann * Madame Legros
145
ZEHNTE SZENE.
Die Vorigen. Comtesse. Abbe. Legros. Die Verwandte.
Comtesse: Ich habe ein Burgerheim gesehen! Die Leute
schlafen in richtigen Betten!
Abbe: Die Strohsacke verschwindenundmitihnen, gottlob,
die Religion.
Comtesse: Und am Feuer baben sie einen Kalbsbraten!
Leute, die einen Kalbsbraten am Feuer haben, wozu machen
die noch Revolten?
Abbe: Aus Philosophic, Madame : so wie Sie Schafer! n spie-
len, obwohl Sie Triiffeln essen.
Chevalier (zu Madame Legros): Wir aber machen aus einer
Re volte ein Schaferstiindchen .
Comtesse: Schaferin spielen ist schon so langweilig. Jetzt
soil man nach Hause und in das Nichts zuriickfallen. Wer noch
eine Revoke mitmachen konnte! (Zum Chevalier:) Sie haben ihr
zugeredet ?
Chevalier: Madame Legros sieht ein, daB der Triumph
der Unschuld einige Zugestandnisse wert ist.
Comtesse: Ich danke Ihnen. Jetzt gehe ich, um unsere
kuriose Entdeckung iiberall anzukiinden. Alles bei Ihnen, liebe
Legros, hat mich interessiert : Ihr Unschuldiger, Ihr zweites
Gesicht
Abbe: Ihr Kalbsbraten.
Comtesse: Alles.
Legros: Die Frau Grafin verzeihe, daB es nicht noch mehr
ist. Die Ehre solches Besuches sind wir nicht gewohnt.
Comtesse: Adieu. (Zum Chevalier:) War nun das sogemeint,
wie er es sagte? (Ab.)
Ch
Abbe
evalier
(Ab).
1 46 Heinrich Mann ♦ Madame Legros
• 0 m 0 ^:~ a 4* ^ ** ^ ^ + «* ^ ^ #_^ ^ 0 -T~ 0 0 ^ ^ + —~ + «• ^ + _r- + — +* -^r •* ^ ~ ^
ELFTE SZENE.
Madame Legros. Legros. Die Verwandte.
Verwandte: Wie liebenswiirdig! So betragen sich doch
nur die Herrschaften vom Hof!
Legros: Els sind Liebenswiirdigkeiten, auf die man gem
noch eine daraufsetzte. (Schlagt mit der Faust auf den Tisch.)
Verwandte: Man sieht, Herr Legros, daB sie niemals hinter
den Kulissen der Oper waren.
Legros: Trag lieber die Suppe auf den Tisch!
Verwandte: Man wird doch die schone Welt bewundern
diirfen. (Ab.)
Legros: Was denkst du, Madame Legros?
Madame Legros: Els ist gut, daft sie da waren; ich habe
viel gelernt.
Legros: Du hast gesehen, daft du dich nicht weiter be-
miihen darfst; bei denVornehmen noch weniger als beim Volk.
Madame Legros: Els ist wohl wahr: auch sie haben mich
nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, was geschehen
1st. Das Wort: ein Unschuldiger leidet, bedeutet den Menschen
nur so viel wie das Summen einer Fliege oder wie ein galantes
Gesprach. Ich hatte es nicht geglaubt.
Legros: Du hattest deinem Mann glauben sollen.
Madame Legros: Wir alle tragen eine so grofte Schuld :
sie aber sinnen nur, welches Vergniigen sie aus ihr gewinnen
konnen, ob Eitelkeit oder — ein anderes, — das ich nicht
nennen darf.
Legros: Du hast dich genug gequalt: komm essen!
Madame Legros: Dazu hab’ ich nicht Zeit. Werde ich je
wieder Zeit haben? Begreife doch, lieber Mann: ich habe nun
erfahren wieviel zu tun und wie weit der Weg ist. Zu alien
mufi ich nun gehen, durch die Stadt, so groft sie ist und noch
weiter, — muB ihnen erklaren, worauf es ankommt, muB ihre
Kopfe, alle voll unniitzer Dinge, die ihnen wichtig erscheinen,
rein und hell machen mit meinen Worten, bis sie es wissen,
worauf es ankommt: bis sie es wissen!
Heinrich Mann * Madame Legros 1 47
L e g r o s : Sie halt sich kaum aufrecht ! Du sprichst von einem
weiten Weg? Nicht drei Schritte kannst du gehen! Ich lasse
dich nicht fort!
Madame Legros (auf der Schwelle) : Du wirst mich lassen,
denn du siehst wohl, daB es mir auferlegt ist. Ich bin nicht
schwach. Ich weifi trotz allem, daB die Menschen sich sehnen
nach dem Unschuldigen ! Alle haben dasselbe Herz, und ich
brauche nur ihre Laster und ihren Hohn davon wegzuziehen
wie einen Vorhang, dann werden sie ihn erkennen, den Un-
schuldigen, und in ihm sich selbst! (Ab.)
(Vorhang)
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
ZWEITER AKT
Garten der Comte** e d'Orchat. Links hohe Bosketts. Davor ein Tisch mit
Sesseln. Ein Gitter mit vergoldeten Lanzen und Wappenschildern schlieBt
hi n ten und rechts den Garten. Im Winkel ein groBes stein erne* Tor. DrauBen
eine Wiese, und Volk, das wahrend des ganzen Aktes durch das Gitter spiht,
die Hande um die Gitterstabe. Ein groBer, goldstrotzender Portier ist immer
beschaftigt, die Leute zu verjagen.
ERSTE SZENE.
Marqu 1 S e (im Rollstuhl und halb verdeckt vom Boskett). Ein L. a k a 1
(hintcr ihr). Comtesse (sitzt am Tisch). Abbe. Baron (stehen).
Zwei Lakaien (servieren Umonade).
Comtesse (zum Baron): Nur ein Glas Umonade, mein Ueber,
eine Minute Schatten, und ich gebe Ihnen Revanche . . . Ma-
dame de Sarcle, einen Ballspieler wie Herrn de Clairvaux gibt
es nicht wieder. Freilich, mit ernsten Dingen darf man ihn
nicht bemiihen. Die Angelegenheit dieses Unschuldigen laBt
ihn durchaus gleichgiiltig. Dafiir ist mein kleiner d’Angelot zu
brauchen. Er hat mir Eintritt in die Bastille verschafft, zu dem
Unschuldigen.
Abbe: Madame d’Orchat ist die erste und einzige Dame in
Paris, die ihn gesehen hat.
Marquise: Und was haben Sie gesehen?
Comtesse: Es roch bei dem Unschuldigen wie in einem
Kaninchenstall.
M a r q u i s e : Da Sie zuweilen auch Schaferin sind, ist dieser
Geruch Ihnen nicht unbekannt.
Abbe: Madame d’Orchat hat mit bewundernswerter Bered-
samkeit dem Unschuldigen ihre schonen Empfindungen gezeigt.
Heinrich Mann ♦ Madame Legros 1 49
Baron: Was ein Unschuldiger nicht alles zu sehen be-
kommt. Man mochte ihn beneiden . . . Und wie sah er aus?
Comtesse: Fragen Sie nicht danach!
Baron: Was sagte er?
Abbe: Sie verstehen, Clairvaux, er empfangt nicht alle Tage
Grafinnen.
Baron: Genug, es schei nt eine Enttauschung gewesen zu sein.
Comtesse: Man mii6te ihn herrichten, man miiBte ihn
zahmen. Es ware ein Traum, ihn hier einer Gesellschaft vor-
zufiihren. Bedenken Sie, ein Unschuldiger!
Abbe: Es ware ein Triumph.
Comtesse: Herr de Launay, der Gouverneur der Bastille,
ist nicht galant. Er will ihn mir nicht leihen.
Marquise: So unschuldig ist niemand, daB man ihn dafiir
feiern miiBte.
Abbe: Und die dreiundvierzig Jahre des Leidens, Mar-
quise?
M a r q u i s e : Die gehoren Gott. Sie haben nicht das Recht,
daran zu riihren.
Comtesse: Sie sind streng, Madame, — undwenn ich es
sagen darf, Sie verstehen nicht mehr alles, was wir fiihlen.
Marquise: Zu meiner Zeit verstanden wir, daB das Leiden
eine Gnade ist, die uns zu Auserwahlten macht.
Comtesse: Man soil es lindern! Man soli es abschaffen!
Sie sprechen nach der alten Mode, Madame.
Abbe (leise): Man wiirde nicht glauben, daB auch sie einmal
sich ganz gut amiisiert hat.
Marquise: Ich bin alt, aber das hat den Vorzug, daB ich
grade so lange gelebt habe wie der, den Sie den Unschuldigen
nennen, und ihn daher kenne, besser, glauben Sie mir, als Sie,
die Sie ihn gesehen haben.
Abb £ (wie vorher): Sie verliert den Zusammenhang.
Baron: Wenn wir Ball spielen gingen.
Comtesse: Madame, die Herren zwingen mich, weiterzu-
spielen.
M arquise: Lassen Sie mich ruhig allein.
150
Heinrich Mann • Madame Legros
Comtesse: Aber man soli mich rufen, (zu den Lakaien): so-
bald Madame Legros kommt. (Zur Marquise:) Das istdieseFrauaus
dem Volk, der der Unschuldigegeschrieben hat. Vielmehr, es 1st
eln Zufall. Aber sie geht umher und spricht von nichts anderem.
Abbe: Wer nicht zufrieden 1st, ist ihr Mann.
Baron: Ich ware es auch nicht.
Comtesse: Sie 1st sehr riihrend. Sie spricht Unbelcannte
auf der Strafie an, um Sympathien fiir den Unschuldigen an-
zuwerben. Sie wartet unermiidlich in Vorzimmern. Hat sie
nicht neulich den Wagen des Prinzen von Conti angehalten?
Baron : Das tun auch die Opernmadchen, und wahrschein-
Iich mit mehr Erfolg.
Comtesse: Hier wird sie Erfolg haben! Eine Sensation!
Der Chevalier d’Angelot wird sie uns herbringen. Den Un-
schuldigen kann ich nicht haben. Aber ich habe Madame Legros.
Abbe: Seine Prophetin.
Marquise: Wir lieBen uns schon immer Komodianten
kommen.
Abbe fl else): Nicht sehr liebenswiirdig. Aber so waren die
alten, frommen Zeiten.
Comtesse: Auf Wiedersehen, Madame, Meine Herren . . .
Comtesse, Abbe, Baron (Hnb ab).
*
ZWEITE SZENE.
Marquise. Dann Madame Legros. Chevalier.
Mar quise: Baptiste, lege mir das Kissen zurecht. Schiebe
mich tiefer in das Boskett. Zu meiner Zeit richtete man seinen
Garten nicht so ein, daB man dem Volk ein Schauspiel bot.
Madame Legros: Wir sindangelangt? Ich bin mtide. Ich
habe zu so vielen Menschen gesprochen, daB ich keine Ge-
sichter mehr sehe und meine Stimme kaum hore. (So bald *ie den
Tursteher sieht .) Mein Herr, man sagt mir, dies ist der Garten
der Frau Grafin d’Orchat.
Heinrich Mann ♦ Madame Legros 1 5 1
Der Tiirsteher: Madame . . . Herr Chevalier, die Frau
Grafin erscheint sofort.
Madame Legros: Ich komme nicht aus nichtigen Griin-
den, mein Herr. Es handelt sich um ein ungeheures Unrecht.
Ch evalier: Madame, ich bitte Sie, Sie verlieren Ihre Zeit.
Madame Legros: Niemals. Jeder Mensch muB es er-
fahren. Denn jeder Mensch ist mitschuldig, daB es geschehen
konnte. Ein Unschuldiger, mein Herr, der dreiundvierzig Jahre
im Kerker verbringt!
Der Tiirsteher: Ich hore mit Bedauern da von.
Madame Legros: Seine Qual in all der Zeit war so groB,
daB wir uns schamen miissen, mein Herr, gelacht und geatmet
zu haben.
Ch evalier (gibt dem Tiirsteher ein Trinkgeld).
Der Tiirsteher: Ich schame mich, Madame.
Madame Legros (aufdie beiden Lakaien zu): Und Sie, meine
Herren, Sie werden sich nicht weigern, ein Unrecht gut zu-
machen, das Ihre Kinder Ihnen vorwerfen wiirden! Es handelt
sich um etwas Ungeheures, das Verbrechen von Generationen,
die Erbsiinde . . .
Ei n Lakai : Madame, das ist fur die Frau Grafin bestimmt.
Ich werde die Frau Grafin rufen. (Ab.)
Madame Legros (zu dem Chevalier): Aber Sie, mein Herr!
Sie wenigstens konnen es nicht ertragen, daB ein so schmach-
volles Leiden die Welt entehrt. Unter unsern FiiBen hier, wenn
wir uns regen, stohnt ein lebendig Begrabener, dem wir wehe
tun. Er ist immer mit uns, iiberall . . .
Chevalier: Madame Legros, ich bin der Chevalier d’An-
gelot.
Madame Legros: Ach ja, ich vergaB . . .
Chevalier: Sie vergaBen, daB auch ich das alles schonaus-
wendig weiB. Seit Wochen hore ich Ihnen zu, wie Sie es her-
sagen, in den Salons und auf den offentlichen Platzen. Ich
habe mich schon gefragt, ob Sie es nicht allmahlich glauben :
ja, ich selbst hatte Ihnen fast geglaubt.
Madame Legros: HorenSieauf IhrHerz! HelfenSiemir!
152 Heinrich Mann * Madame Legros
Chevalier: Dann sage ich mir, dafi Sie miteiner Ausdauer,
die ich bewundern mu8, Zwecke verfolgen, so weittragend, dafi
ich sie nur ahnen kann.
Madame Legros: Einen Unschuldigen zu retten!
Ch evalier: Zuletzt binichdoch nicht der Narr, anmeinem
ersten Urteil zu zweifeln. Sie hassen uns, — und da Sie sich
iiberzeugen mufiten, dafi Sie uns im Sturm nicht iiberwaltigen
konnen, denken Sie an uns emporzuklettem. Schon sind Sie
bis hierher gelangt. Wo werden Sie enden? Sie waren, wenn
wir einen anderen Monarchen hatten, geschaffen fiir eine jener
Matressen, die den Hafi und die Gier des Volkes bis in das
konigliche Bett walzen, zusammen mit ihrem hiibschen Fleisch.
Madame Legros: Sie beschimpfen mich — und sich selbst.
Chevalier: Ich gebe Ihnen zu, dafi Sie noch mehr wagen
und daransetzen, als ein Finanzmann, der mit einer Hungersnot
spekuliert. Bei Ihnen zu Hause geht es drunter und driiber.
Geschaft und Ehe, Sie haben alles hinter sich gelassen.
Madame Legros: Mich verliefi alles, seit ich erkannthabe,
was das Wichtigste ist.
Chevalier: Und taglich kann eine der Auf ruhr szenen , die
Sie veranstalten, Sie an den Galgen bringen. Das ist viel fiir ein
Wesen von so zarten Reizen.
Madame Legros: Ich fiirchte nichts mehr!
Chevalier: Und natiirlich auch nicht die Bedmgung, unter
der ich Ihr Verbiindeter geworden bin.
Madame Legros: Nichts.
Chevalier: Wenn ich Sie ansehe: diese gefahrliche Feindm
mit dem rosigen Schimmer unter den gesenkten Wimpern —
Engel und Henker — : ich weifi nicht, ob ich ihr die Knie kiissen
mochte oder den Profofi rufen !
Mad ame Legros: Sie werden noch erfahren, dafi dieses
geheimnisvolle Geschopf nichts war, nichts, als die Stimme
eines Unschuldigen.
Chevalier: Vielleicht werde ich es niemals erfahren, — und
eben das wird mein Entziicken gewesen sein. Ihr Unschuldiger,
bei meinem Gluck, er soil aus dem Turm, — ob ich damit dem
Heinrich Mann » Madame Legros 1 53
Himmel einen Gefallen tue oder der Holle. Sie wissen noch
nicht, was heute geschehen wird. Fiir die Person, die hierher
kommen wird, miissen Sie Ihre ganze Kunst aufbieten.
Mad ame Legros: So machtig ist sie?
Chevalier: DaB ich diese Person herbringe, ist so viel, als
kiiBte ich Ihnen die Knie. Aber im gleichen Augenblick habe
ich schon wieder Lust, den ProfoB zu rufen.
Madame Legros: Ich werde Sie verehren wie einen Hei-
ligen! Sie helfen zu einem Werk, mein Herr, das alien Men-
schen die verlorene Unschuld wiedergeben wird. Ja, der Un-
schuldige wird unter uns sein, und mit ihm der Himmel selbst I
Marquise: Wir liefien uns auch friiher Schauspieler kommen.
Chevalier (hin zuihr): Madame, verzeihen Sie, ichbemerkte
Sie nicht.
Marquise: Es stort Sie doch nicht, daB ich Ihnen zusah?
Ich sah das so oft.
Chevalier,: Schwerlich sahen Sie schon einmal eine Ma-
dame Legros. (Links «b.)
*
DRITTE SZENE.
Madame Legros: Madame, ich bin gekommen, Sie an
einen Unschuldigen zu erinnem. Sie haben ihn vergessen, alle
haben ihn vergessen, und doch ist die Bastille so groB, man
sieht sie von uberall.
Marquise: Friiher bestimmten wir, was gespielt werden sollte.
Madame Legros: Madame . . .
Marquise: Schweigen Sie, schamlose Komodiantin! Sie
tragen Ihre Gefiihle zur Schau, wie andre ihren entbloBten
Busen. Sie haben IhreSeele abgerichtet und konnen dieStimme
davon iiberfliessen lassen, sobald ein Boskett nicht ganz leer ist,
sondem eine alte Frau darin sitzt. Ein Unschuldiger und drei-
undvierzig Jahre einsamer Qual : haben Sie es einmal empfun-
den? Um so schlimmer, denn nun haben Sie es mifibraucht,
und es ist eine Rolle geworden, die Sie konnen.
v,v,::
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros (bedeckt das Gesicht): Das ist furchtbar.
Ich bin ganz leer, ganz schlecht. Man soil mich fortschaffen . . .
Einmal war ich doch erfiillt und wahr. Es war ein grofier
Augenblick, ich sah ihn, im offenen Himmel, er sprach mitmir,
und ich teilte es allem Volk mit. Aber sie verstanden mich
nicht. Wie wenige haben mich seitdem verstanden, und es
sind doch Tausende, die es wissen miissen . . . Aber auch ich
kann nicht in jeder Stunde fxihlen, was so ungeheuer ist; —
und so heiCt es denn schwindeln und schwatzen. Ich muB
doch handeln, damit der Unschuldige gerettet wird. Und vom
Handeln bin ich nun wohl schlecht geworden.
Marquise (milder): Haben Sie denn bedacht, was das sagen
will, einen Menschen retten ? Der, den Sie den Unschuldigen
nennen, ist alt geworden, ohne daB Sie von ihm wuBten, und
nun wollen Sie ihn retten.
Madame Legros: Aber nun weiB ich, wie schrecklich
sein Leben war, und daB er es nicht verdient hat!
Marquise: Verdienst ist ein hochmiitiges Wort. Sehen Sie
mich an! Sie wissen von mir nicht mehr als von jenem. Wol-
len Sie sagen, daB ich es nicht verdient hatte, mein Leben hin-
ter Mauern zu verbringen? Es hatte mir geschehen konnen, —
denn eine von uns Zwillingsschwestem muBte ins Kloster, weil
wir nicht reich genug waren fur unsern groBen Namen. Es
traf nicht mich, es traf meine Schwester, die besser war als ich.
Wenn ich jetzt zuriickdenke, weiB ich warum : Gott wollte sie
belohnen und bewahren.
Madame Legros: Haben Sie denn nicht geliebt?
Marquise: Lieben Sie Gott!
Madame Legros: Gott braucht mich nicht. Wen braucht
er, er hat den Unschuldigen vergessen, wie alle andern ihn ver-
gessen haben. Ich aber bin da, mein Herz schlagt: es schlagt
so stark, daB Mauern davon stiirzen sollen !
Heinrich Mann * Madame Legros
155
VIERTE SZENE.
Die Vorigen. Comtesse. Chevalier. Abbe. Baron.
Comtesse: Die Herren liefien mich nicht friiher los vom
Ballspiel.
Abbe: Der Unschuldige wartet schon so lange.
Comtesse: Mit diesen Dingen scherzt man nicht.
Ch evalier: Wenigstens nicht in Gegenwart einer Frau aus
dem Volk.
Baron: Der Chevalier hat Furcht.
Chevalier: Nein, aber Respekt vor der Leidenschaft.
Comtesse (umarmt und kusst Madame Legros): Liebe Legros,
wir wollen Freundinnen sein. Ihr Unschuldiger gefallt mirzum
Entziicken. Ware nur der Gouvemeur galanter —
Madame Legros: Ich verstehe Sie nicht, Madame. Es
fallen hier so viele geistreiche Anspielungen.
Comtesse: Ich erwarte Gaste. Sie werden nett sein, nicht
wahr? Sie werden alien Ihre Geschichte erzahlen? . . . Lassen
Sie, ich weiss, Sie tun alles aus wahrer Begeisterung fiir die
Tdgend. Und auch ich, als ich nun dem Unschuldigen gegen-
iiber stand, ich mufite mir die Augen bedecken.
Abbe: Und die Nase zuhalten.
Comtesse: Sagen Sie mir, wie sieht Ihr Unschuldiger aus?
Sie sahen ihn mit dem zweiten Gesicht. Ich, die ich ihn ein-
fach mit dem ersten gesehen habe, werde Ihnen sagen, ob Sie
Talent haben.
Madame Legros: Sie konnen ihn doch nicht gesehen
haben. Der Turm ist unermeBIich dick, und der Unschuldige
wartet nur auf mich.
Comtesse: WeiB er denn von Ihnen?
Madame Legros: Ich arbeite seit Wochen. Ich wiihle,
erschopfe mich, ich luge, ja, ich treibe ein Spiel . . . Ach, was
sage ich! Ich leide, leide. Ich bin nicht zu ihm gedrungen.
Menschen sind da vor, tausend und abertausend Menschen,
die ich alle gewinnen muB, alle riihren und besiegen muB, bis
11 Vol. m/2
156 Heinrich Mann * Madame Legros
ich zu ihm dringen kann, der auf mich wartet . . . Und Sie,
sagen Sie, haben ihn gesehen. (Will lachen.)
Comtesse: So ist es. Sie vergessen, meine kleine Legros,
dafi es Unterschiede gibt. Ein Wort an den Gouverneur, —
und ich ward zu ihm gefiihrt. Er fiel mir zu Fiifien, er kiifite
sie mir. Es war schrecklich und reizend, wie seine Kette dabei
rasselte. Und der Unschuldige schwor mir, dafi er bis an sein
Lebensende niemandenliebenund verehren werde, als nurmich.
Madame Legros: Sie liigen!
Comtesse: Sie vergessen sich.
Madame Legros: Sie liigen und sind voll Tiicke. Sie
haben ihn nicht gesehen und wissen nicht, dafi sein Gesicht
glanzt, wie die Sonne. Wenn Sie seine Stimme je gehort hat-
ten, konnten Sie nicht mehr kleinlich und tiickisch sein ! Aber
nur ich habe sie vernommen. Nur mich ruft er. Nur mich
liebt er. Nur ich, verstehen Sie, nur ich habe ein Recht auf ihn !
Co mtesse: Wie diese naive Eifersucht mich amiisiert.
Abbe: Man sollte es nicht zu weit kommen lassen mit
solchen Leuten.
(Bewegung im Volk, drauBen am Gitter.)
Madame Legros: Eifersiichtig sind Sie nicht. Ihr Che-
valier stellt mir nach, wie er mag. Aber das ist nicht dasselbe,
wie wenn Sie mir den Unschuldigen nehmen.
Chevalier: Allerdings. Es gibt Unterschiede zwischen
den beiden Objekten.
Madame Legros: Der ist meinl Ich habe alles fiir ihn
hingegeben: Mann, Haus, Frieden. Er warmt mich, er nahrt
mich, und das ganze Leben, ihr sogar, die ihr so schlecht seid,
scheint mir'wieder gut, wenn er mich ansieht. Hiiten Sie sich,
zu sagen, dafi Sie bei ihm waren!
Comtesse: Estut mir leid fiir Sie, meine Kleine, ich war
bei ihm.
Mad ame Legros: Schmutzfetzen ! (Will auf sie los.)
Ch e valier, Abbe, Baron (d*zwischen).
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Heinrich Mann * Madame Legros
157
Comtesse: 0, liebe Freunde, was fur eine Emotion! Das
war nicht einmal vorgesehen! Dafi unsere Freunde nicht zu-
gegen waren!
Abbe: Sie waren tapfer, Madame. Jetzt aber sollte man
die Frau entfemen.
Ch e val i e r (zur Comtesse): Es liegt etwas vor, ich muB Ihnen
spater etwas mitteilen.
Baron: Ich, der ich von soichen Staatssachen nichts ver-
stehe, mochte wissen, wie man weiterspielt.
Chevalier: Staatssachen?
Abbe: Das ist sein Wort fur alles, was nicht Ballspiel ist.
Marquise: Sie haben unrecht, Sylvaine! Auch ich hatte
unrecht. Wir haben uns keine Schauspielerin eingeladen. (Zu
Madame Legros:) Geben Sie mir Ihre Hand, Kind. Das bebt
und drangt. Solche Haut und solches Blut hatte meine Schwe-
ster am Tage, als sie den Schleier nahm . . . Sie irren sich,
Kind. Sie lieben nicht einen Menschen, der leidet : Sie heben
Gott.
Madame Legros: Ich liebe den Menschen!
Marquise: Unsere sturmischen Herzen, Sylvaine, es
scheint, ihr habt sie nicht geerbt; es scheint, sie sind auf das
Volk iibergegangen. (Zu Mndame Legros:) Lafi dich ansehen,
meine Schwester.
Mad ame Legros (kniet hin).
Comtesse: Was hat sie?
Abb£: Sie verliert schon wieder den Kopf.
Marquise: Ich mochte allein sein.
Comtesse: Im Hause wiirden Sie spater unsere Gaste
treff en .
Marquise: So lassen Sie mich in Ihre Kapelle fahren,
Comtesse (geleitet die Marquise).
Chevalier, Abbe (gehen hinterher).
*
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
fOnfte szene.
Madame Legros. Baron.
Ba ron (vcrlafit leise die anderen, kehrt zu Madame Legros zuriick):
Madame.
Madame Legros (schrickt auf, erhebt sich): Mem Herr.
Baron (ernst): Ich bin der fanatische Ballspieler, ebenso
wie Sie die unermiidliche Menschenfreundin sind. 1st es Ihnen
recht, so nehmen wir jetzt einmal beide die Maske ab.
Madame Legros: Ich habe keine abzunehmen, mein Herr.
Baron: Behalten Sie sie also auf. Es kommt einzig darauf
an, da 6 Sie mich genau verstehen. Ich sage Ihnen zuerst etwas
Freudiges. Sie werden hier der Konigin begegnen . . . Sie
haben nicht verstanden.
Madame Legros: Es freut mich, mein Herr.
Baron: Sie erschrecken nicht?
Madame Legros: Friiher ware ich sehr erschrocken, mein
Herr. Verzeihen Sie, daB eine Konigin mich jetzt nicht mehr
erschreckt.
Baron: Sie begreifen, welche Vorteile Sie aus diesem Zu-
sammentreffen ziehen konnen.
Madame Legros: Ah! Es ist der Chevalier. Das war
es, was er vorhatte! Er ist gut, ich wuBte es. Alle sind nur
aus Irrtum bose.
Baron: Der Chevalier mag Griinde haben, Ihnen gefallig
zu sein . . . Aber seine eigentliche Absicht, wenn er die Koni-
gin heute hierherbringt, liegt doch auf einem andern Gebiet.
Er hat hier mit der Konigin eine politische Zusammenkunft,
die er anderswo nicht haben konnte, weil wir ihn iiberwachen.
Madame Legros: Wer sind Sie?
Baron: Der Beauftragte jemandes, der der Konigin miB-
traut.
Mad ame Legros: Aber sie kommt her! Sie will mich
sehen ! Sie wird mir helfen !
Baron: Sie werden wohl nie begreifen, daB die Welt sich
nicht um Sie und Ihren Unschuldigen dreht. Auf diesem
Heinrich Mann * Madame Legros
159
Rasen hier wird nichts anderes gesonnen und getrachtet, den-
ken Sie. Es ist gerade so, als wollte ich mir einbilden, dafi
hier nur Ball gespielt wird.
Madame Legros: Machen Sie, daB es so ist! Ichmache,
dafi alle, in den Gassen, Palasten, Dachkammern und bis in
die Gosse und bis zum Thron, nur das eine noch sehen, nur
von dem einen noch beklommen sind, nur das eine noch wol-
len und ersehnen! . . Hindern Sie mich, wenn Sie konnen!
Baron: Ich habe kein Interesse, Sie zu hindern, wenn Sie
mir in einer unbedeutenden Sache ein wenig entgegenkom-
men ... O, es ist nicht das, was der Chevalier von Ihnen
verlangt . . . Ich wiinsche einen Namen zu wissen. Nichts
weiter als einen Namen, der im Gesprach zwischen der Koni-
gin und dem Chevalier fallen wird.
Madame Legros: Wer sind Sie?
Baron: Nur ein Neugieriger. Zwischen der Konigin und
dem Chevalier wird ein Name fallen, der Name eines oster-
reichischen Agenten, den die Konigin noch nicht kennt, der
in der Menge der distinguierten Fremden ankommen soil, und
dem sie unauffallig sich zu nahern denkt. Wir wiinschen es
zu verhindern ; — und von Ihnen, Madame Legros, die Sie
allein zugegen sein werden, erwarten wir den Namen, um
dessentwillen die Konigin herkommt.
Madame Legros: Sie kommt doch, weil es sogar schon
zu ihr gedrungen ist, dafi ein Unschuldiger leidet! Mein Herr,
auch Sie werden mir helfen. Sie sind wie der Chevalier und
die andern. Jeder glaubt, er will nur seine Begierden stillen,
und zuletzt merkt er, dafi ihm einzig am Herzen liegt, das
grofie Unrecht von sich abzuladen.
Baron: Sie verstehen, es einen glauben zu machen. Man
mufi zugeben, dafi Sie kein Mittel verschmahen. Sie haben
die Comtesse, die Marquise und den Chevalier, jeden auf
seine Art, fur Ihre Angelegenheit zu interessieren gewufit.
Wer Ihnen zusieht, ist versucht zu glauben, dafi Sie sich gut,
allzu gut auf die Laster und die Chimaren der Menschen ver-
stehen .
160
Heinrich Mann * Madame Legros
Madame Legros: Ich war nock nickt so, als meine groBe
Aufgabe begann. Aber ich habe die Menschen seitdem ein
wenig kennen gelernt. Man kann ihre Schlechtigkeiten nicht
abschaffen, man kann sie nur liebkosen, bis es Tugenden wer-
den. Das Gute in ihnen schamt sick, man muB sie zur Ziigel-
losigkeit der Gilte verfiikren.
Baron: Madame Legros, Sie sind sehr gefahrlich. Sie sind
eine Kurtisane der Tugend.
Madame Legros: Ich weiB wokl, ich bin unwiirdig, daB
so Grofies durck mick gescheke.
Comtesse und Chevalier (kommen von links).
Che V a 1 1 e r (spricht leise, legt den Finger auf die Lippen).
Comtesse (erschrickt, verneigt sich unwillkurlich).
Baron: Jetzt sagt er es ihr. Sie seken, wir kaben keine
Zeit zu verlieren. Sie werden den Namen erlauscken, Madame
Legros, und ihn mir sagen.
Madame Legros: Welchen Namen?
Verlangen Sie
dock, bitte, nickt, mein Herr, ich solle dem Chevalier schaden.
Er ist so gut.
Baron: Macken wir es kurz! Man kommt. Ikr Unschul-
diger ist verloren, wenn Sie mir nickt gehorchen. Ich bin
uberzeugt, dass Sie an der Konigin alle Ikre Verfiikrungskunst,
alle Laster der Unschuld erproben werden. Aber es wird ver-
gebens sein. Wir kaben Wege, um auck die edelsten Wiinsche
der Konigin unwirksam zu macken.
Madame Legros: Sie werden es nickt tun, mein Herr!
Sie werden nickt ein Verbrecken verlangern! Was konnten Sie
denn bezwecken, das wichtiger ware, als die Rettung eines
Unsckuldigen!
Baron: Keine Deklamationen ! Sie werden mir den Namen
sagen?
Madame Legros: Ick soil verraten ! Ich soil den Che-
valier verraten, der mir hilft, mein Werk zu tun und meiner
grofien Schuld ledig zu werden!
Baron: Er wird es nie erfahren; er ahnt nickt, wer ick
bin. Ick werde den Namen bekommen?
Heinrich Mann • Madame Legros
161
Madame Legros: ich kann nicht . . . Man wird sich
an ihm rachen?
Baron: Ich will Ihnen nicht verhehlen, daB seine Frei-
heit gefahrdet ist. Aber dafiir haben Sie den Unschuldigen.
Mad ame Legros: Ich kann nicht.
Baron: Dann ist Ihre Sache verloren.
Madame Legros: Ich luge schon. Ich spiele schon Ko-
mo lie. Ich habe schon meinen Leib als Preis versprochen. Ich
werde auch noch verraten ?
Baron: Ihr Wort!
Madame Legros: Ja.
*
SECHSTE SZENE.
Die Vorigen. Comtesse. Chevalier. Abbe.
Comtesse: Niemand soil es sehen? Sie machen mich
krank vor Arger, Chevalier.
Ch evalier: Ich bin untrostlich, aber es ist der Wille der
Konigin. Sie will unerkannt bleiben und nur mit Madame
Legros reden. Ich werde zugegen sein. Ihre Caste, Madame,
miissen den Garten vermeiden.
Baron (zur Comtesse): Diese Madame Legros ist von einer
Weltfremdheit. Stellen Sie sich vor, daB sie alien Emstes glaubt,
hier seien nur schlechte und listige Menschen.
Ch evalier (zu Madame Legros): Die Person, die ich Ihnen
ankundigte, wird sogleich erscheinen. Es ist eine Fremde, und
dennoch hat sie groBen EinfluB.
Madame Legros: Ich bin (stockt) zu allem bereit, um ihn
fiir mich zu gewinnen.
Ch evalier: Sie wird von niemandem hier begriiBt werden
und wird verschwinden, ohne daB man ihr folgen darf. Sie
diirfen niemals versuchen, sie wiederzuerkennen. Gehen Sie
auf diese Bedingung ein ?
Madame Legros: Auf alle.
162
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
Ch evalier (gibt leise dem Tiirhiiter einc Weisung, zieht sich nach
links zuriick).
Madame Legros (steht allein in der Mitte).
SIEBENTE SZENE.
Madame Legros. Die Konigin. Chevalier. Madame Crozet.
Spater Legros. Die Verwandte.
Konigin (dunkler Seiden mantel mit Kapuze, tritt rasch ein).
Madame Crozet (bleibt beim Tor stehen).
Com tesse
Abb*
Baron
Oinks seitwSrts, verdeckt von den Bosketts, machen tiefe
Verbeugungen, verschwinden lautlos).
Konigin (mustert unzufrieden Madame Legros, sieht von ihr weg):
Sind Sie da, Chevalier?
Chevalier (tritt vor, verbeugt sich leicht): Madame, icherwarte
Ihre Befehle.
Konigin: Die Person , in deren I nteresse Sie mir gesprochen
haben ?
Ch
evalier: Hier steht sie, Madame.
Konigin (erhebt das Lorgnon): Wirklich, ich hatte sie sehen
sollen, sie steht grade in der Sonne. Madame Crozet, hat man
mir vielleicht zeigen wollen, daB diese Person jung ist ? (Sie zieht
ihre Kapuze tiefer herunter.)
Ch evalier Ocise zu Madame Legros): Schnell treten sie m den
Schatten !
Konigin: Ubrigens hat sie die eingedriickte Nase, die bei
dem gemeinen Volk hier iiblich ist. Natiirlich, auch mit solcher
Nase ist man einmal jung. (Zum Chevalier, leise:) Sagen Sie mir
zuerst die Hauptsache. Sie wissen den Namen?
Chevalier (flustert).
Baron (erscheint hinter dem Boskett, gibt Madame Legros ein Zeichen).
Mad ame Legros (lauscht, erschrickt, als der Chevalier den Namen
nennt, und wirft ihn, urn die Ecke des Bosketts, dem Baron zu).
Baron (ab).
Heinrich Mann * Madame Legros 163
Kdnigin (angstlich nacH vom): Man vertreibe docb das Volk
dort draufien. Was will dieses Volk von mir! Auch die Person,
die Sie mir zufiihren, Chevalier, wird nur wieder irgendeine
Unverschamtheit planen . . . Sie sind ganz sicher, da6 sie
mich nicht kennt?
Chevalier: Durchaus sicher. Es ist eine naive Frau, die
Sie, Madame, sehr riihren wird durch ihre vom Leben noch
unbelehrte Tugend. Es ist, als begegne man einem Geschopf
aus den ersten Zeiten. Man sieht, wie die Menschen urspriing-
lich tugendhaft waren.
Kdnigin: Das glaube auch ich. Erst eine lange geschicht-
liche Korruption hat sie fahig gemacht, geistig auszuschweifen
und unsere Rechte zu leugnen. (Zu Madame Legros:) Ich bin
eine Freundin der Tugend. Es heifit, dafi auch Sie sie lieben.
Daher bin ich gekommen.
Madame Legros (steHt mit gesenktem Kopf, schrickt auf): Ma-
dame, ich bin sehr schuldig, ich habe verraten.
Kdnigin: Verraten?
Che val ier: Sie zeiht sich aller Verbrechen, weil nach ihrer
Meinung ein Unschuldiger leidet, woran sie und wir alle Schuld
haben sollen. Es ist sehr merkwtirdig.
Madame Legros? Ja, wir miissen uns mit alien Ver-
brechen beladen, bis nicht der Turm gesprengt wird und die
Unschuld unter uns zuriickkehrt . . . Madame, in diesem Lande
geschieht Furchtbares.
Kdnigin: In diesem Lande? Warum sagen Sie es mir?
Madame Legros: In der Welt, so weit sie ist. Aber die
Bastille steht doch hier. Hier ist es geschehen, daB ein Un-
schuldiger dreiundvierzig Jahre lang ungehort seine Klagen
ausstofit. Solch ein dicker Turm steht hier, Madame!
Kdnigin: (zum Chevalier): Weiter ist es nichts? Nur wieder
die gewohnten aufriihrerischen Beschwerden iiber die soge-
nannte Willkiir der Bastille. Lafit sich denn ohne Bastille
regieren? Man verlange doch gleich das Ende der Welt! . . .
Also dies ist das Vergniigen, das Sie mir versprachen,
Chevalier ?
f
1 64 Heinrich Mann * Madame Legros
Chevalier: Ich bin in Verzweiflung, Madame, dafi Sie es
so schlecht treffen. Die Person benimmt sich ungeschickt. Sie
war sonst amiisanter. Moglich, dafi ihr Talent schon nachlafit.
Auch hat man sie hier verstimmt, denn der Frau Grafin d’Or-
chat hat es gefallen, ein vielleicht zu lebhaftes Interesse fiir
den Unschuldigen zu zeigen. Man begreift es, er hat die Mode
fiir sich.
Konigin: Man soil nicht sagen, dafi ich die Mode nicht
verstehe! (Zu Madame Legros:) Sie heifien also Madame Legros
und bemiihen sich im Interesse des Gefangenen Latude. Ex
scheint ein gefahrlicher Mensch zu sein, und Sie tun da etwas
Verbotenes. Aber Ihre Empfindsamkeitteile ich, wiealleandern
sie teilen. Madame Crozet, mein Schnupftuch ! (Sie fuhrt es an
die Augen.) Es riihrt mich sehr, dafi es Personen gibt, denen
es nicht gut geht, — obwohl, wenn sie ihre Pflicht getan
hatten —
Mad ame Legros: Madame, solcher Tranen habe ich nun
allzu viele gesehen. Nasse Augen, trocknes Herz.
Ch evalier (leise zu Madame Legros): Was fallt Ihnen ein!
Mad ame Legros: Lassen Sie mich! Man hat mich ein-
geladen, urn Leute, die sich langweilen, zum Weinen zu bringen.
Besser weinen als gahnen. Ich habe es endlich satt, das grofie
Leid unter so kleine Herzen zu tragen. Dieses da schien mir
anders. Als die Dame eintrat, fiihlte ich, nun trete eine grofie
Hoheit und Giite ein. Neue Hoffnung erwachte in mir. Ach,
sie war triigerisch. Gehen Sie nur, Madame. Ihnen kann der
Unschuldige nicht helfen und Sie ihm nicht.
Ch evalier (leise): Das ist erstaunlich! Sie hat die Gegen-
wart der Majestat gefiihlt !
Konigin: Was finden Sie daran erstaunlich ? Das Gegen-
teil ware es. Im ubrigen spricht sie dreist — viel zu dreist.
Ch evalier: So meinte ich es, Ich bin trostlos, Madame,
Ihnen ZU mififallen. (Zieht sich zuriick. Im Voriibergehen leise zu
Madame Legros:) Hiiten Sie sich!
Mad ame Legros (ausbrechend): Ich habe mich genug ge-
hiitet! Man soil endlich die Wahrheit horen! Wie sehr habe
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
165
ich den Menschen geschmeichelt, damit die Pflicht des Herzens
ihnen zum Vergniigen werde. Ich habe Marktweibern Gefvihle
beigebracht wie Heiligen. In Hauser drang ich ein und wiirzte
den Biirgersleuten ihre Verdauung mit schonen Empfindungen.
Und Karossen bestieg ich, in denen bunte Damen mich mit-
nahmen, um seufzen zu konnen, da sie schon ein Affchen mit
hatten, um zu lachen ! Wie ich mich geschamt habe, vor ihm,
dem Unschuldigen, der aus seinem Kerker mir nachsahl Wie
ich euch gehafit habe: in euren Paliisten die Konzerte, bei
denen zuerst leichtfertige Sanger auftraten, und dann ich!
Gehafit — euer Girren und Tandeln, eure Liebenswiirdigkeit
ohne Liebe, euer untatiges Wohlwollen, eure Schonheit und
euren Glanz, die nicht wissen, wie arm und niichtern sie waren,
wenn unter euch der Unschuldige, einmal nur der Unschuldige
trate !
Konigin: Ah ! Sie geben es zu . . . Sie gibt es zu, Chevalier,
dafi sie uns hafit! Das war es, was ich voraussah. Dieses Volk
ist treulos und aufriihrerisch, ich hasse es auch! Ich habe es
gleich gehafit!
Madame Legros: Aber ich habe Euch verfiihrt, habe euch
dahin gebracht, das Gute zu wollen, es her beizuseufzen . Die
Ketten, die ihr selbst geschmiedet habt, ihr haltet euch nun die
Ohren zu, wenn sie klirren. Ihr selbst drangt euch nun gegen
den Turm, bis er birst ... Ja : ich habe mich hindurchgebohrt,
hinaufgewiihlt bis zu euch, bis zu den grofiten Herren, bis
unter den Thron. Ich war in Versailles.
Konigin: Sie waren in Versailles?
Madame Legros: Ich hatte alle Schranken eurer Gesell-
schaft iiberwunden, alle Mauem eurer Herzen. Wie nun die
Konigin voriiberfuhr —
Konigin: Sie haben sie gesehen?
Madame Legros: Ich habe nichts von ihr empfangen als
den Schmutzihrer Rader, die sie von einem nichtigen Vergniigen
zum andem trugen. Aber wie sie nun voriiberfuhr: ich hatte
so viel auf mich genommen, so sehr mich abgemattet: — ah!
ich wiirde sie herausgerissen und zu ihr gesprochen haben, wie
166
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
dreiundvierzig Jahre schuldlosen Leidens sprechen. (Trittdrohend
hcrvor.)
Konigin (schreit): Chevalier, (Ihr Mantel gleitet herab, tie steht
in einem sehr bunten Kostiim da.)
Ch evalier (springt herzu, packt Madame Legros an).
Madame Legros (sinkt zusammen): Aber man rifi mich zu-
riick, ich fiel hin, eine Ohnmacht kam mich an.
Konigin: Sie waren ohnmachtig, — und die Konigin lachte
wohl? (Sie lacht.) Chevalier, geben Sie sie frei. Sie soli weiter-
sprechen. Diese Kleine interessiert mich, sie hat mir Herzklopfen
gemacht. (Priift Madame Legros durch das Lorgnon:) Sie soil mir
sagen, wie sie zu alledem kam. Was geht dieser Unschuldige
sie an? Woher der unverschamte Eifer fur eine Staatsangelegen-
heit, die die Untertanen nicht zu kiimmern hat ?
Legros, die Verwandte (erscheinen drauBen am Gitter).
Madame Legros (wankend, beriihrt ihre Stirn): Was wars?
Ein Brief fiel vom Turm. Ich habe sehr geliebt, Madame. Der
ihn schrieb, ist so schon. Auch sie wiirden ihn lieben. Alle,
alle Menschen sind doch der Liebe fahig. Ich habe mich nicht
in ihnen geirrt. (Aufgerichtet :) Alle zusammen haben ein Herz,
ein groBes, heifies Herz. Meins ist nur ein Teil davon, — und
doch hat nun die Liebe zu dem Unschuldigen es so machtig
gemacht. (Machtvoll :) Liebt ihn, ihr Menschen, ihr werdet unbe-
siegbar sein!
Konigin (tanzelt vor Madame Legros umher): Jetzt langweilt sie
mich. (Zum Chevalier :) Kann sie sonst nichts? Ich denke mir
tibrigens das meine iiber ihre Beziehungen zu dem Herm Un-
schuldigen. (Sie lacht und fliistert mit dem Chevalier.)
Legros: Ich mache ein Ende!
Verwandte: Das sind hohe Herrschaften.
Legros: Und ich bin ihr Mann! Soil es mich denn nicht
erbarmen, wie diese Leute sie zurichten? Kein gutes Wort
mehr im Hause, und die Nachte verbringt sie auf einem Stuhl.
Verwandte: Jener Herr dort wird Sie einfach in den Turm
setzen lassen. AuBerdem gehe ich dann fort von Ihnen. Ich
habe mich mit Ihnen eingelassen, well ich Sie fiir einen ehr-
Heinrich Mann * Madame Legros
167
lichen Mann hielt, der einem Madchen seine Versprechungen
halt. Und nun wollen Sie dieses Weibsbild zuriickholen .
Legros: Schweig! Sie ist meine Frau.
Verwandte: Die Dime aller Herren vom Adel, die sie
haben wollen! Der Spott und Abscheu des ganzen Stadtvier-
tels! Was sagen nun Sie, der Sie ihr friiher nicht einmal mit
ihrem Vetter, dem Zollbeamten, etwas Unrechtes zutrauten.
Legros: Man soil sehen, ob das noch lange dauert!
Verwandte: Und mit dem ekelhaften Unschuldigen, der
in seinem Kot liegt, hat sie eine unnatiirliche Liebe. Alle
wissen es, auch Colas, der Soldat in der Bastille ist, und den
ich heiraten werde, wenn Sie jene Person zuriickholen.
Legros: Es ist zuviel ! Ich schaffe Ordnung ! (Will durch das
Tor.)
Der Tiirhiiter: Niemand tritt ein!
Legros: Mach keine Geschichten! Die da ist meine Frau.
(Er wirft den Tiirhiiter beiseite.) (Volk sammelt sich an.)
Konigin: Was gibt es? Das Volk!
Chevalier (zuLegroa): Was suchen Sie hier ?
Legros: Etwas, das Ihnen nicht gehort! Ich will meine
Frau haben! Es ist mein Recht! (Packt Madame Legros an:) Hure!
Schier dich nach Haus!
Chevalier (befreit Madame Legros) : Ich bitte mir Achtung
aus vor den anwesenden Damen ! (Zur Kdnigin :) Fiirchten Sie
nichts, Madame. Es ist nur ihr Mann. Sie begreifen, dafi die
Ehe ein wenig gestort ist.
Konigin: Das ist amiisant. Was wird er tun?
Legros (entbld&t den Kopf): Mit Verlaub. Ich war immer ein
hoflicher Mann, man soli nicht sagen, ich verkenne meine
Pflicht gegen die Damen. Diese hier aber ist meine Frau, und
sie benimmt sich, ich darf nicht sagen, wie. (Zu Madame Legros:)
Schamst du dich gar nicht, Madame Legros? Die Leute reden
von dir, und auf mich zeigen sie mit Fingem. Ich sage es dir
im guten, dab das aufhoren muB. Du vemachlassigst das Ge-
schaft und das Haus. Hast du dich iiber deinen Mann zu be-
klagen? Warum laufst du mir also davon?
168
Heinrich Mann * Madame Legros
Ch evalier (zefgt auf die Verwandte) : Sie, Herr Legros, haben
sich getrostet. Meinen Gliickwunsch, Sie haben Geschmack.
Verwandte (ist eingetreten) : Mir kann niemand etwas Schlech-
tes nachsagen.
Konigin: Eine hiibsche Familie! So dachte ich mir das
Volk.
Legros : Wenn auch ich gefehlt habe, so geht das nur uns
an, mich und Madame Legros: aber nicht die Herrschaften,
denn sie haben meine Frau verriickt gemacht, um ihren Spafi
an ihr zu haben. Es gibt Leute, die sagen, dafi man einmal
abrechnen wird ! Ein Burger von Paris IaBt sich nicht auslachen
von einer lacherlichen, aufgezaumten Alten, wie die da !
Chevalier (zieht den Degen): Hinaus mit dir!
Legros: Und noch weniger vondem frechen Schlingel, den
Sie sich aushalt ! (Schlagt ihm den Degen aus der Hand.). (Das Volk
hinter dem Tor larmt, will den Turhuter f ortdrangen .)
Madame Crozet: Fliichten Sie, Madame!
Konigin (tritt vor) : Tolpel, auf die Knie ! Siehst du nicht,
wer ich bin!
Legros (erschrickt, fallt nieder): Ich bin verloren!
Stimmen im Volk: Es ist die Konigin! Nieder mit der
Osterreicherin !
Soldaten (treiben das Volk zuriick).
Konigin: Steh auf, ich will kein Aufsehen!
Legros: Madame, wenn Eure Majestat die Bedrangnis
eines armen Mannes kennten . . . Meine Frau macht mir Kum-
mer, und man kann kaum leben. Die Abgaben verteuern die
Waren so sehr, daB niemand sie kauft. Die Zeiten sind schwer.
Konigin: Nur das Volk von Paris ist gierig und aufriihre-
risch. Warum lebt ihr nicht auf dem Lande ? Alle Schafer sind
sorglos und zufrieden.
Chevalier: Ihre Majestat entlaBt euch.
Legros
V erwandte
(beugen die Knie. Ab).
Ch evalier: Wenn Eure Majestat die Gelegenheit beniitzten
und unter dem Schutze der Soldaten den Platz verlieBen?
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
169
Konigin: Noch nicht. Erst jetzt wird eure Heldin inter-
essant. Die Heldin, von der ihr alle mir in den Ohren hegt : jetzt
stellen sich hochst pikante Sitten bei ihr heraus.
Chevalier: Suchen wir wenigstens das Boskett auf.
Madame Crozet (zieht «ich zuriick).
Kon igi n : Ja, hier ist es heimlicher, hier soil die Heldin mir iiber
ihren Unschuldigen einiges verraten, das ich ahne. (Fliistert, kichert.)
Chevalier: Madame Legros.
Mad ame Legros (abgewandt und starr, schrickt auf).
Chevalier: Sie waren abwesend? Haben Sie bemerkt, was
vorging? Es war Larm genug.
Madame Legros: Ich bin betroffen iiber die hohe Ehre,
mich in Gegenwart der Konigin von Frankreich zu befinden.
(Vemeigt sich:) Madame, ein grofies Unrecht ist geschehen, und
Ihr ganzes Land seufzt darunter. Sie konnen alle Ihre Unter-
tanen gliicklich machen —
Konigin: Ich mochte vorallem mich selbstamiisieren. Ver-
denken Sie mir das?
Ch e v a I i e r (nicht ohne Ironie) : Ihre Untertanen lieben Sie dafiir .
Madame Legros: Madame, ein Unschuldiger —
Konigin: Das meine ich eben. Treten Sie ruhig naher,
Kleine. Sagen Sie es mir ganz aufrichtig, was es mit lhm ist.
In diesem Fall ware ich geneigt, Ihnen zu helfen. Sie wissen,
dass ich es kann . . . Nun ? Ihrer Konigin diirfen Sie vertrauen.
Bitte, bitte.
Chevalier: Konnen Sie die Konigin bitten horen, Madame
Legros ?
Madame Legros: Ich weiB nicht, was die Konigin will.
Ein Brief fiel vom Turm —
Konigin: Und gab Ihnen ein Stelldichein.
Madame Legros (zuriickfahrend): Sie konnen glauben ? Das
sagen die Unwiirdigsten.
Konigin: Ich bin darauf gekommen, ohne daB jemand es
mir gesagt hat!
Madame Legros: Das sagen die Neidischen, die schmut-
zigen Seelen ! Die Gosse sagt es !
170
Heinrich Mann * Madame Legros
Konigin: Gestehen Sie! Wie sind Sie in die Bastille ge-
langt ? Sie muBten einem Wachter Ihre Gunst schenken, nicht
wahr? Oder waren es mehrere? . . Viele?
Madame Legros (beugt sich, stohnt).
Konigin (reicht ihre Hand riickwarts dem Chevalier): Sehen Sie?
Es ist, wie ich annahm.
Chevalier (lciifit die Hand, streift mit den Lippen die Schulter der
Konigin): Um so schlimmer fiir den guten Mann, der sich vorhin
herausnahm, mich zu entwaffnen.
Konigin: Und wie war es bei dem Gefangenen ? Sehr grau-
sig? Manhort vonseltsamen Vergniigungen. DieComtessed’Ar-
gilles hat eine Nacht im Grabgewolbe ihres Hauses verbracht,
und man sagt, mit einer Leiche.
Chevalier : Wir kennen alles bis zum UberdruB, nur den
Tod nicht. Er allein hat noch Reize.
Madame Legros (richtet sich auf, entschlossen) : Ich habe ihn
geliebt! Versprechen Sie mir seine Freiheit, und ich sage alles.
Konigin : Ich verspreche.
Madame Legros: Ich habe das Wort der Konigin.
Chevalier: Sie sind zu beneiden.
Konigin: Nun, war es wie im Grab? War er brutal?
Madame Legros: Er nahm mich wie eine Sterbende. Ich
fiihlte, daB er mager war wie der Tod. Ich roch Verwesung, da
wir uns kiifiten, und das war siiBer, als aller Blumenduft hier
oben. Die Blumen liigen, hier oben ist nur Qual und Gemein-
heit. Ich will wieder hinab zu ihm! Tot seinl Tot sein! (Sie
taumelt, driickt den Kopf in die Arme und ichluchzt.)
Konigin (streckt sich, vergeht).
Ch e V a 1 i e r (kuBt sic auf den Mund).
(Pause)
Konigin (seufzt, steht auf).
Chevalier (zu Madame Legros): Das nenne ich den Profofi
rufen.
Mad ame Legros (richtet sich auf, sieht die Kdnigin an).
Konigin (schlagt die Augen nieder).
Heinrich Mann * Madame Legros
171
Chevalier (verlegen): Eure Majestat befiehlt, dafi IhrWagen
vorfahre ?
Konigin: Ich gehe schon. (Konventionell :) Sie haben recht
getan, Chevalier, mir diese Person vorzustellen, sie verdient
Interesse. (Zu Madame Legros:) Sie haben mir gefallen, Sie diirfen
sich eine Gnade ausbitten.
Madame Legros: Eure Majestat haben versprochen, den
Unschuldigen aus der Bastille zu entlassen.
Konigin: Ach ja, ich vergaB . . . Aber Sie selbst, was wiin-
schen Sie sich ?
Madame Legros (sieht sich um, hebt die Schultern): Hier?
Chevalier: Die Konigin will sagen, bei Hofe. Eine Pension,
in Amt fur Ihren Gatten.
Konigin: Ich warte.
Madame Legros: Ich habe keinen Wunsch mehr.
Chevalier: Das ist nicht moglich!
Konigin : Sie sind ungezogen !
Chevalier: Sie istnoch nicht wieder bei sich. Ich will nicht
glauben, dafi sie weifi, was sie spricht!
Konigin: Dann ware es Tugend? Das ist sehr riihrend.
Madame Crozet!
Chevalier: Es ware zu viel. Els ware peinlich, daran zu
glauben .
M adame Crozet (reicht der Ktinigin das Schnupftuch).
Konigin : Man soli nicht sagen, die Konigin von Frankreich
verstehe die Tugend nicht zu belohnen. Ich befehle, jenem Ge-
fangenen ist der Rest seiner Strafe zu erlassen. Er soli bekranzt
und zusammen mit der Person, die sich fur ihn so sehr inter-
essiert hat, unserer Akademie vorgefiihrt werden. Die Akademie
soli dieser Person den Tugendpreis erteilen, so befehlen wir.
(Sie geht. — Wendet sich nochmals um. Hastig:) Aber man soli nicht
sagen, wofiir ! Chevalier, ich verbiete dem Redner der Akademie
zu sagen, wofiir! (Ab.)
Chevalier
Madame Crozet
(ab).
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12 Vol, III/2
172
Heinrich Mann * Madame Legros
ACHTE SZENE.
Madame Legros. Comtesse. Abb£. Baron. Dann Chevalier.
Comtess e
Abbe
Baron
(von links, vcrbeugen sich hinter dem Riicken der
Konigin).
Comtesse: Das ist unerhort. Die Konigin hat sich langer
als eine Stunde mit der Frau unterhalten. Was bedeutet das?
Chevalier (kchrt zuriick, maeht vor Madame Legros eine tiefe Ver-
beugung).
A b b 6 : Wie er sie behandelt ! Man wird sehr vorsichtig sein
miissen.
Comtesse: Mein Gott, wozu ist sie emannt worden? (Zum
Chevalier:) Die Konigin war zufrieden?
Chevalier: Die Empfindsamkeit Ihrer Majestat hat einer so
groBen Tugend nicht widerstanden. Die Konigin hat die Ent-
lassung des Unschuldigen befohlen.
Comtesse: Ich bin auBer mir vor Riihrung. Kann man der
Dame seine Aufwartung machen ?
Baron (auf Madame Legros zu): Madame, ich hore, daB Sie Ihr
edles Ziel erreicht haben, ich begliickwiinsche Sie und empfehle
mich Ihrer machtigen Gunst.
Madame Legros (sieht ihn entsetzt an, flieht nach vom).
Comtesse:
Abb6:
Was hat sie ?
Chevalier: Ich verstehe es nicht mehr.
Comtesse: Welchen Rang wird sie kiinfdg einnehmen?
Ch evalier: Keinen, — ob Sie es nun glauben oder mich
fur einen Intriganten halten.
Comtesse: EineStunde ganz allein mit der Konigin und keine
Gnade? Solche Einfalt gibt es nicht. Es muB wohl Tugend sein.
Ch evalier (zomig): Ich hoffe es nicht. Das Leben wiirde zu
schwierig sein, wenn es so schon ware!
Comtesse: Aber warum sieht sie nicht gliicklich aus?
Abbe: Els ist der geistige Hochmut, den nichts befriedigt.
Mad ame Legros (vom, allein): Es hat zu viel gekostet.
(Vorhang)
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Heinrich Mann * Madame Legros
173
DRITTER AKT
(Zimmer hinter dem Laden der Legros, mit Fenster und Tiir auf eine Seiten-
gasse. Seitwarts die Tiir in das Nebenzimmer.)
ERSTE SZENE.
Legros. Die Verwandte. Vignon, Madame Touche. Fanchon.
Madame Touche: Madame Legros ? Ich will Ihnen sagen,
Herr Legros, was sie ist. Sogleich wird sie zuriick sein von
ihrem Triumph, dann sage ich es ihr selbst. Eine Heilige ist sie!
Legros: Ich muB es wohl glauben.
Madame Touche: Wenn man sie gesehen hat, wie sie den
Kuppelsaal betrat, wo alle diese Herren von der Akademie sie
erwarteten — ! IchhatteZutritt. Sie, meine Herren, hatten keinen.
Aber Ihr Vetter ist auch nicht koniglicher Lakai.
Vignon: Freilich nicht. Aber da ein Herr von den franzo-
sischen Garden mich mit seiner Freundschaft beehrt, habe ich
Madame Legros gesehen, wie sie vor der Akademie aus dem
Wagen stieg. Es war, als ob ich sie nicht gekannt hatte. Eine
vornehme Dame.
Madame Touche: Ich weiB es besser: eine Heilige. Und
der Tugendpreis soli tausend Pfund betragen.
Vignon: Auch der Unschuldige war feierlich anzusehen.
Er hatte einen gesticlcten Rock, einen Bart, lang und weiB, und
er war bekranzt.
Verwandte: Man sagte, daB er trotzdem nur ein alter
Tunichtgut sei.
Legros: Hxite deine Zunge!
174
Heinrich Mann * Madame Lcgros
Fan chon: Wie Madame Legros gliicklich sein mufi! Ich
habe es ihr immer gewiinscht.
Madame Touche: Wer hatte das nicht getan. Wir alle
waren immer fur Madame Legros. Zum Beweis, daB ich heute
um fiinf Uhr aufgestanden bin. Ganz Paris war drauBen, man
sprach nur von Madame Legros.
Vignon: Und in den vorteilhaftesten Ausdriicken.
Legros: Viel Ehre fiir mich.
Madame Touche: Und daB dieTugend Ihrer Frau Ihnen
so viel Geld eintragt.
Vignon: Es scheint, daB wirklich etwas Grofies geschehen
ist und daB Madame Legros, die wir alle kannten, es vollbracht
hat. Das ist wunderbar, man versteht nicht immer, wer und
was um einen herum ist.
Legros: Und wenn es die eigene Frau ist, durch die das
alles geschieht, dann weiB man nicht mehr, was man denken soil.
Madame Touche: Friiher konnte man manches denken.
Aber jetzt hat sie Erfolg gehabt.
Fanchon: Sie hat den Unschuldigen befreit. Wie ich sie
lieb habe!
Vignon: Freilich horte man in der Menge auch gefahrliche
Aufierungen. Es gabe mehr Unschuldige zu befreien : in der
Bastille und drauBen. Dies sei nur ein Anfang.
Madame Touche: Es waren iibelaussehende Personen
unterwegs. Wer weiB, was noch geschieht. Man zeigte sich sehr
respektlos beim Erscheinen gewisser hoher Herren.
Legros: Ich und Madame Legros sind voll Respekt.
Vignon: Madame Legros hat nur das Gute gewollt. Das
hindert nicht, daB mein Freund von der Garde die emstesten
Besorgnisse hegte. Paris war nie weniger sicher.
Heinrich Mann * Madame Legros
ZWEITE SZENE.
Die Vorigen. Volk. Madame Legros.
(Eine Volksmenge vor dem Fenster. Die Tiir wird geiiffnet.)
Madame Legros (tritt langsam ein, in einem weiBen Schleier, das
Cesicht nach oben gerichtet, mit verklartem LacKeln).
Stimmen: Siekommt! Sieistda! Eslebe Madame Legros!..
Sie hat den Unschuldigen befreit. Sie hat uns alle gerettet. Wer
hatte es fur moglich gehalten. Die Herren und die Reichen
lachten nicht mehr heute friih. Sie haben einen befreiten Un-
schuldigen gesehen . . . Wir werden ihnen noch mehr zeigen!
Man wird gliicklicher leben ! Alles wird biltiger werden ! . . .
Madame Legros ist eine Heilige. Seht ihr Cesicht, wie es glanztl
In unserer Gasse scheint keine solche Sonne . . . Madame Legros
ist eine aus unserer Gasse, und sie ist eine Heilige. Es lebe die
Heilige ! (Vide knien hin.)
V i g n o n : Madame Legros, wir haben uns versammelt, um
Ihnen unsere Bewunderung auszusprechen . . .
Ein Mann: Was will der? Hinknien!
Einanderer: Friiher haben Sie sie nicht bewundert, son-
dem hinter ihr hergeschimpft. Hinknien 1
Vignon: Wir alle waren schwach.
Madame Touche (knieteilig hin): Ich war die erste, meine
Herren, die Bescheid wufite.
Legros (sieht sich verbliiflFt um, bekommt eine fromme Miene, kniet hin).
Mad ame Legros (will vorwSrts gehen und beruhrt den Scheitel
der Fanchon, die vor ihr kniet): Wer ist das? Fanchon! Steh doch
auf , liebes Kind ! (Wendet sich :) Und ihr alle ? Warum kniet
ihr ? Weil nun der Unschuldige frei ist ? Das habt ihr selbst
getan. Gebt nicht mir die Ehre, die ich nur eure unwiirdige
Sprecherin war, sondem euch selbst. Ihr alle habt es gewollt.
Ihr wollt das Gute. Ihr seid jetzt erlost von dem groBen Un-
recht.
Jemand, der aufsteht: Mir ist, als sei ich selbst aus der
Bastille entronnen.
176
Heinrich Mann * Madame Legros
Ein anderer: Ich habe nichts getrunken heute, aber ich
mochte laut singen.
Eine Frau: Wer heute singen wird, das ist Legros. Wie,
Legros? Eine solche Frau!
Legros (umringt): Zweifellos. Es ist viel Ehre fiir mich.
(Er verneigt sich Unlatch vor Madame Legros.)
Madame Legros (gibt ihm die Hand): Mein lieber Mann . . .
(Verlegenes Schweigen.)
Die Menge (applaudiert).
Vignon (zu Madame Touche): Wenn man mir die ganze Aka-
demie zum Geschenk machte, ich mochte nicht an Legros’
sein.
Stelle
Madame Touche: Sie wollen doch nicht sagen, daB Sie
keine Heilige zur Frau mochten?
Stimmen: Herbei, ihr Kinder! Kommt sie holen, die
Heilige! Es soli ein schones Fest werden!
Kind e r (in weifien Kleidem durch die Menge, die ihnen Platz macht,
auf Madame Legros zu. Sie gehen um sie her und winden ihr dabei einen
Iangen Blumenkranz um die Hiiften).
Ein Lehrer (steht dabei, gibt jedem der Kinder das Zeichen zu
Wir danken Ihnen, Madame Legros,
sprechen).
Das erste Kind:
fiir den schonen Tag.
Daszweite Kind: Und dafiir, dass Sie uns die Tugend
gelehrt haben.
Das dritte Kind: Wir wollen es nie vergessen.
Das vierte Kind: Und wenn wirgroBsind, Ihnen nach-
ahmen.
Madame Legros: Ihr lieben Kinder! (Ober sie hinweg :)
Ich hatte euch die Tugend gelehrt? Das kann ich nicht. Ihr
werdet sie vielleicht einmal erfahren wie ein schreckliches Ge-
heimnis, das euch nicht mehr ruhen lasst. Und dann werdet
ihr zweifeln lernen, ob es wirklich die Tugend ist. Aber ihr
miiBt an sie glauben, hort ihr? Wie konnte sonst der Unschul-
dige befreit werden . . . Ach ! Es ist schon geschehen,
ich bin so miide.
und
Heinrich Mann • Madame Legros
177
Fan chon (stiitzt Madame Legros): Sie sollen nun ausruhen,
Madame Legros. Alle haben Sie lieb.
Stimmen: Kommt sie nicht?
Madame Touche: Man hat ein Fest fiir Sie veranstaltet,
Madame Legros. Sie miissen den Nachbam den Gefallen tun,
sonst ist man unzufrieden mit Ihnen.
Stimmen: Auf zu Vignon ! Madame Legros in unsere Mitte !
Vi g non: Tatsachlich, Madame Legros, erwartet Sie in
meinem Hause ein bescheidenes Mahl. Ich bitte um die Ehre.
Madame Legros: Ich bin erschopft, Herr Vignon, ver-
zeihen Sie. Es war zu viel fiir mich, Sie wiirden eine Kranke
im Hause haben.
Madame Touche: Es scheint, wir sind ihr schon zu
schlecht.
Fanchon: Qualen Sie sie nicht, meine Herren!
Vignon: Meine Herren, wir werden vorausgehen. Madame
Legros braucht Ruhe, Sie verstehen es. Sie hat viel fiir uns
alle getan.
Stimmen: Man hatte es sich schoner gedacht ... Ist sie
denn hochmiitig? . . Wir sind doch keine Barbaren. Die Hei-
lige hat Ruhe verdient. (Man zieht ab:) Es lebe die Heilige!
DRITTE SZENE.
Madame Legros. Legros. Die Verwandte.
Legros (zur Verwandten) : SchlieB die Tiir.
Verwandte (flustert): Was soli man nun tun?
(Pause.)
Madame Legros (in einem Sessel, sieht starr vor sich hin. Hebt
den Kopf, lichelt entruckt, sinkt zusammen. Erwacht endlich): 1st je~
mand hier?
Legros (von Hinten): Nur wir sind es: ich und Lisette . . .
Die Leute sind alle zu Vignon gegangen . . . (Schiichtern :) Man
sollte vielleicht auch etwas essen.
178
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
Madame Legros: Ach ja, das Essen . . . Undder Laden!
Die Kunden warten. (Will aufateHen.)
Legros: Niemand wartet. Schon
mehr.
Verwandte: Und zu essen habe ich auch nichts.
Legros: Warum denn nicht! Faules Geschopf!
Verwandte (freeb): Wenn den ganzen Morgen das Haus
voller Gaffer ist — . Auf einem Jahrmarkt arbeitet man nicht.
Legros: Marsch! In die Kiiche!
Verwandte: Geben Sie mir Geld, sonst gibt es nichts zu
essen .
Legros: Du hast schon wieder das Wirtschaftsgeld fur
deinen Putz ausgegeben. Wartel (Schlagt nach ihr.)
Verwandte: Einen Augenblick! Ich bin nicht Madame
Legros. Jetzt haben Sie Madame Legros zuriick. Ich trete
alles an sie ab, auch die Schlage.
Legros: Hinaus mit dir!
Verwandte: Unterhalten Sie sich gut mit der Heiligen!
(Seitwart* ab.)
Madame Legros: Warum willst du ihr das Geld fur das
Essen nicht geben?
Legros (zogert; «wBt hervor): Weil keins da ist.
Madame Legros: Keins da?
Legros: Wenn nichts mehr eingeht, ist es eines Tages zu
Ende. Und in einem Haus ohne Hausfrau geht das schnell.
Madame Legros (betroffen, «teht auf): Ich habe nichts ge-
sehn, wie lang schon nicht mehr. Die Spitzen von Alenin?
Legros: Sie sind verschleudert.
Madame Legros: Dein Geselle kommt nicht zum Essen?
Legros: Ich habe ihn fortgeschickt. Es gab keine Arbeit
mehr.
Madame Legros: So sind wir denn verarmt, lieber Mann ?
Legros: Du nicht, Madame Legros, du gewiB nicht. Nur
ich. Du hast gut verdient in dieser Zeit. (Steilt einen Beutel auf
den Tisch.)
Madame Legros: Was ist das?
langst wartet niemand
Heinrich Mann « Madame Legros
179
Legros: Dein Tugendpreis.
Madame Legros (schlagt die Augen nieder) : Nimm doch das Geld I
Legros: Das Geld der andem hab ich noch niegenommen.
Madame Legros: Was mein ist, ist auch dein.
Legros: Sonst wohl, aber nicht diesmal.
Madame Legros: Du bist mein Herr und Gebieter.
Legros: Hierbei war nicht ich es, sondern der Unschul-
dige. Mit ihm teile das Geld.
Madame Legros: Ich wollte ihm alles geben, aber seine
Verwandten haben es abgelehnt.
Legros: Auf einmal hat er Verwandte?
Madame Legros: Seit kurzem haben sich reiche Leute
gefunden, Adelige sogar, die sagen, er sei ihr Verwandter.
Legros (lschtauf): Man soil nicht behaupten, da8 es ihm
schlecht geht.
Madame Legros: Es ging ihm solange schlecht!
Legros: Dafiir wird er jetzt ernahrt und gehatschelt. Jeder
kann das von sich nicht sagen.
Madame Legros: Ich habe ihn reich gemacht und dich
arm. Du wirfst es mir vor und hast recht. Verzeih mir!
Legros: Einer Heiligen habe ich nichts zu verzeihen.
Madame Legros: Ich habe getan, was mir auferlegt war!
Legros: Alle nihmen dich dafiir. Ich war im Unrecht, als
ich dich zuriickhielt.
Madame Legros: Aber nun ist es getan. Ich muB den-
ken, daB es getan und ganz voriiber ist.
Legros: Ich glaube nicht. Von dem, was du getan hast,
bleibt doch wohl etwas iibrig. Sie werden wohl noch Rechte
haben an dich, dort drauBen.
Madame Legros: Ich bin zu dir zuriickgekehrt.
Legros: Du warst zu weit fort. Was du getan hast, ist zu
auBerordentlich . Nach solcher Tat wird man nicht wieder die
Frau des Strumpfwirkers Legros.
Madame Legros: Ich bin es doch!
Legros: Ich muB dich verehren, sagen die Leute, und ich
verehre dich auch.
Heinrich Mann * Madame Legros
180
Madame Legros: Sei mein Mann wie friiher!
Legros: Ich habe vor dir gekniet.
Madame Legros: So soli nun ich mich hinknien? (Sie
versucht es.) Sieh, ich bin so schwach. Nun scheint mir, was
ich getan habe, ganz umsonst. Ich wollte, du hattest wieder
deine laute Stimme, wenn du zu mir sprichst, und fafitest mich
hart an. Verzeih mir, lieber Mann, verzeih, dafi ich einen
Unschuldigen aus dem Turm befreit habe.
Legros (wendet sich zur Tiir).
Madame Legros: Du willst nicht? Du Iiebst mich wohl
nicht mehr. Ach ! Im Grunde war es dir wohl ganz recht, dafi
ich soviel vom Hause fort war ? Mein Platz ist wohl besetzt ?
Legros: Soli ich mir von einer Heiligen die Suppe kochen
lassen ? Striimpfe verkaufen ist kein Geschaft fiir eine Heilige.
(In das Nebenzimmer ab.)
Madame Legros (vor der geschlossenen Tur): Hiite dich,
Legros, dafi ich nicht wirklich fortgehe!
Sc
VIERTE SZENE.
Madame Legros. Die Verwandte.
Verwandte: Wenn Sie essen wollen, Madame Legros,
konnen Sie in die Kiiche kommen. Aber es gibt nur Kartoffeln.
Madame Legros: So? Ich kann in die Kiiche kommen?
Und kann ich mich auch in mein Bett legen, — wenn ich nicht
finde, dafi man es mir inzwischen beschmutzt hat?
Verwandte: Ich bin nicht schmutziger als Sie.
Madame Legros: Ein Ungeziefer bist du ! Hast dich ein-
geschlichen und willst mich fortbeifien ! Aus dem Hause mit
dir! —
Verwandte: Fortschicken kann mich nur Herr Legros,
und der wird sich hxiten, denn er braucht mich.
Mad ame Legros: Wozu? Wage, es zu sagen!
Heinrich Mann * Madame Legros
lai
Verwandte: Und wenn ich es sage? Zu allem, wozu eine
Frau im Hause dient. Sie hatten Herm Legros verlassen, da
habe ich mich seiner angenommen.
Madame Legros: Hast du ihn auch geliebt?
Verwandte: Was macht Ihnen das?
Madame Legros: Denn ich — ich habe ihn geliebt!
Verwandte: Bis Sie sich in den Unschuldigen verliebten.
Madame Legros: Viper! (Stunt auf die Verwandte Io«.)
Verwandte (flikhtet Kinter den Tisch) : Es ist doch wahr!
Dafiir sind Sie ja eine Heilige geworden. Und ich, die ich mich
des Herm Legros annahm, soli beschimpft werden?
Madame Legros: Ich dreh dir den Hals um!
Verwandte: Eine schdne Heilige! Das erzahl’ ich Herm
Legros. Wenn er Sie nur schon los ware, hat er gesagt. (Seit-
wirts ab.)
FONFTE szene.
Madame Legros. Chevalier. Dann Volk.
Madame Legros (sinkt gegen die Wand): Wenn er mich nur
schon los ware! Wohin mit mir . . . Eine schone Heilige. Ist
durch so viel Schande gegangen . Kein Mittel war ihr zu schlecht.
Nicht einmal — o Gott — das Versprechen ihres Leibes . . .
(Das Geaicht des Chevalier erscheint am Fenster.) Es ist nicht aus,
Legros spricht wahr. Jemand dort drauBen hat Rechte an mich.
(fcichtet sich auf :) Was furchte ich. Wen hab' ich denn noch . . .
Er soil kommen!
Chevalier (steht in der Tor):
Madame Legros (schreit auf, streckt die Hinde vor):
Chevalier: Nicht erschrecken, bitte! Ich weiB wohl, dafi
ich nicht in dieses Fest hineinpasse. Doch konnte ich es mir
nicht versagen, Ihren Triumph mit anzusehen: den Triumph
einer Heiligen. Man erlebt das nicht alle Tage. (Sieht sich um:)
Aber ich glaubte, hier wtirden mehr Leute sein.
(82 Heinrich Man* * Madame Legros
Madame Legros: Siesehen, manhatmichalleingelasssen.
Das Fest ist nicht fur mich. Die andem feiem ohne mich.
Chevalier: Ihnen aber schulden sie es.daB sie feiem diirfen.
Madame Legros: Der Unschuidige ist frei, so ist fur mich
nun alles aus.
Chevalier : Das klingt, als bereuten Sie.
Madame Legros (stark): 0 neinl
Chevalier: Sie haben einen Erfolg erlebt, den niemand
fiir moglich hielt. Was Sie fur ihre Zulcunft und die der Ihren
an Vorteil daraus ziehen konnten, haben Sie verschmaht —
(leicht ironisch): und ich bewundere Sie dafiir. Jedenfalls aber
haben Sie die angenehmsten Emotionen genossen, und ganz
Paris spricht von Ihnen. Sie sind beriihmt, man hat sich vor
Ihnen beugen miissen. (Er verbeugt sich.)
Madame Legros (wendet den Kopf weg).
Chevalier (unsicher): Sie wollen das nicht horen ? Sie erwar-
ten von mir andere Worte ? . . Ja, ich bin gekommen, um Ihnen
etwas anderes zu sagen.
Mad a me Legros (zuckt zusammen).
Chevalier: Der MiBverstandnisse hat es zwischen uns
genug gegeben. Sie haben mich genug verachtet. Sie horen mir
zu mit der Miene eines Opfers.
Madame Legros (l&chelt schmerzlich).
Ch evalier: Ich kann das nicht langer ansehn. Ihre Ver-
achtung liegt zu hart auf mir. Ich mufi Ihnen sagen — . Es ist
so schwer. Horen Sie denn ! Sie sind, Madame Legros, das erste
menschliche Wesen, vor dem ich in Beschamung stehe. In den
andem, so jung ich bin, habe ich mich nie getauscht, wenn ich
sie verachtete. Ich habe geliebt und dabei verachtet. Ich habe
sogar getotet und dabei verachtet . . . Ich war stolz, ohne Illu-
sionen zu sein. Und aus Stolz bin ich an Ihnen, Madame Legros,
zum Liigner geworden! Denn im Grande meines Herzens
habe ich langst gewuBt, wer Sie seien : schon als Sie noch, von
alien unerkannt, in den Gassen irrten und Mitgefiihl suchten.
Aber ich wagte nicht zu glauben. Das Laster der Erkenntnis
in mir straubte sich gegen Sie. Ich hatte Sie gem entlarvt, um
Heinrich Mann ♦ Madame Legros 1 83
mich zu beruhigen, um nicht gestehen zu miissen, dafi es etwas
gabe, das alle nur erheuchelten , das ich so sehr ersehnte und
doch nur mit Hohn nennen mochte, die Tugend, — und um
diese ungeheure Zartlichkeit zu ersticken ! (Sturzt vor tie hin, Iegt
die Stxm in ihre Hand.)
Madame Legros (uber ihn gebeugt): Sie, in diesem Augen-
blick, haben mehr Tugend als ich.
Ch evalier: Ich glaubte Sie einst im HaB zu lieben, als
Feindin, die man unterwirft und schandet. Und Sie waren
vielmehr die, die mich erhob und mich wider meinen Willen
mit den Menschen befreundete . Soil ich das Geheimste sagen ?
Ich wiinschte mir, Ihnen zu folgen, mit Ihnen unterzugehen in
alien den Unbekannten, denen Sie einen Unschuldigen befreit
und die Unschuld zuriickgegeben haben . . . Sie diirfen lacheln.
Ich mache schon selbst den Vorbehalt, daB mich das alles nicht
angekommen ware, wenn Sie nicht schon waren und wenn ich
Sie nicht liebte.
Madame Legros: Solche Liebe habe ich erfahren. Sie
ergriff mich, als vom T urm der Brief fiel.
Chevalier: Sei meine Schwarmerei nun kindisch oder
erhaben, ich will mich nicht schamen. Nehmen Sie mich hin.
Madame Legros: Kind! Was soil ich mit Ihnen noch
beginnen. Ich habe vollendet, was zu tun war.
Ch evalier (stehtauf, sucht sich zu beruhigen): Ja: hinter Ihnen
Iiegt als getanes Werk, wovon ich nur traume. Was geht es Sie
an, daB einer durch Sie erschiittert und auBer sich gebracht
wird. Sie haben Ihr Werk vollendet und sind nun heim-
gekehrt .
Madame Legros: Das ist das Schwerste: heimzukehren.
Chevalier: Das ist das Unsagliche. Sie stehen hier, und
diese Hande hangen herab, als sei nichts geschehen. Sie haben
uns alle verstanden und gerichtet, Sie haben sich zum Opfer
angeboten fiir uns alle, und haben fur uns triumphiert. Und
wenn nun einer, den Sie bezwangen, in dieses Zimmer tritt,
findet er darin die Frau, die vormals hier war. Was bleibt da-
nach zu erleben. Ich gehe.
Heinrich Mann * Madame Legros
184
Madame Legros: Nicht dieselbe Frau. Auch Sie miissen
horen. Ich bin nicht so stark, wie Sie sagen. Was ich tat, hat
mich wohl schwacher gemacht. Vorhin dachte ich mich fort,
mit einem, der mich nehmen will, nur fort und unter einen
Willen. Ich bin so miide.
Ch evalier: Ihre Miidigkeit ist heilig.
Madame Legros: Auch will ich nicht, dafi Sie mir dan ken.
Denn ich habe Sie verraten.
Chevalier: Sie — mich ? (Lacht auf:) Das ware das letzte,
was ich zu lemen hatte. (Besinnt «ich :) Ich will nicht wissen,
wann und wie. Beichten Sie einem Wiirdigeren ! Schonen Sie
mich! Mein Glaube an das Cute soli ein Leben lang sich auf
diese eine Stunde berufen. Ich weiB, er wird es schwer haben.
Auch Sie wird das Leben zu anderem entfiihren, als es die
Rettung eines Unschuldigen war.
Volk (zieht in der Guie herbei, mit Getrommel und gellenden Pfiffen*
Dann Rufe): Madame Legros! Zur Bastille!
Chevalier: Els kommt schon, Sie zu holen. Aber nicht
jene, die Sie in Not und Zweifeln sehen werden : nur ich habe
Sie gekannt. in meiner hochsten Stunde. Leben Sie wohl,
Madame Legros ! (Er will hinaut. Manner mit Picken und Axten ver-
treten ihm die Tfir.)
Ein Mann: Da ist Madame Legros ! Sie sollen mit uns
kommen, Sie sind die Freundin des Volkes !
Ein anderer:Sie haben einen Unschuldigen befreit.
Alle: Ehre der Freundin des Volkes!
Der erste: Aber es sind noch andere Unschuldige in der
Bastille.
Der zweite : Und draufien. Kommen Sie mit uns, an un-
serer Spitze!
Rufe: Zur Bastille!
Madame Legros: Meine Herren, haben Sie Nachsicht,
was soli ich tun?
Der erste: Uns fiihren!
Madame Legros: Ich weifi nicht, wohin. Ich habe getan,
was zu tun war. Der Unschuldige ist frei.
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
185
Der zweite: Jetzt ist es an uns. Wenn Sie dabei sind,
Madame Legros, werden wir siegen.
Madame Legros: Uber wen? Der Unschuldige ist frei.
Der erste: Begreifen Sie doch, dafi es mehr zu tun gibt.
Wir alle leiden.
Madame Legros: Ich habees getan. Der Unschuldige ist
frei.
Der erste: Sie will nicht!
Der zweite: Sie verratuns!
Rufe: Zur Bastille 1 Schleppt sie mit!
Madame Legros (wird umringt und angefaBt): Verschont
mich, liebe Herren!
Chevalier: Fort da! (Zieht den Degen.)
Rufe: Ein Adeliger! An die Lateme mit ihm ! Hiindin! Du
verratst uns mit den Adeligen !
Chevalier: Packt euch!
Ein Mann: Pack dich selbst ! (Sticht nach ihm.)
Andere (stechen nach ihm): Macht ihn tot!
Chevalier (tinkt auf der Schwelle zutammen).
Madame Legros (ichreit): Morder! Ihr seidMorder!
Rufe: Sie auch! Totet sie auch!
Madame Legros (breitet die Arme aua): Wagt es!
Gemurmel: Sie hatdenUnschuldigenbefreit. Wasmachen
wir da. (Man weicht zuriick.)
Madame Legros: Was ihr da macht? Ein menschliches
Herz habt ihr durchbohrt in dem Augenblick, da es am hochsten
schlug, hoher als eures, hoher als meins . . . Ach ! wozu schlug
es, wozu befreite ich den Unschuldigen ! (Sie kniet bei der Leiche
hin.)
DieMenge (zieht ab): Zur Bastille!
(Es dunkelt.)
186
Heinrich Mann * Madame Legros
SECHSTE SZENE.
Madame Legros. Legros.
Legros: Deine Freunde waren wieder da. Siesind ein we-
nig zu larmend, mufi man sagen . . . Um Gottes Willen, was
Iiegt da?
Madame Legros: Hilf mir, Legros! 1st er tot? Das ist
furchtbar !
Legros: Ich glaube, es ist aus. Ein Toter auf unserer
Schwelle! Man wird mich fragen, wie er dahin kommt, — und
wenn ich es nicht sagen kann — . (Greift sich um den Hals.) Das
kommt davon, Madame Legros. So enden deine Geschafte.
Mich und dich bringen sie an den Galgen.
Madame Legros: Ich weifi nicht mehr, wie das alles
kommt. Habe Mitleid mit mir, lieber Mann !
Legros : Nunsiehstdu wohl, dafi dein Mann fur alles sorgen
mufi. (Horcht, sturzt nach links, ruft durch einen Tiirspalt:) Schierdich
in die Kiiche! Dafi du dich nicht riihrst! (Kehrt zuriick:) Die
Gasse ist leer. Ich trage den da vor die Tiir des Wundarztes,
klopfe an und mache mich um die Ecke. Was geht das alles uns
an. Wasche die Schwelle! Und schweige! Schweig still! (Er
schlieBt die Tur. Ab mit der Leiche des Chevalier.)
*
SIEBENTE SZENE.
Madame Legros. Ein Akademiker.
Madame Legros (lauft durch das Zimmer, halt sich den Kopf und
stohnt. Sie sieht sich scheu nach der Schwelle um. Es klopft. Sie schrickt
zusammen. Als es nochmals klopft): Herein!
Akademiker: Es wird Nacht, Madame, ich sehe nicht
deutlich, ob ich die grofie Ehre habe, vor Madame Legros zu
stehen.
Madame Legros: Ich bin die Frau des Strumpfwirkers
Legros, mein Herr.
Heinrich Mann ♦ Madame Legros
187
Akademiker: So sind Sie die Heldin, die wir heute in der
Akademie kronen durften. Vielmehr, Ihre Anwesenheit bei uns
war unsere Kronung, die Kronung unseres Werkes. Madame,
erlauben Sie, dafi ich in Ehrfurcht diese Hande beriihre, die
den Kerker der Vemunft geoffnet Haben.
Mad ame Legros (zieht die Hand zuriick).
Akademiker: Mein Besuch scheint Ihnen unwillkommen.
Ich verstehe, dafi grofie Taten viel Uberdrufi hinterlassen an
den Menschen, denen sie doch galten.
Madame Legros: Ich bin krank, mein Herr, verzeihen
Sie mir.
Akademiker: Ihre Hand ist zu heifi. Aber auch Ihre
Miene, Madame, sieht verstort aus und Iafit nichts mehr von
der erhabenen Freude merken, mit der Sie heute den Ruhmes-
worten unseres Redners zuhorten. Ich gestehe, dafi ich die Be-
freierin des Gefangenen Latude nicht wiedererkannt haben wiirde.
Madame Legros: Wundert Sie das, mein Herr? Fur die
Frau des Strumpfwirkers Legros war das alles zu viel : die lange
Arbeit der Seele, der Kampf gegen alle, und dann die Ver-
brechen.
Akad emiker: Die Verbrechen?
Madame Legros: Glauben Sie denn, dafi Hande, die erne
Bastille aufmachen, rein bleiben konnen?
Akad emiker: Mein Kind, Sie fiebem. Die Vemunft sagt
uns, dafi wir durch das Gute siegen werden, und dafi das Ziel
das Gluck aller ist.
Madame Legros (lauft umher): Und meine Angst und mein
Herzklopfen sagen mir, dafi ich nun eine Verbrecherin bin.
Ein Mensch, horen Sie, ein Mensch, der mir glaubte, war es :
und eben ihn verriet ich und liefi ihn sterben! Habe ich nicht
alle verraten? Bin ich nicht schuldig, dafi alle sterben?
Akademiker: Der Unschuldige lebt, und er ist frei!
Mad ame Legros (bleibt stehen, atmet auf): Ja, er ist frei.
Akademiker: Und wenn er nochmals zu befreien ware?
Madame Legros: Ich nicht! Ich tue es nicht mehr! (Sie
sinkt hin, schluchzt :) Ich bin nun verbraucht und verdorben.
13 Vol. m/2
1 88 Heinrich Mann * Madame Legros
Akademiker: Armes Geschopf, das eine Heldin war! So
werden andere nach dir zur Tat machen, was die Vemunft
beschlieBt .
(Entfernte* Trommein. Rufe: Zur Bastille I)
Madame Legros: Ich will nicht horen.
Akademiker: Das ist der Gesang, Madame Legros, den
Sie angestimmt haben. Ich ehre Sie, aber ich gehe nun weiter.
(Er offnet die Tiir, er gleitet aus:) Was ist das?
Madame Legros: Auf solcher Schwelle, mein Herr, fir-
ben sich die Sohlen. Sie ist schliipfrig. Hiiten Sie sichl
Akademiker: Wir steigen hiniiber und gehen weiter. (Ab.)
*
ACHTE SZENE.
Madame Legros. Legros.
Legros (tritt durch die noch offene Tiir ein).
Madame Legros (l*uft ihm entgegen) : Rette mich !
Legros: Was gibt es? Wer war da?
Madame Legros: Ein Feind! Ich weiB nicht . . . Sie
lassen mir keine Ruhe.
Legros : Das darfst du sagen. Aber jetzt ist dein Mann da.
Wir wollen einmal sehen, ob die Leute hier noch lange ein- und
ausgehen werden wie bei sich zu Hause. Mach Licht, ich
SchlieBe die Laden. (Er geht auf die StraBe hinaus, legt die Fenater-
liden vor.)
Madame Legros (ziindet die Kerzen an) : Komm schnell
zuriick! Ich angstige mich. DrauBen geht jetzt so viel vor.
Legros: Auch noch die Tiir. Nun werden sie uns in Ruhe
lassen. (Fliistert:) Ich glaube wohl, daB niemand mich gesehen
hat. Der Tote sitzt vor der Tiir des Wundarztes. Es war ein
wenig gefahrlich, ihn bis dorthin zu tragen. Aber ich habc
ihn aus menschlicher Achtung nicht in die Gosse werfen
wollen.
Mad ame Legros (weint laut).
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Heinrich Mann * M adame Legros
189
Legros: Du horst das nicht gem. Ich sage es auch nur,
damit du weifit, daB wir wenig zu fiirchten haben, — und man
kann sagen : nichts. Denn heute abend sind in Paris noch einige
andere vomehme Herren ums Leben gekommen. Wer will da
den unsem herausfinden.
Madame Legros: Du sprichst, als seien wir selbst die
Morder ! Ich bin nicht schuldig an diesem Blut ! Ich nicht !
Legros: Nein, du nicht. Und auch sonst laBt sich nicht
sagen, daB einer schuldig ist, aufier den Herren selbst.
Madame Legros: Er war der Beste von alien!
Legros: Danach fragt man jetzt nicht mehr. Man sagt
sich in Paris, daB ein Unschuldiger dreiundvierzig Jahre in der
Bastille verbracht hat, und daB es daher gleich ist, ob die, die
sterben, schuldig sind oder unschuldig. Man sagt, die Bastille
miisse fallen. Heute oder morgen soli es Ernst werden. Und
das Zeichen zu alledem, sagt man, hat Madame Legros ge-
geben.
Madame Legros: Es ist nicht wahr! Ich war bei dir,
lieber Mann, du kannst es bezeugen. Den ganzen Tag bin ich
nicht mehr ausgegangen.
Legros: Aber die vorigen Tage? Da warst du wenig da-
heim, Madame Legros.
Madame Legros: Verzeih mir! Verzeih doch endlich!
Es war wie ein hartes Geschick, das mich befiel. Ich muBte
folgen. Ich habe dich nicht gem gekrankt, lieber Mann.
Legros: Weifit du denn, Madame Legros, ob du mich
eigentlich gekrankt hast? Wenn hier Unrecht geschehen ist,
so habe wohl auch ich das meine begangen und brauche deine
Verzeihung, wie du meine.
Madame Legros: Schick sie fort, Legros.
Legros: Hier hab’ ich schon den Platz in der Post fiir
morgen friih. Ehe der Tag graut, setze ich selbst sie hinein
und gute Reise! In ihrem Dorf mag sie immerhin ausplaudem,
was sie heute doch vielleicht gesehen hat.
Madame Legros: Du bist gut! Du liebst mich noch
immer ?
w
Heinrich Mann * Madame Legros
190
Legros: Das merlcst du wohl ... Es ist nicht recht, wenn
die Frau dem Mann tiber den Kopf wachst.
Madame Legros: Du bist stark I Nur dir will ich gehor-
chen und dienen.
Legros : Aber was du getan hast : wenn es mir auch Kopf-
zerbrechen gemacht Hat, so verstehe ich doch, dafi es etwas
Cutes war.
Madame Legros: War es etwas Cutes?
Legros: Ich bin ein Burger von Paris und weifi so gut wie
einer, dafi wir nach Vemunft und Tugend handeln sollen. Nur
denkt man immer, ein Fremder und Weitentfemter mag damit
anfangen. Und mm war es meine eigene Frau. Dahinein habe
ich mich nicht leichter gefunden, als jeder andere getan hatte.
Madame Legros: Nun ist es wieder, wie es immer war.
Du bist mein Mann und Herr.
Legros: Es ist so, und ist auch wieder nicht so. Denn
dazwischen liegt, was du getan hast, und das werde ich nicht
vergessen. Die andem, daran zweifle nur nicht, werden es
vergessen. Vielleicht auch werden sie es dir vorwerfen und uns
verfolgen. Man weifi nicht, was fur Zeiten kommen.
Madame Legros: Dann habe ich dich und du mich!
Legros: Ich werde dich ehren, liebe Frau, auch wenn ich
dir befehle.
(Umarmung)
Legros: So viel habe ich dir seit unserem Hochzeitstage
nicht mehr gesagt.
Madame Legros: Jetzt will ich an die Arbeit gehen.
Legros: In der Nacht?
Madame Legros: Hier auf der Kommode, die sehr ver-
staubt ist, liegt noch immer das Haubchen des Frauleins Pal-
myre. Endlich befestige ich daran die Schleifen.
Legros: Dies war ein schwerer Tag. Sie haben dich zuerst
gekront und gefeiert. Dann kam wohl noch Schwereres.
Madame Legros: Und nun befestige ich die Schleifen.
(Vorhang)
Theodor Ddubler ♦ Matisse
19!
Feodor flaubfer:
MATISSE
Tjas „Morceau de peinture" ist verschwunden, der Farbfleck
^ hat seine Bestimmtheit eingenommen. Die Grofie jedes
Farbflecks und seine nervische Intensitat, der ausdriickliche
Abstand der einzelnen Farbflecke voneinander, im Sinne einer
malerischen Tonskala, beherrschen die Bildflache, bestehen
sogar auf einem ihnen genau angepafiten Rahmen: die den
Farbflecken innewohnende Kraft gibt somit das Format des
Bildes zwingend an. Folglich, Rhythmus aus der Farbe heraus.
Unbedingtheit der Farbe. Eigenrhythmik in jedem Gemalde.
Hochste Form aus selbstverstandlichster Freiheit. Jedes Werk
seine Urspriinglichkeit und eine einzigmogliche Tatsache.
Dichtung aus dem Wortkem heraus, Zeichnung als Behauptung
der Farbe. Zum erstenmal kein Dualismus : endlich ein Malen,
das Malerei gebiert, der Farbfleck, der sich selbst einzeichnet.
Klassik und Eigenheit in ihrer Unzertrennlichkeit. Die letzte
Revolution und doch langst keine mehr. Revolution, die Re-
volutionaren niemals einging, und auf die blo6 ein Klassiker
kommen konnte. Somit: Matisse, der unbedingte Einfall, was
Malerei ist.
Seine Farbflecken sind wie Satze, die aus trefflichsten Haupt-
wortem bestehen. Jeder Satz fiir sich. Punkt. Der nachste
Satz wieder fiir sich. Nochmals. Also ein dritter. Ein vierter,
fiinfter, und so weiter. Endlich wird das Auszusprechende
erschopft. Jeder Satz beruht auf sich. Der Zusammengang
der Inhaltlichkeiten ist aber vollkommen vorhanden. Ein ganz
modemer Stil. Arabeske, die niemals dekorativ ist. Akademie
aus Pedanterielosigkeit.
192
Theodor Divider * Matisse
Die Bilder von Matisse mufi man beherzigen ; sein wissen-
schaftliches Vorgehen ist so liebevoll eindringlich mit seinem
Gegenstand beschaftigt, so unbekiimmert um alle andem Mog-
lichkeiten, Gegenstande zu schaffen, dafi er Lyrik schopfen
muB. Auf Schritt und Tritt. Matisse analysiert, wenn fiir ihn
die Gesamtheit schon vorhanden ist. Sie halt ihn unweigerlich
fest: er zerlegt bloB behutsam aus Griinden klaren BewuBt-
werdens. Jedes Anders hat sein eigenstes Aussichheraus und
wirkliches Vorhandensein : Stil ist Vollkommenheit. Und zwar
eigene Vollkommenheit aus jedem Ding fiir sich entkemt. Stil
ist der Versuch unbedingt, Ding an sich, zu werden. Matisse
hat die Farbe bis zur letzten Unabhangigkeit gebracht.
Verdeutlichen wir nochmals die Sprache von Matisse. Wir
betonen wieder : Farbe und Zeichnung erganzen einander nicht,
sondem der Eindringlichkeit des Auftretens eines Farbenerleb-
msses entspricht sein Anspruch an Raum. Man konnte auch
sagen : Selbstbehau ptung unter uns innerlichster dynamischer
Vorgange. Man mochte wohl sagen : allerknappste Mitteilung
eines metaphysischen Vorgangs durch die Farbe. Stolz der
Farbe mit tiefster Bescheidenheit bei auBerlicher Bezeich-
nung.
Hochster Triumph des Aquarells. Jeder Farbfleck muB Raum
haben, um sich auszudriicken Die Farbflecken diirfen einander
nicht storen, daher die Notwendigkeit, daB WeiB dazwischen
bleibe. Jedem FarbbeschluB werde seine Atemberechtigung.
Dieses freie WeiB verbiirgt aber Leichtigkeit, wie gesagt, Atem-
barkeit fiir die Gesamtheit der Farbflecken, Freiheit in den
Bewegtheiten der einzelnen Tonwerte. Dieses WeiB kommt oft
auch bei Olgemalden des Meisters vor, besonders im Stilleben
oder in Bildem mit besonders betonter Rhythmik. Hier hat
Moll in Berlin Matisse besonders scharf verstanden. Der Farben-
dynamik bei Matisse entspricht eine Realitat. Seine Bilder ver-
bleiben in einem Da, hier unter uns. Jeder Farbfleck wird
eigennervig mit nervoser Kraft hingesetzt. Er schwarmt sich
nicht gespenstig und hyperbelhaft aus wie Kandinsky, und den-
noch ist er unbedingt : Flammengeburt.
Theodor Ddubler » Matisse
193
In seinen Kompositionen schweift Matisse aus der Niichtem-
heit des Gegebnen aUerdings in ein Mitarabeskenbehaften ab.
Durch unsre Generation geht ein eigenster, allerinnerster Be-
fehl : fort vom Alltag, weg vom Naturalismus I Zum mindesten
sagt unsre Stimme: sieh das Wunder auf Schritt und Tritt.
Hore die Sterne in deines Nachsten Wesen, verabenteuerlicbe
jedes Geschenk, das dir eine giitige Hand reicht. Farbe ist aus
dem Unterirdischen zum Tagen berufen worden.
Das hebraische, das mohammedaniscbe Gebot, keine Gleich-
nisse auszubilden, kein Menschenantlitz aufzustellen, gebar ab-
strakte Geistesart: darum geschah es: abstrakte Arabesken-
kunst wurzelte sich in den Volkem Asiens fest, liebliche Trieb-
haftigkeiten seeligten in die Welt unerforschter Geometrien
empor. Europas Bilderstiirmerei vertilgte das Gebaren in
Plastik, und das ereignete sich zugunsten der Musik. Wir
Jiingem wollen kein Nachbilden mehr, aus unsrer Nachthaftig-
keit sollen wir abermals Phantasiegeschopfe, zauberhaft, oder
wenigstens, durch Geschautsein frei und leicht geworden, em-
portauchen lassen, damit sie, von der Ewigkeit umhaucht und
berauschend, unter Menschen in ihrer Naturgezwungenheit
treten konnen. Matisse ist einer der Sieghaften unter den
Geistiggewiesenen, aber er bleibt beim Ubererbten: seine
Menschen sind keine Tapetendryaden, sondem freie Seelen,
die Tapeten entwerfen und ihrer Gemiitsart anpassen. Die
Friichte seiner Stilleben sind keine Manna, keine Schnuppen
aus der Astralwelt, kein unvergangliches Obst einer Marchen-
insel, sondern die Veranlassung, daB ein Kiinstlerauge aus ihrer
Pracht eine junge Farbenlehre hervorbluten, z uriickdammern,
bei uns atmen sieht. Matisse’ Blumen fallen nicht aus unsicht-
baren Gespensterhanden herbeigegeistert, oder wie bei Odilon
Redon, dem sehenden Kiinstler, in den SchoB ; nein, sie saugen
sich in schonen Vasen voll von Wasser, um durch ihre unheim-
liche Pfaulichkeit in schoner Frauen Haarturbanen oder vor lila-
griinen, silberbesprenkelten Spiegeln ins Staunen zu versetzen.
Von Matisse stammen die beiden modemsten Bezeichnungen
kiinstlerischen auf ein Ziel Gerichtetseins : Kubismus und Ex-
194
Theodor Divider * Matisse
pressionismus. Der eigentliche Expressionist aus der Farbe
heraus ist Matisse selber. Also der letzte Modemste. Dabei
reicht seine Ahnenreihe zuriick in die weitesten Femen. Die
hellenistischen Fresken in den Grabern Etruriens, namlich die
Unterwelt der „sette camini“ bei Orvieto, die Wandmalereien
der Nekropole von Clusium und besonders das ganze Toten-
gebiet von Cometo Tarquinia entstammen im Malerischen
einem verwandten Geiste. Denn auch da gait es vor allem zu
malen. Die feinsten Gestaltungen blieben deshalb ohne UmriB,
obne Wissen von Zeichnung, von der Farbe her selbstbestim-
merisch rhythmisiert wie beim Nervenmenschen Matisse. Wo
sie grober wurden, bekamen sie Konturen, ahnlich wie bei
Gauguin. Pompeji gehort einer spatem, schon vielfach sehr
anders gewordenen Epoche an. Dort handelt es sich nicht
mehr um eigentlich unsichtbare, fur sich und die Geister be-
stimmte Nachtgewolbe, die man ausmalte, sondem im Gegen-
teil um ein Dekoratives bei vollem Sonnengang. Pompejianisch-
rote Flachen sollten belebt, illustriert, selten auch beseelt werden ;
schwarze Raume wurden fur die Tagesherrlichkeit hergestellt:
der dekorative Zweck forderte Puttenschmuck, Pflanzenfreudig-
keit, nicht mehr Heiligkeit der Farbe. So wars auch im Palast
des Nero in Rom. Die Grotesken sind sehr feinempfundenes
Kunstspiel. Die Reste des allerzartesten Wandberankens aus
Menschenhand fand man in der Villa Negroni und findet man
noch heute spurhaft im KaiserschloB auf dem Palatin. Deko-
rativ wurden daher auch die herrlichen Loggien Raffaels und
von Giovanni d’Udine im Vatikan.
Weltbrandkarawanen aus absoluter Farbe setzte das Mittel-
alter in die Fenster seiner Kathedralen . Zumal in den ganz
alten Glasmalereien, wie im Dom zu Augsburg, in Chartres,
in Pisa. Grade an der Dunkelheit der Farben lag ihr Geweiht-
sein ; spater bei den taghellen Fackelziigen half das Irdische,
namlich das Sonnenlicht, zu viel mit: es steigerte sich daher
zu machtig das Beleuchtetwerden zu ungunsten eines seelischen
Erleuchtetseins, wo doch das von auBen hereinnickende Tages-
hell bloB ein Rechnen mit den diesseitigen Notwendigkeiten
Theodor Ddubler * Matisse
195
bedeu ten konnte. Jedenfalls ist der Farbfleck ein aus der Gotik-
geboren- werden . Im Mittelalter pragte ihn glaubige BewuBtheit
aus, heute zittert er unter der nervosen Hand Matisse’ sternig
auf. Bei Tizian, zumal beim Alten, fiihlen wir oft im Olbild
das Auf gluten der absoluten Farbe. Der Goldregen bei seinen
Danaen, mehr noch auf dem Neapler, als auf dem Wiener Bild,
verheifit bereits viel mehr vom Eignen-Leuchten-ErfaBtsein als
von sogenannter Farbenglut, in einem auBerlichen Sinn. Auch
Tizians oft geriigtes Verzeichnen geht eigentlich aus einem
gewagtern Raumausspruch seines Farbenerlebens hervor, das
sich um korrektes, aber unmalerisches Zeichnen nicht kiimmern
konnte. Eine Ahnung vom Farbfleck sprengte die herkomm-
liche Ricbtigkeit der Umrisse. Spat, in seinem Nachtstiick in
Miinchen, in der Geiselung Christi ist der Farbfleckbringer
Tizian tatsachlich da. Kann man da iiberhaupt noch von
Zeichnung reden?
Matisse kam sehr friih auf Sonnenwegen zu seinen Farb-
fleckergebnissen .
Hier sei Beccafumi, Sienas spater Kolorist, nicht iibergangen.
Viel Modernes ist in seinen wenigen besten Bildem enthalten.
Von allem sah er die Welt pflanzenhaft ; im Sinn grosser Palm-
blatter gruppierte er Menschen und Wolken zueinander. Der
Wedel gab ihm iiberhaupt seine Stildeutung ein. Spontan wieg-
sam, noch selbstandiger als bei Greco, genau tastbar verteilt,
bluteten seine Farbentatsachen auf. In den Gesamtheiten har-
monisierte er zwar Farbe und Vorgang, aber alle Farbe hatte
auch eine Willkiir inne ; war oft eine Plotzlichkeit, keine Ein-
ordnung wie bei Matisse : aber grade durch diese Plotzlichkeit
war in ihr etwas wie Vorahnung der absoluten Farbe. Ein gross-
artiges Farbenabenteuer wurde damals in der toskanischen Hiigel-
stadt angefeuert. Ein wundervolles, farbengetragnes Empor-
dunkeln der mystischen Seele Toskanas: dazu ein taumelndes
Irrlichtern von Farbenzerlegbarkeiten, wie dann viel spater
durch Delacroix.
Matisse bleibt einfach, fast sachlich. Rhythmus und Farbe
stiitzen einander voll von Selbstverstandlichkeit. Lose Tanz-
196
Theodor Doublet * Matisse
gewinde von Menschen oder Blumenkranzen werden leicht hin-
gemalt, beinahe behaucht. Festere Laubgefiige, Waldlichtungen
mit erdbeerrosa Boden sind stolz auf ihre Baumumgebung mit
satterem Farbenausdruck. Oft bereichem das kraftige Bildnis
einer gemalten Person zartersonnene Stilleben vor Spiegeln um
Geranktapeten, auf zartlich iibersamteten Tischen. Dieser
Wechsel von Rhythmen bringt Reichtum ; eine vollgewollte Har-
monie verwogt das Sanftmelodische der Einzelgefiige. Aber
immer erganzen sich Rhythmus und farbiger Ausdruck, nur
haufig zwiefach, ja vielfach auf dem gleichen Gemalde.
Den Reichtum durch eine Art plastischer Fuge brachte der-
einst Paolo Veronese. Perlmutterhaft schillert der Himmel iiber
sein Italien zwischen zwei Meeren. Traumhaft blauaugelt sein
Graugriin hinauf zu einer wahrhaftenNachmittagssonne.Traurig
blaugraut es durch seine froh begeisternden Himmelseinblicke.
Windhauche verlieben sich, lilasanfter noch als bei Giorgione,
in blauverwunderte Gebiischvertraulichkeiten. Lilagriines Ge-
wolk wittert, vielleicht halb wetterleuchtend, das Nahe eines
Meeres. Das ist das Perlmutternde in der Natur.
Beim Raub der Europa wirds am anschaulichsten, wie sich
Veronese mit einer Farbensymphonie triumphatorisch seiner
eignen Komposition entgegenstellt. Von dem in den Fleisch-
farben niisternden Maul des Stieres geht er farbenverschwen-
derisch aus, um sein Europaertum liberall goldig, blond oder
briinett, im Bild hervorblitzen, heraustaumeln zu lassen.
Tiepolo verstand ihn, griff nach dem Motiv des Raubes der
Europa und turmte einen Aufbau aus Farben seinen Kom-
positionen der vier Weltteile im Wiirzburger Schlofi entgegen.
Auch hier sind die hauchenden Fleischteile des Stieres aus-
schlaggebend. In ihren Farben, den europaischen, dammern
gelbrote Uberraschungen aus Brokat und Wolkenbombast.
Fleischfarbne Kleider, Tiere, halbblasses Europalicht flimmert
aus alien Ecken und Schlitzen, die zufallig von der Komposition
getragen werden, sie aber eigentlich unterbrechen, auseinander-
splittern. Europas Wesen, ihr nacktes Mitgerissenwerden, be-
stemt herrisch die Riesenflache, indem es sie aber gleichzeitig
Theodor Ddubler * Matisse
197
fleischrosa, trunkenviolett hervorsprenkelnd zersetzt, zerge-
wittert . Sie selbst, das Weib, wie es in die Komposition ein-
gesetzt ist, konnte beinahe iibersehen werden.
Amerika bei Tiepolo in Wurzburg : keine wilden Tanze am
Potomac, keine Affenumziige mit Papageifederfachern in den
Antillen, sondem Europaer, rostrot im Halbschatten, tragen
braunrote Ballen Ware, Karawanen von Rottunken heriiber
ins einstige Land der Rothaute. Sie ziinden sich selbst hier,
iiberm grofien Wasser, ein rotes Herdfeuer an. Dem Farben-
aufmarsch in Rot setzt sich ein vorwegkomponiertes Formen-
land entgegen. Es wird aber vom Rot erobert.
Afrika bleibt noch lange die Welt der Schatten und ihrer
wunderbaren lila Blauheiten. Das Schattenland bei voller
Prachtsonne !
Ernst Barlach machte mich darauf aufmerksam, dafi Schmet-
terlinge die Bringer einer Farbenfuge sind. Die bunte Bespren-
kelung dieser Tiere unterstiitzt keineswegs immer die Zeichnung
ihrer Fliigel. Sie bebunten sich oft aus blofier Farbentollheit.
Dadurch werden aber die Schmetterlinge unsichtbarer ; ihre
Zeichnung fallt im Kunterbunt der Natur weniger auf. Die
Farbe schiitzt ihren Hervorzauberer. Sie wird absolut in der
Natur ; vielleicht auch bei Vogeln, zumal bei den brasilianischen
mitSonnenfleckenkehlen. Das Volk wuBte das, denn es hat einen
Schmetterling Pfauenauge getauft. Also Farbe wurde zum
Auge.
Matisse mufi Schmetterlinge lieben. Er liebt so sehr Kinder.
Er soil sogar ein Tochterchen haben, liber deren AuBerungen
er oft vor seinen Werken erstaunt ist. Seine Kunst ist ja aus
Aufrichtigkeit, aus Bekenntnis zur Farbe geboren. Dabei ist er
der gewissenhaftesteTheoretiker: Matisse verlangt aber grund-
satzlich bloB Kunst, das heiBt : wer sich allein auf das Kiinst-
lerische in sich verlaBt, wird immer voll von Naivitat bleiben.
In Miinchen lebte bis vor kurzem ein Kiinstlerkind : der
Knabe Andrej. Er war immer der Schmetterling unter den
Gespielen; das echteste Kind und zugleich Kiinstler. Schon
mit vier Jahren schuf er aus der Farbe, ohne irgendwie illu-
Theodor Ddubler * Matisse
198
strieren zu wollen, ganz zauberhafte Gemaldchen. Man sagt
sich vor seinem lieben (Euvre : aus demj ungen konnte ein Matisse
werden! An Matisse, (lessen Werk er nicht kennt, erinnern
namlich seine Bilder am allermeisten. Das kann auch als be-
stimmter Beweis dafiir gelten, da8 Matisse heute die natiir-
lichste Kunst gibt.
Beim Beurteilen jeder Malerei sagt der kleine Andrej immer
treffsicher, ob in einem Bild die Farbe aus sich heraus ausge-
rundet ins Bild hinein eingerundet sei.
Matisse hat bereits seine groBe Wirkung getan: der friiher
erwahnte Moll in Berlin und Purrmann sind seiner Richtung
wichtigste Vertreter.
Da man durch ihn aufs eigentlichste Malen gekommen ist,
muB sein EinfluB in Zukunft immer machtiger in Erscheinung
treten.
Glossen
199
GLOSSEN
Gpitog
zu den cBriefen an einen C oten .
Es gibt Leute, welche die Worte:
„Ich bin nicht gekommen den Frieden
zu bringen, sondern das Schwert44 mit
besonderer Vorliebe herausgreifen, an-
dere wieder, welche meinen, Christus
konne sich unmoglich so geaufiert
haben. Ich zweifle keinen Augenblick,
daB er so sprach, sowenig ich glaube,
dafi er dabei an unsere heutigen Stick-
gase, Flatterminen und Sprengbomben
dachte. Aber ich weifi eine Schlacht,
zu der ich noch als ein Schatten jubelnd
hinstiirmen wiirde, tagte er endlich, der
groBe Europaische Bruch mit unseren
Trollen, unseren Ab- und Unterarten
und demTroB der Seelenlosen, deren
Triumph das heutige Chaos besiegelt.
Denn eines Tages werden wir es vor
uns herjagen, das Heer der boswilligen
Toren wie der Unterwortenen, nicht
linger gewillt, ihre Obermacht zu er-
tragen. Von langer Hand ist der Rache
vorzuarbeiten, von jetzt ab schon und
inmitten der unerhorten Niederlage
noch, welche die Kinder des Lichts von
den Sohnen der Finsternis erdulden.
Ist das, was sich heute ereignet, etwas
anderes als das erweiterte Bild des-
jenigen Krieges, der unablassig auf der
Erde wiitet, das Gluck der Familien
untergrabt und die Hauser niederreiBt?
Haben die Knechtischen jemals auf-
gehort, den Besonnenen zu verfolgen ?
Ist je ein Waffenstillstand zwischen
ihnen gewesen ? LieBen sie je ab, den
Edlen zu bedrangen, auf daB er stixrze
oder sein Wir ken wieder vereitelt werde ?
Kein Gesetz, nichts auf Erden storte
sie je, das goldene Saitenspiel seines
Herzens zu zerschlagen. Wir wissen
genug. Wer brennenden Auges in diese
Welt hineinsah, dem ist dieser Krieg
kein Ratsel, noch die Worte Desjenigen,
dessen Kommen der Engelsruf ver-
kiindete: ,,Friede den Menschen, die
guten Willens sind,44 und der doch
gesagt hat: ,,Ich bin nicht gekommen,
den Frieden zu bringen, sondern das
Schwert.44 Die weit verstreuten Wen*
sc6en sind heute iiberall die Unter-
legenen, die ihre Einigung noch nicht
festlegten, um als das auserwahlte
Volk — furchtbar genug — den FuB
auf den Nacken der Schlechten, der
Unentwickelten, der Unterarten zu
setzen, nicht mehr willens, mit ihnen,
die nichts so sehr scheuen wie ihre
Namen, die Herrschaft iiber diesen
Planeten zuteilen. Durchalle Nationen,
alle ihre Schichten hindurch ist der
„Genius“ dieses Krieges, seinem Cha-
rakter entsprechend, der Wiirgengel
der Besten gewesen, der besten Sohne
iiberall, und der ungeborenen Sohne
200
Glossen
dieser Sohne. Fragt einen Arbeitgeber,
wo immer I hr wollt : seine besten Leute
sind es, die er beklagt. Rache fur sie,
fur alle Prediger in der Wiiste, fiir alle
jene Staats manner auch, die — hier
und driiben — mit reinen H&nden in
diesen Krieg gerissen wurden, Rache
fiir sie und ihren Gram. Ohre Er-
hebung und i6r ZusammenschluB ist
die groBe Notwendigkeit. Man sage
mir nicht, dafi es unmoglich sei. Ein
Ruf dringt schon durch das Getose.
Wie mit Feuerzungen ist schon die Luft
von den Stimmen der Dichter erfiillt.
Inmitten welcher Drangsal, welcher
Todesnot, aus ihren Graben, ihren
Grabem ach ! haben sie nach der Herr-
schaft des guten Menschen gerufen.
„Sein ist die Kraft, das Regiment der
Sterne.44
Und es gilt nicht von Utopien zu reden.
€s gibi Heme QJiopien. Er ware denn
nur ein Utopist gewesen, der nicht ge-
kommen ist, den Frieden zu bringen,
sondern das Schwert, und der gesagt
hat: „Selig sind die Sanftmiitigen, denn
sie werden das Erdreich besitzen.44
flnnetie 3Cofb*
‘Besefzt
Wie oft, wenn ich mit dem alter-
tiimlichen, schwerfallig und doch leicht
dahintrampelnden Pferde - Omnibus
durch die Berliner StraBen und durch
das Berliner Leben fuhr ,was mich immer
wiedervon neuem belebte undergotzte,
horte ich, vom altlichen, gutmiitigen
Schaffner auf bescheidene und drollige
Art ausgesprochen, dieses kleine, un-
bedeutende, aber im gegebenen Mo-
ment doch auch wieder ziemlich wich-
tige Wort, das iibrigens auch noch, der
Ordnung und Genauigkeit halber, auf
einer Tafel geschrieben stand, die sicht-
bar oder unsichtbar gemacht werden
konnte. Hing die Inschrift
~BESETZT
nett und artig herunter, so wuBten die
Leute, daB einstweilen niemand mehr
einsteigen und hinaufklettern durfte,
weil die Gondel oder das auf Radern
rollende Lustgemach bereits beinahe
bis zum Ersticken voll war, ein bedau-
erlicher Tatbestand, den die mahnende
Tafel ja deutlich genug ankiindigte:
„Haltl Wer die auch immer sein mo-
gen ; bis hierher und nicht weiter!44
Mitunter gab es aber trotz der ableh-
nenden und abweisenden Tafel starken
Publikumsandrang, stiirmisches Ver-
langen, einzusteigen und mitzufahren.
Dann sagte etwa der diensttuende
Kammerherr mit hoflicher Stimme :
„Besetzt, meine Herrschaften44, oder
er sagte: „Bitte nicht drangen. Es hat
keinen Zweck‘\ oder es fiel ihm viel-
leicht ein, zu sagen: ,,Mit demgrofiten
Vergniigen, meine Damen und Herren,
mochte ich Sie auffordern, einzusteigen
und Platz zu nehmen, aber es ist meine
rauhe Pflicht, Sie darauf aufmerksam
zu machen, daB der Wagen bis in die
kleinste Ecke hinein dicht mit Fahr-
gasten besetzt ist. Entschuldigen Sie
sehr, daB ich gezwungen bin, Ihnen
den EinlaB und Durchbruch zu ver-
weigem.44 Wahrend auf der einen Seite
gestiirmt und angegriffen und auf der
andem Seite abgewunken und abge-
wiesen wurde, fuhr das Boot mitten
durch all den GroBstadtverkehr, der
Glossen
201
fast einem Meere glich, immer ruhig
und munter welter. Schon will wieder
ein hastiger Ungestiimer aufspringen,
doch schon tont dem Kecken wieder
das ruhige „Besetzt4‘ in die Ohren,
worauf er den FuB vom Wagentritt
wieder sorgfaltig zuruckziehen muB.
Einmal, als sich der Omnibus in
voller, schoner Fahrt befand, alles glatt
und fein dahinging, niemand auch nur
von feme an einen Oberfall oder an
einen Gewaltstreich dachte, drang einer
hinein, der offenbar von Haus aus ge-
wohnt war, durch dick und diinn zu
gehen und alles zusammenzuhauen,
was sich ihm in den Weg stellen mochte.
„Besetzt, mein Herr/* bemerkte der
Beamte,
„Dummer, bidder Quatsch/* ver-
setzte der Monsieur Draufganger. Das
war ganz gewifi einer, der es fur klug
hielt, riicksichtslose Machtpolitik zu
treiben. „Verzeihen Sie, haben Sie
nicht gehort, was ich sagte?*4 fragte
der gute Fahrmann. Es ergoB sich aber
auf sein armes Haupt ein wahrer Platz-
regen von Schimpfwdrtem. Der An-
prall und die Oberschwemmung des
Unangenehmen und Unvorhergesehe-
tffeut und morgen <
,,Kein Sturz zu Boden soli uns rQckwarts
biegen,
Uns Flatternde, uns Wurdige zu fliegen."
&(frtd ‘Wolftnstein.
Nichts kann klarer sein, als die Ten-
denz der jungen deutschen Kunst.
Sie ist ganz geistig, ganz menschlich,
in Leid und Emporung. Der Januskopf
dieses Krieges strahltin ihrenWerken —
wie Jahrtausend, h&chste Anspannung
der Kraft : gerade Stirn, gerade Augen,
nen waren so gewaltig, dafi der gute
Mann nachgeben muBte. Er klagte je-
doch und sagte folgendes:
„Das ist nun aber doch nicht recht,
und es ist ein Gluck, dafi nicht allc
Leute so sind, wie dieser Herr, der
mich beschimpft, wo ich ihm doch
nur „besetzt*‘ gesagt habe. Es war doch
meine Pflicht, ihm das zu sagen, aber
gewisse Leute wollen alles zerstampfen
und zerdriicken, wenn sie sich einmal
irgend etwas in den Kopf gesetzt haben.
Ich sage ja nicht zu meinem Vergnu-
gen „besetzt“, oder um die Menschen
zu argem, oder als wenn ich eine
Schadenfreude hatte. Jeder tut seinen
Dienst und erfiillt seine tagliche Pflicht,
und die meinige besteht nun einmal
darin, daB ich „besetzt“ s age, wenn
sich das so verhalt. Da ist es doch un-
gerecht, wenn man sich dariiber em-
port. Es ist iiberhaupt lacherlich, wie
schnell manche Leute zomig werden
konnen. Ei nun I ich halte mich an die
Verniinftigen, und diese sind gottlob
und Dank noch nicht ausgestorben."
So sprach der Schaffner, indes der
Omnibus gemiitlich weiterhumpelte.
^Robert Walter .
tiefstes Erbarmen : geneigtesAntlitz, reif
dem Ziele zugewandt, das sich den in-
einander verbissenen Menschen unseres
Erdteils und ihrem wutgeschiittelten
Elend langsam iiber ein Meer von Blut
und Tranen nahert. Ahnen sie nicht
schon die mystische Verwandlung der
tddlichen Umarmung in den Bruder-
kuB ? Doch. Alle.die in der Holle waren,
die das Schicksal — Name fiir unsere
dunkelsten Triebe — zwischen zwei
Zeiten gesenkt hat wie einen Kessel,
Glossen
worm die entsetzliche Metzelsuppe
brodelt. Wer konnte dieses Marchen
des Grofien Greuels erdenken? Nur
eine hollische Leuchteder Wissenschaft,
Psychologe, Ingenieur und Chemiker,
Industrieller.derTausendevonQuadrat-
kilometernzumSchachbrett unter seiner
goldenen Brille zusammenruckt. Hydra
so weit wie groBte Ebenen, hoher als
die Gletscher, der Teufel selbst, der in
die MASCHINE fuhr, das tollschone
Werk aufbauenden Menschengeistes,
unsern edelstenStolz, derStarken breit-
atmende Kraft und die Zuversicht der
ScKwachen. Sie muBteihnreizen.natiir'-
lich. Es gibt nichts Eitleres, als den
Teufel. Und dann: sie drohte ihn zu
zermalmen! Da kam er ihr mit einem
Staatsstreich zuvor. Er warf sich in sie,
er nahm ihre Gestalt an und feierteden
rasenden Triumph. Etliche scheinen zu
glauben, daB man ihn mit Weihwasser
vertreiben konnte. Vielleicht gelang
solches mit denTeufeln der guten alten
Zeit. Dieses Ungetiim, dem die Men-
schenreste nur wie ein leichter rosa
Schaum an den vollkommenen ReiB-
und Hackzahnen kleben, muB man zer-
schlagen.
Nichts kann klarer sein, als die Tendenz
der j ungen deutschen Kunst.
Sie kampft gegen den Teufel.
♦
Und also nicht mit lieblicher Musik.
Wer hatte gedacht^ dafi aus Werfels
Knabenflote einmalTubatone brachen ?
Friiher — nicht wahr? das erkennt Ihr
jetzt auch — hatte die Prager Weis' doch
immer etwas von jenem: t Menschen,
Menschen san wir alle" . . Vorbei 1 Fern
sind sanfte Kinderwasche, Eckensteher
voll indischer Philosophic, nachdenk-
liche Fiirstinnen und andere Nahterin-
nen im RosenhagI Manner, Manner
walzen sich in namenlosem Weh. Zwi-
schen Irrsinn und Tod baumt sich das
starkste Herz. Aufsteigt ein unterirdi-
scher Gesang:
„Totet euch mit Dampfen und mit
Messern,
Schleudert Schrecken, hohe Heimats-
worte,
Werft dahin um Erde euer Leben!
Die Geliebte ist euch nicht gegeben."
In Ehrensteins bitterbose Rankiine
stiirzt der Jammer der Zeit, und die
vordem noch recht handliche Wermut-
schale des Wiener Tempelritters wachst
ins Monumentale: „Der Mensch
schreit.4*
„Verehrungswurdig schoner Mond,
dies trage ich dir vor:
unter den Tapfersten, unter den
Stiirmenden
wirft sich die Mine zerschmettemd
empor.
Kannst du nicht helf en ?
Ober zerfleischte Armeen der Ungestalt
hoher streckt sich der trauerlose Wald,
mogen die Heere einander verheeren.
Wald schiittelt sich, mochte verbrennen,
Ohne Dammerschein verschwarzt sich
die Jahrhundertnacht.
0 ihr vertempelten Kirchen, feme des
Himmels ungeborenem Ostrot
: der Menschwerdung des Menschen,
wann bliiht es blau
liber Blutwolken dahin?44
In einem gewaltigen Rezitativ, dessen
klasssische Wendungen — ein Kenn-
zeichen von Ehrensteins Lyrik — einen
Glossen
203
seltsam erschiitternden Kontrast mit
ciner fauchenden und bockenden In-
tellektualitSt bilden, spricht der Kriegs-
gott:
„Heiter riesclt ein Wasser,
abendlich blutet das Feld,
aber aufreckend das wildbewachsene
Tierhaupt,
den Menschen feind,
zerschmettere ich, Ares,
zerkrachend schwaches Kinn und Nase,
Kirchtiirme abdrehend vor Wut,
euere Erde.
Unabwendbar eueren Kinderhanden
riihrt euere Massen der Tod.
Blut gebt ihr fur Kot,
Reichtum fur Not,
schon speien die Wolfe
nach meinen Festen,
euer Aas muB sie Gbermasten.
Bleibt noch ein Rest
nach Ruhr und Pest?
Aufheult in mir die Lust,
euch ganzlich zu beenden!44
Was einen bei Ehrenstein schon
immer riihrend packte, das plotzliche
Einbiegen des herrischenVersmassesins
Melodische, ja Liedhafte, die plotzliche
Aufldsung des gedanklichen Krampfes,
erreicht in seinem Kriegsbuch die
hochste Wirkung.
„0 Wiederkunft und Einerlei,
Schnee der grauen Seele.4*
„Am verziickten Abendhimmel
Aphroditens Sterne sich zu Tode
schlafen.44
Bechet, das radauende Eichhdrn-
chen, das in wahnwitziger Eile Gedichte
abtrat und dabei den Reim knackte,
daB es ein Vergniigen war, ihm zuzu-
sehen, erschien plotzlich viel merk-
wiirdiger, als selbst das ungewohn^
lichste Eichhornchen zu sein pflegt.
Die Gedichtbande : „An Europa44 und
>9Verbruderung44 sind Gipfelpunkte
politischer Dichtung. Trotz Hoher
Schule . . . Ich ertrug es nie, jemand
Hohe Schule reiten zu sehn. 1st es
denn nicht auch emporend, ein Lebe«
wesen zu zwingen, seine eigene Kari-
katur zu exhibieren und gar, sie ihm,
ohne daB es die Schandlichkeit des
Scherzes erkennt, auf dem Wege der
Dressur beizubringen? Becher reitet
Hohe Schule auf der deutschen Sprache.
Ein Exkurs in vergleichender Liters-
turgeschichte wiirde zeigen, wie das
groBte Sprachgenie der Franzosen,
Rimbaud, niemals, auch nicht in seinen
gewagtesten stilistischen Unterneh-
mungen, gegen die Grammatik einer
Sprache verstoBt, die doch im Ruf
beispielloser Beschranktheit steht ; wo-
hin gegen Becher, um die Erfiillung
seiner kunstlerischen Absichten zu er-
trotzen, der deutschen Sprache die
Gelenke ausreifit, sie durcheinander-
wirbelt, und, wie ein Jongleur mit
Tellem, in der Luft Figuren bilden
laBt. Alle diese Sprachteile scheinen
in die absoluten Befugnisse ihres Eigen-
gewichts eingesetzt, kraft deren sie sich
nach eigener Wahl in einer andem
Sphare mit ihresgleichen zusammen-
finden. Becher spricht in Deutsch ein
ungefahres Latein, Griechisch und
Franzdsisch: gleichzeitig. Els geht
drunter und driiber — und ist doch
aus einem GuB. Dies Drunter und
Driiber, das Gemisch, das ein eifern-
der Uebhabcr eine europaische Syn-
these nennen konnte, ist original. Das
14 Vol. m/2
204
Glossen
Kauderwelschdieser verziickten Gram-
matikeignet Becher und sonst niemand.
Es ist die Sprache eines Engels, der
durch Mauern und Wande zieht,
zischenden Herzens. Hart und Weich,
NaK und Fern rinnen zusammen. Von
der deutschen Sprache bleibt nur eine
Erinnerung, nur soviel wie notig ist,
um zum Sinn der hoheren Tonlage
durchzufinden. Wer sich die Miihe
gibt, besitzt bald den Schliissel. Aber
bei diesem Spiel besteht immer die
Gefahr einer fast gleichzeitig eintre-
tenden Entzauberung. Ichwiirde Becher
mit einem Ertrinkenden vergleichen,
in dessen Him, wahrend er mit Han-
den und FiiBen um sich schlagt, unter
dem Druck des Blutes die weifie Ver-
ziickung, die unendlich lichte Klarheit
sich verbreitet, und ich ware iiber seine
Zukunft ziemlich hoffnungslos, gelan-
gen ihm nicht auch und noch immer
Gebilde, die mit irdischem Klang ver-
weilen, ohne Krampf und von keinem
Rausch noch so sii8 vergiftet.
„DerKnabewartetaufdieMutterbliite,
Die unter bauschenden Gewandern
thront.
Da kommt sie strahlend weich: die
Mutterbllite,
Von keinem Mann, von ihm nur fern,
bewohnt."
„Ein wenig Mond mit Firmament ge-
mischt,
StoBe vonNacht undTraume Intervallen.
DaB seine Augen auf die Stadte fallen,
Glasem und trunken. Kiihl ihr WeiBes
lischt.“
„Sie streift ihn kaum. Doch deinen
dunkeln Garten
ole
Warder zum Brautigam wie unbemerkt-
Nun tanzt und wiehert er mit lichten
Pferden,
Besingt den Mondtag als sein schon-
stes Werk.
Voll dunkler Knospen stehn in Brand
die Haare . . . “
Fast jedes Gedicht enthalt solche
Zeilen, solche Strophen. „An den
Frieden4* ist heutige Musik, Musik
noch im unmelodischen Ausruf der
letzten Zeile (wenn auch nicht eins
der starksten Gedichte):
„0 siiBester Traum, der streicht wie
Sommer lind!
Doch bald muBt du wohl mehr sein
als ein Ahnen.
Da bliiht er auf wie kleinster Duft
von Wind.
Ein Engel durch der Leichen Schlucht
sich bahnend.
Dein Tag — : er wolbtl Die Stadt
birst vor Gelaut.
Der Sonne FluB erbraust in jeder
StraBe.
Gemauer hoch sprieBt goldner Strahl-
Efeu.
Fanfarenmunder Halleluja blasen.
Das Blutgefild verbaut zu weichem
Beet,
Zu Wald und See mit Stem und Wolk
darein.
Millionen Toter schwarze Fahne weht
Breit auf vom Grund. Zerpeitschte
Liifte schrein.
Wird sich ein Blitz zum Mord im
Abend ziickenl?
Nein. Menschen wallen Heilige im
Chor.
Glossen
205
Auf Promenaden mogt iHr Frauen
pfiticken .
Ein Bund von Freunden tritt im Plata
hervor.
Ihr — : laBt un» gern vom ewigen
Frieden redeni
Ja, wissend sehr, daB er Gestalt gewinnt
Noch siiBester Traum nur. Unsre
Hande jSten
Das Unkraut aus, das jenen Weg be-
spinnt.
Erton o Wort, dasgleich zur Tat gerinnt I
Das Wort muB wirken I Also laBt uns
reden 11 M
*
filbert Gbrenstem: „Der Mensch
schreit44 ; Johannes *R. ‘Beefier: „An
Europe* 4 und „ Verbriiderung/'Alle drei
bei Kurt Wolff in Leipzig, davon „Ver-
briiderung44 in der Sammlung ,,Der
jiingste Tag.44 —
Bei Georg Muller in Miinchen ein
neuer Gedichtband (CfieodorcD&ubterz;
„Hymne an Italien44, ein groBe, schons
'edrucktes Buch voll stolzer Verse, die
auch dem Krieg, ohne die geringste
Resignation, die Stirne bieten. —
9teinri<£ ‘IJlann hat in Prag seinen
Essai iiber Zola vorgelesen, der im
Novemberheft der WeiBen Blatter ent-
halten war. Die „Aktion*4 vom 8. Juli
veroffentlicht die einleitenden Worte,
die Heinrich Mann dabei sprach, sowie
eine kurze Vorbemerkung:
,,Die folgenden einleitenden Worte
wurden in Prag gesprochen vor Deut-
schen und Tschechen, die, sonst selten
in einemSaal vereinigt, mirgemeinsam
Man sehe die letzten Werke der
jungen deutschen Kunst, man durch-
bl&ttere die Zeitschriften, in denen
ihre zwanzig besten Vertrcter schrei-
ben und zeichnen, und man wird be-
statigt finden, was ein Franzose, der
sich um Deutschland leidenschaftlich
kiimmert, kiirzlich voll Erstaunen be-
merkte: „Sie haben vor dem iibrigen
Europa einen Vorsprung gewonnen,
den in naher Zeit alle Zungen preisen
werden ,44
Der Anfang ist gut.
Allen Narren zum Trotz wird mit
dem Frieden der europaische Morgen
dimmern. Wir werden uns seines
Lichtes nicht zu schamen brauchen.
‘R. S.
dieEhreerwiesen hatten. DieTschechen
sind ein wertvolles, weil freiheitliches
Element in dem Umkreis der Volker,
die an dem deutschen Gedanken Anteil
haben und kiinftig die menschliche
Grundlage unserer Arbeit sein sollen.
Sie suchen jetzt, aus Einsicht und tak-
tischer Klugheit, eine Lebensmoghch-
keit mit den Deutschen. Und mir war
es erwiinscht, nach Kraften verbindend
zu wirken in einem Augenblick, wo
Sprechen und Schreiben fast immer nur
geschieht um zu trennen.
Meine Damen, meine Herrenl Sie
wissen, daB Emile Zola ein sehr grofies
Werk geschaffen hat, es sind 20 Bande.
Jeder von Ihnen kennt einiges und hat
eine Vorstellung von der ungewohn-
lichen Masse geformten Stoffes, be-
waltigter Arbeit, die das Ganze darstellt .
Sie wissen auch, der Stoff ist das franzd-
si sc he zweite Kaiserreich, seine mensch-
liche Geschichte, derBau und Betrieb
seines inneren Lebens, d. h. also, Ge-
206
dossen
sell $c ha ft, Familie, Wirtschaft, Arbeit,
der Proletarier, die Besitzenden, die
Fiihrer, die Frauen, alles was ein Ge-
schlecht und ein Reich ausmacht. Durch
diesen Stoff nun bekommt die groBe,
vom Verfasser derRomane Les Rougon-
Macquart geleistete Arbeit sofort einen
ganz bestimmten Sinn. Das zweite
Kaiserreich namlich hat schlimm ge-
endet, mit einer Niederlage, einem Zu-
sammenbruch, einer Katastrophe von
seltener Vollstandigkeit. Da aber die
Reiche doch nicht zufallig zusammen-
brechen, muBte dieses viel gesiindigt
haben, es mufite mit viel Unrecht be*
laden sein und mit viel Luge. So ergab
sich fiir Zola die Notwendigkeit, nicht
nur eine hervorragende Arbeitskraft zu
betatigen, sondem auch eine ungemeine
Wahrheitsliebe. Seine Arbeit schuf nicht
nur Werke, sie erhartete Wahrheiten.
Die Wahrheit wurde die Seele seiner
Arbeit. Dies ist der Sinn des Namens
Naturalismus, den nicht eben Zola
selbst seinem Werk beilegte, aber den
erauch nicht ablehnte, trotz dem Ihnen
bekannten Beigeschmack des Wortes.
Naturalismus, nicht wahr, der Begriff
umfaBt auch das Peinlicheder Wahrheit,
er bedeutet alles in allem etwas Un-
zartes, darwinistisch Rauhes, Unver-
bliimtes, das nicht jedem ohne weiteres
zugemutet werden darf. Und dabei
hatte das franzosische zweite Kaiser-
reich, das Zola darstellte, doch so lie-
benswiirdige Seiten, einen glanzvollen
Hof, eine reiche und hochgebildete
Gesellschaft, ruhmvolle Kriege, grofi-
artige Weltausstellungen, Kunst, Geist,
Grazie so viel man will, und alles dies
in einer gewissen leichten Luft, die
seither aus Europa wie verschwunden
scheint ... Ja: aber es ward gelogen,
es ward so viel gelogen, wie bis dahin
vielleicht noch nie. Unter dem Glanz
ward Elend weggelogen, unter der
Macht Verfall, unter Kunst, Geist,
Grazie die gemeinste GenuBgier. Die
franzosische Revolution war langst ge-
wesen, die Forderung der Demokratie
lag langst bereit in alien Herzen, —
dies Reich aber war ein Militar- und
Klassenstaat, in dem der Volkswille
nur gefalscht zur Geltung kam. Das
Reich bestand also eigentlich entgegen
dem besseren Wissen der Zeit, entgegen
ihrem Gewissen. Und nicht anders war
es mit dem Reichtum der Wenigen und
der Armut der Vielen, die ohne den
vom besseren Wissen verlangten Aus-
gleich blieben, nicht anders auch mit
den Kriegen. Denn die Kriege des
franzosischen zweiten Kaiserreiches —
wir kdnnen uns dies heute kaum vor-
stellen — waren Kriege der Machthabcr
und des Kapitals, zu denen man das
Volk nur vermittelst faustdicker Liigen
iiberreden konnte. Wo aber die Dinge
so liegen, dort sah ein Geist wie Zola alle
Bedingungen des Zusammenbruches.
1 870 wenigstens war er wirklich erfolgt.
Kunftig hiefi es wahr sein — da ja das
Liigen nur Ungliick gebracht hatte. Es
hieB den Staat so einrichten, dafi er
dem Gewissen entsprach, ihn in t)ber-
einstimmung bringen mit dem Stande
der Wissenschaft vomMenschen. Alles
muBte abzielen auf das Gluck mdg-
lichst vieler Menschen, und keineswegs
auf ihre Beschwindelung und Ausbeu-
tung. Man muBte gerecht sein. Man
muBte wahr sein. Nur so liefl sich
leben . . . Sie sehen, jemand, der ur-
spriinglich nichts gewollt hatte als
Romane schreiben und eine soeben
abgelaufene Epoche schildern, war ge-
Glossen
207
rade durch seine Arbeit dahin gelangt,
da6 er Moralist ward und Erzieher.
Erzieher zur Wahrheit, also zur Ver-
geistigung. Erzieher zur Giite, also zur
Vermenschlichung.
Als Zola sein groBes Werk dann
fertig hatte, war er innerlich so sehr
erhoht durch seine zwanzigjahrige Ar-
beit im Dienst des Geistes, daB er un-
willkiirlich glaubte, auch die andern,
auch die Welt um ihn her miifite
inzwischen sich veredelt haben. Er
glaubte, Wahrheit und Gerechtigkeit
miifiten, wahrend er fiir sie schrieb, in
der Wirklichkeit an Boden gewonnen
haben. So war er doppelt bestiirzt,
doppelt erbittert, als er sich plotzlich
gegenliber einer ungeheuren Ungerech-
tigkeit und einer maBIosen Luge sah.
Dies war die Dreyfus-Angelegenheit,
deren Geschichte ich Ihnen jetzt ver-
lesen will. Zola steht darin ganz vorn,
denn durch seinen langen literarischen
Kampf fiir die Wahrheit war er be-
sonders gut vorbereitet, ihr auch im
wirklichen Leben zum Sieg zu helfen,
wenigstens dies eine Mai. Und es war
wichtig, daB es ihm wenigstens diesmal
gelang, denn er hat damit gegeben,
was er geben wollte, ein groBes Bei-
spiel. M —
Die „% eae Ouaendf* (Verlag der
Neuen Jugend, Berlin-Charlottenburg,
MommsenstraBe 1 1)erscheint wieder.
Wieland Herzfelde leitet die kleine aus-
gezeichnete Monatsschrift. Programm:
„Nach eineinhalbj&hriger Unterbre-
chung verSffentlichen wir das siebente
Heft der , , Neuen Jugend* * mit der
Erklarung, daB der Inhalt der friiher
erschienenen Nummern unsem jetzigen
Absichten nicht entspricht. Wir iiber-
nehmen lediglich den Titel der „Neuen
Jugend4* und die darin enthalteneTen-
denz: die Arbeit junger Dichter, In-
tellektueller, Zeichner und Musiker zu
veroffentlichen. Wir wollen eintreten
fur alle, die in der Offentlichkeit auf
Opposition und Verstandnislosigkeit
stoBen, vor allem aber fiir die Jiing-
sten, die noch keinen Platz in der
heutigen Literatur gefunden haben.
Da wir auf kulturhistorische, philo-
sophische und politische Beitrage den-
selben Wert legen wie auf kiinstleri-
sche, bedeutet die f,Neue Jugend*4 die
Fortfiihrung der Ideen, die einerseits
der „Neuen Kunst44 und der zweiten
Zeitschrift des ehemaligen Verlags
Bachmair, andrerseits dem „Forum4\
dem „Aufbruch44 und dem „Anfang44
zugrunde lagen.
Unsern friiheren Standpunkt, ein
rein literarisches Blatt der Jiingsten zu
sein, verwerfen wir: es ist an derZeit,
dafi alle Geistigen vereint dem aufier-
sten Feinde entgegentreten I Zunachst
wird Kiinstlerisches im Inhalt unserer
Zeitschrift allerdings uberwiegen : Wir
leben im Zeitalter der Bekanntma-
chungen . . .
Alle freiheitlich Gesinnten (Exprcs-
sionisten, die Anhangcr der Jugend-
bewegung . . .) sollen in der „Neuen
Jugend44 zu Wortekommen. DieGren-
zen unserer Publikation werden nur
bestimmt durch die Tendenz, die Zen-
sur, den Umfang des Heftes . . .44 —
¥.*9. Douve , dessen von der Nou-
velle Revue Fran^aise herausgegebene
Gedichte „Vous etes des Hommes44
Ludwig Rubiner hier besprach, ver-
dffentlicht im Verlag der Zeitschrift
„Demain44 (Genf, 28, Rue du Marche)
208
Glossen
eine Rapsodie : „Poeme contre le grand
crime14. Die vier Teile der DicKtung
sind iiberschrieben : An einen toten
Soldaten, An Belgien, Gesang auf das
Spital, Tolstoi. Aus dem SchluBgesang
seien einige Strophen iibersetzt:
„Schon spinnt der gleiche Gedanke
durch alle Lander;
Der Gedanke halt sich in der Schwebe
und wartet in Leidenschaft, Mit-
leid und Zorn;
In England, Deutschland, Frankreich,
RuBland, Italien, in der Schweiz
und in Amerika
Wartet der Gedanke.
In Serbien, Belgien, Holland und Nor-
wegen, in Armenien, in Indien,
In Afrika, im Tiefsten des iippigen
Asiens,
Auf dem Boden der gealterten Rassen,
auf dem Boden der kindhaften
Rassen
Wartet der Gedanke.
Heute, selbst heute.
Wo ein Erdteil stirbt (das Reich der
Kanone ist nur eine Erscheinung
des Todeskampfes)
Heute wie immer, iiberallhin ins Un-
endliche erheben sich Menschen;
Im Feindesland wie in dem meinen
sind Menschen, die denken und
fiihlen wie ich,
Sie weigern, wie ich weigere, sie haben
ihr Leben gegeben, wie ich mein
Leben gebe,
Sie werfen sich ins Handgemenge,
r einen Herzens und mit sauberen
Han den.
Schon stehen diese Zeichen,
Diese gliihenden Zeichen der Reife in
der Tiefe der Nacht und der
schluchzenden Vslker!
Die Parteien der Arbeit, die Parteien
des Menschen linden sich wieder
Um die zusammengesteliten Waffen
ihres Herzens;
Die Parteien des freien Glauben s, die der
Demokratie und des Glucks ver-
einigen ihre Waffen des Herzens.
Mut — du verschwindend Ideiner
Hauf e !
Mut und Opferbereitschaft — Ihr
Wackeren,
Verfolgte in alien Landern, Ihr, die
der Polizist ins Gefangnis fiihrt.
Das einzige Mitleid ist Lichtes genug
— und wir konnen marschieren
auf diesem weitoffenen Weg.14 —
Henri Guilbeaux, der Herausgeber
von „Demain44, teilt im zweiten Juli-
heft seiner Zeitschrift mit, das s Waiif
fHyacmtHe Goqson , dessen Ekel-
schrei in der Julinummcr der WeiBen
Blatter wiedergegeben war, beim Nach-
richtendienst des Auswartigen Amtes
in Paris angestellt ist; er besorgt die
franzosische Propaganda im Ausland.
Das ist sein gutes Recht. Aber ich er-
fahre gleichzeitig, daB Loyson Romain
Rolland in unwiirdiger Weise ge-
schmaht hat, und das scheint mir, zu-
mal jetzt und in seinem Mund, eine
unverzeihliche Nicdrigkeit.
Daniel Henry ♦ Der Kubismus
209
(Daniel Dfenry :
DER KUBISMUS
IjIE Malerei, ihres Jahrhunderte lang gepflegten Zweckes
beraubt durch die Photographic, sah sich gezwungen, neue
Ziele aufzuspiiren.
Zwei Versuche lassen sich unterscheiden. Der eine endet mit
dem vorzeitigen Tode seines Urhebers, der andere aber ist die
Wurzel der gesamten modernen Malerei.
Den ersten unternahm der hochbegabte Georges Seurat.
Sein Streben liefie sich kurz so formulieren : um einen voll-
standigeren Ausdruck der Form zu erreichen, als die illusio-
nistische Darstellungsweise ihn kannte, sucht er die Tiefenrela-
tionen in Flachenrelationen umzusetzen und sie so darzustellen.
Ein solches Trachten steht dem der agyptischen Malerei sehr
nahe, der ja Ahnliches gelungen ist. Auch Seurats Wollen war
in semen drei oder vier Hauptwerken erfolgreich, doch war
der Ausdruck des Kunstwillens der Zeit noch nicht gefunden,
und er schuf keine Schule.
Den zweiten erfolgreichen Versuch unternahm Paul Cezanne.
Auch er sah, wie Seurat, den neuen Zweck der Malerei in einem
scharferen Ausdruck der Tiefendimension, aber anstatt zu ver-
suchen, sie durch Umsetzung in Flachenrelationen auszudriicken,
betonte er im Gegenteil das Dreidimensionale durch moglich-
stes Ausarbeiten der Formen.
Es handelt sich bei beiden um Abkehr vom Illusiomsmus,
um das Ringen, von den Gegenstanden mittels der Malerei mehr
auszusagen, als die Photographic geben konnte. Andrerseits
ist fur beide der Aufbau des Gemaldes ein wichtiges Moment.
210
Daniel Henry * Der Kubismus
So ist diesen beiden Malern schon gemeinsam und deutlich
sichtbar bei beiden: der zwiefache Charakter der modernen
Malerei, die ihren Zweck im getreueren Erforschen und Darstellen
der Formen und Farben der Dinge gefunden hat, als die illusio-
nistische Kunst es vermochte, sowie im strengen Aufbau des
Kunstwerks. Doch nicht das Einzelding malt sie, sondern, wenn
ich so sagen darf, die platonische „Idee“ des Dings. Nicht das
Individuelle will sie ausdriicken, sondern das alien gleichartigen
Dingen Gemeinsame, wie das auch die abstrakten Kunst-
aufierungen der Vergangenheit wollten. Doch ist sie noch tiefer
dringend in ihren Untersuchungen als diese, noch freier in
ihrem Ausdruck, da sie keinem andern Zwecke dient, sondern
Selbstzweck ist.
Von Cezanne ausgehend finden wir Andre Derain, der diese
Ziele anstrebt, indem er, wie Cezanne, zugleich eine noch ver-
haltnismafiig naturahnliche Erscheinung bewahren mochte. Er
kommt so zu Ergebnissen, die innerlich und aufierlich Ahnlich-
keit mit einer andem Ubergangsperiode zeigen, mit dem Trecento,
wenn auch im umgekehrten Sinne. Ein tiefedler, grofier Kiinstler.
Auch Henri Matisse ware noch zu nennen, in dessen feiner,
aber schwankend-unsicherer Kunst sich Bestandteile von Cezanne
vorfinden, neben solchen von jiingeren Kiinstlern, zu einem
Ganzen verschmolzen, dessenTendenzeher an Seurat erinnert.
I.
DIE ANFANGE DES KUBISMUS.
Zuvorderst waren ein paar Worte iiber diesen Namen zu
sagen, dessen Entstehung schon des ofteren erzahlt worden ist,
nie jedoch ganz richtig.
Ein Schimpfwort seiner Gegner ist es, das — wie bekanntlich
auch dem Impressionismus — dem Kubismus zum Namen
dient. Zum Salon d’Automne hatte Georges Braque fiinf Gemalde
gesandt, Landschaften vom Estaque. Mit der solchen Korper-
schaften eigenen Feinfiihligkeit lehnte die Jury zwei von ihnen
Daniel Henry * Der Kubismus 21 I
ab, worauf Braque alle fiinf Bilder zuriickzog, die somit hier
nicht ausgestellt wurden. Mit der ganzen iibrigen Serie ge-
langten sie dann vor die Offentlichkeit als Einzelausstellung in
der Galerie Kahnweiler, einen Monat spater.
Matisse, der Mitglied der Jury war und daher die Bilder
gesehen hatte, erzahlte seinen Bekannten, Braque habe „des
tableaux avec des petits cubes** gesandt, und zeichnete zur Be-
schreibung auf ein Stuck Papier zwei aufsteigende, oben sich
beriihrende Linien und zwischen diesen einige ^ierecke. So
nahmen sich Braques Bilder aus, behauptete er.
Unter seinen Zuhorem befand sich auch der Kunstkritiker des
„Gil Bias**, Louis Vauxcelles. Aus dem Wortchen „cube“, das
ihm aufgefallen war, pragte dieser das sinnlose Wort „cubisme“,
das er erstmals in seinem Aufsatze iiber den Salon des Inde-
pendents anwandte, auf zwei andere Bilder von Braque, ein
Stilleben und eine Landschaft. Sonderbarerweise fiigte er an-
fangs dem Namen noch das Beiwort „p^ruvien“ bei : „Le cu-
bisme peruvien, les cubistes peruviens,** was die Benennung
noch unsinniger machte. Diese Zutat verschwand bald, aber
der Name „Kubismus“ blieb und ging in den Sprachgebrauch
iiber, da die so bezeichneten Maler Braque und Picasso sich
wenig darum scherten, ob man sie so oder anders hiefi.
Diese beiden Kiinstler sind die ersten und groBten „Ku-
bisten**. Im Werdegange der neuen Kunst, in ihrer Entwick-
lung sind beider Verdienste eng verschlungen, oft kaum zu
unterscheiden. Aus freund-briiderlichenGesprachen gingmanch
ein Fortschritt der neuen Ausdrucksweise hervor, den bald der
eine, bald der andere zuerst in seinen Werken anwandte. Ge-
wiB, Braques Kunst ist weiblicher als Picassos genial-starkes
Werk, neben der strahlenden Sonne ist er der milde Mond,
neben dem herben Spanier der anmutige Franzose.
Wahrend Braque dazumal noch den Ausdruck durch die
Farbe anstrebte, mit Derain, Matisse und vielen andern, hatte
Picasso im Jahre 1906 noch einmal versucht, fiir seinen Form-
willen einen zureichenden Ausdruck auf naturahnlichen Wegen
zu finden. Er schuf groBe, mit illusionistischen Mitteln rund-
212
Daniel Henry * Der Knbismus
modellierte, klassisch anmutende Akte. Seine pompejanische
Periode nannten es seine Freunde. Aber sein Wollen blieb un-
befriedigt.*
Gegen Ende 1 906 werden die Formen harter, kantiger. Sie
entfernen sich von der Natur. Statt der zarten Rosa, Hellgelb
und Hellgriin senken sich bleischwere Farben auf gewichtige
Formen.
Anfangs 1 907 beginnt er ein seltsames, groBes Gemalde mit
Frauen, Vorhangen und Friichten. Gliederpuppenhaft starr
stehen die Akte, mit grofien, stillen Augen. Streng rund model-
liert sind die steifen Leiber. Im Vordergrunde, fremd dem Stile
des Restes, eine kauernde Figur und eine Friichteschale. Das
sind die Anfange des nun folgenden verzweifelten, himmel-
stiirmenden Unternehmens. Alle Probleme mochte er auf ein-
mal losen.
Welche Probleme dies waren, will ich kurz zu zeigen suchen.
Seinen Zweck muBte er finden in der Darstellung der AuBen-
welt, auf eindringlichere Weise als die Photographic einerseits,
in strengem Aufbau des Gemaldes andrerseits. Aber hierin
liegt ein Gegensatz. Der Aufbau des Gemaldes, das heifit die
Zusammenfassung des Mannigfaltigen der AuBenwelt in der
Einheit des Kunstwerks, bedmgt einen Formenrhythmus, der
mit der eng an die AuBenwelt anschlieBenden Darstellung dieser
AuBenwelt in Widerstreit geraten kann, oder besser : mufi. Ebenso
verhindert das Streben nach Farbenharmonie im Bilde die Wie-
dergabe der wahren Farben der dargestellten Dinge.
Die naturahstische Kunst hatte, als Auswegaus dieser Schwie-
rigkeit, den Aufbau des Gemaldes vernachlassigt zugunsten
der Naturahnlichkeit in den Formen, und den Bildern mehr
durch Farbenharmonie den innern Zusammenhang gegeben,
was sie notigte, die Lokalfarben der Gesamtharmonie des Ge-
maldes zu opfern. Die abstrakte Kunst dagegen hatte die
Naturformen im Bilde dem Formenrhythmus unterworfen und
* Wenn ich hier, und von nun an ofter, von Picassos oder Braques ,,Wollen'\ „Ge-
danken" spreche, so sei wohlvcrstanden, daC ich in Worte zu klciden suche, was bei
dicsen Kiinstlcrn nur innercr Drang war und hochst seiten nur in ihren Gcsprachen Aus-
iruck fand in diirren technischen Worten.
Daniel Henry * Der Kubismus
213
so Freiheit gewonnen zur Anbringung von Lokalfarben. Die
Vorlaufer des Kubismus, wie Cezanne und Matisse, hatten ihrer-
seits in beiden Problemen die Natur iiber Bord geworfen, urn
nur des Kunstwerks urinnerstem Einheitswillen zu gehorchen.
Die Folge davon war bei ihnen — wie fur die Form schon bei
jedem abstrakten Stile — die Reformation, Oder, wie es Kunst-
blinde und Kunstkurzsichtige heifien: die Verzeichnung. Wie
erklart sich dieser Vorgang?
Es entsteht hier, sogleich beim Anblick des Bildes, ein Wider-
streit des Netzhautbildes mit den von ihm hervorgerufenen
Erinnerungsbildern. Die Reize des Netzhautbildes rufen Asso-
ziationen hervor, Erinnerungsbilder eben, die sich aber nun mit
dem Netzhautbilde nicht decken. Nach einiger Zeit kann wohl
der Einklang sich bilden, die nicht sich fiigenden Erinnerungs-
bilder konnen unter die Schwelle des BewuBtseins gedriickt
werden : die Deformation wird dann nicht mehr als solche ge-
sehen. Els gibt jedoch auch manche Gemalde, wie z. B. einige
Werke von Matisse, wo diese Verdrangung eigentlich nie voll-
standig stattfindet, wo stets ein qualendes Gefiihl iibrig bleibt.
Urn es ganz einfach zu sagen : die dargestellten Frauen z. B.
bleiben fiir den Beschauer Mifigestalten, mag er sich noch so
klar sein iiber die konstruktive Berechtigung, ja Notwendigkeit
der Deformation.
Die Aufgabe des Kubismus stellte sich also dar als eine
Malerei, die, unter Vermeidung dieser Ubelstande, von der
Dinge Form und Farbe ein moglichst eingehendes Bild liefere
und doch diese Mannigfaltigkeit in des Kunstwerks Einheit zu-
sammenfasse. Was diese Aufgabe noch erschweren mufite, ist
die Verunmoglichung der konsequenten Anbringung der Lokal-
farben durch die Formengebung mittelst Helldunkels. Da noch
keine Kunst eine andere Formengebung gefunden hatteals eben
diese lllusionistische durch Licht und Schatten — die Umsetzung
derTiefenrelationen bei den Agyptern ist nur ein Ausweg, keine
Losung — , so bheb hier alles zu tun.
Tollkiihn greift Picasso all diese Schwierigkeiten auf emmal
an. Harteckige Gebilde setzt er auf die Leinwand, Kopfe und
214 Daniel Henry ♦ Der Kubismus
Akte zumeist, in buntesten Farben, gelb, rot, blau, schwarz.
Die Farben sind fadenfdrmig aufgetragen, um so als Richtungs-
linien zu dienen und mit der Zeichnung gemeinsam die pla-
stische Wirkung hervorzurufen. Doch er konnte nicht gelingen,
der verwegene Versuch. Nicht als ob nicht auch diese Werke
Picassos „schon“ seien: auch ihnen wohnt innedas geheimnis-
volle Ding an sich, wie alien Werken des Kiinstlers, dem die
Macht ward, Schonheit zu schaffen. Aber das verfolgte Ziel ge-
winnen sie nicht. Auf langem, miihevollem Wege erst ward es
erreicht.
Jedoch, dies Mifigliicken mindert nicht Picassos unsterb-
liches Verdienst. Allein, von alien getadelt oder verspottet, unter-
nahm er das Wagnis. Sagte doch Derain damals, eine solche
Malerei sei eine Sackgasse, an deren Ende der Selbstmord stehe.
Erhangt werde man Picasso finden eines schonen Tags hinter
seinem grofien Gemalde. Und Braque, der Picasso nocht nicht
kannte, in sein Atelier gefiihrt durch Guillaume Apollinaire,
erklarte ihm offen, so zu malen, komme ihm vor, als ob man
Petroleum saufe.
Dem mifilungenen Anlauf zur unmoglichen Losung aller
Probleme zugleich folgt eine kurze Periode der Ermattung.
Der fliigellahme Geist wendet sich rein formalen Aufgaben zu.
Eine Reihe von Gemalden entsteht, in denen allein der Aufbau
der farbigen Formen den Maler beschaftigt zu haben scheint.
Vielleicht spielte auch der Gedanke mit, noch einen letzten
Versuch einer flachigen Kunst zu machen in einer an die
Agypter erinnernden Art.
Im Friihjahr 1 908 schon finden wir Picasso von neuem fin
der Arbeit, um nunmehr die Aufgaben, die er sich stellte, einzeln
zu losen, vom Einfachsten ausgehend. Als dasWichtigste erscheint
ihm die Betonung des Dreidimensionalen, die Anschaulich-
machung der Formen. Damit beginnt er und malt Figuren, die
Kongoskulpturen ahneln, und Stilleben in den allersimpelsten
Formen. Er wendet eine Perspektive an, die wir schon in Cezannes
Stilleben finden, wo der Beschauer, wie in der gewohnlichen
europaischen Perspektive, gewissermafien vor dem dargestellten
Daniel Henry * Der Kubismus
215
Gegenstande steht, aber hdher, als dieser. Diese Perspektive*
ermoglicht eine vollstandigere Darstellung der Dinge, deren
Form sie von vorn und von oben zugleich zeigen kann, wenn
sie sich nur leicht von der Naturahnlichkeit entfernt.
Das Farbproblem ist ganz beiseite gelassen. Die Bilder sind
fast monochrom, ziegelrot, rotbraun, manchmal mit grauem
oder graugriinem Grunde. Die Rundung der Formen ist mit
Helldunkel erzielt.
Wahrend so Picasso diese Bilder in Paris schuf und im fol-
genden Sommer eine Serie von Landschaften gleichen Geistes
in La Ville des Bois (bei Creil, Oise), malte Braque am andern
Ende von Frankreich, in L’Estaque (bei Marseille), die schon
genannte Serie von Landschaften. Keine Verbindung herrschte
zwischen beiden, das Unternehmen war ein ganz neues, ohne
Beziehung zu Picassos Arbeiten von 1 907. Wenn nicht schon
durch die ganze Geschichte der bildenden Kiinste der Beweis
geliefert ware, dafi die Erscheinung des Kunstwerks in den
Maschen des Satzes vom Grunde gefesselt liegt, so ware dieser
Beweis hier zu finden. Die angestrengteste Geistesarbeit zweier
Kiinstler, die weit voneinander entfernt arbeiten und ohne Ver-
bindung, tritt in die Erscheinung in Werken, die sich auBer-
ordentlich ahneln. Der gleiche Vorgang wiederholt sich spater
noch oft, ist aber von dieser Zeit an weniger auffallend, weil
die im Winter dieses Jahres begmnende Freundschaft der beiden
Maler sich durch steten mindestens brieflichen Gedankenaus-
tausch zwischen ihnen auBerte.
Mit den Gegenstanden einfachster Art muBte begonnen
werden, im Stilleben mit Tellern, symmetrischen GefaBen, mit
Friichten und dergl., in der Landschaft mit viereckigen Hausern.
Fur diese Formen muBte zuerst ein plastischer Ausdruck ge-
funden werden.
Und hier beriihren wir die mittelbare Wichtigkeit des Willens
beim bildenden Kiinstler, etwas darzustellen. Die Kubisten,
in lhrem Streben, die Form, von den einfachsten Objekten aus-
* Bekanntiich hat die japanische Kunst cine ahnliche Perspektive, deren sie sich aber
nur auf illusionistische Weise und zu illusionistischen Zwecken bedient.
216
Daniel Henry * Der Kubismus
gehend, moglichst eindringlich auszudriicken, haben uns gelehrt,
die Formschonheit der einfachsten Gegenstande wahrzunehmen,
an denen wir vorher achtlos voriibergingen. Das namlich ist
der mittelbare Wert der Darsteliung in den bildenden Kiinsten:
die vom Kiinstler geschaffene ,,schone“ Wiedergabe des Dinges
wird ebenfalls den Erinnerungsbildern einverleibt und stellt
sich als Assoziation ein beim Anblick des Gegenstands, Schonheit
verleihend dem, was zuvor unser ..praktisches Sehen“ gleich-
giiltig liefi*. So bleibt die Schonheit nicht eingeschlossen im
Werke, in das sie der Kiinstler niederlegte, sondern pflanzt sich
fort, mit ihrem Abglanze die Sinnenwelt vergoldend.
,,Natur und Kunst“, schreibt Holderlin,** ,,sind im reinen
Leben nur harmonisch entgegengesetzt, die Kunst ist die Bliite,
die Vollendung der Natur, Natur wird erst gottlich durch die
Verbindung mit der verschiedenartigen, aber harmonischen
Kunst . .
II.
DER AUFSTIEG.
Im Winter 1908 setzt die gemeinsam-parallele Geistesarbeit
der beiden Freunde ein. Die Gegenstande der Stilleben wer-
den formenreicher, die Akte gehen mehr ins einzelne ein. Die
neue Kunst kann sich an kompliziertereObjektewagen. Braque
ist der erste, der Musikinstrumente malt, die von nun an eine
so grofie Rolle in den kubistischen Stilleben spielen. Friichte-
schalen, Flaschen, Glaser sind andere Motive.
Die Farbe tritt weiter nur als Hilfsmittel der Formengebung
auf und halt sich in harmonischen Zweiklangen, Ockergelb und
Grau, Grim und Grau. Die mit den obengenannten Methoden
dargestellte und moglichst eindringlich gestaltete Form der
Dinge erfahrt Deformationen im Rhythmus des Gemaldes, bei
Akten wie bei Landschaften und Stilleben.
* Den gleichen Dienat verdanken wir dem Impressionismui fiir die Welt der Farb-
und Lichtspiele der AtmospHare.
** ,,Grund zum Empedokles.44
Daniel Henry ♦ Der Kubismus
217
Wahrend des Jahres 1 909, dessen Sommer Picasso in Horta
(bei Tolosa, Spanien) verbringt, Braque in La Roche-Guyon
(an der Seine, bei Mantes), wird die neue Formenspracbe wei-
terausgebaut ohne wesentliche Veranderungen.
Im Friihjahr 1910 versuchte Picasso mebrere Male, den so
gestalteten Formen Farbe zu geben (d. h. die Farbe nicht nur
als Mittel zur Formung zu verwenden, sondern als Selbst-
zweck). Jedesmal ist er wieder genotigt, sie zu bedecken. Die
einzige Ausnahme bildet ein kleiner Akt aus dieser Zeit (viel-
leicht 18/23 cm groB), auf dem ein Tuch ein leuchtendes Rot
zeigt. Eme — wie wir spater seben werden — sehr wicbtige
Realisierung Braques fallt in diese Zeit. Es gliickt ihm, auf
einem Gemalde an der im Hintergrunde gemalten Wand emen
vollkommen naturtauschend gemalten Nagel anzubringen, mit
seinem Schatten auf der Wand. Auch die — schon bei Cezanne
erscheinende — stete Anbringung einer abscbliefienden Wand
bei Akten und Stilleben ist von Bedeutung.
Im Sommer, den er wieder im Estaque verbringt, kann Braque
einenSchritt weitergehen auf dem Wege der Einfiihrung ,,realer“
Einzelbeiten in die Einheit des Kunstwerks, ohne diese zu zer-
storen. In einem Guitarrespieler dieser Epoche finden sich zum
ersten Male Buchstaben. Hier soli noch gesagt werden, daB,
auBer den spater erorterten Griinden fiir deren Einfiihrung,
hier wieder die Entdeckung einer neuen Welt von Schonheit
vorlag, die in den Maueranschlagen, Firmenschildern u. s. w.
unbeachtet scblief, obwobl sie heute in unsern Gesichtsein-
driicken eine groBe Rolle spielen.
DerwichtigereVorgangaber, der entscheidende Schritt iiber-
baupt, der den Kubismus loslost von der bisherigen ,,Spracbe“
der Malerei, vollzieht sich in Cadaques (in Spanien, am Mit-
telmeer, nahe der franzosischen Grenze), wo Picasso seinen
Sommer verbringt. Wenig befriedigt kehrt er zurlick, nach
Wochen qualvollen Ringens, mit unvollendeten Werken. Aber
der groBe Schritt ist getan. Picasso hat die gescfifossene Torm
dur<£bro<£en. Ein neues Werkzeug wird geschmiedet fiir den
neuen Zweck.
218
Daniel Henry • Der Kubismus
Durch Jahredes Suchens war bewiesen, daB die geschlossene
Form einen den Wiinschen der beiden Kiinstler vollig genii-
genden Ausdruck nicht zuliefi, fur die Tiefen dimension, daB
Einfiihrung von Farbe sogar ganz unmoglich war. Auch storte
beide das Vorkommen von Fallen, wo die Deformation nach
dem obenerklarten Prozefi, beim ersten Anblick mindestens,
unangenehm beriihrte.*
Diese Deformationen waren aber unvermeidlich,
eine auch nur entfernte Naturahnlichkeit in der Erscheinung
des Kunstwerks beibehalten wurde. Mittels der vereinigten
Entdeckungen Braques und Picassos aus dem Sommer 1910
erwuchs jetzt die Moglichkeit einer neuen, von all diesen Feh-
lern freien Ausdruckweise.
Einerseits konnte durch Picassos neue Methode eine deut-
liche Darstellung der Tiefendimension gegeben werden auf
nicht illusionistischem Weg. Diese Darstellungsweise laBt sich
in ihrer etwas spater erreichten endgiiltigen Form etwa so be-
schreiben: anstatt von einem angenommenen Vordergrunde
auszugehen und von diesem aus mittels perspektivischer Mittel
eine scheinbare Tiefe vorzutauschen, geht der Maler von einem
festgelegten und dargestellten Hintergrunde aus, einer Wand
z. B., von der er dann in moglichst anschaulicher Weise eine
Art Formenschema nach vorn arbeitet, mittels Flachen etc.,
die durch ihre Stellung gegeneinander und durch ihre Richtung
ein deutliches plastisches Bild geben. Eine solche Darstellung,
die kerne Naturahnlichkeit mehr zeigte, konnte so im rhythmi-
schen Aufbau des Kunstwerks harmonisiert werden, ohne in
Widerstreit zu treten mit den beim Beschauer losgelosten
Erinnerungsbildem. Was diese betrifft, so gestattete die von
Braque gefundene Einfiihrung „realer'‘ Einzelheiten — das
namlich war die Bedeutung des Nagels und der Buchstaben —
durch Anbringung von solchen ‘Reize zu schaffen, die durch
Beriihrungsassoziation in dem Beschauer Erinnerungsbilder
* Vergl. hiezu da s von Picasso seibst oft erz&hite Witzwort seines Frcundes, des
Bildhauers Manolo: „Qui est-ce que tu dirais, si en arrivant A Barcelone, tu trouvais A
la gare tes parents nni t’attendent avec des gucules comme 9a
Daniel Henry * Der Kubismus 2 1 9
hervorrief en , deren Hineinsehen in das Gemalde diesem kor-
perliche Bedeutung als Darstellung des gewollten Gegenstandes
gab.
Auch gestattete diese ganzlich abstrakte Darstellungsweise,
falls dies zur vollstandigen Charakterisierung eines Objektes
notwendig war, dieses nicht nur von vorn gesehen — wie bei
der illusionistischen Malerei — zu zeigen, sondern auch gleich-
zeitig von oben, von der Seite oder von hinten, durch Neben-
einanderstellung dieser verschiedenen Ansichten, ohne dafi
dadurch, bei geeigneter Anbringung der „Reize“, beim Be-
schauer der Eindruck mehrerer Gegenstande entstiinde.
So kann die neue Malerei, anstatt an das mehr oder weniger
enganschliefiend dargestellte, von einem einzigen Standorte
gesehene optische Bild gebunden zu sein — ihrem Zwecke getreu,
den sie in griindlicherer Darstellung der Gegenstande, als bisher,
fand — , von dem Objekte eine analytische Beschreibung geben,
oder, falls sie das vorzieht, von ihm eine Synthese schaffen,
das heifit (nach Kant), dessen „verschiedene Vorstellungen zu-
einander hinzutun und ihre Mannigfaltigkeit ineiner Erkenntnis
begreifen“.
Es sei bemerkt, dafi, selbstverstandlich bei dieser wie bei
jeder neuen Ausdrucksweise in den bildenden Kiinsten, die
Assoziationen sich bei mit ihr noch nicht vertrauten Beschauern
oft nicht sofort einstellen mogen. Es ist daher dringend anzu-
raten, kubistische Werke stets mit beschreibenden Titeln zu
versehen, wie „Flasche und Glas“, ..Spielkarten und Wlirfel“,
da dadurch der (von H. G. Lewes) Praperception genannte
Zustand hervorgerufen wird und dann, wie man annimmt, in-
folge vorhergehender Tatigkeit, gewisse Gehirnzentren leichter
als gewohnlich auf die mit dieser Praperception zusammen-
hangenden Sinnesreize reagieren, mit andern Worten die schon
durch den Titel angeregten Erinnerungsbilder sich rascher auf
die vom Gemalde verursachten Reize einstellen. Ich wiederhole
es ubrigens noch einmal : diese ganze Untersuchung beschaftigt
sich nur mit der Erscheinung, der Kunstwert als Ding an sich
wird von ihr nicht beriihrt, und die das Ziel nicht erreichenden
15 VoL m/2
220
Daniel Henry * Der Kubismus
Werke der beiden Maler sind ebenso „schon“ wle die spateren
Bilder, die es erreichen.
Nicht die Geschichte des Kubismus soil hier gegeben werden ;
wir wiirden den Rahmen dieser Betrachtung iiberschreiten ,
wollten wir die Entwicklung der beiden Maler weiter Schritt
filr Schritt verfolgen. Da8 der neue Stil sich mehr und mehr
der Erscheinung des Gemaldes bemachtigt, dafi mehr und mehr
Maler kubistisch malen, ist bekannt.
Unter denen, die sich dem Kubismus anschlossen, sind begabte
Maler und unbegabte ; auch im Kubismus bleiben sie, was sie
waren. Die neue Erscheinung ist nur Erscheinung, unabhangig
von ihr ist das Ding an sich, der Kunstwert. Doch notgedrungen
wird jeder begabte junge Kiinstler sich kubistisch ausdrucken
miissen ; er wird so wenig anders sich aussprechen konnen, als
ein Zeitgenosse Tizians hatte malen konnen wie Giotto: der
Kiinstler, als Vollstrecker des — unbewufiten — plastischen
Wollens der Allgemeinheit, geht stets auf im Zeitstil, der Aus-
druck ist dieses Wollens.
Wie die illusionistische Kunst der Renaissance sich in der
Olmalerei ein Werkzeug schuf, das ihrem Streben nach Wieder-
gabe feinster Einzelheiten geniigen konnte, so mufite der Kubis-
mus neue Mittel erfinden fiir einen ganz entgegengesetzten
Zweck. Er fand sie in den verschiedensten Stoffen, wie auf-
geklebte farbige Papierstreifen, Lackfarben, Sagemehl, Wachs-
leinwand, Glas u. s. w.
Auf der 1910 gefundenen Grundlage konnte, allmahlich fort-
schreitend, auch die Farbe als solche in das Gemalde eingefiihrt
werden, und zwar mittels des gleichen Prinzips wie bei den
Formen. Der Maler kann einerseits dem harmonischen Gesetz
des Gemaldes gehorchen und auch die nie ganz vermeidbare
Verwendung der Farbe als Helldunkel zur Formendarstellung
ausniitzen — denn selbst zur Anschaulichmachung des plastischen
Schemas ist diese Verwendung unumganglich — und doch
andrerseits die Lokalfarbe des Gegenstandes, sowie seine stoff-
liche Beschaffenheit geben, indem er nur auf ganz geringer
Ausdehnung die Lokalfarbe und die Beschreibung des Stoffes
Daniel Henry * Der Kubismus
221
anbringt, was dank der erganzenden Reproduktion geniigt, um
dem Beschauer den ganzen Gegenstand in seiner Farbe und
seiner Stofflichkeit erscheinen zu lassen.
Die, wie eben gesagt, in der Malerei unvermeidliche Ver-
wendung des Helldunkels suchten Braque und Picasso in der
ietzten Zeit durch Verquickung der Malerei und der Skulptur
zu beseitigen, das KeiBt durch wirkliches Hervortreten, als
Relief, der nach vorn gehenden Flachen, in der gleichen, flachen-
haft offenen Form, die sie in der Malerei durch Helldunkel
hatten veranschaulichen miissen. Die ersten Versuche dieser
Art gehen sehr weit zuriick; hatte doch Picasso schon 1909
ein derartiges Unternehmen begonnen, in der geschlossenen
Form — in der es allerdings nicht gelingen konnte — mit einer
Art bemalten Basreliefs.
Dieses Streben zur Erhohung des plastischen Ausdrucks
durch Zusammenarbeiten zweier Kiinste muB warm gebilligt
werden, entgegen dem landlaufigen Vorurteil. Mit Herbart*
glaube ich : ..Derjenige Affekt, welchen das Kunstwerk durch
seine eigenen, innern asthetischen Verhaltnisse erregen kann,
ist ihm nicht zu miBgonnen ; auch nicht das Zusammentreffen
des Ausdruckes, wo verschiedene Kiinste zusammenwirken
und sich gleichsam gegenseitig beleuchten . .
Ein Wort mochte ich hier noch sagen iiber die Bezeichnung
der Erscheinung des Kubismus als geometrisch, die ja auch
dem Kubismus seinenNamen eingetragen hat. DaB diese Kunst
in der Form, die sie seit 1910 hat, in ihrer Darstellungsweise
mit der stereometrischen Zeichnung verwandt ist, erscheint
selbstverstandlich. Ist doch ihr Objekt eben jenes der stereo-
metrischen Zeichnung, das Monge so beschreibt: „de represen-
ter sur une feuille de papier qui n’a que deux dimensions tous
les corps de la nature qui en ont trois“, und dies auf eine Weise,
die eine eindringlichere Definition gestattet als die illusionisti-
sche Darstellungsweise. Der Name Kubismus jedoch und die
Bezeichnung als geometrische Kunst sind schon anfangs 1 909
aufgekommen, zu einer Zeit, wo die neue Kunst sich noch gar
* Joh. Friedr. Herbart: „Kurze Encyklopidie der Philosophic” 2. Aufl. (Halle 1841).
222
Daniel Henry » Der Kubtsmus
nicht dieser Methoden bediente. Icb glaube daher, dafi dieser
„geometrische“ Eindruck vor dem Kubismus, wie vor jeder
abstrakten Kunst, nur bei dem Beschauer entsteht, bei dem
aus Mangel an Gewohnheit der Assoziationsprozefi, der das
Hineinsehen von Gegenstandlichem zur Folge hat, sich nicht
vollzieht. Els tritt dann eine Sinnestauschung ein, well dem
Menschen gegeniiber Werken der bildenden Kunst ein Objekti-
vierungsdrang innewohnt, da diese doch stets, das weifi er,
„etwas darstellen sollen“. Die Assoziationen, die mit Gewalt
aufgesucht werden, rufen Erinnerungsbilder hervor des einzi-
gen, was zu den geraden und regelmafiig gerundeten Linien
des Bildes zu passen scheint, namlich geometrischer Gebilde.
Die Erfahrung hat gezeigt, dafi dieser geometrische Eindruck
vollig verschwindet, sobald sich, dank der Gewohnung an die
neue Ausdrucksweise, der Prozefi des Hineinsehens richtig
vollzieht.
Was die Regelmafiigkeit der Geraden und der Kurven in
jeder abstrakten Kunst betrifft, so erklare ich diese nicht aus
geometrischen Austiifteleien, noch durch eine von vornherein
vorhandene Kenntnis der Geometrie, sondern einfachdadurch,
dafi regelmafiige Gerade und Kurven dem menschlichen Arm
und der menschlichen Hand angemessenste und angenehmste
Betatigungen sind, die sich von selbst in der Kunst einstellen,
wenn sich diese von der Naturnachahmung abwendet.
223
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode
H7(ax (Brod:
DIE ERSTE STUNDE NACH DEM TODE
EINE GESPENSTERGESCHICHTE
I jER kleine absonderliche Zwischenfall ereignete sich, als der
Staatsminister Baron von Klumm an der Spitze einer
grofieren Gesellschaft hervorragender Diplomaten das Palais
des Reprasentantenhauses verlieB.
Ein schmachtiger Mann drangte sich durch die Kette der
Wachleute, lief, alien sichtbar, sehr schnell oder iiberpurzelte
sich vielmehr die breite Prachttreppe hinauf, deren oberste
Stufe der Minister eben betreten hatte, und fiel, oben angelangt,
auf die Knie nieder, indem er ausrief: „Herr Minister, lassen
Sie unseren Feinden Gerechtigkeit widerfahren, und wir haben
den Frieden!“
Baron von Klumm lachelte verbindlich und ohne jedwede
Verlegenheit : „Sie heiBen —
, .Arthur Bruchfe6.“
,,Und von Beruf sind Sie?“
Der Mann warf eine blonde Haarstrahne, die ihm beim
Laufen vorniiber ins Gesicht gefallen war, aus der Stirne zu-
riick: „Schornstemfeger“.
,,Mein lieber Herr BruchfeB, und wenn Sie ihren Schom-
steinen Gerechtigkeit widerfahren lassen, werden sie Sie dann
weniger anschwarzen ?“
Da waren schon fiinf, acht, fiinfzehn Polizisten keuchend
angelangt und legten ihre Hand auf den sehr verdutzt drein-
schauenden Bittsteller.
224
Max Brod * Die erste Stunde nach dem T ode
Inmitten der zusammengedrangten Schar der Wiirdentrager,
die aus erleichtert aufatmender Brust jetzt nachtraglich den
Ministerwitz bekicherte, war von Klumm schon weiter hinab-
geschritten.
Ein braun abgebrannter hagerer Greis trat an ibn heran,
hinter ihm regten sich geschaftige Gesichter: „Die Information
fur die Presse44.
Der Minister blickte auf, sah einen Augenblick lang zogernd
umher.
Der Chef der Geheimpolizei erriet seine Uberlegung : „0 ja,
man hat es allgemein gesehen und bemerkt44.
„Wurde von einem schwachsinnigen Individuum attackiert44,
diktierte der Minister gleichsam in die Luft. „Sofort Wache.
Schritt ein. Attentater ins Irrenhaus gebracht. Arzte kon-
statieren. Staatsminister erledigt wie sonst seine Tagesgeschafte.
Meinen kleinen Scherz natiirlich unter driicken . Adieu, Herr
Geheimrat.44 —
„Ich weifi nicht, was ich an Ihnen mehr bewundem soli44, sagte
Herr von Crudenius, der Militarattache einer verbiindeten
Macht, der bald hierauf mit Herrn von Klumm in dessen Wagen
zur Botschaft fuhr, die versammelte Volksmenge brach in Hoch-
rufe aus. „Sie stellen ihre Verehrer vor allzuschwere Aufgaben,
Ihre heutige Rede im Reprasentantenhaus, die ein oratorisches
Meisterstiick war, Ihr schlagfertiges geistvolles Aper^u an den
Unbekannten oder den erstaunlich sicheren Takt, mit dem Sie
die Wiedergabe dieses Aper?u sofort unterdriickten.44
, .Routine, lieber Herr von Crudenius, nichts als Routine.
Natiirlich Routine nicht im schlechten Sinne des Wortes, etwa
als Gewissenlosigkeit, Herzlosigkeit. Nein, ich will mich nicht
iiberfliissigerweise heruntermachen, bin auch durchaus nicht der
Bescheidenste im Land. Ich will nur sagen : man lernt das, man
gewohnt sich daran, wie man sich an alles gewohnt. Neunzehn
Zwanzigstel unseres Lebens sind bhnde bewufitloseGewohnheit.44
..Dasselbe sagten Sie eben auch im Parlament, Herr Baron.
Ich staune iiber Ihren Mut. Den Beifall der konservativ-
nationalistischen Gruppe haben Sie sich gleich anfangs ver-
Max Brod * Die erste Stundc nach dem Tode 225
scherzt, als Sie gegen jede Prestigepolitik sprachen. Und zum
SchluB forderten Sie wiederum die sogenannten Fortschritts-
parteien zum Widerspruch heraus, indem Sie das Stehenbleiben
auf Sitte und Tradition riihmten.“
„Nicht riihmten“, unterbrach der Baron, dessen kluger Kopf
keine Spur von geistiger Abgespanntheit zeigte, wie es nach der
anstrengenden fiinfstiindigen Sitzung eigentlich begreiflich ge-
wesen ware. „Ich riihmte nicht. Ich stellte nur fest. Stellte,
wenn Sie wollen, sogar mit Bedauern fest. Ich bin nun einmal,
so weit kennen Sie mich ja, ein fanatischer Anbeter von fest-
gestellten Tatsachen und Wahrheiten. Ich fiihle mich ver-
antwortlich fiir das Wohl und Wehe des Reiches, in des Wortes
schwerster Bedeutung vor meinem Gewissen ver-antwort-lich.
Als verantwortlicher Mann muB ich niichternste Realpolitik
treiben und bin ein abgesagter Feind aller Ideologien, mogen
sie nun von rechts oder von links kommen, mogen sie chauvi-
nistisch mit dem Sabel klirren oder aufgeklart mit der Friedens-
palme rasseln. Wahrhaftig, lieber Herr von Crudenius, Ideologen,
Utopisten, unverantwortliche Phantasten halte ich fiir dieargsten,
die einzigen Feinde der Menschheit.“
Der Attache lachte: „Und wenn man’s genau nimmt, haben
Sie immerfort mit solchen Leuten zu tun, Sie Bedauernswerter.
Der Mann auf der Treppe — und die Volksmanner drinnen,
denen Sie die wahre sittliche Wiirde des Krieges erklaren
muBten — ist es nicht, im Grunde genommen, immer ein und
derselbe Feind. Verkehrtheit und iiberspannter Idealismus gegen
die gesunde Menschennatur.
„In Ihre Hand wiirde ich den Auftrag, meine Biographie zu
schreiben, mit Beruhigung legen“, sagte der Minister nicht ohne
leise Ironie. „Sie haben mich sozusagen heraus. — Mit der
einen Einschrankung vielleicht: Ich bin kein Freund Ihres
Handwerks.“ Er zeigte auf den troddelgeschmiickten Sabelgriff
seines Nebensitzenden. „Wiewohl ich heute manches derartige
gesagt habe, weil ich es sagen muB. Ich bin iiberhaupt nichts
weniger als ein Freund dieses Krieges, der nun schon das
zwanzigste Jahr lang andauert.“
226
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dem Tode
„Aber Sie sagten, unter dem Entriistungssturm der Sozial-
demokraten, dafi man sich an den Krieg vollkommen gewohnt
hat.“
„Das sagte ich, weil es wahr ist, einfach unbestreitbare Tat-
sache. Bester Beweis : eben dieselben Sozialisten bewilligen uns
jedes Jahr glatt unsere Kriegskredite. Aber zwischen Gewohn-
heit und Freundschaft liegt doch wohl noch so manches, nicht
wahr? Man hat auch iible Gewohnheiten und ich stehe nicht
an, den Dauerkrieg als eine solche iible Gewohnheit Europas
zu bezeichnen. — Aber wer wagt es ernstlich zu bestreiten, dafi
wir den Krieg restlos in die Reihe unserer sozusagen instinktiven
Lebensfunktionen miteingereiht haben? Kein Wunder, die
meisten von unserer reprasentativen Generation waren noch
schulpflichtige Kinder, als der Krieg begann. Wir sind mit dem
Krieg aufgewachsen und werden zweifellos nicht so lange leben
wie er. Die heutige Jugend gar weifi gar nicht, was dieser sagen-
hafte Zustand „Frieden“ bedeutet, den sie nie erlebt hat. Ja,
wenn man es genau nimmt, hat es ja noch niemals Frieden ge~
geben, so wie es meiner festen Uberzeugung nach auch nie einen
geben wird. Es war nur Nicht-Krieg, ein durch geschaftsman-
nische Heuchelei und kiinstlich errechnete Vertrage iiberklei-
sterter Zustand gegenseitiger Feindschaft und Ressentiments
zwischen den Staaten. Ein Schriftsteller, der den Ausbruch des
Krieges als reifer Mann miterlebt hat, also die Zustande vorher
und nachher als Zeitgenosse wohl miteinander vergleichen konnte,
ich meine Max Scheler, der auf meine Anordnung hin jetzt in
den Schulen gelesen wird, hat das damals sehr gut dargestellt.
Der Unterschied zwischen dem versteckten und offenen Krieg,
der dann nur das vorhandene Hafiverhaltnis enthiillte, ist nach
diesem Autor gar nicht so bedeutend gewesen. Ich stimme ihm
in diesem Punkte vollstandig bei. Anders ware es ja auch gar
nicht erklarbar, dafi wir den Krieg so gut vertragen und ihm
unsere Organisation wirklich liickenlos anpassen konnten. Es
war eben immer Krieg seit die Welt besteht. Krieg ist der
naturliche Zustand der Menschheit, nur seine aufiere Form
wechselt. Schauen Sie doch um sich, lieber Herr von Crudenius.
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode 227
Sieht diese belebte Strafie, dieser Andrang vor dem Theater,
diese Menschenstromung um die Warenhauser herum und in sie
hinein wie etwas Abnormales aus ? Unsere Wirtschaftsmaschine
arbeitet nach Uberwindung einiger anfanglicher Storungen, die
uns heute kindlich anmuten, tadellos. Der Export hat aufgehort,
der innere Markt hat sich da fur erschlossen. Und mit welchem
Erfolg, das sagen Ihnen die niedagewesenen Dividendenhohen
unserer Aktiengesellschaften . Die Vemichtung von Werten wird
durch die angeregte Erfindertatigkeit und NuWbarmachung
neuer Rohstoffe mehr als wettgemacht. Wir nahem uns dem
Ideal des Fichteschen geschlossenen Handelsstaates. Die Um-
schichtung der Berufe hat sich leicht und radikal vollzogen. Der
Mann ist Krieger, die Frau zu jeder Art biirgerlicher Arbeit
erzogen, mit ihr das Heer der Alten und Untauglichen . GewiB
bedauert es niemand mehr als ich, daB jahrlich einige hundert-
tausend junge Leute an der Grenze fallen mtissen . Aber ist denn
im sogenannten „Frieden“ niemand gestorben? Wir haben es
ja durch eine zielbewufite Bevolkerungspolitik, durch energische
Kinderversorgung im Staatswege, Aufhebung der Monogamie,
regulierte Mannschaftsurlaube zu Fortpflanzungszwecken, durch
Bodenreform, Einfamilienhaus, Kriegerheimstatte, Gartenstadt
und andere vemiinftige MaBnahmen, deren Durchsetzung man
friiher fiir einen Traum hielt, dahin gebracht, daB die Bevolke-
rungszahl sogar einen prozentuell hoheren Jahreszuwachs zeigt
als jemals und dafi der allgemeine Gesundheitszustand sich
konstant bessert. Infolge Rlickgangs der Sauglingssterblichkeit
ist sogar die jahrliche absolute Sterbeziffer samt alien Kriegs-
verlusten um etwas, allerdings nicht viel, kleiner als die vor dem
Kriege. Bitte, das ist statistische Tatsache. Wir ziichten heute
sozusagen Volk, wahrend der Staat friiher unbegreiflicherweise
geradezu volksfeindliche Tendenzen wie den GroBgrundbesitz
und unhygienische Fabrikationsmethoden begiinstigte.“
„Und wie erklaren Sie dann trotzdem diese allgemeine Un-
zufriedenheit, dieses nicht uberhorbare dumpfe Grollen in der
Welt, das sich zum Beispiel in solchen peinlichen Auftntten
wie heute entladt?*'
228 Max Brod * Die erste St unde nach dent Tode
„Gewohnheit ist noch nicht Zufriedenheit. Sagte ich es nicht
schon vorhin? Der MenscK gewohnt sich auch ohne jede Zu-
friedenheit an das Furchtbarste, weil ihm keine andere Wahl
bleibt. Wir haben uns ja sogar an den Tod gewohnt. Lachen
Sie nicht. Ich meine das ganz im Ernst. Wir als Geschlecht,
als genus humanum, machen uns gar nichts mehr aus dem Tod.
Und doch ist es, wenn man so allein, als Einzelner dariiber
nachdenkt, ein entsetzlicher, ja unfafibarer Gedanke, zu sterben,
von einem bestimmten Moment an nichts mehr zu fiihlen,
nichts zu denken, einfach fur alle Ewigkeit, nicht etwa vor-
iibergehend, nicht mehr zu existieren. Wie mag es eine Stunde
nach dem Tode in unserem Kopfe ausschaun ? Und fiinfhundert-
tausend Jahre nachher? Und dabei ist dieser unendlich lange
Zustand des Nichtseins doch fur jeden von uns sicher, unaus-
weichlich, nicht etwa ein boser Zufall, dem man vielleicht
entgehen konnte, wenn man Gluck hat, und diese absolute,
unbedingte Sicherheit des Sterbens eben ist das GraBlichste
an der Sache.“
Der junge Offizier errotete vor Bewegung. „Ich danke Ihnen,
Herr Baron. O wie viel Dank schulde ich Ihnen schon, seit Sie
sich in der fremden Stadt meiner angenommen haben. Sie
machen mich zu einem Menschen. Ohne Sie konnte ich nicht
mehr Ieben.“
„Sie haben sich nur an mich gewohnt, lieber Freund. Alles
ist Gewohnheit!“
,.Nein, ich liebeSie, Sie sind meine einzigeStiitze“, erwiderte
Crudenius feurig. „Ich habe es schwer ertragen. schwerer als
Sie es ahnen, aus meiner Heimatstadt herausgerissen zu werden,
von meinen Eltern weg, die ich verehre, aus dem Kreis lieber
Kameraden, hieher an eirren, sagen wir es offen, steifen, zere-
monidsen Hof, dessen Sprache ich kaum verstand. Sie haben
mich oft dieser Sentimentalitat wegen ausgelacht . . .“
, Ja, das tue ich noch heute. Die Welt ist doch gleich, hier
wie dort, die moderne Welt zummdest. Uberall gibt es Schlaf-
wagen, Badezimmer, Untergrundbahnen, Beton, Asphalt, die-
selben eleganten DamenkostUme, sogar dieselben Parfiims. Der
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode
229
modeme Mensch findet uberall das, was seinen Gewohnheiten
entspricht. Ich sehe, von geographischer Lange und Breite
abgesehen, gar keine Unterschiede zwischen unseren heutigen
GroBstadten."
,,Aber doch zwischen den Volkern. Sonst gabe es ja keinen
Krieg.“
Der Minister warf sich mit humoristischem Schreck in seinem
Sitz herum : Wehe mir ! Sind das die Erfolge meines Niichtern-
heitskursus, den ich Ihnen seit Monaten vordoziere? — Auch
Sie fallen also immer noch auf solche Phrasen herein, wie die
vom verschiedenen Geist der Volker, verschiedenen Ethos der
Rassen? Nein, nein, — gerade gegen solche Unterstellungen
zu protestieren, das ist ja der bescheidene, aber doch vielleicht
nicht ganz unwesentliche Sinn meines Lebens. Lemen Sie doch
endlich, mein Herr, daB die Notwendigkeit dieses Krieges nicht
beruht auf Volkerverschiedenheiten, die ich jain mikroskopischen,
wirkungslosen Ausmafien zugebe, sondern gerade auf der un-
erbittlichen Gleichheit aller Volker, die mit ihren identischen
Lebensnotwendigkeiten einander immanenterweise den Raum,
die Entfaltungsmoglichkeit streitig machen miissen. Gleiche
Bediirfnisse widerstreben einander eben, solange die Erdober-
flache nicht mehrmals iibereinander, wie Orgelklaviaturen, so-
lange sie nicht so oft, als es Volker gibt, vorhanden ist. Weil
jedes Volk in einem fernen Zeitpunkt die ganze Erdoberflache
fur sich allein brauchen wird. Und das um so schneller, je besser
und starker es ist, je entwicklungskraftiger, je sittlicher. Und
dann kommt irgend so ein armer Teufel gesprungen und ver-
langt von mir emphatisch, ich solle „den Feinden Gerechtigkeit
widerfahren lassen“. Das tue ich ja, habe ich stets getan. Meinen
Sie, ich billige die abscheulich verhetzende und unanstandige
Sprache, die unsere Tagespresse gegen die Gegner fiihrt? Hoch-
stens als Kampfmittel, um die Energie unseres Volkes wach-
zuhalten, na ja, da ist sie unentbehrlich, ebenso unentbehrlich
wie Minen und Flammenwerfer, die ja an sich auch nicht gerade
sympathische Dinge sind. Aber es ist doch naiv zu glauben,
daB wir von der Regierung aus das auch wirklich denken, was
230
Max Brod ♦ Die ersie Stunde nach dem Todt
wir da iiber „Barbaren“ und „Heuchler“ schreiben lassen.
Nein, wir sind gerecht, wir erkennen den Wert und das Recht
der Feinde vollkommen an. Aber eben je gerechter wir sind,
desto klarer erkennen wir, obne jeden HaB und jede Verbitterung,
daB auch wir Wert und Recht auf unserer Seite haben, daB es
eben, Gott sei es geklagt, nicht ein Recht, sondem zwei und
mehrere Rechte auf der Welt gibt, daB unsere realen hand-
greiflichen Interessen — und nur auf die kommt es an, nicht
auf irgendwelche Erdichtungen — mit den ebenso hand-
greiflichen Interessen der Feinde kollidieren, daB die Volker
kampfen miissen, weil sie atmen miissen und solange sie eben
atmen wollen. Ebenso wie auch der gerechteste und gutmiitigste
Schomstein nicht umhin kann, RuB zu erzeugen. 1st denn
wirklich jemand so kurzsichtig, der das nicht einsieht, diese
ganz reale, unumstoBliche fragile des mens<£[i(£en Caseins?
Ich mufi sagen, wer das nicht einsieht, der ist auch ein schlechter
Christ. Der Leim, aus dem wir gebildet sind, ist schon ver-
dammlich, sagt Luther. Die Essenz des Menschseins ist nun
eben nichts als bose Begierde, ist Erbsiinde, und mir erscheint
sehr oberflachlich, wer den traurigen Zustand der Menschheit
auf ephemere Regierungsfehler, Unehrlichkeit, Beschranktheit,
Eroberungssucht einzelner zuriickfiihren will, statt auf diesen
dunklen Urgrund alles Menschlichen, auch des bestgemeinten,
wohlwollendsten. Sehen wir doch der Wirklichkeit ganz sachlich
ins Auge ! Der Kirchenmann entsagt der ganzen Welt auf einmal.
Das ist ein Weg. Der Staatsmann aber, dem dieser Weg nicht
erlaubt ist, weil er ja das Weltliche in der Welt lenken soli,
und der dabei ein ebenso guter Christ sein will, wie der welt-
fliichtige Asket, muB sich ganz klar dariiber sein, daB seine
MaBnahmen niemals Aufhebung des Krieges, iiberhaupt des
menschheitlichen Leidens und Ungliicks bezwecken konnen,
sondern nur — wie soil ich es nennen — erne bessere, inten-
sivere Organisation des Ungliicks. Mehr nicht.“
Sie waren am Botschaftspalast angelangt. Der Offizier stieg
aus und verabschiedete sich. — „Ich muB sagen“, schloB der
Minister „mich hat gerade der Krieg dieses richtige, todlich
Max Brod * Die erste Slunde nach dem Tode
231
emste Christentum gelehrt, die erhabene Religion des Leidens.—
A propos, Sie kommen doch heute nach zehn Uhr noch zu
meiner Bridgepartie? Die schone Gabriele wird da sein, auch
Ihr Nannerl hab ich eingeladen.“
Im Ministerium wartete eine lange Reihe vortragender Rate.
— Baron von Klumm, dessen Fleifi und Sorgfalt geradezu
sprichwortlich waren, pflegte nach Parlamentssitzungen die
verlorene Zeit, wie er sagte, nachzuholen und gonnte sich dann
oft bis spat in die Nacht keine Ruhe. So losten einander auch
an diesem Abend in seinem Biiro Referenten, Konzipienten,
telephonische Anrufe und Diktate ab. Eine Abordnung aus dem
eroberten Gebiete wurde empfangen, brachte Bitten undWiinsche
vor. Der Baron notierte einige Biicher und Broschiiren, die
hiebei mehrmals erwahnt worden waren. Noch um neun Uhr
nachts schickte er den Diener in die Ministerialbibliothek und
endlich, auf der Heimfahrt in seinem Auto, versenkte er sich
noch in die Lektiire eines der empfohlenen Werke, das die
schwierigsten Geld- und Wahrungsfragen behandelte.
Gabriele, erste Tanzerin der Hofoper, wartete bereits mit
den iibrigen Gasten in der Privatvilla des Barons und entziickte
die Tafelrunde durch die lustige Unbefangenheit, mit der sie
sich die Rolle der Hausfrau angemafit hatte. Die Gesellschaft
war reichlich gemischt: Schauspieler, die unaufgefordert fur
Unterhaltung sorgten, indem sie mehr oder minder gewiirzte
Anekdoten zum besten gaben, ein paar Landrate, in ewige Jagd-
geschichten vertieft, zwei bis drei ironische Causeure aus der
Diplomatic, ein jiidischerSchriftsteller, der zu allererstbetrunken
war und sich dann in revolutionaren Reden und staatsfeindlicher
Lyrikdeklamation gefiel, woriiber man sich sehr belustigte.
Nannerl, eine offensichtlich aus dem untern Volke stammende,
noch gar nicht entdeckte Chansonette, entziickte den Militar-
attache durch ihren reschen Dialekt, den er bezaubemd natiir-
lich fand, obwohl ihm jede Redewendung erst in die Schrift-
sprache iibersetzt werden mufite, worauf er sie, von niemandem
angehort, nur fiir sich, in die Sprache seiner Heimat ubertrug
und in Erinnerungen an die Felder und Bauerinnen zu Hause
232 Max Brod * Die erste Stunde nach dem T ode
schwelgte. Seiner bei diesem schleppenden Umweg des Gefiihls
erklarlichen Schiichternheit half der Minister durch eine ge-
schaftsmaBige Feststellung ab. SchlieBlich glich der Kartentisch
alle Leidenschaften aus. Gabriele, fiir die stets einige Zimmer
in der Villa vorbereitet waren, hatte sich schon langst zu Bett
begeben, als die letzten Gaste iiber knisternde Scherben der
Champagnerglaser hinweg, von schla ftrunkenen Lakaien unter-
stiitzt, sich zur Tilre hinaustasteten. —
Baron von Klumm liefi sich von seinem Leibdiener eine
kalte Kompresse um die Stirn winden. Er wollte, ehe er sich
zu Gabriele begab, noch ein wenig arbeiten. Die von dem
okonomischen Buche angeregten Gedanken hatten ihn wahrend
des ganzen Soupers nicht verlassen, wie es iiberhaupt eine
seiner Haupteigenheiten war, stets vollstandig von gewichtigen
Dingen bis zum Rande ausgefiillt zu sein, auch mitten in
seichter Unterhaltung.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Arbeitszimmer
war, wie eben in einem rechten Junggesellenheim, sehr weit-
raumig und zentral gelegen. Els fiillte mit seiner Front von vier
Fenstern den groBten Teil des ersten Stockwerkes, eigentlich
mehr ein Saal als ein Zimmer zu nennen. Drei hohe Wande,
bis zur Decke mit Bucher- und Aktenriicken austapeziert, ver-
loren sich 1m Dunkel, vor den Fenstern breitete sich im sausen-
den Nachtwind die mondbeschienene Schneekette des nahen
Hochgebirges aus.
„Du hast hereinschneien lassen. Peter." Der Baron wies auf
einen hellen weifien hiigeligen Fleck auf dem Parkettboden.
Der Diener zuckte verstandnislos die Achseln, griff an die
Fensterklinken, um zu zeigen, daB alle geschlossen waren, strich
aber dann trotzdem mit einem rasch herbeigeholten Wischfetzen
iiber den Fufiboden an del' vom Baron immer noch mit aus-
gestrecktem Finger bezeichneten Stelle hin, allerdings mit der
gekrankten Miene eines Mannes, dem ein schrullenhaft um-
standlicher Auftrag erteilt wird und der ihn nur aus Gutmiitig-
keit ausfiihrt.
Dann ging er.
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode
233
Der Baron begann zu Iesen, bald aber storte ihn ein leises
Knistern. Trat er immerfort noch auf Scherben? Er sah auf.
Zu seinem grofiten Erstaunen war der weiBe Fleck im Zimmer,
der iibrigens ganz jenseits des Mondlichtstreifens im Schatten
eines Kastens lag, nun zu einem richtigen Hiigel emporge-
wachsen, ja er riickte wie ein unnaturlich schnell aufschiessen-
derPilz sichtlich weiter in die Hohe. — Nein, das warallerdings
kein Schneehaufen, das bewegte sich ja. — Plotzlich kam die
Erkenntnis. Das war ein menschlicher Kopf.
Im Augenblick hatte sich der Baron gefaBt, den Revolver
ergriffen, den er immer bei sich trug, und auf den Kopf abge-
feuert. „Ich wufite gar nicht, daB es Falltiiren in meiner Villa
gibt.“ Er repetierte. Sechs Schiisse, dan n war der Revolver leer.
Die Schiisse hatten offenbar nicht getroffen, sondern brachten
eineandere, ganzunerwarteteWirkunghervor. „Ja, jetzt geht’s* ‘,
rief einewieausdemSchlaf gesprochene, ungelenke, verschleimte
Stimme, und sofort schwebte mit einem Ruck wie ein straff
gefiillter Gasballon die ganze, sehr lange Gestalt der Erschei-
nung empor, merkwiirdigerweise ohne dabei den FuBboden
merklich weiter aufzureissen. Es war ein stattlicher weiBhaariger
alter Herr, der mit geschlossenen Augen, die Arme fest an die
Seiten des Korpers gepreBt, emporstieg. Der befreiende Auftrieb
schien aber plotzlich nachzulassen, so daB die FiiBe und Unter-
schenkel des seltsamen Wesens unter dem FuBboden stecken
blieben, ohne daB dies auf den Beschauer oder auf das Wesen
selbst einebesonders befremdendeNebenwirkungausgeiibt hatte.
Dem Baron straubten sich die Haare unter der Kompresse.
Er fiel in seinen Lehnsessel zuriick, aus seinen Beinen war jede
Kraft, ja jedesGefiihl entwichen, so daB er sich wie mit eisemen
Reifen um die Hiiften in eine Art sitzender oder halbliegender
Stellung festgeklammert fiihlte, ohne ein Glied riihren zu
konnnen. Er war aber nicht der Mann, sich ohne Widerstand
durch ein Gespenst oder vielmehr durch irgend einen iiber-
miitigen Bubenstreich aus der Fassung bringen zu lassen. Ge-
wohnheitsmaBig rang er nach einem einleitenden Gesprachs-
thema, doch iiber seine Lippen kam nur etwas Speichel, dann
234 Max Brod * Die erste Stunde nach dent Tode
ein Gurgeln und Labern, wie es Sauglinge ihren ersten Artikula-
tionsversuchen vorausschicken. Endlich konnte er sich verstand-
lich machen: „Ihr Name ist . .
Die Erscheinung hatte jetzt ihre Augen geoffnet, grofie,
schdne, braune, gar nicht unheimliche Augen, mit denen sie
freundlich und still ungefahr in der Richtung auf den sich
abqualenden Minister herabsah. Der Minister erwiderte, wie
er es stets zu tun pflegte, diesen Blick mit Strenge und Festig-
keit, trotz seiner kraftlos ausgestreckten Lage im Sessel, zwi-
schen dessen Lehnen seine obere Korperhalfte wie auseinander-
geworfen, ungeordnet, gleichsam auf den Misthaufen hinge-
schmissen herumlag. „Ihr Name ist . . sagte er nun schon
sicherer und machte den Versuch, durch heftiges Augenzwin-
kern die Herrschaft iiber seine erstarrten Glieder wiederzuer-
langen. SchlieBlich aber sah er die Aussichtslosigkeit dieses
Versuches ein und wurde ganz still, da er fiirchtete, sich vor
dem Geist lacherlich zu machen. DaB er es mit einem wirk-
lichen und nicht bloB gespielten Geiste zu tun hatte, war in-
zwischen seinem rastlos arbeitenden Gehirn klar geworden. —
Schon die Dimensionen der Erscheinung sprachen dafiir. Sie
war namlich mehr als zweimal so groB wie ein irdischerMensch,
iiberragte also sogar die iiblichen Panoptikumriesen, dabei gaben
ihre Proportionen den gewohnten an Ausgeglichenheit nicht nach,
hatten also durchaus nicht das Gewaltsame, Rohe, das uns jene
Monstren auf dem Jahrmarkt so unheimlich macht. Unheimlich
war hier nur, daB die seltsame Gestalt, wie zum Ausgleich fur
ihre GroBe, aus einer merkwiirdig lockeren Materie zu bestehen
schien, durch welche man das hinter ihr liegende Fenster und
sogar den das Mondlicht widerspiegelnden Gebirgskamm in der
Feme ganz matt durchschimmern sah. Ein erstaunlicher An-
blick, der, wie sich von Klumm mit wissenschaftlicher PrazisiSn
eingestand, durch keinerlei Hokuspokus hervorgebracht sein
konnte. Das Unerklarlichste aber blieb dabei, daB die
langsam und ganz allmahlich einzuschi umpfen, in sich zusani-
menzusinken schien, wobei sie auch immer festeren Inhalt be-
kam, ohne ubrigens ihre (Jmrisse oder Gesichtsziige im min-
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dem Tode
235
desten zu verzerren. E$ wurde nur alles zierlicher, vertraulicher,
gleichsam menschlicher an ihr. Uberhaupt schien es dem Phan-
tom, wie man jetzt deutlich merkte, durchaus nicht darum zu
tun zu sein, Schrecken einzujagen. Es machte vielmehr (vielleicht
war dies Sinnestauschung, vielleicht aber eine richtige Beob-
achtung des immer mehr zur Besinnung kommenden Staats-
mannes) ganz im Gegenteil den Eindruck, als wolle es Vertrauen
gewinnen, ja binnen kurzem bot es den ganz unglaublichen
Anblick ernes Gespenstes, das sich selbst am meisten fiirchtet,
das bescheiden und angstlich in die Fcke treten mochte, um
nicht zu storen und nur Ieider nicht von der Stelle kann, wo-
durch es in eine recht verlegene und verwirrte Stimmung gerat.
Der Minister raffte sich nun zusammen und setzte sich ge-
waltsam gerade auf. Seine erste Bewegung war, die Kom-
presse abzunehmen, die fur sein Gefiihl den guten Ton einer
Privataudienz groblich verletzte. Dann sagte er, schon ganz
kaltbliitig geworden: „Sie miissen mir aber Ihren Namen
nennen, Ihren Namen. “
,,Namen“, wiederholte das Gespenst, als suche es mit aller
Anstrengung sich etwas klar zu machen. „Namen . . . Namen . . .
Was ist das nur : Namen ?“ Die Stimme klang jetzt nicht mehr
verschlafen, sondern rein und hoch, nur etwas zu vibrierend,
um menschlichen Stimmbandern anzugehoren. Ein Unterton
von grofier Schiichternheit und Demut war in ihr unverkennbar.
Der Baron sah wieder an der Gestalt empor, musterte sie von
Kopf bis zu Fufi, vielmehr bis zum Knie — denn sie stak
immer noch teilweise unter dem Parkett. Wiederum trat erne
Pause ein, in welcher nicht nur der Baron sich bequemer zu-
rechtsetzte, sondern auch die Erscheinung zum erstenmal zu
erkennen schien, dafi sie Arme habe, — zumindest sah sie jetzt
mit erstauntem Blick an ihren Seiten herab und loste, unglaubig
und zogernd, die GliedmaCen von den Hiiften, hob sie ein
wemg und liefi sie wieder smken. Dabei schien sie auch iiber
die Bewegung ihres Kopfes, die sie jetzt zum erstenmal machte,
in Staunen, sogar in Schrecken geraten zu sem, denn ihr Ge-
sichtsausdruck wurde von Minute zu Minute angstlicher und
IS Vo!, m/2
236
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode
die Starrheit der Kontur verfestigte sich nach diesen Bewegungs-
versuchen fiir die nachste Weile nur noch mehr.
Der Baron konnte, wie es seine engeren Parteifreunde nannten,
unter Umstanden „ganz ekelhaft madig“ werden. Ein solcher
Moment der Offensitat war auch jetzt gekommen. Als wolle er
sich fiir die knapp iiberwundene Kleinmiitigkeit schadlos halten,
fuhr er den Cast mit voller Stimme an: „Nun, zum Teufel,
Sie miissen doch wissen, wie Sie heifien, wer Sie sind, was Sie
hier wollen und wie Sie eigentlich hergekommen sind.“
Bei dem rauhen Klang dieser Worte schien sich die Erschei-
nung nun energisch zusammenzunehmen. Ein alter Mann, der
sich auf etwas besinnen will, der angstlich die weiBen Augen-
brauen zusammenzieht, — nicht viel anders sah das Gespenst
jetzt aus. Doch brachte es nicht mehr hervor als die gezwitscher-
ten Worte: ,,Ich glaube, ich bin eben hier hereingestorben.“
„Hereingestorben, — was ist denn das?"
Wieder eine Pause,
„Sie,
was das ist, frage ich.“
„Ja, wenn ich das selbst wiifite, mein Herr“, erwiderte der
Greis, ,,Haben Sie Mitleid mit mir. Ich bin erst soeben ge-
storben, vor einem kleinen Weilchen, und ich habe so viele
Siinden begangen. Wie soli ich mich da schon auskennen. Ich
bin ja noch ganz benommen. Glauben Sie mir, eine Kleinigkeit
ist es nicht." Und nach diesen ersten wemgen zusammenhan-
genden Satzen schlofi er wieder die Augen, gleichsam ganz
erschopft von so viel Anstrengung.
..Merkwiirdig", sagte der Baron, ,,ganz eigentiimlich . . . hm,
hm. Das ist mir ganz neu." Wie hilfesuchend griff er um sich
und packte den Schirm seiner Schreibtischlampe. Diese Be-
riihrung schien ihn auf einen Einfall zu bringen. Den Schirm
wie einen Stutzpunkt festhaltend, drehte er sich im Sitzen
herum, in den grellen Lichtkreis der Stehlampe und entzog
damit zum erstenmal wieder das Gespenst seinem Blick. Plotz-
lich begann er krampfhaft zwischen den aufgehauften Papieren
und Biichern zu wvihlen. Das waren doch seine ganz normalen
Arbeiten, seine gewohnten Gedanken und Vorstellungen. Er
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode 237
suchte sich an einzelnen Worten und Ziffern, die er las, anzu-
krallen, festzusaugen, — doch sie verschwammen vor seinem
aufgeregten Blick, nichts konnte er entziffern. Immerhin dachte
er nach einer Weile sich so weit zur Vemunft gebracht zu
haben, da6 er sich wieder ins Zimmer hinter sich um-
schauen zu diirfen glaubte. Langsam wagte er es und wandte
sich wieder in die vorige Richtung. Da lag der dunkle, ins
Unendliche verschwimmende Saal, in dem die elektrische Lampe
nur den nachsten Umkreis, nahezu nur bis zu seinen FiiBen,
erhellte. Und knapp vor ihm schon wieder dieser langaufge-
schossene Patron, der ubrigens, was wirklich grauenhaft aus-
sah, die Zwischenpause nicht dazu beniitzt hatte, um sich in
eine bequeme Stellung zu arrangieren, sondern statt dessen
starr und mit tiefem Ernst, wie in volliger Selbstvergessenheit,
eine Antwort des Ministers abzuwarten schien.
„Nun, Sie sagen also ... Sie sind also gestorben . . . Und
doch leben Sie . . . Was bedeutet das? Ich meine, konnen Sie
sich nicht verniinftiger ausdriicken? Sind Sie also eigentlich
gestorben oder sind Sie hier?“
„Ich bin hierhergestorben . . . wegen meiner Siinden.**
Der Baron schiittelte den Kopf. „Wegen Ihrer Siinden, das
sagten Sie schon. Was fur Siinden ? Sie sind ein Morder,
nicht wahr?“
Eine heftige Bewegung des Abscheus ging durch den Leib
des Gespenstes, es schiittelte sich von oben bis unten und,
immer noch etwas unbeholfen, aber mit unbewuBter Energie,
hob es jetzt die Arme hoch empor und schlug sogar die Hande
iiber dem Kopf zusammen, indem es jammervoll rief: „Ein
Morder! Ich, ein Morder! — Nein, Gott sei Dank, davon habe
ich mich zeitlebens weit entfernt gehalten. Mordgedanken kann
ich auch bei peinlichstem Nachforschen in meinem Gemiit,
wie es damals war und wie es jetzt ist, nicht entdecken.“
„Also haben Sie gestohlen, betrogen, Schiebungen gemacht,
Gaunereien, oder sind unehrlich gewesen, nicht?**
..Unehrlich — ja, das vielleicht. Ich habe nicht immer und
nicht bei jedem Schritt an die ewige Wahrheit der Dinge ge-
238
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dent Tode
dacht, obwohl ich immer und immer wieder diesen festen Vor-
satz hatte.“
„Und das war Ihre ganze Unehrlichkeit?" lachte der
Baron auf.
„0 eine Siinde — die allerargste Siinde! Deshalb erlebe ich
ja, zur Strafe, diese furchtbare Versetzung in eine andere Welt,
deshalb ist ja meinem Sterben nicht ein Aufstieg in die hohere
Sphare gefolgt, sondern das entsetzliche AusgestoBensein in
eine beigeordnete, wo nicht tiefere Entwicklungsstufe."
„Unfa6bar. — Sie beharren also wirklich darauf, daB Sie
gestorben sind ?“
„Natiirlich, das ist es ja, ich erlebe soeben das, wovor man
sich am meisten furchten soil, oder besser gesagt, was man als
Zeichen der gottlichen Gerechtigkeit am meisten ehrfiirchten
soli,
ich erlebe die erste Stunde nach meinem Tode."
„Das mufi wirklich interessant sein‘d fuhr es unbedacht aus
dem Mund des Barons heraus, ,,das heiBt... ich wollte sagen...
Bitte, mochten Sie nicht Platz nehmen 7 Davon miissen Sie mir
mehr erzahlen. Wie ist denn das, in der ersten Stunde nach
dem Tode 7 Sie miissen wissen, mit diesem Gedanken, das
heiBt damit, mir diesen Zustand auszumalen, habe ich mich
schon oft in miiBigen Stunden beschaftigt. Ich habe ja immer
viel zu tun, leider, leider. Abei manchmal, sehn Sie, zwischen
den wichtigen Staatsgeschaften fallt einem doch etwas so Ab-
struses ein, ja ich mufi abstrus nennen, denn wie kann ein le-
bender Mensch wissen oder sich richtig vorstellen, wie es nach
seinem Tode in ihm zugehen mag. Das ist ja schlechterdings
eine Unmoglichkeit, eine Absurditat. Nun, item, ich habe ein
gewisses MaB von Vorliebe fur diese Sache, ich behalte stan-
dig diese Angelegenheit im Auge . . Unwillkiirlich geriet er,
je mehr er in Eifer kam, in die feingedrechselten Redensarten,
mit denen er seit Jahren Petenten und Deputationen mecha-
nisch abzufertigen pflegte. So sehr hatte dieses Gesprach schon
den Charakter des Absonderlichen und Geisterhaften fur ihn
verloren, so sehr betrachtete er es als eine gar nicht mehr grus-
lige ^Conversation. ,,Kurz und gut, ich denke mir in dieser
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dem Tode 239
ersten Stunde... hehe, wenn ich so sagen darf, alles recht finster
und leer und ode um einen herum. Das Nichts, verstehen Sie,
das Nichts in des Wortes allerscharfster Bedeutung. So stelle
ich mir es vor. Natiirlich fallt es mir gar nicht ein, meine Er-
fahrungen mit den Ihrigen zu, messen oder gar in eine Reihe
stellen zu wollen. Verzeihen Sie meine Schwatzhaftigkeit. Ich
werde mit weit grdBerem Vergniigen Ihren Ausfiihrungen lau-
schen, als ich gesprochen habe. So, ich bin schon ganz Ohr.
Bitte, setzen Sie sich, hier . . .“
Das Gespenst hatte ziemlich ratios seine Augen umher-
wandern lassen, jetzt hefteten sie sich auf den Klubfauteuil,
den der Minister heranriickte. Die Worte schienen von ihm
verstanden worden zu sein, denn nun setzte es sich gehorsam
und so schnell, als es seine festgeklammerten FiiBe zulieBen,
wobei es allerdings eine gewisse Unvertrautheit mit dem Ge-
brauch einer Sitzgelegenheit verriet, denn es heB sich iiber
beide Armlehnen zugleich nieder. Allerdings hatte es seine
immer noch riesenhaften Korperformen nur schwer in den
breiten Fauteuilgrund einzwangen konnen.
„Reden Sie also, erzahlen Sie mir etwas von diesem Paradies,
das unsere Pfaffen so gut zu kennen vorgeben.“
,,Vom Paradies !“ erwiderte das Gespenst mit emem Seufzer.
„Wie sollte ich niednges Wesen Ihnen etwas vom Paradies er-
zahlen konnen, in das ich vielleicht nach Billionen Jahren,
vielleicht niemals Zutritt erlangen werde.
,,Also erzahlen Sie meinetwegen von der Holle,“ warf der
Minister mit einer verbindlichen Handbewegung wie einen
klemen Konversationsscherz hin.
„Der Holle scheine ich ja allerdings, wenn mich nicht alles
triigt, entronnen zu sein“, erwiderte die Erscheinung mit einem
nicht gerade zuversichtlichen Blick rundum, doch schien ihr
schon dieser Blick eine Vermessenheit zu bedeuten, denn sie
verbesserte sich sofort mit stiller Bescheidenheit. ,,Sie diirfen
iibrigens nicht glauben, daB das etwas Besonderes ist. Die Ex-
treme, voile Erlosung und voile Verdammnis sind wahrschein-
lich, so vermute ich mindestens, im ewigen Sein ebenso seltene
v.w
Max Brod » Die erste Stunde nach dem Tode
Ausnahmen, wie im sterblichen Leben. Die Mittelstufen mit
ihren tausendfaltigen Abschattierungen iiberwiegen weitaus. So
erne Mittelstufe scheint auch, obwohl ich mir dariiber durch-
aus nicht klar bin, mein Los zu werden.“
„Nun, ich danke, fiir meinen Geschmack wiirde das Nichts,
das absolute Nichts nach dem Tode schon Holle genug be-
deuten.“
„Das Nichts ?“
„Nun, das Nichts, von dem ich vorhin sprach, der Wegfall
aller sinnlichen Empfindungen, aller Wiinsche und Freuden
und Leiden/'
,,Verzeihen Sie, da habe ich Sie wohl schon vorher nicht
ganz richtig verstanden. Sie miissen mit mir Nachsicht haben,
ich nehme mir die allergrofite Miihe, aber ich bin von all dem
Neuen, das ich erlebe, so aus der Fassung gebracht, so betaubt,
dafi ich I hnen trotz I hrer Freundlichkeit nur schwer folgen kann . —
Ein Nichts nach dem Tode, sagten Sie? Da hatte ich eigentlich
sofort widersprechen miissen. Gerade das Gegenteil da von
trifft ja zu. Eine solche Fiille frischer, ungeahnter Eindriicke
fallt nach dem Tode iiber einen her. Es kostet die groBte An-
strengung, sich dieses Ansturms zu erwehren . .
,,Neue Eindriicke . . . im Moment des Todes?"
„Nicht gerade im Momente des Todes. Da gibt es allerdings
einen kleinen Augenblick von gemindertem Bewufitsein, in dem
man nichts fiihlt als einen heftigen RiB, eine vorher ganz unbe-
kannte starke, aber ganz kurze Empfindung, mit der sich die
Seele vom Korper lost, cm Zucken, von dem ich nicht sagen
konnte, ob es der Lust oder dem Schmerz verwandter ist. Aber,
wie gesagt, das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde lang.
Dann ist die Seele von Materie frei, ganz rein und losgebunden.
Das aber ist gerade das Anstrengende. Wie soli ich es nur be-
schreiben? Unser ganzes Leben lang hatten wir damit zu tun,
in unsere Materie, die ja, seien wie aufrichtig, den Schwerpunkt
unseres Daseins bildete, mit Geistigem und Gefiihltem, mit
seelischem Leben vollzusaugen, das wir aus den wogenden Le-
bensstromen rings um uns fiir unseren Gebrauch entnahmen.
Max Brod * Die erste Stunde tiach dent T ode 24 1
Plotzlich ist unsere Seele frei, bildet gleichsam einen materie-
losen Hohlraum, eine luftleere Blase mitten in der Materie. Die
Materie aber, die gewohnt ist, sich an Seelischem zu nahren,
gleichsam vollzusaufen, stiirzt natiirlich von alien Seiten mit
rasender Begierde auf diesen Hohlraum zu und versucht sich
einzudrangen. Alle Arten von Stofflichkeiten, auch solche der
tiefsten Lebensformen, mochten von der eben freigewordenen
Seele Besitz ergreifen, mochten sich an ihr nahren und empor-
pappeln. Diese ersten Minuten sind schrecklich. Ich kann ja
sagen, mir ist es dabei noch ganz gut gegangen, ich hielt mein
kleines Biindel von Seelensubstanz tlichtig beisammen. Viele
Seelen aber werden schon in diesen ersten Augenblicken ihres
neuen Daseins in Stiicke gerissen, einfach zerfetzt, und es graut
mir geradezu, wenn ich mir ausmale, was eine solche in Atome
zerbrochene Seele zu leiden hat, die ja doch noch bei all dem
ihr einheitliches IchbewuBtsein behalt und nun zu gleicher Zeit
in einem Regen wurm, einemBaumblatt und vielleicht in einpaar
Bazillen darauf, die einander gegenseitig vertilgen, weitervege-
tieren muss. Ich nehme an, daB gerade das der Zustand ist, den
man Holle nennt.“
„Nichtausgeschlossen“,unterbrachderBaronmitdemLacheln,
das er fiir ertappte Gegner zu verwenden pflegte. „Nur mochte
ich wissen, woher Sie nicht nur iiber Ihr eigenes Schicksal, sondern
auch noch zum UberfluB iiber das anderer Seelen sogenau Aus-
kunft zu geben wissen. Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, — sind
Sie sich klar dariiber, daB Sie sich hier auf ein Gebiet begeben
haben, auf dem alien PhantasienundTauschungen, insbesondere
Selbsttauschungen, Tiire und Tor geoffnet ist? Haben Sie sich
in dieser Hinsicht emstlich genug gepriift? Sind Sie Ihrer so
vollstandig sicher, daB eine kleine . . .ich will nicht Luge sagen . .
eine kleine Ubertreibung oder Entstellung der Wahrheit ganz
ausgeschlossen erscheint?“
Der Greis war gar nicht beleidigt, im Gegenteil, er schien
fiir jede Ermahnung dankbar und verfiel sofort, nachdem er das
Vorige in gewissermafien ruhigem Ton geauBert hatte, in seine
anfangliche reuige Zerknirschung: ,,Oh, Sie haben recht. Oh,
24 2 Max Brod * Die erste Stunde nach dem Tode
wie recht Sie haben. Offenbar sind Sie mir ills Richter be-
stimmt, vor dem ich mich zu verantworten, nein, nicht ver-
antworten, vor dem ich meine Verfehlungen zu beichten habe. —
Ja, es ist wahr, ich habe mich durchaus nicht geniigend ge-
priift und habe mich, obwohl es mein emsthcher Wille war,
auch vor eitlen Selbsttauschungen nicht hinreichend gehiitet.
Meine Einsicht, wenn ich die erbarmlichen Resultate meines
Lebens so nennen darf, reichte gerade noch aus, um mich die
erste Priifung nach dem Tode, die Attacke der Materie, be-
stehen zu lassen. Ich verstand in diesem Moment mit wirklich
merkwiirdiger Hellsichtigkeit nicht nur alles, was mit mir,
sonde rn auch was mit anderen eben Gestorbenen rings um
mich vorging. Schreckliches habe ich da in wenigen Minuten
gesehen, noch Schrecklicheres ist mir wie in Ahnungen klar
geworden. Ganz rein konnte ich mich iibrigens trotz meiner
verzweifelten Gegenwehr doch nicht erhalten. Ich sehe, dafi
da schon wieder allerlei Fremdes an mir herumhangt, was mit
unsterblicher Substanz nichts gemein haben diirfte.“ Bei diesen
Worten betastete er traurig seine Rockknopfe und zog das
Jackett, das er trug, mit einer Bewegung iiber dem Magen zu-
sammen, der man anmerkte, daB ihm dieses Kleidungsstiick
etwas ganz Unerklarliches war, dafi er es vielleicht fiir einen
Korperteil hielt.
„Trdsten Sie sich, alle Kleidungen haben etwas Groteskes“,
beruhigte lhn der Minister mit Herablassung.
..Kleidung nennen Sie das . . . Ach so, nun verstehe ich.
Unsere Kleidung sah allerdings ganz anders aus. In der syl-
phischen Sphare, aus der ich stamme, besteht die Kleidung in
einer gewissen, sehr hohen Geschwindigkeit, mit der sich die
Individuen bestandig kreiselformig um sich selbst drehen.“
„Eine Sylphe sind Sie also, eine Sylphide.“ Eine ganz
schwache Erinnerung an die schone Gabriele und ihren Sylphen-
tanz im letzten Ballett schwebte am Baron vorbei. „Sylphen
stellen wir uns allerdings ganz anders als in Ihrer Figur vor.“
„Sie sind auch ganz anders, wahrhaftig, und leben auch ganz
anders als ich es jetzt tue. Ich bin schon auf dem Ubergang
243
Max Brod * Die erste Stunde nach clem T ode
in Ihre Welt begriffen, lebe schon halb und halb, so gut ich
es kann, als Mensch. Das ist ja eben die zweite schwerere
Priifung, die ich durchzumachen habe : man wird plotzlich in
eine ganz andere Welt unter ganz neue Bedingungen versetzt,
alle Gewohnheit des Alltags, alle Routine fallt infolgedessen
von einem ab, und gerade das ist der Priifstein, an dem sich
zeigt, wie viel wirkliche, fur alle nur irgend mogliche Welten
geltende Realitat man in dem einen Leben zu erwerben gewufit
hat . .
„Sie sind also gar kein toter Mensch, sondem aus einer
andern Welt?" fragte der Baron und lehnte sich, wiederum
etwas fassungslos geworden, zuriick.
„Ich bin aus einer andern Welt hier herein gestorben“, wieder-
holte das Gespenst geduldig.
,,Vom Mond etwa oder vom Sirius?"
„Nein, aus einem ganz andern Weltsystem, wie ich schon sagte."
, Aus der Milchstrafie also oder dem Orionnebel ?“
„Wenn Sie in Ihrer Korperwelt noch so weit gehen, un-
endlich weit, so konnen Sie meine Heimat trotz alledem nicht
finden. Meine Heimat ist ein Reich anderer Sinne oder war es
vielmehr bis heute, ich zahie mich aber noch ein wenig zu ihr.
Wir Sylphen sehen nicht, wir horen und riechen nicht und
werden nicht gehort und gesehen. Wir haben dafiir andere
Organe, eine andere Schwere und andere Naturgesetze. Dem
Raume nach aber leben wir unter euch Menschen, mitten
unter euch. Els gibt eben unendlich viel Welten, die sind aber
ineinandergeschoben, nicht nebeneinander laufend, und trotz
ihres unmittelbaren Beisammenseins wissen Sie nichts von
einander. — Auch mir war bisher eure Welt samt Stemenhimmel
und Milchstrafie und allem, was eure Sinne fassen, vollstandig
verborgen. Ich bin vollig iiberrascht, dafi ich, ohne mich von
der Stelle geriihrt zu haben, nur gleichsam durch eine innere
Umschaltung der Organe, in eine so vollig ungeahnte neuartige
Umgebung versetzt bin."
„Warten Sie, nicht so schnell ! — ich mufi das erst fassen",
rief von Klumm und prefite die Hand an die von pochenden
244
Max Brod ♦ Die erste St unde nach dem Tode
Adem schmerzhaft durchpulste Stirn : „Es ist IKnen also alles
ganz neu? . . . Nun immerhin, das muB ich sagen . . . voraus-
gesetzt, daB das alles wahr ist, was Sie da erzahlten, . . . immer-
hin benehmen Sie sich, wenn Ihnen wirklich alles ganz neu
ist, anerkennenswert korrekt und sicher. Es ist mancher so
vor mir gesessen wie Sie jetzt hier sitzen, und hat vor Verlegen-
heit nicht ein noch aus gewuBt. Sie mtissen wissen, ich bin —
das darf ich ohne Selbstiiberhebung sagen — ein ziemlich
einfluBreicher Mann und seltsamerweise sagt man mir nach —
ich weiB selbst nicht, wie ich zu diesem Ruf komme — daB
mein Auftreten etwas Imponierendes an sich hat und daB es
auch fur den Mutigsten und Frechsten schwer ist, die Con-
tenance zu bewahren, wenn er mir gegeniibersteht.“
Hier gab das Gespenst, das bisher die Unterredung mit eben-
derselben Spannung gefiihrt hatte wie der Baron, zum ersten-
mal ein Zeichen von Interesselosigkeit von sich, ein recht deut-
liches Zeichen sogar, indem es seinen Blick auf eines der
Fenster heftete und die Landschaft draufien mit sichtlichem
Vergniigen zu betrachten begann, wobei es den Kopf reckte
und sich sogar halb von seinem Sitze erhob.
Der Minister war Weltmann genug, dies nicht zu bemerken.
,,Die schonenBerge", sagte das Gespenst und ein sehnsuchts-
volles Aufatmen hob seine Brust.
,,Auch unsere irdischen Berge erkennen Sie also sofort“,
sagte der Minister im Ton einer gewissen kiihlhoflichen Ga-
lanterie. ,,Ich mache Ihnen mein Kompliment iiber Ihr
schnellesOnentierungsvermogen. — Gibt es dennauch in Ihrer
Welt so etwas wie Berge?“
,,Nein. Bei uns driickt sich alles, oder vielmehr driickte sich
alles, in elektrischen Wellen, rotierenden Lufttrichtern und
Wirbeln aus.“
,,Und dennoch . .
„Aber natiirlich gibt es auch in dieser Materie Naturschon-
heiten, erhabene Erscheinungsformen der ewigen Krafte, des
Wachsens und Vergehens. — Da ich nun mein ganzes Leben
lang, so oft ich in die freie Natur hinaus kam, es geschah bei
Max Brod • Die erste Stunde nach iem Tode
245
meinem abscheulichen Berufe selten genug, ... da ich vielleicht
gerade deshalb, weil es mir so ungewohnt war, die Herrlich-
keiten der Natur mit einem wahren Durst und Entzticken in
mich aufnahm und jedesmal dabei in mir ohne weiteres das
Geflihl wach wurde, daB ich in diesem Genufi irgendwie an
ein Ewiges, Allgemeingiiltiges, ganz unerschiitterlich Wirkliches
riihrte, eben deshalb bin ich moglicherweise jetzt befahigt, in
allem, was Naturschonheit betrifft, auch in der neuen Welt
mich schnell auszukennen und sofort zu fiihlen, wo ich auch
hier auf ein Wesentliches in dieser Beziehung stoBe.“
„Hochst sonderbar. Mache ich Ihnen nicht nach, wahrhaftig. . .
Wenn ich aus einem Alpenpanorama von lauter Luftwirbeln
kame . . . pardon, so sagten Sie doch . . . aus lauter Seifen-
blasen, nicht wahr, also ohne Steine, ohne Schnee, ohne Pflanzen,
ohne Farbe . . . natiirlich auch ohne Farbe . . . nun, ich mufi
sagen, dann ware ich beim Anblick der wirklichen Berge so
verbliifft, so verbliifft . . .“ der Baron versank in Briiten, endlich
fur er auf. „Mit einem Worte, ich ware verbliifft.“
„Sie wollen mich verspotten“, klagte das Gespenst. „Bin ich
am Ende noch zu wenig verbliifft und verwirrt? Nur gerade
der freien Gottesnatur gegeniiber fiihle ich etwas mehr Ver-
trauen.“
,,0 nein, auch in anderem kennen Sie sich ganz erstaunlich
aus. Ja, es scheint mir sogar, in den Hauptsachen. Sie wissen
genau, ich muB direkt sagen, unnatiirlich genau Bescheid dar-
iiber, woher Sie kommen und wohin Sie gehen.“
„0h, ich weifi es nicht, mein Herr, ich weiB es nicht.“
Der Baron fuhr unbeirrt fort: „Sie sind sich sogar dessen
bewuBt, dafi Sie sich in einem Ubergangsstadium befinden.
Sie haben einen Begriff von den Priifungen, denen Sie ent-
gegengehen, von einem gewissen Gerichtsverfahren und von
den Verdiensten, die Sie vor diesem Gericht geltend machen
konnen. Dabei macht Ihnen unsere Sprache, unsere Begriffs-
bildung in diesem doch recht schwierigen Thema merkwiirdiger-
weise gar keine Schwierigkeiten. Sie reden wie gedruckt und
Sie reden dabei von der ewigen Gerechtigkeit, wie wenn Sie
246 Max Brod • Die erstc Stunde nach dem Tode
mit ihr verwandt waren. Sie reden ebenso von Gott und Tod
und Holle und Teufel, und ich weifl nicht, wovon noch . .
Der Baron war geradezu wiitend geworden und ging mit groBen
Schritten im Zimmer auf und ab.
, Ja, gliicklicherweise habe ich mich gerade mit diesen Dingen
auch in meinem sterblichen Leben einigermaBenbefaBt“, sagte
das Phantom mit ausserster Zaghaftigkeit, wenn auch lange
nicht genug. Und nicht daB ich sie verstanden hatte. Aber eine
gewisse Sehnsucht zog mich immer wieder zu ihnen hin und
auch da hatte ich das Gefiihl, dafi es um ewige unumstoBliche
Wirklichkeiten gehe, die iiberall gelten miissen . . . Ach, leider
habe ich dafiir anderes vernachlassigt, und das racht sich jetzt
bitter an mir . .
,.Sie schweigen?“ rief der Baron unwillig, da eine kleine
Pause eintrat. „Gerade auf das ware ich besonders neugierig.
Was ist es nun eigentlich, was sich an Ihnen racht? Worin
haben Sie gesiindigt? . .
„Ich war“, kam es stockend, beschamt hervor, . . ich war,
wie soil ich es sagen, in Kleinigkeiten sehr ungeschickt. Das
heifit, ich hielt sie fur Kleinigkeiten. Jetzt aber sehe ich, daB
auch sie bedeutungsvoll sind und daB auch sie, wenn man sie
mit der nchtigen Sorgfalt anpackt, einen verehrungswiirdigen
Kern von Realitat enthalten. Denn jetzt fehlen sie mir. Das
ist eben das besondere Gesetz, unter dem wir Gestorbenen in
der ersten Stunde nach dem Tode stehen. Aktion und Reaktion
sind vollstandig vertauscht. Das, was wir im sterblichen Leben
ehrfiirchtig, mit Schauder und Staunen bewundert haben, das
ist uns jetzt vertraut. Was wir aber dort wegwerfend behandelt
und zu einer seelenlosen gewohnheitsmaBigen Hantierung herab-
gewiirdigt haben, das mutet uns hier fremd und umerstandlich
an. So geht es mir hier . . .“ Er stockte wieder ,,mit der Klei-
dung. Ich habe sie, offen gesagt, sehr vernachlassigt. Uberhaupt,
Etikettefragen verstand ich nie. Mit einem gewissen Hochmut
setzte ich mich iiber sie hinweg und glaubte, inrolge meiner
sonstigen hoheren Studien sogar ein Recht auf diesen Hochmut
zu haben. Fur ihn werde ich jetzt bestraft. Denn gewifi liegt
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dent Tode
247
auch in der Etikette, iiberhaupt im geregelten gesetzlichen Ver-
kehr zwischen den Geschopfen, im Mafihalten und Distanz-
gefiihl etwas Allgemeingiiltiges und von Gott Gewolltes. Mag
sein, dafi dieses Distanzhalten iibertrieben wird, dafi nur ein
Kornlein Wahrheit und sehr viel Liige in ihm liegt. Aber eben
auch dieses Kornlein Wahrheit zu finden war ich verpflichtet,
und noch so arge Liige, die es verhiillte, ist keine geniigende
Entschuldigungdafiir, dafi ich mich von dieser Hiille abschrecken
liefi . . . Zur Strafe bin ich jetzt in allem Derartigen ganz ratios.
Bedenken Sie nur, wie peinlich es fiir mich ist, dafi ich immer
noch nicht herausbrmgen konnte, in welcher Gestalt Sie vor
mir stehen. Ich sehe Sie gar nicht. Ich glaube zwar, dafi Ihre
Stimme aus diesemschonen leuchtenden Korper kommt“, dabei
zeigte er auf die Schreibtischlampe weit hinter dem Baron, der
bei diesen Worten, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben,
ein eigentiimliches Gefiihl von Kleinheit und Unbedeutendheit
empfand, was jedoch seine Erbitterung nur steigerte, „und ich
halte irgendwie dieses Licht fiir das Zentrum der Personlich-
keit, mit der ich mich unterhalte. Im iibrigen aber hebt sich
fiir mich leider keine deutliche Gestaltung aus der Umgebung
hervor. Und auch mit meiner eigenen Figur kann ich nicht
ins reine kommen, so sehr ich mich meiner neuen Welt an-
passen mdchte. Bald zuckt es in mir zusammen, bald fliefit es
ausemander. In alien Poren fiihle ich ein Unbehagen. Glauben
Sie mir, mir fehlt jedes Raumgefiihl, alles torkeltmirschwindhg
durch den Kopf. Ich kann die richtige Ebene nicht finden, in
der ich mich zu bewegen hatte. Alles sehe ich schief.“
„Das merke ich nun wirklich“, fuhr von Klumm mit hoh-
nischem Lachen auf.
„Jetzt erst merke ich, zu spat, wie recht ein Freund hatte,
der mir immer von seinem Heimweh erzahlte. Er war nur aus
einer andern Stadt, nicht etwa aus einer ganz andern Welt zu
uns gekommen, und immer wieder klagte er, wie unheimlich,
ja geradezu wie bestraft er sich fiihle. Was sich namlich zu
Hause unter einer Hiille lieber Gewohnheiten, in der Warme
des Korper-an-Korper-Sitzens im Familienkreis verborgen hatte,
248
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dem Tode
das trat jetzt nackt zu Tage : eine gewisse innere Leerheit und
Sinnlosigkeit seines Lebens.“
,,Dasselbe bat Keute der Militarattache gesagt“, murmelte
der Baron mit gespanntem Mifitrauen.
,,Wenn man“, fuhr die Erscheinung rubig fort, „in einem
triigerischen Schein von ewigem Beschaftigtsein sein Leben
hinbringt, immerfort fleifiig und strebsam ist, immerfort so-
genannte „emste“ Dinge treibt, die meist nur der banalen Not-
durft des Tages dienen, seine Mufle wiederum mit einem „ Un-
ernst“ vergeudet, der jenem Ernst an Irrealitat gleichwertig ist,
— kurz, wenn man nirgends die befreiende absolute Wahrheit
sieht, sondern iiberall nur eine triibselige Notwendigkeit und
Gewohnheit . .
„Das ist zuviel“, schrie der Baron und ging mit geballten
Fausten auf das Phantom los, „jetzt reden Sie gar von mir!“
„Nein, von meinem Freund", schrie die Erscheinung entsetzt
und wich mit dem Oberleib zuriick.
„Haha, — der sah also nirgends absolute Wahrheiten? Horen
Sie, da lafi ich ihn schon griifien und ihm sagen, dafi er ein
ausgezeichneter Kerl ist, dieser Freund, und durchaus mein
Mann. Genau so bin ich namlich auch. Die niichternen Tat-
sachen des Lebens erkenne ich an, relative Verniinftigkeiten,
Zweckmassigkeiten. Aber was Sie da von allgemeingiiltiger
Realitat faseln . . . Donnerwetter, gerade gegen solche torichte
Ideologien anzukampfen, darin sehe ich den bescheidenen, aber
vielleicht doch nicht ganz unwesentlichen Sinn meines Daseins.
Zum Teufel, ist denn jemand so kurzsichtig, der das nicht ein-
sieht? Es gibt kein Recht fiir alle und keine Gerechtigkeit, weil
jeder Recht hat, der Recht zu haben glaubt, jeder Staat, jedes
Volk, jeder Einzelne. Deshalb mufi es ewig Krieg geben, Zwie-
tracht von Mann zu Mann und Kneg der Volker unterein-
ander . .
Kaum hatte der Minister diese Worte ausgesprochen, als
das Gespenst sich mit einemmale wie umgewandelt gebardete.
War es bisher eines von der weinerlichen Sorte, sogar nahezu
temperamentlos gewesen, so geriet es jetzt in einen zornigen
Max Brod * Die erste Stunde nach dem T ode
249
Eifer, der dem des Barons in nichts nachstand. „Hallo, das ist
ja Unsinn“, rief es und schien alle Zimperlichkeit mit einem
Schlage vergessen zu haben: „Es gibt kein MuB und es gibt
keine relative Verniinftigkeit? Mit solchen Ansichten stecken
Sie ja in einer ganz gewaltigen Verblendung.“
„Ich — Verblendung? Ich, der anerkannt sachlichste Real-
politiker der Gegenwart? Selbst von den Gegnern als sacblich
anerkannt? Und solch ein Phantast, solch ein Utopist wie Sie,
will das behaupten? Wissen Sie, daB ich Leute Ihres Schlages
fur die argsten, ja die einzigen Feinde der Menschheit halte?“
Der Baron hatte die Erscheinung beim Arm ergriffen und zerrte
sie hin und her, die Emporung hatte ihn vollstandig iibermannt.
Doch auch die Erscheinung war wild geworden. Erregt tappte
sie um sich, allerdings sehr ungeschickt, so daB sie den Baron
verfehlte. „Ja, fiir einen solchen Feind44, schrie dieser, indem er
zurSeite sprang, „daB ich mir gar kein Gewissen daraus mache,
Sie selbst samt Ihren lappischen Erfindungen jetzt auf derStelle
iiber den Haufen zu schieBen.44 Er war an den Schreibtisch
geeilt, offnete eine Kassette und begann mit zitternder Hand,
den Revolver von neuem zu laden. Dabei aber schrie und zankte
er ununterbrochen weiter und seine Stimme klang vor Wut und
Aufregung immer heiserer: ,,Mit Ihrem albernen Gerede von
ewiger Gerechtigkeit . . . begreifen Sie gar mcht, daB Sie sich
an dem heiligsten Gute der Menschheit versiindigen? Wenn
es nur ein Recht und eine Wahrheit gabe, wo bliebe dann . . .,
he, wo bliebe dann die immanente MiBlungenheit, die Smn-
losigkeit alles Irdischen, die doch gerade darin besteht, dafl
alle, die aufeinander gegenseitig loshauen, alle, alle zugleich, im
Rechte sind, wo bliebe das Christentum, die Religion des Lei-
dens, wo bliebe die ganze metaphysische Tragik des Erden-
wallens?"
„Sie erbarmlicher Wicht44, schrie nun auch der Geist aus
voller Kehle und in seine Stimme rollte etwas wie unterirdischer
Donner, ja, auch aus den Wanden und Fenstem schien es
dunkel mitzusprechen, der Wind draufien setzte mit starkerer
Wucht ein und brachte vom Hochgebirg ein eigentiimlich leises
250 Max Brod * Die erste Stunde nach detn T ode
Pfeifen und Knistern mit, als losten sich irgendwo in der Feme
die Fugen des uralten Gesteins und bereiteten sich vor, in feinen
Staubbachen herabzurieseln. „Sie erbarmlicher Wicht‘\ schrie
gleichsam die ganze sicbtbare Natur in ihrer Emporung auf.
„Ist es Ihre Sache, Gott ins Handwerk zu pfuschen, und die
Tragik seines Werkes gonnerhaft besorgt zu protegieren, fur
die vielleicht genug und mehr als genug geschehen ist, wenn
er solche schadliche Wiirmer wie Sie in seiner unendlichen Giite
iiberhaupt nur weiterexistieren lafit, statt sie zu vertilgen?“ —
Bei diesen Worten bog sich das Gespenst ganz zuriick, als wolle
es einen Anlauf nehmen, um das Menschlein einfach mit der
Wucht seines Leibes niederzustofien und dann zu erdriicken.
Durch diese heftige Bewegung aber hatte es sich unversehens
aus dem Parkett, in dem es noch immer bis zum Knie gefangen
stand, frei gemacht. Es stieg nun vollends empor, erstaunlicher-
weise jedoch hielt es mit dieser Bewegung nicht ein, als es die
Ebene des Fufibodens unter den Sohlen hatte, sondern wie im
Schwung seines Ausholens erhob es sich weiter und fuhr nun
frei in die Luft empor, doch nicht geradeaus, sondern schrag,
als schwebe es eine unsichtbare Treppe hinauf. In dieser Be-
wegung kam es wie in einem eisigen Luftzug dicht am Baron
vorbei, so dafi es ihn also wieder verfehlt hatte. „Wehe mir“,
schrie es jetzt mit klaglich-schneidendem Laut, indem es plotz-
hch etwa in halber Hohe des Zimmers einhielt und fast unbe-
weglich, nur mit leichtem Pendelschlag schwingend blieb.
„Meine Siinde! Meme Siinde!“
Der Baron war zitternd in die Knie gestiirzt, in weitem
Bogen entfiel die Waffe seiner Hand und klirrte zu Boden.
Nicht so sehr die Rede des Geistes als der furchtbare Anblick
des in der Luft wie an einem Galgen hangenden Leibes, der
an Gespenstigkeit all das Merkwiirdige, was er an diesem denk-
wiirdigen Abend bereits erlebt hatte, weit iiberbot, warf ihn aus
seiner miihsam erkiinstelten Fassung. Nun riihrten die beben-
den Worte von oben, die wie unmittelbar aus einem gequalten
Herzen hervorgestofien schienen, an einen Nerv seiner Seele,
der schon lange nicht, vielleicht seit semen ersten Kinderjahren
Max Brod * Die erste Stunde nach dem Todc
nicht geschwungen hatte. „Meine Siinde ! Meine Siinde !“
wimmerte nun auch er und verdrehte die Augen. Denn weinen
konnte er nicht mehr. Das hatte er in all den vielen Jahren
ganz verlemt.
Eine Weile schrien nun beide jammervoll durch das Zimmer
und erweckten den schaurigen Widerhall der leise knarrenden
Mobel. Der Mond war untergegangen, volliges Dunkel herrschte
auBerhalb des Lampenschirms. Jetzt erst bemerkte man, daB
ein ganz zartes flimmerndes, blaulichweifies Licht von den
Konturen des Phantoms ausging, wie von einem Kamm, der
knistemd durch Haare streicht. Es machte wirklich den Ein-
druck, als sei jedes Faserchen im Kleide des Geistes bis zur
Wurzel hinab schmerzlich aufgeregt und erschauere in dem
fremden widerspenstigen Medium des irdischen Luftraumes,
der sich bei der geringsten Bewegung als unangenehm krank-
hafte Reibung bemerkbar machte.
„Was ist Ihnen denn? Herr des Himmels, was ist Ihnen?“
rief der Minister, dessen Wut vollig verraucht war und der nur
noch Mitleid fiihlte, Mitleid mit der armen verirrten Spuk-
gestalt, noch mehr Mitleid aber mit sich selbst, denn er begann
zu ahnen, daB sein Schicksal in jener unausweichlich gewissen
Stunde nach dem Tode dem des Geistes verwandt, aber noch
viel, viel entsetzlicher sich gestalten miisse.
„Sehn Sie denn nicht“, erklang es jammerlich von oben.
„Ich habe keinen Raumsinn, das ist es. Ich erkenne zwar, daB
es hier Zimmer und Stockwerke, eine gewisse gesetzmassige
Anordnung von Oben und Unten, von Rechts und Links gibt.
Aber ich kann diese merkwiirdige Anordnung nicht in mein
Gefiihl aufnehmen, ich kann sie nicht von innen heraus emp-
finden . . . Und jetzt weiB ich auch schon, fiir welchen be-
sonderen Vorfall meines Lebens diese Heimsuchung mich
treffen soll.“
„Oh , es ist schrecklich“, wehklagte der Minister. „ Was wares
denn, was Sie verbrochen haben ? Vielleicht kann ich Ihnen
helfen. Wenn es in meiner Macht liegt, seien Sie iiberzeugt,
daB ich nichts unversucht lassen werde . . .“ Die gewohnten
17 Vol. m/2
252
Max Brod * Die ersie Stunde nach dem Tode
Diplomatenphrasen kamen tonlos, nur so kopfiiber aus seinem
blassen Munde gestiirzt.
Der Geist antwortete auf sein Anerbieten gar nicht, er schien
ganz in Erinnerung zu versinken und nur zu sich selbst zu
sprechen: „Ein vomehmer Mann, ich giaube, er war Staats-
minister, besuchte mich einmal, vielleicht in der besten Ab-
sicht, von lauterstem Wohlwollen erfiillt, in meiner armseligen
Dachkammer. Er wollte von mir Iemen, sagte er, wollte meine
originelle Lebensweise, meinen Eigenbau in Weltanschauungen,
so nannte er es wortlich, mit eigenen Sinnen nachpriifen. Da
ritt mich der Satan der Aufgeblasenheit, der richtige Proletarier-
stolz und ich warf ihn eigenhandig dieTreppe hinunter, wobei
ich triumphierend ausrief: „Damit Sie wirklich sehen und am
eigenen Leib fiihlen, dafi es bei mir kein Hoch und Niedrig,
kein Oben und Unten gibt.
„Kein Oben und Unten.
gliicksehger jetzt in der Luft?
damals nicht schon von Ihnen.“
Und deshalb hangen Sie Un-
Nun, aber es war wirklich
„Ja, das schrie ich ihm damals nach, mit vollem Brustton
und in der Uberzeugung, etwas Grofiartiges ausgefiihrt zu
haben. Leider bin ich ja so jahzornig. Sie haben vorhin eine
Probe davon erlebt. Und es kam mir damals so naheliegend
vor, so selbstverstandlich, den Mann einfach am Kragen zu
packen und hinunterzuwerfen. Nachher noch freute ich mich
lange dariiber, dafi ich diesen glanzenden Einfall gehabt hatte,
er schien mir aus meinem Innersten gekommen zu sein, ich
konnte mir gar nicht vorstellen, dafi die Sache anders hatte
ausfallen sollen und diirfen. — Jetzt aber fiihle ich ganz genau
eben diese scheinbare Selbstverstandlichkeit und Insichgeschlos-
senheit, diese handgreifliche Sicherheit der Dinge ist die argste
Gefahr, die argste Versuchung fur die Sterblichen. Es kann
gar nicht anders sein, denkt man, oder denkt gar nichts, be-
ruhigt sich einfach dabei, dafi es so ist, dafi es Elend undHeu-
chelei und Massenmord und Verkiimmerung gibt. Es ist nichts
zu andern und zu bessern, denkt man, und vergifit ganz, dafi
man bei sich selbst den Anfang machen konnte . .
253
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dent Tode
Der Baron unterbrach ihn, zahneklappemd, mit dem Aus-
bruch seiner hochsten Angst: ,,Aber bedenken Sie, Liebster,
wie wird es erst mir ergehen, wenn Sie schon wegen einer ein-
maligen geringfiigigen Verfehlung oder vielmehr nur Vier-
schrotigkeit so viel auszustehen haben ? In Etikette und Distanz-
fragen zwar werde ich mich auskennen. Aber in den vielen an-
deren und, wie es scheint, wichtigeren Dingen, die ich alle nur
als Gewohnheiten gelten lieB, und die sich infolgedessen alle
gegen mich emporen werden? Sogar an den Tod, pflegte ich
zu sagen, haben wir uns gewohnt. Also wird es mir in der ver-
drehten Welt... im Jenseits wollte ich sagen, ganz liberraschend
neu und unerklarlich erscheinen, nicht wahr?“
,,Ja, jetzt ergreift es mich“, rief das Gespenst in diesem
Augenblick frohlockend aus, ohne sich um den von Entsetzen
geschiittelten Staatsmann zu ktimmern, „jetzt, jetzt weicht das
Verhangnis von mir. Jetzt fiihle ich, daB mir verziehen wird.
Eine unvergleichliche Harmonie ergreift mich, erfiillt meine
GIieder...“ Freudetranen glanzten in den Augen des Greises,
der verstummt war und mit einem sanften Lacheln auf seinen
Ziigen langsam zum Fufiboden niederschwebte. Er hatte jetzt
auch schon nicht mehr als die GroBe und Gestalt eines nor-
malen Menschen, das spitzige Nadelglitzern rings um seinen
Korper war verschwunden. Nun hatte er das Parkett beriihrt.
Sofort losten sich seine FiiBe aus der unnatiirlichen Gebunden-
heit und frei schritt er jetzt auf den Baron zu, den er auch
schon richtig von seiner Umgebung zu unterscheiden schien.
Er bemerkte jetzt, dafi dieser auf der Erde kniete. „Stehn Sie
auf“, sagte er freundlich und half ihm nach, indem er den Ach-
zenden emporhob, „niemand ist unrettbar verloren . . . Mich
aber reifit es jetzt mit Macht anderswohin. Welche andere
Priifungen sind mir noch beschieden? Oder stehe ich schon
am Ende und bin fur die hochste Ebene gelautert? Ich weiB
es nicht. Ich fiihle nur, daB meine Zeit in dieser terrestrischen
Welt um ist, dafi ich wieder in eine neue Sphare auftauche,
vielleicht — oh, die Ahnung schon beseligt — in eine reinere,
als diese hier und als die meine es waren. Leben Sie wohl !“
n ■,
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254 Max Brod * Die erste S tunic nach de)n Tode
,,Nein, bleiben Sie“, rief der Baron verzweifelt, „bleiben Sie
bei mir. Sprechen Sie noch. Sie tun mir so wohl. Und damit
will ich nicht sagen, dafi ich mich nur an Sie gewohnt habe.
Nein, es ist etwas Wesenhaftes, Wirkliches, wenn Sie bleiben. “
Die Erscheinung schiittelte ernst den Kopf: „Ich darf es
nicht.“
„Und wenn ich kniefallig bitte. Wenn ich Ihnen sage, daB
Ihre Worte von unendlicher, ausschlaggebender Bedeutung fur
mein Seelenheil sein konnen, dafi meine unsterbliche Erlosung
in Ihrer Hand liegt.“
„Ein hoheres Gesetz zwingt mich, zu gehen.“
In einer Demut, die er nie vorher gekannt hatte, neigte der
Minister das Haupt. Die Erscheinung reichte lhm sanft die
Hand.
,,Dann sagen Sie mir wenigstens noch das eine: Welche er-
schiittemden Erfahrungen, hohen Studien, welche Gelehrsam-
keit und groBartige Unterweisung haben Sie in Ihrer Sylphen-
welt durchgemacht, um sich zu einer so hohen Erkenntnisstufe
emporzuringen, daB Ihnen nach dem Tode wenig mehr als
eine kleine Peinlichkeit beschieden war? GewiB waren Sie
Philosophenschiiler und selbst Philosoph, waren ein groBer
verkannter Kiinstler, oder gar ein Apostel, ein Prophet, ein
Religionsstifter ?“
„Nem“, erwiderte die Erscheinung mit eigentiimlich ver-
haltenem Lacheln. ,,Ich habe gelebt wie jeder andere. Ein
Unrecht habe ich niemals geduldet, das ist wahr, aber zum
Studieren hatte ich nur wenig Zeit. Mein Beruf freilich war
ein philosophischer. Oft mufite ich namlich allein sein, in einer
ganz engen, finstern Kammer, fern von alien Menschen und
nur auf mich angewiesen. So etwas ladt zum Nachdenken ein.
Ich war Schornsteinfeger.“
Der Minister zuckte zusammen. ,,Schornsteinfeger — Schorn-
steinfeger“ — wiederholte er lallend.
Als er aufsah, war die Erscheinung spurlos verschwunden.
Plotzlich schrie er auf und stiirzte ansTelephon: „Hallo
— Irrenanstalt, Irrenanstalt.“
Max Brod ♦ Die erste Stunde nach dem Tode 255
Der Nachtinspektor meldete sich.
..1st Arthur Bruchfefi dort? Der Schornsteinfeger, der heute
das Attentat auf mich veriibt hat ? 1st er nicht gerade vor einer
halben Stunde gestorben ?“ Der Minister glaubte nichts anderes,
als dafi er die eben beendete Unterredung mit dem Spirit dieses
Mannes gfehabt hatte.
„Ich werde sofort selbst nachsehen, Exzellenz."
Nach einer Weile, deren Spannung sich ins Unertragliche
ausdehnte: „Nein, Inhaftat Bruchfefi lebt, ist sogar auffallend
ruhig und heiter. Er hat sich nicht zur Ruhe gelegt, sondern
geht, ein Liedchen trallernd, in seiner Zelle auf und ab. Die
Arzte haben nicht die geringste Spur von geistiger Umnachtung
an ihm feststellen konnen, nicht einmal eine besondere Er-
regung des Nervensystems.“
,, Lassen Sie den Mann laufen, sofort“, keuchte der Minister,
„die ganze Affare wird niedergeschlagen. Man mufi das alles
anders machen, die ganze Justiz, die ganze Welt. Haben Sie
verstanden ? Sofort in Freiheit setzen.“
„Zu Befehl, Eure Exzellenz.“
Schwer atmend fiel der Minister in seinen Sessel nieder,
ununterbrochen versetzte er seinem Kopf leichte Schlage, wie
um sich aufzuriitteln und das Unsagbare zu fassen.
Da raschelte es in der Tiire.
Die schone Gabriele war eingetreten. Das laute Gesprach
vorhm hatte sie nicht geweckt, wohl aber jetzt das Klingeln
des Telephons . „Wann kommst du endlich ?“ riefsie undspitzte
schmollend ihre Lippen. So blieb sie, leicht erschauemd, stehn,
denn sie trug nichts als ihr diinnes halbdurchsichtiges Nacht-
hemdchen, das nur zwei hellblaue Seidenbandchen liber den
Schultern festhielten. Man sah ihr einfaches junges Gesicht,
die zarten runden Arme und jene leichte apfelglatte Wolbung
des kleinen Busens, die mehr als alles in der Welt selbst-
verstandlich ist und zu vertraulich-heimischem Vergessen, zur
siifien Gewohnheit eines bewufitlosen Ausruhens verleitet. Auch
ein Starkerer als der Baron hatte diesem mit sanfter Gewalt
berauschenden Anblick nicht widerstanden. Im nachsten
256
Max Brod ♦ Die ersie Stunde nach dem Tode
Augenblick war er bei ihr. „Wie lange soli ich noch allein
warten?“ hauchte sie zartlicb, wahrend er sie schon umfangen
hielt und sich, mit stiirmiscber Freude, aus tiefer Brust auf-
atmend, der slifien miitterlichen Schlaflauheit, die von ihrem
Korper ausging, und dem sachten Schlag tiberlieB, mit dem
ihneineihrer losgeldsten Haarstrahnen wie eine unendlich feine,
melodisch aufklingende Zaubergerte an der Wange beriihrte.
Hans Gathmann * Ruj
KLEINE ANTHOLOGIE.
Sffans Qaidmann:
RUF
Wir, aus- und eingebuchtet von den Auf- und Niedergangen
der Tage und der Menschen, die uns iiberqueren,
Wir Eingespannte Leids und Gliickes straffen Strangen,
Schlachten ersinnend, dass wir uns verheeren,
uns bliiht kein Garten mebr! Die Rosen leuchten
nur iiber Totenschadeln, die verscharrt die Wiirmer nagen !
Es brachen Stiirme los, die Geist und Herz verscheuchten !
Europa! Sammle dich zu Friedensarbeitstagen !
Du stirbst ! Der Sohne ruchlos ausgeschiittet Blut wird dich
ertranken !
Hort Briiderruf! Und zu den Sternen aufgetiirmtes Schreien!
Lass sich der Briider ungehemmten Lauf zu Briidern lenken !
Giess Sonne briiderlich ! Und Krafte, uns dem neuen Stern zu
weihen !
Verscheuch Vertieren! Fieischbefiihlen und das Aas-Betasten
der Toten, die dem Wahn zum Opfer fielen
Und furchtbar mit den starren Augen glasten !
Verscheuch Vertieren ! Und so nach dem grossten Gelde schielen !
258
Willy Kiistcrs ♦ Gebet und Tod
f$iffy 0(usters :
GEBET UM TOD
Nun hat man wieder mich ins Totenkleid gesteckt.
Dumpf pocht der Wille an die dunklen Wande.
Ich stehe starr und stumm, die kahlen Hande
In namenlosem Grauen in die fahle Luft gereckt.
Schlagt mich ans Kreuz! Zerbrecht mir die Gebeine!
Nur lafit das Leben noch in meinen Armen I
Ich will in weltbegliickendem Erbarmen
Der Briider Schwerter in die Arme fassen,
Mein Herz durchstofien und entfliefien lassen.
Um dieses, Erde, fleh ich dich, um dieses Eine:
Schaff aus dem Blutstrom, meines Leibs verwestem Paradiese,
Des neuen Menschen Tempel, Stern und Festtags wiese.
Alfred Wolfenstetn ♦ Bewegung
259
£3>ffred C XOoffenstein :
BEWEGUNG
PRESTO.
O schweige nicht, das Weltall schweigt in leerem Chor —
— Es schaumen meine Arme aus der Brust Kervor.
Wo weilen deine ?
Sie werfen aus Verstecken Steine.
Es stiirzt mein Blut vom Herzen, den verzweigten Lauf
Fangt Wald und Ather ozeanisch schliirfend auf,
Und doch nur Tropfen,
Das ungetiime Rund zu stopfen !
Und meiner Blicke iibervolles Strahlen mischt
Nur einen Streifen in die Luft hell, der verzischt.
Die Lippen stufen
Den Wind mit rasch verwischten Rufen.
Das ist die weite Welt! wer riihrt sie menschlich an?
Unformlich liegt sie, breit erwartend jedermann.
O bhndlings Schweigen,
Wo Lerchen sich verlierend steigen.
Doch du bist hier! Gesang, Gerank fiir uns und dich!
Den Horizont, der in die diinnste Feme schhch,
Driickst du zusammen
In deines Haupts gedrangte Flammen.
260
Alfred Wolfenstein * Bewegung
In deiner Haut bewohnten Mauern glanzt die Glut,
Die statt der Sonn’ und Mondes gliiht als Schlecht und Gut.
Nur dich beriihren
Gestalten Andrer! loschen, schiiren.
Du Mensch und meine einzige Moglichkeit! du Freund —
— Und du, die Burg der Seele, — allzuhart umzaunt,
StoBt meine Liebe
In haltlos tiefe Weltgetriebe !
ANDANTE.
Fasst eure Finger: spiiret euch denken,
Tupfend wie Geigen, nervige Singer,
Aber vom Herzen aufpulsen Pauken,
Dumpfere Ringer, um euer Gliick.
Wiinscht nicht, zu stehen, horend zu schmelzen!
Formet mit Fiiften bergiges Gehen,
Kampfend entgegen atmet die Erde!
Wild bleibt ihr Wehen in euch zuriick.
Sterniges Kiihlen — Gliihen der Seele,
Emsamkeit, Liebe, o beides fiihlen!
Gehende Stimme geht auf zu Stimmen,
Freunde umwiihlen Wiiste in Gliick!
SCHERZO.
Die Tapeten hangen bleich vom Gas der Strafie
— Schwarze Finger schlagt des Baumes Laub ins Licht,
— Bis sein Schatten plotzlich blind allein durchbricht
Neben dem verloschten Pfahle,
Und mein Zimmer zackig schwankt und rauscht.
Alfred Wolfenstein * Bewegung
261
— Bis das Knacken eines Knopfes
Leicht sein Dunkel iiberfliegt
Und es fest und gliihend voller Friichte liegt,
Blitze dringen auf den Schreibtisch ein,
In die tote Strafie lauft ein Schein.
ALLEGRO.
Die Menge iiberfullt die Strafien, auf die Dacher
Schlagen die Kronen der Getose. Hohler und frecher
An des Abends Miindung.
Ein Madchen kommt, die weiBen Kleider bunt von Blicken,
Bedeckt mit Kiissen des Getiimmels, bohrend nicken
Die blutroten Fenster.
Die Pferde schiitteln sich, die Knochenkopfe schwanken.
Von Scharen Peitschen rasch gestreift in weichen Flanken.
Noch fern die einsamen Stalle. —
Die dichten Lam pen mischen ihre dunstigen Zungen.
Am Boden Bettler quer mit Stocken eingedrungen
Versinken in FiiBen. —
Und dann Gestirne, eng aus Freundschaft, — docb geschieden
Durch unberiihrte Kliifte Finsternis und Frieden,
Die zarteste Menge!
262
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
Gduard ^Bernstein:
• •
VOLKER ZU HAUSE
ERINNERUNGEN.
VI.
GEHEIME KONGRESSE UND DIE AUSWEISUNG
AUS DER SCHWEIZ.
N die Zeit meines Aufenthalts in Zurich fallen die drei Kon-
gresse, welche die unter das Ausnahmegesetz gestellte deut-
sche Sozialdemokratie im Auslande abhielt. Ihnen und meiner
auf dem letzten dieser Kongresse erfolgten Ausweisung aus der
Schweiz glaube ich einen Abschnitt dieser Erinnerungen widmen
zu sollen. Zuvor aber einige Bemerkungen iiber die Personlich-
keit des bedeutenden Mannes, dessen Kollege ich durch Uber-
nahme der Redaktion des ,,Sozialdeinokrat“ geworden war, und
dessen Name in diesen Tagen durch seinen Sohn dem groBen
Pubhkum ins Gedachtnis zuriickgerufen worden ist. Ich meine
den Vater meines Reichstagskollegen und Gesinnungsgenossen
Karl Liebknecht, den urn die Begriindung und Ausbildung der
deutschen Sozialdemokratie hochverdienten Wilhelm Liebknecht.
Liebknecht war, wie friiher erzahlt wurde, deutscher Redak-
teur am ,,Sozialdemokrat‘‘. Als ich die Ziiricher Redaktion
ubernahm, saB er grade eine vielmonatige Gefangnisstrafe ab.
Bald nach seiner Freilassung kam er jedoch auf vier bis fiinf
Wocnen nach Zurich, um sich mit mir iiber die Redaktion zu
besprechen und zugleich sich von seiner Haft zu erholen. Dies
* Siehe das Dezemberheft der WciCcn Blatter, 2. Jahrgang, und die Februar-, Marz-,
Mai- und Julihefte, 3. Jahrgang.
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
263
ist vielleicht nicht das richtige Wort. Denn von korperlicher
Geschwachtheit war an diesem kerngesunden Mann nichts zu
nierken. Aber er wollte eine Zeitlang freieLuft atmen und hatte
die Ferien, die er zu diesem Zweck nahm, gewifi redlich verdient.
In diesen vier Wochen nun und bei den weiteren Besuchen,
die Liebknecht uns in der Folge abstattete, sowie durch unsern
Briefwechsel habe ich reichlich Gelegenheit gehabt, ihn genauer
kennen zu lernen. Vor allem lernte ich seine Arbeitskraft be-
wundern. Der Mann war von einer erstaunlichen Elastizitat
des Geistes. Ich glaube nicht, dafl er sonderlich viel und inten-
siv gelesen hat, und theoretisch war er schon damals nicht mehr
mein Lehrer, da ich mich in den Marxismus vertiefte, zu dessen
Exponenten er nicht gerechnet werden konnte. Nach seiner
Geistesrichtung gehorte Liebknecht vielmehr eher zu den Sozia-
listen der franzosischen Schule, und an die Franzosen erinnerte
auch sein glanzender, an kurzen, schlagenden Satzen und zuge-
spitzten Gegeniiberstellungen reicher Stil. Er beherrschte die
Form in ungleich hoherem Grade als sein Mitkampfer August
Bebel, dessen Starke dagegen die Substanz war, und ganz be-
sonders zu Hause war er in der Geschichte der Revolutions-
kampfe Frankreichs, in bezug auf ihre Behandlung u. a. von
Jules Michelet beeinfluBt. Bei Gelegenheit jenes Besuches
fragte ich ihn einmal, ob er mir nicht zur Wiederkehr des
1 0 . August einen Artikel iiber den Sturm auf die Tuilerien (1792)
schreiben konne. „Gewifi“, sagte er, „den sollst du haben.“
Sprach’s, ging in sein Zimmer und brachte mir, ohne zu Biichern
gegriffen zu haben, nach einer Stunde einen mit packender
Kraft geschriebenen Artikel, der die ganze erste Seite des „Sozial-
demokrat“ vom 1 1 . August 1 88 1 fiilite. Er konnte unter den
schwiengsten Verhalfnissen Artikel oder polemische Notizen
schreiben, im Eisenbahnabteil, in einem mit laut schwatzenden
Menschen gefiillten Zimmer — ja, einmal habe ich ihn beobachtet,
wie er als Leiter einer durchaus nicht ruhig sich verhaltenden Ver-
sammlung vor sich hin an einem Artikel arbeitete. Ebenso warer
als Redner durchaus nich t auf Vorbereitung angewiesen . Die beste
Rede, die ich von ihm gehort habe, war ganz und gar improvisiert.
264
Eduard Bernstein ♦ Volker zu H arise
Diese Leichtigkeit der geistigen Orientierung nun hat Wilhelm
Liebknecht auf semen Sohn vererbt. Und nicht nur sie. In
seinem ganzen politischen Verhalten ist Karl Liebknecht durch-
aus der Sohn seines Vaters. Das zeigt sich mit verbliiffender
Deutlichkeit, wenn man ihn nicht mit dem unter festgelegten
Parteiverhaltnissen arbeitenden Parteiveteranen, sondern mit dem
im gleichen Alter wie er stehenden und unter ahnlichen Ver-
haltnissen wirkenden Wilhelm Liebknecht vergleicht. Karl Marx
spricht einmal in einem Brief an Friedrich Engels von dem
..grenzenlosen Optimismus unseres Liebknecht1*. Das Wort war
berechtigt, aber es deckt die Geistesart nicht vollig, um die es
sich da handelt. Mit dem Optimismus in inmgster Verbindung
stand zugleich, vielleicht als Uranlage, eineselteneUnbesorgtheit
um alles, was die eigene Person betraf, und Gleichgiiltigkeit
gegen formale Regeln. Auch Wilhelm Liebknecht folgte als
Politiker nicht selten ohne langes Uberlegen spontanen Ein-
gebungen, auch er rief zu seiner Zeit durch riicksichtsloses Aus-
sprechen dessen, was ihm Wahrheit war, Stiirme im Parlament
hervor, auch er brachte sich nicht selten durch eigenmachtiges
Handeln mit seinen politischen Freunden in Konflikte. Dieser
Hang zur Eigenmachtigkeit war nicht auf berechnete Effekt-
hascherei zuriickzufiihren, er war die Komplementareigenschaft
des Mutes, der Wilhelm Liebknecht befahigte, in Situationen,
wo alles um ihn herum dem Taumel des Erfolgs huldigte oder
vor ihm die Segel strich, den Berauschten als Anwalt der Mensch-
lichkeit und Gerechtigkeit entgegenzutreten. Will man Karl
Liebknecht gerecht beurteilen, so mufi man Wesen und Verhalten
seines Vaters studieren.
Als Privatmann war Wilhelm Liebknecht durchaus bedachtig,
ohnedarum Asket zu sein. Er konnte beimTrinken viel vertragen,
aber war fiir gewohnlich ein durchaus maBiger Trinker. Er war
beim Gastmahl ein guter Esser, aber ebenso leicht mit sehr
bescheidener Kost zufrieden. So beschneb er mir damals, wo
er gerade das Gefangnis verlassen hatte, seme Gefangniskost als
ihm auBerst zutraglich, und wiederholt kam es vor, daB er uns
beim Glase Bier ein nichts weniger als ausgezeichnetes Gebrau
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
265
als „pompos“ pries. Eine seiner Leidenschaften war Wandern in
der freien Natur, und da er damit bei mir auf einen verwandten
Hang stiefi, haben wir viele Spaziergange auf den Zlirichberg
und andere Anhohen um Zurich miteinander gemacht. Memer-
seits habe ich ihn m jenen Tagen veranlafit, die edle Kunst des
Schwimmens wieder aufzunehmen, die er, wie er .mir erklarte,
wohl gut zwei Jahrzehnte nicht mehr geiibt hatte. Kraftig, wie
er war, tummelte er sich sofort wieder im See, wie ein Fisch im
Wasser, und eines Tages haben dann er, Freund Julius Metteler
und ein klein wenig auch der Schreiber dieses einen im Ertrinken
Begriffenen, der schon das Bewufitsein verloren hatte, mit ver-
einten Anstrengungen wieder ans Ufer gebracht.
Soviel vom Soldaten der Revolution, wie Wilhelm Liebknecht
sich 1 872 als Angeklagter im Leipziger Hochverratsprozefi selbst
bezeichnet hat, und wonach er — ich glaube zuerst von mir —
den Beinamen „der Soldat“ erhielt. Und nun zu den Kongressen.
Mehr noch als fur jede andere politische Partei sind fur eine
demokratische Partei Delegiertentage oder Kongresse eine Le-
bensnotwendigkeit, da nur auf solchen oder durch solche die
Fragen des inneren Lebens der Partei, ihrer Fiihrung und ihrer
Politik in befriedigender Weise zum Austrag gebracht werden
konnen. Da nun das Ausnahmegesetz es der deutschen Sozial-
demokratie zur Unmoglichkeit machte, im Reichsgebiet solche
Kongresse abzuhalten, war sie genotigt, solange dieses Gesetz
bestand, sie ins Ausland zu verlegen. Und selbst das mufite
unter Beobachtung von VorsichtsmaBregeln aller Art geschehen.
Die Besucher der Kongresse mufitenvor politischer Verfolgung
und die Kongresse selbst vor unerwiinschten Teilnehmern ge~
schiitzt werden. Wahrend die Anforderungen einer demokrati-
schen Vertretung der Mitgliedschaften es notig machten, die
Tatsache, dafi ein KongreC bevorstehe.weithin bekannt zu geben,
mufite zugleich iiber den Ort, das genaue Datum des Zusammen-
tritts des Kongresses sowie iiber allerhand sonstige Einzelheiten
strenges Stillschweigen beobachtet werden. Bei der starken Auf-
merksamkeit, welche die Polizei alien Vorgangen in der Sozial-
demokratie widmete, war es keine leichte Aufgabe, beiden An-
266
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
forderungen gerecht zu werden. Aber sie ist jedesmal insoweit
gelost worden, dafi trotz ihres ausgebreiteten Uberwachungs-
dienstes diePolizei stets erst nach Zusammentritt der Kongresse
von ihnen erfuhr.
Die vielleicht grofite Uberrascbung dieser Art bereitete der
Polizei, und nicht nur ihr, gerade der erste dieser geheimen
Kongresse. Erward in denTagenvom 20. bis 23. August I8&0
auf Schweizer Gebiet abgehalten, und alles war dazu angetan,
ihm ein romantisches Geprage zu verleihen. Da die allgemem
bekannten Ftihrer der Partei auf ihm zu erscheinen hatten, war
davon Abstand genommen worden, ihn in einer der groBeren
Stadte der Schweiz zusammentreten zu lassen. Das gleichzeitige
Erscheinen der Bebel, Liebknecht, Hasenklever, Auer, Grillen-
berger, Fritzsche, Vahlteich u. a. hatte den dort herumlungern-
den Spitzeln die Auskundschaftung des Kongresses gar zu leicht
gemacht. Ein abseits der groBen internationalenVerkehrsstraBen,
unweit des Fleckens Ossingen im Kanton Zurich gelegener,
halb verfallener und zumVerkauf stehender Herrensitz — SchloB
Wyden — wurde fur geeignet erachtet, dieVertreter der geachteten
Partei einige Tage zu beherbergen, und zu diesem Zweck vom
Inhaber mit der Angabe auf eineWoche gemietet, es wolle die
Kranken- und Sterbekasse der deutschen Arbeitervereine in der
Schweiz dort ihre Generalversammlung abhalten, woran der
gute Mann nichts Verdachtiges fand. Man richtete den gerau-
migen Festsaal des ,,Schlosses“ — einst der Rittersaal genannt
zum Versammlungssaal her, stattete die Kiiche geniigend aus,
um der Frau eines St.Galler Parteigenossen nebst einer von ihr
eingestellten Kochin die Speisung der Delegierten zu ermog-
lichen, und da kein anderes Zimmer im SchloB benutzbar war,
ward eines der kleinen Nebengebaude, das sonst als Stallung
oder Scheune dienen mochte, durch Aufschiitten von Stroh in
den Stand gesetzt.den Kongressteilnehmern als nachtliche Lager-
statte zu dienen. Denn weder bot der Ort Ossingen geniigend
Gastzimmer, um die Delegierten aufzunehmen, noch ward es
fur ratsam erachtet, daB iiberhaupt Delegierte in nennenswerter
Zahl dort Wohnung nahmen, da dies den Bauern leicht Veran-
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause 267
lassung hatte geben konnen, sich etwas genauer um die Vorgange
im SchloB zu kiimmern. Diese sollten sowenig als moglich von
dem KongreB merken. Die in Zurich oder bei den Parteileitern
in Deutschland angemeldeten Delegierten aber wurden nicht
direkt nach Ossingen entboten, sondern erhielten nur Weisung,
sich am festgesetzten Tage in Winterthur in einer bestimmten,
nahe beim Bahnhof gelegenen Wirtschaft einzufinden. Dort
wurden ihre Mandate einer ersten Priifung unterzogen und lhnen
dann erst gesagt, wohin die Reise wirklich ging. So kam man
am Nachmittag des 20. August 1880 unbeachtet im SchloB
Wyden zusammenund konnte auch zweiTage Beratung pflegen,
ohne daB lrgend ein Unbeteihgter sich emmischte. Zuverlassige
Genossen sorgten als, ,Wachtposten“dafiir,daBdem KongreB jede
Uberraschung erspart blieb. Erst am vorletzten Sitzungstage
meldete sich der Statthalter des Bezirks Andelfingen, zu dem
Ossingen gehort, und ersuchte um Aufklarung, was man im
SchloB triebe. Da der Zweck des Kongresses schon im wesent-
lichen erfiillt war, ward dem Mann, der der demokratischen
Partei Ziirichs angehorte, klarer Wein eingeschenkt und lhm
freigestellt, der Sitzung beizuwohnen, was er jedoch ablehnte.
Die Bauern von Ossingen aber wollten, als der KongreB zu Ende
ging und sich nur eine groflere Zahl Delegierter in den Wirt -
schaften Ossingens einfanden, nur dariiber Auskunft haben, ,,ob
die Herre auch einen Umzug machen wolle“. Ein KongreB ohne
Umzug war ihnen offenbar eine Exekution ohne Delinquenten.
Die grofiere Offentlichkeit ward liber die Tagung des Kon-
gresses erst durch eine Zeitungsnotiz unternchtet, die von Ver-
tretern der Partei selbst in die Presse lanciert wurde und ent-
sprechend ausgeschmiickt war. Indes war die Wirklichkeit viel
eindrucksvoller gewesen, als es die Pikanterien der Notiz zu
erkennen gaben. GewiB waren die Veranstaltungen, unterdenen
der KongreB tagte, noch immer romantisch genug, auch wenn
es z.B. iibertrieben war, was die Zeitungsnotiz dem Phihster
erzahlte :
,,Man bekam keinen der geheimnisvollen Schlofibewohner
ausser der Tore zu sehen mit Ausnahme der Wachen, welche
18 Vol. m/2
*
Eduard Bernstein » Vdlker zu House
die Wege zum Schlosse absperrten und, von einem Posten
auf dem Turm benachrichtigt , niemand nahe kommen
liefien.“
Der Turmwachter war natiirlich ein Geschopf der Phantasie,
die Wachtposten konnten niemand den Weg verwehren, und
die KongreBbesucher liefien es sich nicht nehmen, in den Pausen
das Gebaude zu verlassen und sich an den nahen Anhangen
zu lagern, von denen aus man eine reizvolle Aussicht auf das
umliegende Gelande hatte, oder sich in Spaziergangen durch
die Felder und Wiesen zu ergehen. Was den Teilnehmern den
KongreB erst unvergefilich machte, war der seine Verhandlungen
und das ganze Zusammensein beseelende Geist.
Es war die erste groflere Zusammenkunft der Partei seit fast
drei Jahren. Die Schreckensmonate des Attentatsommers 1878
mit ihren schweren Strafverfiigungen, die Verhangung des
Ausnahmegesetzes iiber die Sozialdemokratie, Auflosung ihrer
Organisationen, die Unterdriickung ihrer Organe hatten die
Kraft der Partei nach auBen hin zeitweilig geschwacht und
mancherlei Wirrnis in ihren Reihen hervorgerufen. Aber nun
zeigte sich deutlich, daB sie den Kern der Partei unberiihrt
gelassen und unter den Festgebliebenen das Gefiihl der Zu-
sammengehorigkeit nur gestarkt hatten. Nur drei von den 56
Teilnehmern am Wydener KongreB zeigten eine gewisse Hin-
neigung zu den beiden bishengen Parteifiihrern Most und
Hasselmann, die vom Ausland her als Sozialrevolutionare der
Partei Fehde angesagt hatten, aber auch sie mochten nicht so-
weit gehen, den Bruch mit der Partei gutzuheiBen. Es
wurde auf Wyden lebhaft debattiert und an verschiedenen
MaBnahmen der Parteivertreter scharfe Kritik geiibt. Der
Grundton jedoch, in dem die Verhandlungen gefiihrt wurden,
war von jeder Gehassigkeit oder auch nur Gereiztheit frei. Es
uberwogdieimmerwieder von neuemzum Ausdruck gelangende
Freude dariiber, dafi man trotz der Zeitlaufe in so grofier Zahl
versammelt war und in vollem gegenseitigem Vertrauen sich
iiber alles aussprechen konnte, was die Seelen bedriickt hatte.
Die Verfolgungen hatten die Verfolgten zusammengeschweiBt,
Eduard Bernstein * V olker zu Hausc
269
und die GewiBheit, dafi man den Kampf mit ungebrochener
Entschlossenheit fortfiihren werde, lieB auch den Humor zu
seinem vollen Recht kommen. Mit guter Laune wurde alien
Unbequemlichkeiten, die man sich batte auferlegen miissen,
die scherzhafte Seite abgewonnen, und wer in seinen Reden
sich gar zu kiihne Bilder leistete oder sich in falscbe Kon-
struktionen verwickelte, konnte sicber sein, seme Leistung in
improvisierten Beitragen fur eine satirische ,,KongreBzeitung“
verewigt zu seben, die nicht feblen durfte, und um deren
Illustrierung sicb namentlich Karl Kautsky und der leider ver-
storbene Karl Grillenberger verdient machten. Die mafilosen
Angriffe, mit denen Johann Most in der Londoner „Freiheit“
seine bisherigen Kampfgenossen zu iiberschutten liebte, fanden
bier in Wort und Bild ihre ironisierende Gegenkntik. Ob es
unbedingt notig war. Most und Hasselmann noch durch KongreB-
beschluBals aufierhalb der Partei stehend zu erklaren, nachdem
sie sicb schon durch die Tat von ihr getrennt hatten, mag be-
stritten werden konnen ; solche Beschliisse haben, wo es sicb
um politische Differenzen bandelt, stets einen unangenehmen
Beigeschmack. Aber wohlverdient waren die Spottverse, mit
denen die KongreBzeitung Johann Most bedacbte, der von
London aus einen Revolutionarismus predigte, von dem er
wissen mufite, dafi er im damaligen Deutschland unanwendbar
war. Den Geist, der auf dem KongreB herrschte, kennzeichnet
die einmiitige Annabme des Antrags, aus dem Satz im damaligen
Programm der Partei — des sogenannten Gothaer Programms —
wo es hiefi, dafi die Partei fur ihre Forderungen und Ziele
„mit alien gesetzlichen Mitteln" eintrete, das Wort „gesetz~
lichen“ zu sfreichen. Selbstverstandlich konnte die Partei,
nachdem sie auBerhalb des Gesetzes gestellt war, sich fiir ihre
propagandistische Betatigung und politische Aktion nicht auf
gesetzliche Mittel beschranken. Aber die Streichung des Wortes
gesetzlich veranderte den Satz in: „mit alien Mitteln", und
das lieB eine viel weitergehende Auslegung zu. DaB sie nicht
gescheut wurde, war die trotzige Antwort auf die Gewaltpolitik,
der die Partei unterworfen worden war. Und so wird man die
270 Eduard. Bernstein * Volker zu House
Genugtuung iiber folgendes der besagten Kongrefizeitung ein-
verleibte Poem zu wiirdigen wissen:
MIT ALLEN MITTELN.
Es steht ein SchloB im Schweizerland,
Da wird an den Staaten geriittelt.
Da wird der Umsturz zu Recht erkannt,
Da wird nicht ,,gesetzlich gemittelt“.
Der helle Kommunismus bliiht,
Man ifit und trinkt gemeinsam,
Des Nachts das Volk zum Schlafhaus zieht,
Um nicht zu ruhen einsam.
Der tolle Hans, der Fehde blies,
Hier wird er abgeschlachtet,
Und in der Verachtung Burgverhes,
Da wird er eingeschachtet.
Die rote Republik, sie wacht
An unsres Schlosses Pforte.
Wer hatt’ in London das gedacht
Von der Bedientenhorde !
Von den festgehaltenen Redebliiten aber hat sich mir erne
ganz besonders eingepragt und mag auch hier eine Statte finden.
Sie entstammte dem Munde eines jugendlich feurigen Delegier-
ten aus dem Schwabenlandle und lautete: „Genossen, wir diir-
fen uns nicht von der Geduld hinreifien lassen.“
Auf verschiedenen Wegen kehrten die aus Deutschland ge-
kommenen Delegierten nach beendetem Kongrefi in das Reich
zuriick, nicht einer von ihnen wurde an der Grenze abgefaBt,
verschiedene aber brachten verbotene Druckware ins Vater-
land, die ihnen der in diesen Dingen sehr geschickte Metteler
panzerartig um den Leib gebunden hatte.
Weniger glatt lief der zweite geheime KongreB der Partei ab.
Er fand im Marz 1 883 zu ^Copenhagen statt. Allerdingsward auch
er von der deutschen Polizei selbst nicht ausgefunden, so sehr
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
271
diese inzwischen ihren gegen unsere Partei gerichteten Spionen-
dienst erweitert hatte. Wir waren schon mehrereTage im schonen
Versammlungssaal des Vereinshauses der danischen Sozialdemo-
kratie beim Kongrefiwerk, als die Agenten der politischen Poli-
zei des Herrn von Puttkammer, der der Spezialminister fiir
das Ausnahmegesetz geworden war, noch an der Grenze und
in Ortschaften der Schweiz den Versammlungsort des durch
Bekanntmachung im „Sozialdemokrat“ einberufenen Kongres-
ses aufzuspiiren suchten. Aber die Verhandlungen dauerten
diesmal fast eine Woche, und so lange liefi sich in Danemarks
Hauptstadt die Tagung, an der so bekannte Personlichkeiten
teilnabmen, nicht geheimhalten. Am Morgen nach dem vierten
Kongrefitage erbielten die meisten von uns in unseren Quar-
tieren den Besuch der danischen Polizei, die von dem Kongrefi
Wind erhalten hatte.
Dabei ward mir eine sehr unverdiente Ehrung zuteil, durch
deren Mitteilung an dieser Stelle ich nunmehr mein schlechtes
Gewissen erleichtern mochte.
Ich hatte, um ohne allzugroBen Umweg von Zurich nach
Kopenhagen zu gelangen, Deutschland von Siiden nach Norden
durchqueren miissen. Da ich mittlerweile Redakteur des ,,Sozial-
demokrat“ geworden war, konnte meine Verhaftung auf deut-
schem Boden nicht bloB mir selbst, sondern auch der Partei
arge Unannehmhchkeiten bereiten, und so hatte ich neben an-
dem VorsichtsmaBregeln auch die getroffen, mich mit einem
falschen PaB zu versehen. In Kopenhagen nun wohnte ich mit
Auer, Grillenberger und noch vier andern Genossen in einem
bescheidenen Gasthaus in der Vesterbro Gade, dessen Wirt der
Sozialdemokratie angehorte. Wir schliefen unserer sieben in zwei
ineinandergehenden Zimmern, vier in dem ersten und drei,
darunter ich, im zweiten Zimmer. Am Morgen des verhangnis-
vollen Tages nun ward ich durch Pochen an der Haupttiir aus
dem Schlaf geweckt und war bald darauf Ohrenzeuge folgenden
Gesprachs :
Polizeikommissar (am ersten Bett): ,,Wie heifie Sie?“
Auer: „Ignaz Auer“. Polizeikommissar: „Habe Sie sich
272
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
in diese Uste eingeszriebe" ? Auer: ,,Ja“. Polizeikommis-
sar: „Aber hier steht kein Auer. Welchen Name habe Sie ge-
szriebe"? Auer: .Johannes Sorensen". Polizeikommissar:
..Warum habe Sie eine falsche Name geszriebe"? Auer: ,,Weil
nicht jeder wissen soil, dafi ich hier bin". Polizeikommissar:
,,Sie habe hier eine Kongress"? Auer: „Ich bin mit Freunden
hier‘‘.Polizeikommissar:„Ja,Sie halten aber eine Kongrefi
ab“. Auer: ..Nennen Sie es, wie Sie wollen". — (DerPolizei-
kommissar schrieb verschiedenes in sein Buch ein, trat dann an das zweite
Bett heran, in dem Karl Grillenberger lag, und stellte die gleichen Fragen.)
Polizeik ommissar (am zweiten Bett): „Wie heifie Sie?"
Grillenberger: „Karl Grillenberger". Polizeikommis-
sar: „Mit welche Name stehen Sie in diese Uste"? Grillen-
berger: ,,OIaf Petersen".
Und so ging es weiter. Alle von uns, die aus Deutschland ge-
kommen waren, hatten sich mit danischen Namen in die Liste
des Gasthauses eingetragen. Und so gab es an sechs unsrer
Betten jedesmal die gleiche Unterhaltung. Zuletzt trat der
Kommissar an mein Bett, und da erfuhr er ein anderes.
,, Wie heifie Sie"? Ich: ..Conrad Conzett". Kommissar:
„Mit welche Name stehen Sie hier eingeszriebe" ? Ich: „Mit
meinem Namen". K o m m i s s a r (uberrascht) : „Mit IhreName?"
I c h (sehr wiirdig) : ..Jawohl, mit meinem Namen". Kommis-
sar (sieht nach der Liste und findet den Namen. Immer noch mifitrauisch):
,,Habe Sie Papier szur Legitimation" ? I c h (noch wiirdiger) : ,,0 ja.
Bitte, hier". Der Kommissar besichtigte den auf den Namen
meines schweizenschen Parteigenossen Conzett lautenden Pafi,
verglich das Signalement, fand, dafi es stimmte und auf wen
stimmen Pafiangaben nicht ? und entfernte sich dann mit einer
tiefen Verbeugung. Er schien zu denken : ..Wenigstens ein
ordentlicher Mensch unter der Gesellschaft". Und dabei hatte
gerade ich ihn hinters Licht gefiihrt.
Zum Gluck habe ich in bezug auf Pafischwindel illustreVor-
ganger. Als in den Reaktionsjahren nach 1 848/49 Preufiens
Minister Manteuffel eines Tages von Hamburg nach London
fuhr, stiefi er beim Promenieren an Deck des Schiffes auf den
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
273
als Steuerverweigerer damals im Exil lebenden Lothar Bucher.
Es war unmoglich, eine kurze Unterhaltung zu umgehen. ,,Wie
kommen Sie denn hierher?“ fragte der Allmachtige PreuBens
den landesfliichtigen Staatsverbrecher. „Ich war auf etliche
Tage zum Besuch in der Heimat“, erhielt er zur Antwort.
,,Was ? in PreuBen?“ ,,GewiB, in Preufien“, gab Bucher zuriick.
,,Wie sind Sie denn da hineingekommen, wo Sie doch keinen
Pafi haben ?“ Denn in PreuBen gait damals noch die PaB-
pflicht. „Ich keinen PaB? Selbstverstandlich hatte ich einen
PaB. Sie haben ja selbst dafiir gesorgt, daB ich einen PaB
bekam.“
ja
,,Wieso?“
,,Das will ich Ihnen sagen. Dank Ihren
weisen Pafivorschriften kann ich in London fur eine eng-
lische Krone (5 Schillinge) jeden preufiischen PaB kaufen, wie
ich ihn brauche.“ In der Tat ward damals, wo jeder aus dem
Lande oder ins Land hinein Reisende einen Pafi haben mufite,
in London ein schwunghafter Handel mit deutschen Passen
betrieben. Die Vorschnft war eine Belastigung fiir das harm-
lose Publikum, hat aber schwerlich auch nur einen ein-
zigen politischen oder gemeinen Verbrecher verhindert, die
Landesgrenzen zu iiberschreiten. Das Geheimnis, Signale-
mente so auszustellen, daB sie nur auf eine bestimmte Person
paBten, hat noch kein Mensch ausgefunden. Conrad Conzett
war groBer und breiter als ich und hatte auch ganz andere Ge-
sichtsziige, und doch schien dem danischen Polizeikommissar
seine Personalbeschreibung auf mich zu passen.
Die danische Polizeibehorde benahm sich im iibrigen un-
serem Kongrefi gegeniiber leidlich anstandig. Sie erbat sich nur
die Zusicherung, daB wir von jeder Agitation in Danemark Ab-
stand nehmen wiirden, und lieB uns sonst unbehelligt bis zu Ende
tagen. Indes drang nun die Kunde vom Kongrefi in Kopenhagen
doch nach Berlin, und der dortige Polizeirat Kruger, in dessen
Handen die Faden der Spitzelei ganz Deutschlands zusammen-
liefen, reiste jetzt spornstreichs selbst nach Kopenhagen, jedoch
vergeblich. Als er kam, war das Nest schon leer. Erreicht wurde
nur, dafi sechs der heimreisenden Kongrefiteilnehmer, darunter
die Reichstagsabgeordneten Georg von Vollmar, Karl Ulrich
274
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
und Karl Frohme in Kiel, und tags darauf noch Ignaz Auer,
August Bebel und Heinrich Dietz in Neumiinster angehalten
und polizeilich verhort wurden, um dann spater, als sich nach lan-
gem Suchen endlich eine hierzu bereite Strafkammer fand, unter
der Anklage des Geheimbunds prozessiert zu werden, was sechs
von ihnen auf 9 und drei auf 6 Monate ins Gefangnis brachte.
Mir ging es besser. Mit Auer, Bebel, Dietz und Richard
Fischer war ich zwei Tage nach KongrefischluB nach Korsor
an der Westkiiste der Insel Seeland gefahren, wo wir dem Kon-
grefiprotokoll die fiir die Veroffentlichung geeignete Form geben
wollten. Wir waren in einem passablen Hotel abgestiegen und
hatten eben an einem grofierenTisch Platz genommen, als ein
Kellner mit einem Telegramm in der Hand an uns herantrat
und uns fragte, ob es an einen von uns gerichtet sei. Es war
namlich sehr lakonisch adressiert: , .Eduard Bernstein, Korsor. “
Ich hatte mich in die Hotelliste als Conzett eingeschrieben,
aber ohne mich zu besinnen, erklarte ich, das Telegramm sei
fiir mich bestimmt, griff zu und eroffnete es. Es war auch in
die richtigen Hande geraten. Kiel war sein Aufgabeort, und im
ubrigen enthielt es nur die drei Worte, die vielsagend genug
waren: „Vorsicht, nichts mitnehmen.“ Natiirlich wufiten wir
sofort Bescheid. In Kiel war irgend etwas passiert, was er-
kennen heB, dafi die Grenze nicht sauber war. Es durfte somit
auf keinen Fall das Protokoll und sonstiges Schrifthche vom
KongreB in derTasche jemandes von uns mit iiber die Grenze
genommen werden. Weiter aber erklarte Bebel, und wir andern
stimmten ohne Einwand zu, daB ich nun unter keinen Um-
standen iiber Deutschland reisen diirfe, sondern auf dem Um-
wege liber England und Frankreich in die Schweiz zuriick-
kehren miisse. Es war mir das nicht gerade unangenehm, da
der Umweg iiber London mir ermoglicht hatte, dort Friedrich
Engels aufzusuchen, der damais erne ziemlich lebhafte Kor-
respondenz mit mir unterhielt. Indes sollte es anders kommen.
Noch am gleichen Abend fuhr ich wieder nach Kopenhagen
zuriick und fand dort in einer Abendzeitung die Meldung, daB
die Reichstagsabgeordneten Vollmar und Frohme mit eimgen
Eduard Bernstein ♦ Vdlkcr zu Hause
275
andern Sozialdemokraten auf der Heimreise von einem soziali-
stischen KongreB in Kiel verhaftet worden seien. So suchte
ich denn am nachsten Morgen sofort meine damschen Partei-
genossen auf, befragte sie iiber den schnellsten Weg nach Eng-
land und fuhr auf den Rat eines von ihnen am iibernachsten
Tag quer durch ganz Danemark an die Westkiiste-JiAtlands, um
von dem neugebildeten Hafenort Esbjerg aus nach Harwich
zu gelangen. Mem Ratgeber hatte sich aber in der Liste ver-
sehen. Ich fand in Esbjerg kein Schiff vor, das Passagiere fiir
England nahm und hatte fiinf Tage warten miissen, um auf
dem angegebenen Weg reisen zu konnen. Dazu konnte ich
mich jedoch um so weniger entschliefien, als in dem Gasthaus,
wo ich abgestiegen war, kein Mensch eine der mir gelaufigen
Sprachen sprach. So durchquerte ich tags darauf Jutland
noch einmal, hielt mich in Friedericia am kleinen Belt zwolf
Stunden auf und bin dann doch iiber Deutschland heim-
gekehrt, da, wie ich 1m letzten Augenblick richtig kalkulierte,
inzwischen die Grenze fur mich wieder passierbar geworden
war. Kein Polizist, wohl aber Freund August Bebel hat mich
auf dieser Riickfahrt ,,iiberrascht“. Er klopfte mir, als ich in
Hamburg auf den Zug wartete, der mich nach dem Siiden
bringen sollte, mit den Worten auf die Schulter: ,,Im Namen
des Gesetzes“.
In bezug auf „Volker zuHause“ war meine Reise ziemhch un-
fruchtbar geblieben. Immerhin hatte ich Gelegenheit gehabt,
Danemarks schone Hauptstadt einigermaBen kennen zu Iernen,
und habe,wiebemerkt,einen halbenTag inderbefestigtenKlein-
stadt Friedericia zugebracht. Kopenhagen gefiel mir recht gut,
doch fehlte mir die seelische Ruhe, seinen schonen Gebauden
und Museenvollig gerecht zuwerden. Mein ganzesSinnen und
Trachten ging damals in der politischen Bewegung auf, und es
lag mir daran, mit den verschiedenen Gesmnungsgenossen aus
Deutschland, die ich sonst nichtzu sehen bekam, inGesprachen
iiber die heimischen Verhaltnisse mich zu ergehen, als mich in
das Studium vonWerken der bildenden Kiinste zu vertiefen, die
Kopenhagen in so grofier Zahl aufweist. Am Tage nach SchluB
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
des Kongresses fiihrten uns danische Freunde im SchloB Rosen-
berg herum, seine Sale und Kostbarkeiten machten aber auf
mich mehr den Eindruck von Kuriositaten, als daB sie mich
hatten fiir einen geplanten Besuch des Thorwaldsen-Museums
entschadigen konnen, zu dem ich nun nicht mehr die Zeit fand.
Ebenso lernte ich die Bewohner Kopenhagens zu oberflachlich
kennen, um iiber sie mehr als allgemein Bekanntes sagen zu
konnen. An einem der Tage war ich bei dem Mann zu Gast,
den meine danischen Gesinnungsgenossen damals als ihren
ersten Fiihrer betrachteten und mir als ,,unsern Bebel“ bezeich-
neten. Es war dies der sozialistische Schneidermeister P.Holm,
ein freundlicher Mann mit intelligentem Gesichtsausdruck, der
aber in der Unterhaltung wenig von der Scharfe Bebels merken
heB, mehr klug als iiberragend begabt zu sein schien. Kaum
mittelgroB und von etwas rundlicher Statur hatte er wenig vom
Skandinavieran sich. Indes fehltees unter den danischen Sozia-
listen, mit denen wir in Beziehung traten, auch nicht an echten
Nordlandsgestalten .
*
Der Prozefi gegen die neun abgefaBten deutschenTeilnehmer
am Kopenhagener KongreB fand am 4. August 1886 vor dem
Landgericht Freiburg mit der Verurteilung der Angeklagten zu
den schon erwahnten Strafen seinen AbschluB. Nur mit Miihe
und unter Mitwirkung des Reichsgerichts war es gelungen,
Rechtserklarungen zu konstruieren, auf die sich eineVerurteilung
begriinden lieB. DaB eine Zusammenkunft im Ausland allein
noch nicht das Delikt des strafbaren Geheimbunds bilde, hatte
auch das Reichsgericht anerkennen miissen. Es konnten aber,
hatte es ausgefiihrt, konkludente Handlungen, die nicht in der
bloBen Zusammenkunft lagen, die Strafbarkeit begriinden, und
eine konkludente Handlung solcher Art ward darin gefunden,
dafi ein Vertreter des in Deutschland verbotenen ,,Sozialdemo-
krat“ iiber dessen Verbreitung und Finanzen dem KongreB
Bericht erstattet hatte. War aber auf diese Weise eine Verur-
teilung zustande gebracht worden, so hatte man mit ihrer Be-
Eduard Bernstein * Volker zu House 277
griindung zugleich, ohne es zu wissen, der Sozialdemokratie
eine Anweisung gegeben, wie sie es in Zukunft anzustellen habe,
um einen KongreB im Auslande abzubalten, ohne sich damit
Strafverfolgungen auszusetzen. Als das verurteilende Erkennt-
nis rechtskraftig geworden war, wurde zunachst die offizielle
Verbindung der Partei mit dem Ziircher „SoziaIdemokrat“
gelost, und nachdem die verurteilten Parteifiihrer ihre Gefang-
nisstrafe abgebiifit hatten, ward im August 1887 in deufsc6en
Blattern ein von der Reichstagsfraktion der Partei unterzeich-
neter Aufruf veroffentlicht, der ohne Umschweife die Partei-
genossen im Lande zur Beschickung eines Kongresses einlud,
iiber dessen genauen Zeitpunkt und Versammlungsort bis zu
einem bestimmten Tage — den 15. September — den ange-
meldeten Delegierten rechtzeitig Mitteilung zugehen werde.
Dieser KongreB, von dem sogar die Tagesordnung und die
Namen der Referenten im Einladungsaufruf bekannt gegeben
wurden, fandwiederum in der Schweiz statt. Er trat am 3. Ok-
tober 1 887 im Saal der Brauerei Schonenwegen bei St. Gallen
zusammen. Obwohl er erheblich starker beschickt war als die
vorhergegangenen zwei Kongresse, erfuhr auch diesmal die
deutsche Polizei den Ort des Zusammentritts erst, nachdem
der KongreB schon seine Tagung begonnen hatte. Und auch das
zuerst durch die sozialdemokratische Berichterstattung selbst.
Denn nun wurden von KongreB wegen der Presse laufende Be-
richte iiber den Gang der Verhandlungen iibermittelt. Ferner
wohnten Mitglieder der schweizerischen Sozialdemokratie, die
angesehene Stellen bekleideten, den Verhandlungen bei, so daB
sich eine Anklage, er habe als Geheimbund getagt, nicht hatte
begriinden lassen. Vom Ziiricher ,,Sozialdemokrat“ ward auf
ihm kein Wort gesprochen. Er beschaftigte sich nur mit all-
gemeinen Fragen der Politik und Sozialpolitik, dies allerdmgs
unter erneuter Betonung der scharfen, unbeugsamen Kampf-
stellung gegen Regierung und herrschende Klassen. Insbeson-
dere kiindigte eine von Ignaz Auer begriindete Resolution der
Wirtschaftspolitik des Fiirsten Bismarck mit ihrer Pflege der
indirekten Steuern, sowie aller zu finanziellen Zwecken betrie-
278
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
benen Monopolisierung wichtiger Verbrauchsartikel der groBen
Masse unerbittliche Gegnerschaft an.
Der wohlgelungene Verlauf des Kongresses machte in der
Offentlichkeit groBes Aufsehen. Er war ein Schlag ins Gesicht
des Polizeisystems Bismarck-Puttkammer ; nicht nur in der Ar-
beiterschaft, auch bei der Jugend der Intellektuellen gewann die
Sozialdemokratie zusehends an moralischem GewicKt. Um den
Schlag zu erwidern, lieB Bismarck dem Reichstag die Vorlage
eines neuen Strafgesetzes zugehen, die alle bisherigen Ausnahme-
gesetze an Verfolgungswut noch iibertraf. Nach ihr sollte die
Teilnahme an Kongressen im Auslande, diesozialdemokratischen
Bestrebungen dienten , di e T eilnahme an geheimen Verbindungen
und die ,,geschaftsmaBige“ Verbreitung verbotener Schriften
auBer mit Gefangnis auch noch mit der mittelalterlichen MaBregel
der Gandesacfitung — der Expatriierung — bestraft werden
Und diese ungeheuerliche Vorlage, deren Begriindung und
Strafbestimmungen alien modernen Rechtsbegriffen zuwider-
liefen, hatte anscheinend gute Aussicht, Gesetz zu werden. Im
Februar 1887 hatten, nachdem der Reichstag wegen der Frage
eines neuen Mihtarseptennats aufgelost worden war, Neuwahlen
stattgefunden, bei denen dieangeblich drohende Franzosengefahr
mit Aufgebot einer Flut von beispiellosauftragenden Flugblattern
ausgespielt worden war. Ein Kartell von Konservativen, Reichs-
parteilern und Nationalliberalen hatte die Mehrheit erhalten,
und diese Kartellparteien standen Bismarck in den meisten Fallen
auch fur seme politische Gesetzgebung willig zur Verfiigung.
Es sah einen Augenblick so aus, als sollte sich wirkhch fiir die
Expatriierungs- Vorlage eine Mehrheit finden.
Da half der Sozialdemokratie ein Gliicksfall einen Gegen-
schlag fiihren, der sie vor diesem Achtungsgesetz bewahrte.
Jemand, der Gelegenheit hatte, in die Akten der Berliner Ge-
heimpolizei hineinzublicken, spielte dem Abgeordneten Singer
eine Liste von politischen Agenten in die Hand. Die Liste
wanderte nach Zurich, sie wurde zur Uberrumpelung einiger
der auf ihr bezeichneten Personen benutzt, die Betreffenden
bekannten in der Verbliiffung mehr, als sie sonst wohl gestanden
Eduard Bernstein * Volker zu Hause 279
hatten, und Paul Singer konnte bei der ersten Lesung der Vor-
lage dem Reichstag ein Aktenstiick iiberreichen, welches ein-
wandfrei Beweise dafiir erbrachte, daB Agenten der Berliner
Polizei in Zurich und Genf, von ihren Auftraggebem formlich
dazu gedrangt, das unsaubere Geschaft der Lockspitzelei be-
trieben hatten. Das heiBt, sie hatten selbst zu Gewalttatigkeiten
aufgehetzt und Attentate planenden Gewalt-Anarchisten bei
ihren Unternehmungen Vorschub geleistet. Bei einem dieser
im Solde der Berliner Polizei stehenden Agenten, namens
Schroder, hatte die Haussuchung haltende Ziiricher Polizei eine
Kiste Dynamit gefunden, und es war festgestellt worden, daB
Schroder einer Konferenz von Anarchisten prasidiert hatte, auf
der Attentate beraten worden waren, die tatsachlich zur Aus-
fuhrung gelangten. Der Eindruck dieser Enthiillungen war so
niederschmetternd, sie machten im Publikum so groBes Auf-
sehen, daB der Reichstag sich begniigte, das zu neuer Beratung
stehende Sozialistengesetz einfach zu verlangern, indes die Ex-
patriierungsparagraphen gegen eine verschwindende Minderheit
abgelehnt wurden. Das geschah im Februar 1888. Der Mini-
ster des Ausnahmegesetzes, Puttkammer, der jene Vorlage be-
fiirwortet hatte, erlitt also eine bose Niederlage. Aber, wie bei
einer friiheren Gelegenheit, verschaffte er sich und seinen
blofigestellten Polizeiagenten, um mich des von ihm gebrauch-
ten Ausdrucks zu bedienen, eine „eklatante Genugtuung“. Da-
mals war Paul Singer, nachdem er einen in Berlin wirkenden
Lockspitzel entlarvt hatte, aus Berlin ausgewiesen und dadurch
genotigt worden, aus seiner von ihm begriindeten Firma aus-
zutreten. Jetzt verfiigte, zwei Monate spater, im April 1888
der Bundesrat der Eidgenossenschaft die Ausweisung des Re-
dakteurs (meiner Wenigkeit), des Geschaftsftihrers und Expe-
dienten O^lius Metteler), des Verlagsleiters (Hermann SchlUter)
und des Druckereileiters (Leonhard Tauscher) des Ziiricher
„Sozialdemokrat“ aus der Schweiz. Gegeniiber der sofort von
Schweizer Biirgem erhobenen Beschuldigung, er habe einem
von Berlin ausgeiibten Druck nachgegeben, legte der Bundes-
rat feierliche Verwahrung ein und erklarte, nur seiner eigenen.
IVaWaVa*
280
Eduard Bernstein * Volker zu Hause
wohliiberlegten Eingebung gefolgt zu sein, und soweit das offi-
zielle Verfahren in Betracht kommt, wird das wohl stimmen.
Es gibt viele Wege, eine gewiinschte Handlung zu suggerieren.
Der ,,Sozialdemokrat“, der nun wochentlich in emer Auflage
von nahezu 1 2,000 Exemplaren ins Reich wanderte, hatte sich
dem System Bismarck-Puttkammer sehr unbequem gemacht
und indirekt wohl auch dem Bundesrat der Schweiz manche
Unannehmhchkeit bereitet. Da war es fur Mittelspersonen nicht
allzuschwer, durch Andeutungen hinsichthch des MiBvergnii-
gens dariiber, daB die Schweiz sich zum ..Brutnest reichsfeind-
licher Umtriebe“ hergebe, in Bundesratskreisen jene Stimmung
zu erzeugen, in der es keiner bestimmten Drohung bedurfte,
um jene Mafiregel herbeizufiihren. So plump, wie Bismarck es
einige Jahre friiher Belgien gegeniiber gemacht hatte, als er
dieses zur Einfiihrung ernes neuen Strafgesetzparagraphen —
des sogenannten Kesselflickergese^zes — veranlafite, war man
diesmals jedenfalls nicht vorgegangen. Und so mag es dahin-
gestellt bleiben, welche Erwagungen den damaligen Schweizer
Bundesrat leiteten, als er den besten Uberheferungen der
Schweiz entgegen uns den Laufpafi erteilte. Verschiedentlich
ward davon gesprochen, daB Befiirchtungen hinsichtlich etwa-
lger Schwiengkeiten beim Verhandeln iiber einen notig gewor-
denen neuen dcutsch-schweizerischen Handelsvertrag nicht ohne
Einflufi auf den Entschlufl des Bundesrats gewesen seien.
Wie dem aber auch sei, bemerkenswert ist, daB gerade das-
jenige Mitglied des Bundesrates, dem das Dezernat iiber die
eidgenossische Polizei unterstand, der gut demokratische Waadt-
lander Louis Ruchonnet, aus AnlaB des Ausweisungsbeschlusses
ziemlich demonstrativ dies Dezernat abgab. Ebenso legte das
Mitglied des Ziiricher Regierungsrats, das das Dezernat der
Polizei des Kantons Zurich innehatte, der feingebildete , als
Sozialpolitiker der Schule Friedrich Albert Langes zugehorende
Regierungsrat StoBel unmittelbar nach unserer Ausweisung dies
Dezernat nieder, und lieB sich dafiir das Erziehungswesen iiber-
weisen. Und schliefilich hatte auch der Chef der Polizei der
Stadt Zurich, der Polizeihauptmann Fischer, uns unzweideutige
Eduard Bernstein * V olker zu Hause
28!
Beweise geliefert, daB er nicht dem deutschen Spitzelwesen,
wohl aber unserm Kampf dagegen seine voile Sympathie
schenkte. Wir waren also in der gewifi eigentiimlichen Lage,
gegen den bestimmten Willen der Polizeihaupter von Bund,
Kanton und Stadt aus der Schweiz ausgewiesen zu sein.
Uberhaupt emporte sich das demokratische Empfinden des
Schweizervolkes stark gegen unsere Ausweisung. Im National-
rat griff unter anderen Theodor Curti sie in einer treffllichen
politischen Rede an, die viel Eindruck machte und dann als
Flugschrift veroffentlicht wurde. In einer in Zurich veranstal-
teten grofien Protestversammlung zog neben bekannten Wort-
fiihrern der schweizerischen Sozialdemokratie der Professor
der Naturgeschichte Arnold Dodel-Port in leidenschaftlicher
Erregung gegen den Bundesrat zu Felde. Auch an Bezeugungen
personlicher Sympathie fehlte es uns nicht. Selbst der Bundes-
rat tat das Seinige, uns die MaBregel moglichst ertraglich zu
machen. Er bewilligte uns aus freien Stricken eine Frist von
vier Wochen zur Regelung unserer geschaftlichen Angelegen-
heiten und heB durch Zwischenpersonen bei uns anfragen, ob
wir fiir unsere Ubersiedelung finanzielle Hilfe brauchten, was
wir selbstverstandlich dankend ablehnten. Wir veroffentlichten
im „Sozialdemokrat“ einen langeren Aufruf, worin wir uns da-
gegen verwahrten, der Schweiz wissentliche Schwierigkeiten
bereitet zu haben, und ausfiihrten, daB wir die wahren Urheber
unserer Ausweisung nicht in Bern, sondern in Berlin suchten
und von der Schweiz, in der wir solange ein Asyl gefunden,
ohne Bitterkeit Abschied nahmen.
GewiB hatten wir uns, von der Herausgabe und Hiniiber-
schmuggelung des „Sozialdemokrat“ abgesehen, die ja in das
Gebiet der Ausiibung freier Presse entfallen, keine Handlung
zu schulden kommen lassen, die man als irgendwie kompro-
mittierlich hatte bezeichnen konnen. Die Sprache des „Sozial-
demokrat“ war allerdings zuweilen sehr frei gewesen, aber sie
ging nicht liber das hinaus, was sich die biirgerliche Demokratie
seinerzeit im Exil geleistet hatte. Ich wies das, als Vorboten
der drohenden Ausweisung an mich gelangt waren, mit mog-
282
Eduard Bernstein • Vdlker zu Hause
lichst unverfanglicher Einleitung im Feuilleton des „Sozial-
demokrat" an der Hand von Ausziigen aus der Vor- und Nach-
achtundvierziger Literatur des biirgerlichen Radikalismus nach,
die aber, scheint es, in Bern als Verhohnung aufgefaBt wurden.
Was jedoch ganz besonders gegen uns verschnupft hatte, war
ein Kampfblatt, das wir zur Zeit der Wahlen von 1 887 als
Gegenwaffe gegen die mit dem Franzosenschrecken arbeitende
Literatur des Bismarck-Kartells unter dem Titel „Der rote
Teufel“ herausgaben. Auf tief rotem Papier gedruckt, lieC
dieses Blatt, dessen Titel der seinerzeit von den Gegnern des
zweiten Kaiserreichs in Frankreich, Edouard Lockroy und Ge-
nossen, herausgegebene ,,Diable a Quatre“ angeregt hatte, und
zu dem uns dichterisch begabte Genossen im Reim pointierte
Beitrage in poetischer Form geliefert hatten, es an bissigen
Ausfallen auf die Spitzen der Reichsregierung nicbt fehlen,
und dafi einige davon des Guten — oder Bosen — darin etwas
zu viel taten, soli nicht bestritten werden. Nur darf man nicht
vergessen, dafi der „Sozialdemokrat“ und fast alles, was der
Verlag sonst noch herausgab, notgedrungen in konzentrierter
Form Ausdruck der Entriistung war, die sich der Anhanger
einer unter Ausnahmebestimmungen gehaltenen Partei immer
wieder von neuem bemachtigte.
Die Ausweisung stellte uns vor die Frage, ob der „Sozial-
demokrat“ unter Leitung von Schweizer Biirgern in Ziiricb
weitererscheinen oder mit uns Ausgewiesenen nach London
iibersiedeln solle, wohin wir uns zunachst wenden wollten.
Nach eingehender Beratung ward das letzte beschlossen.
So nahte der Tag der Abreise, der 12. Mai 1888 heran. Die
Ziiricher Arbeiterschaft lieB es sich nicht nehmen, den Ausge-
wiesenen zum SchluB noch demonstrativ ihre Sympathie zu be-
kunden. Der weite Bahnhofplatz war zur angegebenen Stunde
mit Menschen iibersat, ebenso waren die Wege entlang der Bahn
und die Ubergange liber den Bahnkorper dicht mit Menschen
besetzt. Den Ausgewiesenen wurden grofie Kranze mit roten
Schleifen und sinngemaBen Inschriften, sowie geschmackvolle
BlumenstrauBe iiberreicht, und wosieerschienen, wurden ihnen
Eduard Bernstein ♦ Vdlker zu Hause
283
laute Hochs und immer von neuem „Auf Wiedersehen !“ zuge-
rufen. War dies schon geeignet, uns hartgesottene Sunder
wehmiitig zu stimmen, so tat auch der Himmel das seinige, uns
den Abschied von Zurich schwer zu machen. Es war ein wunder-
voller Maimontag, in herrlichster Beleuchtung erglanzte der mir
so vertraut gewordene Ziirichsee, dieBergeder Umgebunglagen
klar mit ihrem vielfach abgetonten Griin und i hren abwechslungs-
reichen Umrissen vor uns, hinten leuchteten die schneebedeckten
Spitzen der Alpen der inneren Schweiz, die iippigen Wiesen
prangten in frischen Farben — alles, Menschen wie Natur, zeigte
sich uns von der freundlichsten Seite. Und das sollten wir nun
— wer wufite, auf wie lange? — verlassen. Mir hat die Natur
die Gabe des Weinenkonnens versagt, aber als der Zug aus dem
Bahnhof Zurich herausfuhr, standen mir doch Tranen in den
Augen. Zurich war mir eine zweite Heimat geworden, meine
Vizeheimat, wie ich gern sagte. Alles, was es darbot, seine geistigen
Anregungen, sein interessantes, von alten und neuen Zeiten
erzahlendes StraBenbild, seine vielen Naturreize, die Nahe der
Alpen und die Geniisse des Sees hatte ich — ich darf es sagen —
immer wieder mit dem Gefiihl grofier Erkenntlichkeit genossen,
ich hatte viel liebe Freunde dort gewonnen und die Eigenart
seiner Bevolkerung verstehen und schatzen gelemt. Man schilt
die Schweizer als erwerbsiichtig und dem Kultus des Geldes erge-
ben. Ichhabe sie in dieser Hinsicht von nicht wesentlich anderer
Gesinnungsart gefunden, als die Menschen in alien Landern
kapitalistischer Entwicklung, sie geben sich nur manchmal darin
etwas urwiichsiger oder, wenn man will, ungeschickter. In Karl
Marxs ,,Herr Vogt“ wird irgendwo von einem Schweizer Bauern
erzahlt, daB er bei der Kunde von dem ungliicklichen Ausgang
der badisch-pfalzischen Erhebung in die Worte ausgebrochen
sei: ,,Da wollt’ ich doch lieber, daB unserm Hergott sein bestes
paar Kiihe verreckte“, und der Erzahler bemerkt dazu wohl-
wollend, die eigenen Kiihe mochte der gute Landmann nicht
geme opfern, aber es sei doch recht hiibsch von lhm gewesen,
wenigstens des Hergotts Kiihe fiir die Revolution preiszugeben.
Ganz im Geiste dieser Erzahlung wollte mein Ziircher Haus-
19 Vol. m/2
284
Eduard Bernstein ♦ Volker zu Hause
wirt, ein ehrsamer Handwerkermeister, als ich durch ,,hohere
Gewalt“ verhindert wurde, meinen mit ihm abgeschlossenen
Mietsvertrag zu Ende abzuwohnen, von der noch nicht abge-
laufenen Miete nichts ablassen. Als ich aber dann am Tage
der Abreise sein Haus verlieB, da schiittelte auch er in der
Haustiir mir geriihrt die Hand und brach in Schluchzen aus.
Honni soit qui mal y pense. Man muB nicht viel von den Men-
schen verlangen, wenn man sie lieben will, sagt Diderot, und
ich habe es in diesem Punkt mein Lebenlang mit dem Verfasser
von „Rameaus Neffe“ gehalten.
Auf der Station Baden im Aargau nahm der Polizeihaupt-
mann Fischer von Zurich in unserm Wagenabteil Platz. Er
hatte vom Bundesrat die Weisung erhalten, uns bis an die
Schweizer Grenze zu geleiten, und es fiir taktvoll gehalten,
nicht gleich in Zurich, wo ein jeder ihn kannte, sich zu uns
zu gesellen. Auch war er in Zivil. Wir erkannten diese Riick-
sichtnahme gebiihrend an und gingen mit ihm eine zwangslose
Unterhaltungein. Unsere Fahrt fiihrte, da wir deutsches Gebiet
meiden mussten, liber Olten, Delemont, Delle nach Frankreich
,,hinein“. Zwei bis drei Tage gedachten wir in Paris zuzu-
bringen, wo wir politische Freunde aufsuchen wollten, und
dann sollte es heiBen: Auf nach der Themsestadt! Sie war
mir nicht vollig unbekannt, aber sie hatte mir bei den drei
kurzen Besuchen, die ich ihr 1 880, 1 884 und 1 887 abgestattet
hatte, wenig Anheimelndes offenbart, dagegen hatte ich aller-
hand Ungunstiges liber Land und Leute vernommen. So iiber-
schlich mich denn jedesmal ein leises Grauen, wenn ich an
den bevorstehenden Wechsel vom traulich heiteren Zurich in
das unheimlich groBe, diistere London dachte. Undenkbar vor
allem war mir, dafi ich mich noch einmal an einem Ort wiirde
wohlfiihlen konnen, der dem Bewohner kein flieBendes Wasser
bot, sich auf und in ihm zu tummeln. Und trotzdem ist es so
gekommen.
Lu Marten • Geburt der Mutter
285
jQ)U <TT(arien:
GEBURT DER MUTTER
DIE erste wird geschehen um die Zeit der Wandlung aller
Dinge.
Es ist die Zeit . . .
Es ist die Zeit, in der die alten Kulturen sonderbar requisite
Formeln auf Zweck und Wichtigkeit untersuchen.
Und die besten der Geister nicht tatenlos nur denken — wo
iiber allem Krimskrams der Werkstatten sich sieghaft und er-
schiitternd das Al-fresco-Symbol derer sich hebt, die den sonder-
barsten Zukunftstraum ungriiblerisch auf ihren Schultern tra-
gen — den Frauen, den Kiinstler gestaltet. Jubel und Sein,
das noch nicht lebt.
Der neue Glaube der Massen, der im Gehirn des einzelnen
zum Universum einer Gesellschaft wurde — war es ungewifi,
wohin er fiihrte, so war es gewiB, dafi er fiihrte.
Und die Welt steht im Zeichen.
Nicht nur die Kunst, die Sprache, der Verkehr bedient sich
ihrer, auch die Glauben und Zweifel stehen im Zeichen weniger
Siegel — die auf fernen Traditionen ruhend, nun jedem gelaufig
werden. Signale des Erlebens — hie Freund — dort Feind —
und jeder Freie ein Verrater des Leidens.
Noch zu wenig sind aufgeriittelt, zu wenig sind begehrend —
noch ist zuviel Sehnsucht, und die Hochzeit der Dinge scheint
zeitlos fern — aber Manner und Frauen sind erregt vom Nahen
und Bliihen einer Zeit, die mii fflucfi (commi, um die <Jloi und
Opfer ifirer Qeburi.
Es ist die Zeit des Schaffens, es ist die Zeit der Mutter.
F rauen !
286
Lu M alien * Geburt der Mutter
Auferstanden zu erlesenen herrlichen Geistern. Still und stark
geworden unterm HaB und Zauber der Jahrhunderte — den
sie erregt, gefordert und gelitten.
Grofie Scharen blicken zur Grenze, wo ihr gefallen — dahin,
wo man gemeine Geschicklichkeit nocb mit Ehren empfangt
und wo man euch verschwieg und liegen liefi — weil ihr Frauen.
Dieser jammerliche und grausame Instinkt der jahrtausend-
alten Herrenschaft forderte die Feurigsten und Frohlichsten.
DieZagen erschrecken vor solchem Weg und bleiben unterm
Zeicljen des Geschlecht*, mit dem sie die alte Welt beherrscht.
Zauberei und Spiel.
Die Starken sehen dieOpfer und kehren nicht um. Verachtlich
gegen ihre zeitlichen Vorteile bleiben sie die eigentlichen Empo-
rer. Ausharrend iiber die Zeit, iiber die Mauern des Jahrhun-
derts. — Ungewifi der nahen Zukunft — gewifi nur der, die
sie in sich fiihlen.
Mutter.
Wird einst die Geschichte dieser erzahlt, so liegt dann das
Schicksal derer, die noch kommen werden.
Siinden ruhen darin, begangen wie an Kindern, begangen
wie am Friihen, am Unschuldigsten, was die Zartlichkeit des
Lebens, der Sinn der Geister erbringen konnte.
Menschen, die wie Extrakte sind der Sozialitat alles Gesche-
hens. — Geniale Eruptionen. Eigentliche Fiihrer. Wer redet
in solchen Zeiten nicht von der Frau. Wer wagt es nicht, das
Muttertum, das Schaffende — vor die Fronten der Dinge zu
stellen, der Dinge, die euch bisher wichtig waren.
Ich sage davon. Nicht um Einzelwerte zu betonen, sondern
um den Menschen gesunder sozialer Kraft zu verraten. Men-
schen der Kraftfreude, wie sie die erste Frau am ersten Manne
haben miiBte. Menschen von schneidender leuchtender Geistig-
keit — wie sie der letzte Mensch an der letzten Kultur haben
miiBte.
DaB diese Frauen heiBen werden, haben euch die Albernen
und Weisen vorausgesagt, als sie sprachen : Das Weib sei eine
Mitte zwischen Kind und Mann.
Lu Marten • Geburt der Mutter
287
Denn der feme freie ungriiblerische Mensch muG also sein ! —
Soil er nicht verzweifeln am Tier in sich — soil er nicht ver-
dorren am Intellekt — muG er den Tanz wissen der Lachenden
und Schaffenden. Das sind die Mutter.
Die Frauen erlost von der Karikatur ihrer Bander und
Schniire. Die Frauen, erlost vom Gitter und von der Gosse.
So sprach der soziale Einzelmensch :
Ich will nicht mehr gehen und Klage dichten und Fluch der
Einsamen — ich werde ihren Weg, ihr Sein erweisen — ich
werde so unzerbrechlich sein, wie Frauen es jemals waren —
wie Stahl, und in einem neuen Leben lebendig — einem Leben,
dem ich das Siegel aufdriicke.
Ich werde die verwirrten Geistlein berichtigen, die da meinen,
ein Weib opfert den Geist um der Freundschaft willen. — Es
wird mir gefallen, meine Freundschaft zu verspielen — sie
wegzuwerfen, wenn es mir notwendig erscheint. Von neuem,
aber um OTe/oe/willen und als Opfer meines Geistes, denn der
Geist ist Mutterschaft.
Mutterschaft ! nicht sinnlos Gebaren, sondern das, danach
ihr sehnt und trachtet in jedem Atem — DaseinsbewuGtsein,
durch das wir nicht untergingen, durch das wir gehemmt wur-
den — durch das wir Ewigkeit und Befreiung noch einmal
glauben.
Alles war und wird wieder sein — aber es gilt, das versteckte
Wesen der Dinge lebendig machen. Neue Korper dem Atem
des Lebens.
Noch einmal mogen Frauen geraubt werden, wo es an Frauen
fehlt — doch alle Waffen der Zeiten, alles, was der Mann als
seine Kultur riihmt und zeigt, alle Kraft des einstigen Raub-
tiers — alle Gewandtheit, Kiihnheit und Ehrfurcht dieser
Gotterdammerung wird er aufbieten miissen.
*
Ich rede zu den Frauen, die bescheiden sind in der GroGe
ihres Tuns und die Taten tun wie unsere Mutter. Unsere Mut-
ter haben den Boden in uns bereitet — wir wuchsen unter ihrem
288
Lu Marten ♦ Geburt der Mutter
Schutz am neuen Sein. Ihre Zartheit hat uns lichtempfindlich
gemacht — vergessen wir das nicht. Die Zeit hat sie gering
gelassen von Ansehen — wir aber wollen ihre Arbeit adeln und
treu und herrlich nennen, wo sie Wachstum gab ; denn wir sind
so stolz geworden aus ihrem Schofi und ihrer Wiirde.
Ich rede zu den Frauen, die friih auf eine Merkwiirdigkeit
gestimmt sind und die die Meinung der andern in einen feind-
lichen Alltag zwingen will.
La8t euch der Natur, befier : dem Geschwatz davon nicht als
Opfer iiberantwortet werden. Entscheidet den Willen zum Ge-
schlecht nach eurer Kraft und eurer Einsicht. Es ist nicht wahr, daB
idr der bidden Qrdnung des djeraan gtichen untertan sein miifit.
Als Grandseigneurs gegen Vorteil und Freundlichkeit des
Lebens — liefien einige ihr Leben berauben und verwiisten —
um des Schaffens willen, urn des einen sichren, ihnen bestimmten
Schaffens willen. Welch eine Klage und Reue miifite ihr Leben
sein, wenn es nicht Sinn ware fiir euch! Einen Spott ohne
Gnaden miifiten sie erfinden, es zu spiegeln, wenn es nicht
Pracht und Macht ware — fiir euch — die ihr ihnen die Zeit
von den Schultern nehmen sollt.
Frauen, die ihr nach ihnen kommt, ihr werdetfrohlichersein.
Sie mufiten ihr Frauentum noch einmal fiir alle erproben, be-
zweifeln und miBhandeln lassen und in einem Glanz von neuen
Zufriedenheiten wiederfinden. Sie waren die Sehnsucht, die bis
an die Schwelle eurer Zeit fiihrte — da das Schaffende sich in
euch besann.
Dies Namenlose, was zu euch ruft — es war die Feuersbrunst
an alten Dingen. Darum sind wir allem Neuen Neues schuldig. —
,,GroBe Aschen brennen auch auf unsern Herzen/' — Daraus
muB nicht ein Buch werden, nicht ein Bild . . . Daraus wurde
der cfinn einer neuen soziafen S%rt, die nicht Menschen erzeugt,
sondern Welten gestaltet, Wesen wie sie selbst, und nicht nur
dichtend,
Schaut auf die friihen Geschwister im Geist — sie waren
mehr Programme einer Zeit, denn zuerst Dichter oder Maler
einer Kunst ....
Lu Marten * Geburt der Muller
289
Erstickt die Eitelkeit des Menschen und Weibchens in euch.
Im Zorn des Intellekts. Er will euch reiner und iiberlegener denn
irgendeiner — denn ihr sollt alle Siinden erproben, um der-
willen Menschen soviel weinten und larmten.
Unser Leben wahret viele dunkle Nachte und einige junge
Jahre. Und wenn es kostlich gewesen, so ist aller Irrtum stark
und heiB gewesen.
Denkt daran, wenn eure Kinder das Leben vor euch wieder-
holen und wie einsam jeder wird, der das Leben von sich aus
anredet.
Was konntet ihr als Mutter mehr tun, als an manchem Weg-
ende auf das Kind warten und ihm seinen Irrtum aus den
Handen nehmen. Andere Erlosungen gibt es nicht und andre
wird keine Religion erfinden.
Griindet jegliche neue Heiligkeit auf den wissenden Mutter-
geist :
„Reif sein, ist alles.“
Wo die „Macht“ der Frau beginnt, da lacheln die Manner.
Wo sie endet, weinen die Kinder.
Eine Macht ist erprobt — es gilt eine andre: denn begreift
doch endlich, daB ihr die Zukunft in euch tragt, die euch die
Gedankenlosigkeit so vergilt wie die Kraft.
Einen Rausch von Kraft, von Mutter- und Wurzel-Dasein
laBt euch vergelten.
Sehntet, traumtet ihr nie von Macht?!
‘JJlachi.
Der Herzschlag von Engeln und Teufeln surrt in demKlang.
Dein Name ein Schild. Dein Wort ein Weg. Uberlegenheit
und heftig drangendes Sein umsetzen in Tat.
Das Laster der gemeinen Geschicklichkeit bekriegen. Aus
der Ruhlosigkeit des Denkens Antwort auf Fragen des Tages
machen.
Macht !
Keinen Tyrannen — und war er der adligste, will deine Zeit —
so bleibt dir dein eigner innrer Weg der Macht. Und stille
Gassen hat deine Zeit, darin so Machtige wohnen konnen.
290
Lu Marten * Geburt der Mutter
Es sind so viele neue Fragen iiber euch geworfen — und es
ist so wenig eigentlich, was das Neue will.
Das Dasein des einzelnen verniinftig berechnen und statt
dem einzigen ein Denkmal planen, den letzten Schwachen
wohlhabend machen.
‘Dufdet (cern verschimmelndes Qetreidemeftr undfceine einsam
ihronenden Qditer werden me fir sein.
Danach und zwischen allem — ein wenig riicksichtsloses
Gericht — eine sonderliche Klugheit iiber euch selbst.
Das erste ist <z#erZeitwerk. Das andre des einzelnen Stunden-
werk.
Mit starker Feinheit auf sich achten, das Leben tropfen horen.
Das wagt die Krafte ab, die wir haben, und lehrt den UberfluB
vergeben.
Denn nun ist jeder reich und eure Geselligkeit kann Ent-
ziicken sein.
Bis an die Zahne bewaffnet mit Giite — aber nicht die, die
nicht hart aussehen konnte — den Hochmut reinsten Geistes,
den keiner noch richten durfte, sollen wir haben.
Seid brutal ehrlich. Erbt nicht Eitelkeiten, die scheinen wollen,
sie sind die Feinde aller tiefen Klugheit. Seid brutal ehrlich.
Es ist die Zeit, dafi die namenfose Qenialitai des Daseins
verraten werde, denn die neue Zeit braucht sie.
Ich rede zu den Schaflfenden, den Miittern — denn nicht die
Redenden tragen die Welt, sondern die Schaffenden — daB die
Kinder starker Herzen die Klugheit gebaren. — Bis dahin niitzt
es nichts, von leichthin sein und seliger Freiheit zu singen.
Die alte Welt liegt in Triimmern — doch wir sind obdachlos
und haben zu bauen.
Wir gehen dahin, wo die Friihlinge und Winter gehen — in
eine neue unfafibare Reife, die niemand aussprechen kann und
niemand gewollt hat, die gekommen ist, weil wir wandern und
wachsen.
Wir wandern und wachsen furchtlos.
Hans Reitnann ♦ Scherze
291
(Jfans H{eimann:
SCHERZE
J-JATTE die Schale durchgepickt, alte, groBe, dicke Schale,
und sich dem Ei entrungen. Ah. Stand da mit blei-
schwerem Kopfe und schopfte vor alien Dingen erst einmal
tief Atem. Donnerwetter.
Was nun?
Ah, die Klucke.
Feucht, klebrig, benommen torkelt das Kiiken unter die brut-
warmen Fittiche der Alien und droselt augenblicklich ein.
Einszweidrei ist es wieder im Himmel, ist es wieder selig. Kiiken
schlaft. Schlaft tief und hingebungsvoll. Schlaft sich heiB.
Da kommt — oh, gucke — da kommt eine alte, groBe, dicke
Hand, umfaBt das Kiiken von oben her und verschleppt es.
Schleppt es weit weg. Dem Kiiken ist wie Kindem im Fahrstuhl
zumute: Der kleine Magen hebt sich aus und fangt einen
Fahrstuhl fur sich an. Das winzig - winzige Kiiken - Herzchen
bubbert.
Auf einmal ist es wieder himmlisch, warm und wohlig. Die
dunklen, ganz runden, kullerigen Kiiken-Auglein schauen welt-
begierig und staunend in fauter Dunkles. Die groBe Hand hat
namlich das Kiiken in einen Topf mit mollig-weichen Tiichern
versenkt und das Tierchen bis zur Nasenspitze hineinge-
mummelt. Der Topf steht in der leicht geoffneten, vom Kochen
warmen Ofenrohre. Der Topf, das ist die Welt. Das Kiiken
hatte sich die Welt anders vorgestellt. Lichter, heller, freier. Es
erfahrt seine erste bittere Enttauschung.
In der Ofenrohre bleibt das Kiiken, bis es hiibsch trocken
ist. Das dauert geraume Zeit. Das Kdrperchen erwarmt sich.
und je warmer es wird, umsomehr schwindet des Kiikens Interesse
fiir die Welt. Ob es dunkel ist oder nicht
warm ist es . Was
292
Hans Reimann ♦ Scherze
das Dunkel ist belanglos! Hauptsache warm ist es. Himm-
lisch warm ist es ! Sanftiglich dusselt Kiiken hiniiber. Im Dunklen
schlaft sich’s herrlich. Die Welt ist zappenduster. Undder unter
der Klucke angesponnene, fiihlbar starkende Schlummer wird
gehorig fortgesetzt. Kiiken schlummert. Schlummert ausLeibes-
kraften, schlummert, was das Zeug halt.
Was ewig ist, weiB Kiiken nicht. Aber es empfindet unter-
bewufit, daB es eine Ewigkeit entlang geschlummert hat. Es ist
plotzlich hell und frohlich und hchterloh um das Kiiken. Ach,
und Kiiken kann nicht kucken. Es ist gar so hell und frohlich
ringsum. Eben erst war die Welt noch pechfinster, und jetzt ist
sie plotzlich licht und heiter. Wie geht das zu? Kiiken wundert
sich. Nein, so was! Ja, die Welt!
Die grofie Hand hat namlich den Topf mit dem Kiiken auf
den Kiichentisch gestellt und nimmt das kleine Dingchen
heraus .
Auf dem Tisch, das ist nun erst die eigentliche, die richtige
Welt : grofi, lang, glatt und gelb. Und da liegen Kullem und
etwas Weifies. Das Wei Be ist naB. Das weiBe Nasse soil Kiiken
trinken. Kiiken weifi noch nicht, was Trinken ist. Kiiken kennt
nur Schlafen. Es tappelt auf das weiBe Nasse los. Milch. Und
die Kullem, das sind Hirsekornchen und Senfkornchen. Die
Senfkornchen sollen den Appetit und insonderheit das Trink-
bediirfms des klemen Dingchens wecken. Vorderhand genieBt
Kiiken nichts. Es bildet sich ein, der Schnabel ist zum Kucken
da. Es kann ja noch nicht einmal stehen. Und stehen, das ist
wichtiger fiirs Leben als Trinken und Essen. Denkt Kiiken.
Kiiken hat den Kopf voll. Das Stehen ist eine verflixte Sache.
Stehen will gelernt sein. Stehen, das ist: Nicht-Umfallen.
Man muB die Beine breit machen und blatschig — und mufi
rechtschaffen balancieren. Balancieren ist furchtbar schwierig.
Das kann der Zehnte nicht. Kiiken steht da und balanciert.
Em Finger der groBen Hand schnippst dem Kiiken ein paar
Kornchen zu. Kiiken denkt, die reiBen aus, und will hinterher.
Aber Hinterherwollen und Hinterherkonnen ist zweierlei.
Wieder reiBen ein paar Kornchen aus. Kiiken bleibt vorsichtig
Hans Reimann * Scherzt
293
balancierend stehen und iiberlegt grimmig. Die Kornchen mufi
es haben. Koste es, was es wolle. „Welt, was machst du mit mir ?“
denkt es. Und wieder kullem einige Kornchen davon. Kiiken
will sich biicken. Es hebt das eine Bein hoch — und pardauz
liegt der ganze Kerl auf dem Bauche — den Kopf weit nach
den entkullerten Kornchen gestreckt. Kiiken hatte sich das
Biicken einfacher vorgestellt. Es weifi nicht, dafi sein Kopf so
schwer ist. Kiiken liegt da in tausend Angsten und strampelt.
Denkt, es mufi liegen bleiben in alle Ewigkeit.
Da kommt die grofie Hand und hilft dem Kiiken auf die
Beinchen und pflanzt es mitten unter die Korner. Kiiken weifi
nun, dafi Biicken eine Kunst ist. Es achtet auf seinen Kopf
und macht sich schwer in den Beinen. Miihselig und zaghaft
pickt es einige Kornchen auf. Els geht. Els geht immer besser
mit dem Picken. Sieh mal einer an, das ist ja gar nicht so
unerlernbar! Und aberwitzig unternimmt Kiiken zwei, drei
Schritte nach den nachsten Komem hin. Els stofit — tappig —
die Korner mit seinem Beinchen fort, und die Korner kullerrr
in das weifie Nasse hinein. Ach herrjeh. Kiiken tappelt den
Kornem hinterdrein. Stellt sich unschliissig vor der Mich-
pfiitze auf. Denkt, es ist werweifiwie tief.
Da kommt die grofie Hand und stippt das Kiiken erbar-
mungslos in das weifie Nasse. Kiiken denkt, nun mufi es sterben.
Kiiken glaubt, es geht auf Leben und Tod, und strampelt und
patscht und wedelt mit den Fliigelstumpen. In den Nasen-
lochern hat es Milch, im Schnabel hat es Milch. Kiiken schiittelt
sich und prustet. Ach, Welt, wie bist du schwer. Aus Ver-
zweiflung und in grofier Not schluckt Kiiken hinunter, was es
im Schnabel hat. Ah, das schmeckt aber gut. Hatte Kiiken
nicht vermutet. Sieh einer an. Welt, aus dir wird man nicht
klug. Kiiken steht mitten in dem weifien Nassen. Ganz, ganz
vorsichtig biickt es sich und titscht den Schnabel in die Milch.
Dann hebt es — ohne dafi die Hand es gezeigt hat! — das
Kopfchen hinteniiber und habbelt. Ui, das schmeckt.
Aber die Anstrengung war zu grofi. Kiiken ist erschopft,
halbtot. Im Stehen fallen ihm die Auglein zu, und von Balan-
294
Hans Reimann ♦ Scherze
zieren ist keine Rede mehr. Der dicke Kopf baumelt triibselig
hin und her. Die groBe Hand greift Kiiken und steckt es zuriick
in den warmen Topf. Schwer schlaft es und gewichtig. Im
Schlafe traumts. Es traumt von vielen, vielen Kornchen und
Iauter weiBem Nassen und von der groBen Hand und von der
Welt, die so zappenduster und so lichterloh sein kann.
Im Schlafe fiihlt Kiiken etwas Feuchtes. Es knopft dieAugen
auf und . . oh . . sieht sich selbst neben sich selbst hocken. Es
reifit die Augen ganz weit auf und be fiihlt sich. Es ist aber
gar nicht es selbst, sondern es ist ein zweites Kiiken, das unter-
weilen ausgeschliipft ist. Das Erstausgekrochene piepst leise.
Es begriiBt das neue. Das neue kann noch nicht piepsen, hat
auch kein Interesse an dem ersten; es will weiter nichts, als in
Ruhe gelassen werden, damit es schlafen kann. Das erste laBt
das zweite nicht in Ruhe, es ist iibervoll von seinen Erlebnissen
und muB erzahlen. Es erzahlt von der Welt und von dem
weiBen Nassen und von den Kornchen, die ausreiBen. Dariiber
wird es miide und schlaft gleichzeitig mit dem Neuling ein.
Die beiden schubbern sich dicht aneinander und schlafen ge-
waltig. Sie schlafen, bis sie fressen miissen. Da riihren sie
sich. Die Hand kommt und setzt sie in die glatte, groBe, weite
Welt. Das altere macht vor, wie man frifit. Es hat gedacht,
es kanns, aber es kann es noch nicht und purzelt hin. Das
zweite denkt, so wirds gemacht, und purzelt seinerseits eifrig
hin. Die Hand schreitet hilfreich ein. Beide stehen wieder
aufrecht und blatschig. Das erste — es fiihlt sich blamiert und
will die Scharte auswetzen — macht es noch einmal vor. Aber
es torkelt und glitscht — hoppla — an das zweite dran. Und
wiederum purzeln beide Kiiken hin. Oje, oje, oje! Die Hand
lafit auf sich warten. Hinpurzeln, das ist leicht getan — aber
in die Hohe kommen! Die beiden Kiiken kucken sich hilflos
an; eines wills dem andern absehen, und keins kann es. End-
lich naht die Hand und stellt die beiden Kerlchen an die weiBe
Pfiitze. Das altere zeigt — sehr behutsam — wie man trinken
muB. Das neue versuchts. Es geht. Nun tummeln sich die
beiden auf der Welt und trinken und fressen.
Hans Reimann ♦ Scherze
295
Da kommt die grofie Hand und steckt die Kiiken in den
Topf. Das erste piept und zwitschert. Das neue bemiiht sich,
mitzuzwitschern . Die Tone bleiben tief unten in der Keble
stecken. Schliefilich gliickts. Vom Piepsen miide, schlafen
beide ein.
Wahrend sie schlafen, steckt die Hand noch zwei und spater
drei frisch Ausgeschliipfte in den Topf. Alle sieben huscheln
sich innig aneinander und warmen sich und druseln vor sich
hin. So vergeht eine Stunde. Dann rumort es in dem Topfe,
und die beiden Altsten lehren den Neuankommlingen das
Piepen. Alle sieben vollfiihren einen Heidenlarm.
Es ist eine frohliche, muntere Gesellschaft.
Aber es dauert nicht lange, da kommen sie alle sieben unter
die Klucke, und da fangt der Ernst des Lebens an: die Er-
ziehung. #
Auf der Wiese steht ein Greis und will eine Kneipp-Kur
machen.
Er ist barfuB und barhaupt.
Uber ihm hangt ein wunderschoner, blauer, wolkenloser
Himmel.
Der Greis halt Ausschau nach einer Kuh, die fern am Wald-
rande Bediirfnis uber Bediirfnis verrichtet.
Da tropft dem Greis etwas aufs Haupt.
Ein dicker Tropfen.
Der Greis greift mit der Hand auf seinen Schadel und
wischt den Tropfen ab.
Dann lugt er auf zum Himmel.
Der Himmel glanzt in seidiger Blaue.
„Wie?“ denkt der Greis, „ein Tropfen aus heiterm Himmel?"
Und er begibt sich von dem Flecke, auf dem er gestanden,
weg und pflanzt sich anderswo auf.
Daselbst halt er wiederum Ausschau nach jener bediirfnis-
strotzenden Kuh.
Er steht nicht lange — der Greis — , so kleckt ihm ein zweiter
Tropfen aufs Haupt.
296
Hans Reimann * Scherzc
Aufschauend zum Himmel, wundert er sich ins Faustchen
und wischt sodann den nassen Tropfen sich vom Schadel.
Der Himmel lacht. Mit Recht.
,,Wenn das so weiter geht“, denkt unser Greis bei sich, ,,das
kann ja gut werden!“
Und er bleibt stehen, wo er steht.
Er will herauskriegen, wo die Tropfen herkommen ; auch
will er wissen, ob ihrer noch mehr herunterklecken.
Abermals wendet er sein Augenmerk nach jener fladenden
Kuh und vergiBt iiber sie das Tropfen.
Es wahrt nur kurze Zeit, so tropft dem Greis ein dritter
Tropfen auf den Kopf.
Der Greis runzelt die Stirn und betrachtet den Himmel. Der
thront unschuldig und engelisch-rein iiber der Szenerie.
Der Greis legt sich ins grime Gras und laBt den Himmel
nicht aus dem Auge.
Es kleckt kein Tropfen mehr vom Himmel.
„Aha“, denkt sich der Greis, dies geschieht, weil ich Obacht
gebe.“
Und er paBt auf. Er wendet keinen Blick vom Himmel.
Auf der Wiese hegt ein Greis. Er hat erne Kneippkur machen
wollen, aber er muB aufpassen, ob es tropft. Er ist iiberzeugt,
dafi in dem Augenblicke, wo er den Himmel auBer acht lafit,
ein Tropfen ihm aufs Haupt kleckt.
Der Greis schlaft dariiber ein.
Er traumt, daB ihm ein Tropfen auf den Kopf kleckt. Er
stellt sich anderswohin, und ein zweiter Tropfen kleckt. Er
bleibt stehen, und ein dritter Tropfen kleckt. Da legt er sich ins
grime Gras und spannt auf den Himmel. Dies traumt der Greis.
Die Kuh mohkt plotzlich dicht bei ihm.
Davon erwacht der Greis, erhebt sich achzend und begibt
sich an die Kneippkur.
Ihm ist, als seien drei Tropfen auf seinen Kopf gekleckt.
Dies ist jedoch vollig unmoglich. Denn der Himmel ist blau,
heiter und wolkenlos.
Hat der Greis getraumt?
Glosscn
297
GLOSSEN
QJber eine unveroffent(j<£te
Scfirjff.
Ernst Markus hat in einem konzen-
trierten Werkeuber die optischen Taten
des Geistes berichtet und mit einer
zwingenden Vorstellungskraft darge-
tan, daB unser eigentliches Sehvermo-
gen eine Eigenschaft des Organes sei,
das als Sitz des Geistes sich auch sinn-
lich orientiert. Ich messe dieser Schrift
einen Wert bei, der die noch immer
schwankende Einstellung unseres Sin-
nen-Apparates auf die Dispositionen
einer von ihm unabhangigen Geistes-
kraft endgiiltig festlegt. Die Durch-
dringung einer von Kant entdeckten
Gesamtwahrheit, immer in nachster
Ftihlung mit ihrem unausgesetzten
Ringkampf inmitten niederprasselnder,
blinder und unsichtbarer Krafte, wird
zu einem grandiosen, dramatischen Er-
leben.
Wie sehr diese Schrift Klarheit brin-
gen wiirde in unsere Deutung der Na-
tur, die ja nur fur das Geschaute und
durcfi das Geschaute Natur ist, mochte
wohl jedem oflfenbar werden, der das
Manuskript gelesen hat. Doch wie un-
gern bin ich mir bewuBt, hier einen
personlichen Vorzug zu genieBen, fiihle
ich doch in dieser seit vielen Jahren im
Pulte verwahrten Handschrift den Be-
ruf hochster Belehrung. Gerade jenen,
von ganz anderer Richtung Kommen-
den, die sich schon als heilsame Zer-
triimmerer vielerPappbaume und -wal-
dungen gezeigt haben, wird durch
Markus bewiesen, wie recht sie hatten.
Es sind Gebilde und Vorstellungen,
zu denen Euch Ernst Markus fiihrt, die
werden konnen, so groB Ihr wollt;
denn er erschlieBt nicht nur ein Ge-
heimnis, er tut viel mehr: er lost eine
Kraft. Stellen wir uns vor, daB alles
Lichte, Dunkle, die gradweisen Ver-
mengungen beider, alles Farbige und
Geformterlebte uns schon erscheint als
Zeichen unserereigenen inneren Schon-
heit, die den Vorzug hat vor der ethi-
schen Schonheit durch ihre ungeteilte
Richtung, durch ihre Unfahigkeit, bose
zu sein, da ihr spezifisches Wesen
Schonheit ist, Schonheit als lichtvolles
Tun: dann verstehen wir Markus*
Schrift als eine Tugendlehre und haben
etwas von einer ungeheuren Belastung
verloren bei dem Innehaben dieser
Machtgewahr weltbildenden Sehens.
Man muBannehmen, daB die schop-
ferischen Handlungen unseres Licht-
denkens abgeschlossen sind, abge-
schlossen wie das Erleben des Natur-
faktums, also scheint es eine sachliche
Grenze fur die geistige Erzeugung un-
serer Anschauung zu geben. Aber die
gesamte Anschauung ist geistig: Wir
stehen vor gewodnien Grenzen ! Und
from
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298
Glossen
wenn wir sagen das Helle, das Dunkle,
die Farben und die Formen, die wir
sehendhandeln, gleichen einem Ursein
unseres Geistes, das schon ist, was es
erschaut, dann sollten wir uns fragen :
Ist denn schon alles getan, ist unsere
Anschauungskraft nicht kiinstlich ab-
gegrenzt und sie der Sklave eigener
Gebilde geworden ? Die Antwort war
mir schon lange fur die Befreiung der
Kunst gegeben, aber Markus gibt sie
als kosmisches Phanomen, und er macht
dadurch den Menschen selbst zum kos-
misch wirkenden Phanomen. Also an*
nahernd beherrschen wir das Unend-
liche in raumlicher und zeitlicher Dif-
ferenzierung. Diese ungeheure An*
naherung aber macht noch gerade das
Leben moglich, gibt ihm aber schwin-
delerregende Horizonte. Und die all-
gekannte Natur: ist ein Rettungsver-
such, eine hemmende Distanzierung
von weiteren und immer weiteren Mog-
lichkeiten, ist eine Festlegung nach
Obereinkunft solcher, die ein Interesse
daran hatten, sich selbst in ihren Gren-
zen zu sefien , die unmerklich seit lan-
gem und von Jugend an den Geist
zwangen, i/ire Grenzen als die abso *
futen Grenzen anzuerkennen, die den
Umfang dessen, was gesehen werden
soffte, als Dogma festlegten und dieses
Dogma als Tradition weitergaben: es
ist jetzt das Merkma! der Menschheit
geworden, wonach jeder sich unter
Natur dasselbe vorstefft.
Aber die optische Wahrheit lautet:
Der Ort, den du erblickst, an dem bist
du auch. Exzentrische Empfindungen !
Bin ich nicht bei der Blume, die ich
pfliicke ? Ist die Entfernung nicht iiber-
briickt, wenn ich etwas mit Handen
fassel Wie hoch gedacht wtrd wieder
der menschliche Korper sein, wenn er
uns fiirdas^e/iffffeAbbild unserer ein-
geborenen Geistigkeit gilt; wenn wir
von Armen und Fingern wissen: unser
Geist ist armhaft und fingerhaft, darum
sind sie ; von Beinen und Fiifien: unser
Geist ist schreitend von sich aus, darum
sind sie; von den Augen und Ohren:
unser Geist ist schauend und ver-
nehmend seiner unkorperlichen Natur
nach: darum sind sie. Alles aber ist
er aufierdem zugleich: Sein Schauen
ist ein Ausstrecken von Armen und
Greifen von Fingern, ein Hinwandern
auf Fiifien in weiteste Fernen, ein Ver-
nehmen mit Ohren aus entlegensten
Gebieten. Was kommt denn zu uns,
wenn wir doch liberal! hingehen miis-
sen ? Was ist denn aufier uns, da wir
doch alles zuerst in uns sein miissen ?
Was sind denn Sonne, Mond und
Sterne und die gesamte farbige ge~
formte Aufienwelt — doch davon
spricht Markus: eine Phantasmagoric
innigsten Gestaltens, lauter Tun des
Geistes. Was ich sehe, ist bei mir, und
ich bin bei ihm. Es ist, als wenn der
Unterschied zwischen Leben und Tod
wegfiele, der Unterschied zwischen
Himmel und Erde, als wenn das Ich
und das Du sich erweiterten zum welt-
umspannenden Gleichheitsbewufitsein.
Wirklich, die Grenzwerte sind andere
geworden : heute sind wir verantwort-
lich fiir die Enge des Aufienlebens,
denn wir wissen, dafi es von uns ab-
hangt. Aber Taten der Erweiterung
konnen nicht von beschaulichen Men-
schen geleistet werden, von wachen,
tatigen, von keinen ehrfurchts/bse/J,
aber von solchen, die geistige leister
sind und als solche Rechte haben, die
Dilettanten niemals haben konnen.
Glossen
299
Meister sein heifit aber gottlich sein iibef
seiner Materie: und wie deren Formen
auch waren,die Wahrheit ist nicht grau-
sam, aber sie kennt kein Privatleben.
Es ist ein physiologischer Bindungs-
weg iiber die Grenzen des Korpers hin-
aus vorhanden zu ihm, das also ohne
diese Physis Ding an sich ware. Oder
wird von dem Augenblick an, wo die
Korpermaterie versagt, wo die meilen-
weit reichenden Organe lichthafter Ge-
staltung sich iiber die fleischliche Peri-
pherie hinausstrecken, wird von diesem
Augenblick an das Physische zum Gei-
stigen ? Wohnt also dem Geistigen eine
transfigurierte Physis inne, ist also was
wir schauen unsere erweiterte Leib-
iichkeit, tragen wir in fast unendlicher
Sphare unsere Erlosung mit uns, die
mit uns wandelt, an uns haftet und
darauf wartet, daB wir uns zu ihr be-
kennen ? Markus’ Schrift lesen und sie
verstanden haben, heiBt dies bejahen.
So ist die Optik unser hochstes Organ,
unser kosmisches Organ, durch das wir
am Kosmos mitwirken konnen. Aber
wie Erdenmeftsch sein bedeutet: Feind
sein der geistigen Wirksamkeit, so
scheint diese Verschwdrung schon in
unkontrollierbar friiher Zeit unseren
eminentesten geistigen Sinn getroffen
zu haben, die Schaukraft; ihr vor alien
anderen Fahigkeiten geistiger Expan-
sion: denn groB sehen heiBt grofi sein.
Die Menschheit hat den Widerstand
der Erde gegen ihre zentrifugalen Er-
innerungen geerbt, aber wer das MaB
hat, braucht keine Ausdehnung zu
fiirchten. In diesem winzigen Punkte
kann die Haltekraft fiir das Entfernteste
liegen, und tatsachlich balancieren wir
die gesamte Welt der Anschauung. Vor
allem fragen wir nicht was wird, furch-
tend, Abschied nehmen zu mussen von
dem was ist; sondern seien wir das
Gegen wartigste auf der aanzen Basis
unseres Selbst; diese aber ist sefir
groB — kennten und wollten wir nur
ihre GroBe.
Es ist mir bei dem einmaligen, wenn
auch intensi ven Lesen der Markusschen
Schrift die Erklarung zweier Probleme
nur noch in ihrer Konzeption vorstell-
bar ; ihre Originalitat und folgen-
schwere Bewertung ragt besonders her-
vor und muB den in der Anschauung
Schaffend-denkenden leidenschaftlich
ergreifen: Was ist der Spiegel — was
die Perspektivel Der Anschauliches
zeugende Geist ist Vater zweier Na-
turen, der im Spiegel und auBer dem
Spiegel geschauten. Und beide Na-
turen sind qualitativ dieselben, quali-
tativ gleichwertig vor unserer die An-
schauung bildenden Geistigkeit. Aus
der Starrheit des Spiegels springt
plotzlich ein vitales, geistiges Urge-
bilde, ist ihm vorgelagert und haftet
nur lose an ihm, und nimmt dem To-
ten, Glatten, Sproden sogar die Macht
der Reproduktion I Welche eminente
Sensibilitat wohnt uns inne, daB wir
auf jede Kriimmung, auf jede glatte
oder rauhe Flache uns anders handelnd
verhalten und unsere Weltanschauung
variieren. Die zeugende Tat, die Ob-
jektvorstellungen schafft, vermag das
Gesetz, unter welchem Angeschautes
mdglich ist, mit einer chemisch pra-
zisen Gewalt zu organisieren und tut
dies nach dem Ethos dieses Gesetzes ?
Es sind Dinge, die uns von dem un-
geheuren dramatischen Anteil unseres
Geistigen an dem Entstehen des Welt-
gebildes, so wie wir es sehen, ein helles
BewuBtsein geben.
20 vol. m/2
300
Glossen
Els ist erstaunlich, in welche physisch-
aktive Nahe Markus diese geistigen
Problemc zu riicken vermag, wie ihm
dadurch das Allerschwerste gelingt,
das ist, ein ethisch Erlebtes asthetisch
zu steigern und so machtig zu machen,
daB der Sieg ilber den eingefleischten
Anschauungs-Schematismus mit Ge-
wiBheit vorauszusagen ist. Er bringt
Kant, der wie ein femer stiller Merker
am Anfang dieses Weges steht, zu einer
gegenwartigen und modernen Teil-
nehmerschaft: eine groBe, gewaltige
Welle hebt sich heute; zwischen ihr
und dem Gipfel einer fruheren, die die
kantische Windsbraut erzeugte, liegt
ein tiefes Tal: aber sie allein hat die
Kraft, ein neues Land, einen neuen
Strand zu erreichen.
Wie frisch geboren, welchen Alters
wir auch sind, werden wir dereinst vor
der Natur stehen: das ist Fleisch von
unserem Fleisch, Bein von unserm Bein ,
blutsbriiderlich ist es uns zugesellt.
Aber wir werden andere geworden sein
miissen, ehe wir so groBer Verwandt-
schaft teilhaftig werden diirfen. Uns
selbst reicher und immer reicher zu
entziffern, ist die Voraussetzung des
grofien Konnens, und dann werden wir
nicht mehr Papageien unserer selbst
sein. — Man verkennt die Kiinstler
unserer Tage vollig, wenn man ihnen
ihre Befreiungsversuche von einem Ko-
pistendasein zum Vorwurf macht: —
sei es von der erstarrten Naturvorstel-
lung oder den nicht minder erstarrten
geistigen Direktiven — einen sehr
spdien asthetischen Befreiungsver-
such, der als Initiative unbedingt auf
die Befreiungstat Kants von der Em-
piric zuriickzuleiten ist.
Diesen Kiinstlern ist nur dann ein
Vorwurf zu machen, wenn sies/ofinicht
auf die ganze breite Basis des Moglichen
stellen und sich nicht bewuBt sind,
einer Natur iota [Hat eine zulangliche
Geistes totafrtdt gegeniiberstellen zu
miissen. Um dies zu erreichen, haben
sie als Feldherrn zu handeln, ihren
gewaltigen Gegner nicht zu unter-
schatzen, aber doch im VollbewuBtsein
zu Werke zu gehen, daB ihre Mittel
iiberlegene, aber nur mit vollen deter Or-
ganisation erfolgreich zu verwendende
seien. Darum diirfen und miissen sie
sogar a/feaattackieren, und wo sie noch
nicht attackieren konnen, miissen sie
wissen, daB dies eines Tages zu ge-
schehen hat, und sich vorbereiten.
Hierzu bedarf es einer reifen Kultur,
die im Besitze differenzierter Gesetze
ist und diese mit wissenschaftlicher
Prazision anwendet. Die Kunst also,
meine Herren, bedarf ein paar Augen,
die quasi chemisch-aktiv sind. Denn
dieser Stoff da draufien erfreut sich
schon zu lange einer lethargischen
Ruhe: diese aber ist die Ursache alles
Obels. In der Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten hat Kant der Mensch-
heit alle Mittel in die Hand gegeben,
den Weltzustand nach hochster Norm
zu regeln; warum geschieht dies nicht?
Ja, da draufien wird alles gewufit, ge-
bucht, gezahlt. Els ist erstaunlich, was
man seit hundert Jahren alles weiB;
aber irgendwo steht ein Satz, der heifit
etwa: ,,Die Entmannung desoptischen
Sinns, seine Einengung auf rezeptive,
physiologische Tatigkeit, seine grobe
Vermateriali$ierung.“ Und als pars pro
toto gilt er fur das gesamte geistige
Weltverhaltnis des Menschen.
Otto Freund [7 <£.
>•
Glossen
301
Rofizen.
In Berlin erscheint eine Zeitschrift
( Wieland , die neben harmlosen No-
velletten und Gedichten blutriinstige
Zeichnungen und gehassige Glossen
veroffentlicht, genau wie alle ahnlichen
Zeitschriften in den kriegfiihrenden
Landern. So enthalt die Augustnum-
mer eine ganzseitige Zeichnung von
Schilling (der fiir dieses Geschaft nicht
gerade pradestiniert schien): August
1916. Ober der Erdkugel, in den
Himmel ragend, hoch bis zu blutigen
Schaferwolkchen, ragt ein blutrotes
Skelett, der Schnitter Tod. Von der
blutigen Sense fallen groBe Bluts-
tropfen auf eine Gruppe zitternder
Soldaten : einen Franzosen und einen
Italiener, die sich beide die Ohren zu-
halten — womit vermutlich an den
Kanonendonnervor Verdun undbinter
Gorz erinnert werden soli — einen
in Gottergebenheit glotzenden Russen
und einen Englander, der sich ganz
schmal macht vor Angst. Von Mit-
leidens wegen diirfte auf dem Bild der
Deutsche nicht fehlen. Denn die Zeit-
schrift ist ,,herausgegeben im Einver-
standnis mit dem Zentralkomitee der
deutschen Vereine vom Roten Kreuz".
Sie enthalt eineRubrik: ,,Mitteilungen
des Zentralkomitees der deutschen
Vereine vom Roten Kreuz". Die Vi-
gnette hierzu zeigt einen Amor, der
nur mit einer Soldatenmiitze bekleidet
ist und ein schwarzes Kreuz halt. Man
bemerkt mit Staunen, daB die „Mit-
teilungen des Zentralkomitees der
deutschen Vereine vom Roten Kreuz"
einzig und allein aus Inseraten be-
stehen. Das erste, das der Amor mit
der Soldatenmiitze und dem schwarzen
Kreuz iiberfliigelt, lautet:
,,Eine illustrierte Geschichte
des Hauses Hohenzollem.
Zugunsten des Roten Kreuzes ist unter
dem Titel ,500 Jahre Hohenzollem4
ein Prachtwerk erschienen, das sich in
der Reihe ahnlicher Veroffentlichungen
in doppelter Hinsicht auszeichnet. Der
Text stammt aus der sachkundigen
Feder des Geh. tfrchforaies 0r. Georg
Schuster vom Koniglichen Hausar-
chiv, der unter Beriicksichtigung der
neuesten Forschungsergebnisse eine
recht lebendige Geschichte der Hohen-
zollern abgefaBt hat; auBerdem enthalt
das Werk zahfreiche flbbildungen, die
weiteren Kreisen bisher unbekannt
waren.
Das Buch hat es sich zur beson-
deren Aufgabe gemacht, die besten
und geschichtlich beglaubigten Wilder
alter IKohenzollernfUrsten und ihrer
Gemahlinnen zu veroffentlichen und
iiberhaupt moglichst zahlreiche Ab-
bildungen zu bringen, durch die das
Leben und die Taten der Hohenzollem
veranschaulicht werden. So finden wir
ihre Wappen, Siegel, Schwerter, Kro-
nungsinsignien , ihre taglichen Ge-
brauchsgegenstande ebenso abgebildet
wie ihre Schlosser und die Darstellung
ihrer Taten von Kiinstlerhand.44
*
Ober den schrecklichsten Krieg, den
die Weltgeschichte kennt, denkt der
russische General A. P. Skugorewsky
sehr skeptisch. „Ich erinnere mich an
Sebastopol44, schreibt er in *Rufihoje
c/Tovo, ,Das war ein Krieg, wie es
noch keinen gegeben hatte. Er wahrte
302
Glossen
fast vier Jahre. Die Ktigeln fielen wie
Hagel aus einer Entfernung von . . tau-
send Metern. Friiher hatten die Ku-
geln nur dreihundert Meter weit ge-
tragen, und da war noch ein grofies
Spotten gewesen iiber die AnmaBung,
auf diese Entfernung ein dreistockiges
Haus treffen zu wollen. Im Jahre 1866,
als der Krieg zwischen PreuBen und
Osterreich tobte, war ich Offizier. Man
sprach schon von der fabelhaften Wir-
kung der Feuerwaffen, die bestimmt
seien, in der Schlacht das entschei-
dende Wort zu sprechen, und Suwa-
rows Lieblingswort : ,Die Kugel ist
eine Torin, das Bajonett ist ein ganzer
Kerl4 schien plotzlich eine Ketzerei.
In diesem Krieg gaben die PreuBen
taglich 2 Millionen Taler aus. Jeden
Tag 2 Millionen!4 sagte man. ,Ein
unerhorter Krieg!4 Der Krieg 1870/71
war ebenfalls .unglaublich4. Die
Deutschen hatten fast eine Million
Soldaten nach Frankreich gebracht.
Dieser Krieg hatte eine solche An-
spannung aller kriegerischen Krafte
bewirkt, dafi es unmoglich schien, darin
noch weiter zu gehen. Doch war der
Krieg kaum beendet, da machten sich
alle Volker, Deutschland an der Spitze,
daran, von Jahr zu Jahr ihre Riistungen
zu steigern. Das Heer wurde zum Volk
in Watfen, und man begann, vom
nachsten Krieg zu sprechen, der eben-
fallsalleVoraussichtUbertreffen sollte.44
Jetzt aber, meint General Skugo-
rewsky, jetzt endlich wiiBten dieVolker,
was es heiBe, den nachsten Krieg vor-
bereiten. Jetzt lieBen sie sich nicht
mehr tiberraschen. Und er rechnet aus,
daB in zehn Jahren die Bevolkerungs-
zahl RuBlands 200 Millionen iiber-
schreiten und die Deutschlands etwa
100 Millionen erreicht haben werde.
Also wurde im Kriegsfall RuBland mehr
als 40 Millionen Manner, Deutschland
deren an die 20 Millionen unter die
Fahne rufen. Darauf erortert der rus-
sische General eingehend die milita-
rische Organisation von 40 Millionen
Kriegern . Eine Armee von 40 Millionen
Mannern braucht mindestens 300,000
Offiziere. Man wird also die Dienst-
pflicht fur Offiziere einfiihren: alle
jungen Leute, die eine, wenn auch un-
vollstandige Mittelschulbildung erhal-
ten haben, werden als Offiziere dienen
mlissen. Dazu kommt, in samtlichen
Schulen des Reichs, die militarische
Vorbereitung, die natiirlich obligato-
risch sein wird. Fur die Etappen und
die weiteren riickwartigen Verbindun-
gen bedarf es eines ungeheuren Per-
sonals. Es wird an Mannern fehlen.
Die Frauen miissen einspringen iaber-
all, wo eine Frau in der Not einen
Mann ersetzen kann. Also Einfiihrung
der Dienstpflicht fur die Frauen. Ein
40 Millionenheer braucht mindestens
100,000 Kanonen, eine Million Ma-
schinengewehre, Hunderttausende von
Automobilen ; bei Kriegsausbruch
muBten mindestens 50 Millionen Gra-
naten und 5 Milliarden Patronen be-
reit liegen. Diesem Aufgebot miiBte
die Zahl der vorhandenen Luftschiffe
(in jeder Art) entsprechen. Was die
Artillerie anbelangt, so diirfte man
bald Kanonen gebaut haben, die von
Calais nach Dover schieBen. In der
Friedenszeit wird man die Plane fur
Befestigungen entwerfen, die sich iiber
Hunderte von Kilometern hinziehen,
und alles Material, alle erforderlichen
Maschinen bereitstellen. Wenige Tage
nach dem Mobilmachungsbefehl wer-
Gloss en
303
den die Befestigungen gebaut sein.
Der militarischen Vorbereitung mufi
die politische entsprechen. Die An-
spannung der wirtschaftlichen und
finanziellen Krafte wird derart sein,
daB sie die Leistungsfahigkeit eines
einzigenMinisteriums bei weitemiiber-
steigen: man wird ein selbstandiges
Ministerium der Kriegsvorbereitung
bilden. Vermutlich wird man bei der
Kriegserklarung sofort alle Erfindun-
gen, die Fabriken, Industrien und selbst
die Heimarbeiter mobilisieren ; auch
der Plan dieser Mobilmachung muB
im Frieden bis ins einzelne ausgear-
beitet werden. Das innere Land wird
uberzogen sein von ungeheuren Ge-
treidelagern, Schuppen, Viehplatzen,
iiber die ein Heer von Agenten, Inspek-
toren und Kontrolleuren wachen. ,,Je-
doch“t schliefit der General (der vom
nachsten Krieg weniger weit entfernt
scheint, als es Jules Verne von uns ist),
„dies alles sind Einzelbeiten ; iiber
jeden Zweifel steht, daB der nachste
Krieg unvergleichlich schrecklicher
sein wird als alle vorangegangenen
Kriege. Deren Zerstorungsmaschinen
werden wie Kinderspielzeug erscheinen
neben den neuen. Es wird Millionen
Tote, Zehntausende Millionen Ver-
wundete geben, und wenn der nachste
Krieg langer als ein Jahr dauerte, dann
gabe es kein Mittel, die kriegfiihrenden
Lander vor der Entvclkerung und dem
Rum zu bewahren.11 —
*
Der Leipziger Inselverlag veroffent-
licht in seiner kleinen Biicherei das
gewaltige Kapitel ,,Der GroBinquisi-
tor“ aus Dostojewskys ,,Briidern Ka-
ramasow". Man sollte es, in Ermang-
lung des zweibandigen dicken Romans,
lesen, verbreiten, ins Feld schicken.
Der lange Monolog des spanischen
Kardinals ist die erschiittemdste An-
klage gegen jeden Imperialismus, weil
er die kliigste Verteidigung eines jeden
Imperialismus ist. Mehr: hier erschei-
nen Politik und einfache Liebe, Staat
undMensch geschieden wie Feuerund
Wasser. Nie hob Wahrheit sich heller
von Luge ab, wie in dieser wahrhaften
Rechtfertigung der Luge. Dostojewsky
fallt kein Urteil iiber das seltsame Ge-
sprach der beiden, die einander imGe-
fangnis von Sevilla gegeniiberstehen,
und wo nur der eine spricht, der Kar-
dinal, vor den stillen Augen des an-
dern, des leibhaftigen Jesus, der wieder-
gekommen ist, und den die Hascher
der Inquisition in den Kerker geworfen
haben. Der Kardinal spricht das grofle
Plaidoyer der CIJ(cicf)it Weltgedanken,
wie sie nur aus einem grofien Herzen
kommen, und die nur ein starker Geist
in so endgiiltigen Worten auszupragen
vermag.
„Da der Inquisitor seine Rede be-
endet hat, wartet er, daB der Gefangene
ihm antworte, denn dafi dieser schweigt,
bedrlickt ihn. Er sieht, wie der Ge-
fangene ihm die ganze Zeit iiber auf-
merksam zuhort und ihm dabei gerade
ins Auge sieht, ohne dafi er auch nur
im geringsten den Wunsch verriete,
ihm zu erwidern. Der Greis mochte,
dafi er ihm ein Wort nur sagte, ein
stolzes meinetwegen, ein furchtbares.
Doch er steht plotzlich auf, tritt an
den Greis heran und kiiBt ihn sanft
auf dessen blutlose Lippen. Das war
seine Antwort. Der Greis erbebt. Seine
Mundwinkel bewegen sich. Er geht
zur Tur, oflfnet sie und spricht zu ihm :
Glosscn
Gehe hinaus und kehre nicht wieder
— kehre nie wieder — nie, niel4 Er
lafit ihn hinaus auf die ,dunklen schwei-
genden Platze* der Stadt. Der Ge-
fangene geht hinaus.4*
Hier schliefit das Buchlein des Insel-
verlags, so wie Rudolf Ka&ner das Ka-
pitel in gekiirzter Form iibersetzt hat.
Im Roman heiBt es aber weiter:
f,Und der Alte?“
ftDer Kufl brennt in seinem Herzen,
:h er bleibt bei seiner Auffassung.4*
Wie ist das moglich ?
Es wird kurz vorher gesagt:
,tDein Inquisitor glaubt nicht an
Gott, sieh, das ist sein ganzes Ge-
heimnis.‘4
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
INHALTSVERZEICHNIS
AUFSATZE
Theodor Daubler, Georg Grofi
Fr. W. Foerster, Der Weg
Alfred H. Fried, Die Cholera
Fritz Hoeber, Das Erlebnis der Zeit und die
Willensfreiheit
Rene Schickele, Die Pflicht zur Demokratie . . .
Andre Suares, Uber Charles P4guy
II.
GEDICHTE
Kleine Anthologie : Gedichte von Ludwig Baumer,
Ottokar Brezina, Rudolf Fuchs, Max Herrmann,
Gerhart Husserl XII 212
Johannes R. Becher, Bruchstiicke aus dem Gedicht
„Der Sozialist" XII 25 1
Albert Ehrenstein, Dialog X 34
Willy Kiisters, Melancholie des Soldaten .... X 65
Ren6 Schickele, Gebete X 42
S. D. Steinberg, Gesicht X 66
III.
DRAMAT I SCHES
Franz Blei, Der Geizige. Komodie in 4 Akten
nach Moliere XI 96
Bernhard Guttmann, Huber und Cox. Ein zeit-
genossisches Gesprach XII 220
IV.
EPISCHES
HEFT
SEITE
Gottfried Benn, Die Insel
... XII
241
Leonhard Frank, Der Kellner
... XI
149
Hans Gathmann, Die Niederlage
. . . X
35
Hermann Hesse, Eine Traumfolge
... XII
199
V.
GLOSSEN
Civis diplomaticus, Ein Reichstagsausschufl fur
auswartige Angelegenheiten X
Civis diplomaticus, Kontrolle der auswartigen
Politik im Auslande XI
Civis diplomaticus, Diplomatic und Volksideale . XII
Kasimir Edschmid, Die Nacht des Angeschossenen XI I
S. Friedlander, Vom Schaltwerk der Gedanken . XI
Max Herrmann-NeiBe, Nimm dein Kreuz .... X
Lu Marten, Der Knabe Herbst XII
Walter L. Miiller-Wulkow, Vom Zukiinftigen . . XI
H. R., Entwurf einer neuen Asthetik der Tonkunst XII
Ludwig Rubiner, Aktualismus X
R. S., Notizen X
R. S., Notizen XI
R. S., Notizen XII
Frana Jsramek, Soldat im Feld (Deutsch von Otto
Pick) X
Robert Walser, Poetenleben X
Morgenrote? XII
„Noch ist Polen . . .“ XII
Intellektuelle Apologeten XII
VI.
ZEICHNUNGEN
Georg Grosz, Sieben Zeichnungen
160
Fr. W. Foerster ♦ Der We*
Fr. (~w. Foerster:
DER WEG
P)ie Oulinummer der ‘Weiflen ‘Blatter bracFte die ZuscFrift
des <Bs ‘Fr . ‘W. ‘Foerster, ‘Professors an der CUnhersddt ‘UttincFen ,
an das Berliner ‘Cageblatt ats „eines der erFebendsten Zed •
dokumentri* . On dieser ZuscFrift gab Professor Foerster eine
‘Darstellung seines OConflikts md der pFHosopFiscFen Fakuiiat der
Qlniversrtdt ‘IKuncFen. tfier folgt, unter ‘Weglassung der genannten
ZuscFrrfi, eine ausfQFrlicFe und wed uber den persdnlicFen
ZwiscFenfall Fin ausreicFen d e Begr&ndung einer OCutturpo litik,
die den doppelten ‘ V or tug Fat, nicFt erst von Feute oder gestem
za sem — Fat docF Professor Foerster diesen ‘Weg von den ersten
O&nfangen seiner wissenscFaftlicFen Fatigkeit an bescFrdten —
und die scFwankenden mat erie lien Qrundlagen a Her ,fRealpotdiku
durcF geistige ‘Werte zu ersetjen, die ein cFristlicFer Guropder seFr
woFl als eine konst ante Qrdfle in die OlecFnung poldiscFer Zukunfts*
gestaltung einsetjen kann. P>as ‘IJlaterial sum „ Fall Foerster**, der
fdr einen Feil des deutscFen Vo Ikes, zumal der deutscFen Ougend,
zum Olusgan gspunkt einer programmatiscFen 31 use in andersefiun g
von grdflter Fra g we it e geworden ist, fndet sicF, nocF umfang •
reicFer, von nocF meFr GesicFtspunkten aus beleucFtet, in Foersters
neuem BucF ,fDie deutscFe Ougend und der (Weltkrieg<( , das soeben
im Qeipziger Verlag ^FlaturwissenscFa fieri* erscFienen ist .
Im Marz 1913 hielt ich in der Aula der Universitat Wien
eine Abschiedsrede an die Wiener Studentenschaft, worin ich
der deutschen Jugend in Osterreich empfahl, in all ihren poli-
tischen Gedanken und politischen Sitten treu und konsequent
zu Osterreich zu halten und die grofie Kulturaufgabe der oster-
reichischen Deutschen, namlich die germanisch-slawische Ver-
standigung, fest ins Auge zu fassen. Dabei gab ich auch
folgenden Rat:
„Ich mochte hier ein offenes Wort sagen, auf die Gefahr hint Ihre Sym-
pathie griindlich zu verlieren. Ich sage es als deutscher Mann zur deutschen
Jugend: Ich hoffe, daB die Zeit kommen werde, wo Sie trotz tiefster Treue
2
Fr. W. Foerstcr * Dcr Wtg
gegcnliber Ihrem deutschen Stammesgefiihl docK hier in Osterreich aufhdren,
die Wacht am Rhein zu singen, ein Lied aus einer ganz anderen historischen
und kulturellen Konstellation, das Ihre Loyalitat gegeniiber der schwarz-
gelben Kulturgemeinschaft und Kulturmission nicht klar zum Ausdruck
bringt. Wahlen Sie ein anderes Lied, meinetwegen ,,Brlider, reicht die Hand
zum Bunde“ — jedenfalls ein Lied, das die Bruderhand ausstreckt zu den
Rassen, die Ihnen durch die Vorsehung zur Verwirkiichung hoherer kultureller
Gemeinschaftsformen gegeben sind!"
Die hier ausgesprochene Anregung habe ich dann gegeniiber
vielfacher Kritik in meiner Schrift ,,Das Osterreichische Pro-
blem“ (Wien, H. Hellers Verlag) in folgender Weise verteidigt:
„Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, daB die ,, Wacht am Rhein44
in Osterreich als ein deutsches Nationalsymbol gemeint sei, losgetrennt von
dem besonderen Sinne, den es fur die Reichsdeutschen habe. Pardon, meine
Herren, es kommt aber hier doch gar nicht darauf an, wie es gemeint ist,
sondem wie es auf die anderen wirkt, mit denen man m staatlicher Gemein-
schaft zusammenleben soil. Nehmen wir einmal an, Osterreich bestehe zu
einem Dnttel aus Russen, und diese sangen mitVorliebe die russische National-
hymne — was wiirden die Deutschen dazu sagen ? Wennschon die Deutschen
in Osterreich sich als Erzieher und Fiihrer der kulturell jiingeren Rassen be-
trachten, dann miissen sie doch auch ,,padagogisch*4 auftreten — und pada-
gogisch kann die an der Donau gesungene „Wacht am Rhein‘* nun doch wahr-
lich auf die anderen Rassen Osterreichs nicht wirken. Vielmehr nimmt sie den
Deutschen die Autontat einer osterreichischen Staatsrasse, laBt sie wie Aus-
lander erscheinen, die durch ein leidiges Geschick zwischen die schwarzgelben
Grenzpfahle eingeklemmt sind, macht sie verdachtig, sich mit dem Herzen
mehr zu Deutschland als zu Osterreich gehorig zu fiihlen — und das schadet
ihrer ganzen politischen Stellung in der Donaumonarchie weit mehr, als die
Sanger ahnen. Man mufi auch den bosen Schein meiden — das ist doch wohl
ein erstes Gebot politischer Weisheit.
Wenn die grofien gemeinsamen Erregungen des Krieges voriiber sein
werden, so werden zweifellos auch die alten nationalen Gegensatze wieder
erwachen, und gerade dann wird alles darauf ankommen, dafi die alte fiihrende
Nationalitat der osterreichischen Monarchic, die deutsche, durch ihr eigenes
Beispiel verhiitet, daB diese Gegensatze wieder in der alten Weise, ohne jedes
Gedenken an das gemeinsame osterreichische Vaterland, aufeinanderplatzen.
Dazu gehort, daB man auch bei alien erhebenden Gelegenheiten (offenthchen
Feiern usw.), soweit sie nicht speziell nationale Tagungen oder Gedenkfeste
sind, der osterreichischen Hymne den Vorzug gibt. Dafi die ewige ,, Wacht
am Rhein*4 fur die iibrigen Volker Osterreichs eine unnotige Irritation, ein
schlechtes Beispiel und fiir die Deutschen eine politische Unklugheit ersten
Ranges war, wegen des bosen irredentistischen Scheines, der dadurch (in Ver-
Fr. W. Foerster ♦ Der Weg
3
bindung mit den an Hochverrat grenzenden Extravaganzen der Schonerianer)
auf die Deutschen Osterreichs fiel — das faann doc fa mtr jemand (eugnen,
der fan ‘Jtaascfa des eigenen Gmpfndens sicfa um fremde cIKiflgefufa[e und um
faiafe ‘Rticfawirfaun gen seines C uns Qberfaaupt n/cfat (cammern witt. Darin
weiC ich zahlreiche gute Deutsche Osterreichs, besonders der jungen Genera-
tion, vcn Grund aus auf meiner Seite. Was wohl die Alldeutschen gesagt hatten,
wenn die Serbokroaten immerdie serbische Nationalhymne gesungen hatten?
In einer hochkomplizierten politischen Situation, wie es dieosterreichischeist,
wo alles davon abhangt, dafi man liber den Volkerzwistigkeiten an ein gemein-
sames Staats- und Vaterlandsgefiihl appellieren kann, da mufi auch der
politische Gesang (und besonders bei denen, die sich als fiihrende Nation
fiihlen und als Haupttrager des Staatswesens gelten wollen!) in den Dienst
des politischen Taktes und der staatsbildenden Weisheit treten, statt ein
Argemis und ein MiCton fur jeden zu sein, dem am Wachstum des oster-
reichischen Staatsgedankens gelegen ist.“
Das, was ich hier der osterreichischen Jugend gesagt habe,
das ist genau der gleiche Rat, den Bismarck zu wiederholten
Malen warnend den Deutsch-Osterreichern ausgesprochen hat.
Aber jene meine Ansprache in der Universitat Wien und noch
mehr der Umstand, dafi mein Appel! von der versammelten
Jugend mit einmiitiger Zustimmung aufgenommen wurde, hat
die osterreichischen Alldeutschen in erne so aufierordentliche
Erbitterung gegen mich gebracht, dafi sie mir seit jener Rede
unablassig auf den Fersen sind; einer ihrer Parlamentarier hat
sogar in einer bei Diedenchs (Jena) erschienenen Broschiire
,,Osterreich nach dem Kriege ' die Unterstellung ausgesprochen
(natiirhch anonym !), ich sei wohl von oben ,,bestochen * worden.
Diese Kreise haben denn auch meinen Artikel „Bismarcks Werk
im Lichte der grofideutschen Kntik“ 1m Januarheft (1916) der
Fnedenswarte zuerst aufgegriffen und angegriffen, und zwar in
der Form eines ,,Offenen Briefes“ in der Wiener Deutschen
Hochschulzeitung (Heft 9/10 1916), worin einzelne Satze meines
Artikels nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen, sondern
durch geschickte Zusammenfugung einzelner Wendungen ihres
wirklichen Sinnes in hochst illoyaler Weise beraubt worden sind.
Von hier aus ging der Text in ein Flugblatt des mit den alldeut-
schen Wodansanbetern in Osterreich durch die Los-von Rom-
Bewegung eng alliierten Evangelischen Bundes iiber; es wurden
aVaV
4
Ft. IT. Fosrsier ♦ Der HVc
in dieser ,,Deutsch-Evangehschen Correspondenz ‘ (Nr. 19)
einige weitere Hetzereien sowie der Wunsch hinzugefiigt, ich
moge von ..anderer Stelle“ aus an der Fortsetzung meines schad-
lichen Wirkens gehindert werden. Dieses Flugblatt wurde von
Berlin aus an alle Mitglieder der Universitat sowie an samtliche
protestantische Geistliche versandt . . .
Fiir die Prefimora! dieser alldeutschen Korrespondenzen und
der von lhnen gespeisten Tageszeitungen ist die mit hohem Ge-
schick arbeitende Zitierungsmethode charaktenstisch. Im fol-
genden will ich diejemgen Hauptabsatze des angegnffenen
Artikels zusammenstellen, aus denen dann die in jenen Hetz-
Korrespondenzen zitierten oder willkiirlich neu kombinierten
Satze herausgerissen worden sind. Auch die folgenden Absatze
erhalten natiirlich erst im Zusammenhang des Ganzen ihren
vollen Sinn, doch geniigt schon lhr Abdruck, um zu zeigen, wie-
viel unnotige Erregung und Erbitterung durch das Herausreifien
einzelner Wendungen entstehen mufite:
Die rein individualistische Grofimachtstheorie ist nur
eine kurze Phase, eine Verirrung, sie konnte nur in jenem Inter-
regnum aufkommen, in dem die mittelalterliche Vorstellung der
,,civitas humana“ zerfallen war, ohne dafi neue grofie welt-
orgamsatonsche Ideen an ihre Stelle getreten waren. Diesem
Interregnum des blofien National- und Territorial - Egoismus
entsprach ein wahrhaft armseliger Zustand der politischen
Wissenschaft. Man kannte nur noch den einzelnen Staat; das
zwischenstaatliche Leben mit seinen Realitaten, Bediirfnissen
und Bedingungen wurde vollig ubersehen. Statt dafi die Staats-
wissenschaft den allgemeinen Volkerverkehr als eine zu dem
inneren Leben der Staaten selbst gehorige Angelegenheit ansah
und behandelte, wurde ein ganzlich iiberspannter Begriff von
emzelstaatlicher Souveranitat, Selbstbehauptung und Selbst-
geniigsamkeit ausgebildet, der mit dem Wachstum mtematio-
naler Abhangigkeiten und Aufgaben absolut nicht mehr zu-
sammenstimmte.*)
*) v. Mohl sagt : . So wie schon das Volkerrecht das Recht des Krieges
und des hlutigen Zwanges unendlich vollstandiger ausgebildet hat als das Recht
Ft. W. Forrsfrr * Der Wcg
0
Die neuere deutsche Geschichtschreibung, vor aliem in Ranke
und Sybel, hat sich leider ganz in den Dienst der Verherrlichung
des nationalen Prinzips gestellt. Der edle und feinsinnige, aber
merkwiirdig kindliche Ranke war tief lm Machtkultus befangen,
er lebte ganz in den Ideen des europaischen GroBmachtsystems,
er registrierte die bloBen oden Kraftverschiebungen innerhalb
dieses Systems mit hochstem Interesse; daB an Stelle der fran-
zosischen Praponderanz die deutsch-preuBische trat, war fur ihn
von unermefilicher Wichtigkeit; was die Welt dabei gewonnen
und ob Deutschland in diesem Wettstreit und in dieser Nach-
ahmung der auslandischen Entwicklungen seine allerwichtigste
Praponderanz aufs Spiel gesetzt habe, danach fragt er nirgends,
es kommt ihm iiberhaupt nicht in den Sinn, daB die wahre
Politik kiinftig wohl andere und hohere Aufgaben in Angriff
nehmen miisse, als um ,, Praponderanz" zu streiten. Es gehort
zu dieser Art von Geschichtschreibung, daB sie die groBe iiber-
nationale Mission des alten deutschen Kaisertums vollig iiber-
geht. Dem Leser wird der Eindruck beigebracht, als sei jenes
alte Kaisertum auch nur deutsche GroBmachtpolitik gewesen,
die nun nach langer Stagnation wieder aufgenommen worden
sei. Der gewaltige Unterschied des alten universalistischen,
iibemationalen und darum weltfiihrenden deutschen Reiches
von dem neuen preufiisch verengten Nationalstaat wird dabei
ganz und gar verwischt. Das Heilige Romische Reich Deutscher
Nation entsprang nicht nur aus der Nachwirkung des romischen
Impenums, sondern auch unmittelbar aus dem sozialorganisa-
torischen Geiste des Christentums ; der Foderalismus war sozu-
sagen die der Welt zugewandte Seite der christlichen Entwick-
lung, er vereinigte Freiheit und Einheit, er war Gememschaft
ohne Unterdriickung, er verkorperte die Wahrheit und Not-
wendigkeit iibernationaler Menschheitsinteressen, — das neue
Reich hmgegen ist ganz dem heidnischen Geiste entsprungen,
desfriedlichen Verkehrs, so hat sich auch die wissenschaftliche Politik nur der
gewalttatigen und listigen Seite des Staatenverkehrs zugewendet. Hier hat
unleugbar die Wissenschaft noch eineschwere Schuld zu bezahlen.“ Ency-
clopad. d. Staatsw. 859.
6
Fr. W'. Foerster ♦ Der
Weg
namlich dem rein national egoiftifcfi en Ondividualismus, der
seit der Renaissance von dem po(i1if<fien ^DenHen der tJRenfcfi"
fieit Besitz ergriffen hat, der in Bismarck seinen genialen und
konsequentesten Praktiker gefunden hat, und der unaufhaltsam
zu einer Katastrophe treiben mufite, — wie alies in der Welt,
was gegen den Geist der christlichen Wahrheit zu wirken und
zu organisieren sucht.
DaB gerade Deutschland jahrhundertelang der Trager fode-
ralistischer Organisation war, hing aufs engste mit dem deut-
schen Wesen zusammen, in dem ein leidenschaftlicher Unab-
hangigkeitssinn mit einem ebenso starken Drange nach freier
Assoziation zusammen besteht. Nur auf Grund dieser beiden
Grundkrafte vermochte das alte Deutschtum die eigenartige
Lebensform hervorzubringen, die ihm die politische Symbiose
mit ganz andern nationalen Gruppen moglich und seine Ver-
fassung uberhaupt zu einem Symbol kommender Kulturgemein-
schaft der Volker machte. Im Auslande hat man diese uni-
versalistische Bedeutung Deutschlands friiher erkannt, als in
Deutschland selbst. Schon der Franzose St. Pierre berief sich
in seinem „Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe"
auf das Vorbild des Deutschen Reiches, in dem so viele Staaten
zu einem Ganzen verbunden seien. Uberhaupt muBten von
jeher alle Schriftsteller, die ernstlich iiber die Bedmgungen eines
Friedenssystems nachdachten, unausweichlich auf die Idee einer
grofien Foderation kommen. Denn der bloBe FriedensschluB ist
ja keine Garantie fur den Frieden. Die Unzulanglichkeit des
Haager Tribunals liegt ja auch darin, daB der foderative Unter-
bau und damit die eigentlichen volkerrechtlichen Grundlagen
fehlen: Eine fosiafe Institution ist auf ein Ganzes von lauter
durchaus individualistisch gerichteten Einheiten aufgepfropft .
Schon Kant behauptete in seinem ..Traktat zum ewigen Frie-
den" : „Die Zusammenstimmung der Politik mit der Moral ist
nur in einem foderativen Verein moglich." Und er war iiber-
zeugt, daB das Volkerrecht auf einen ,,Foderalismus freier
Staaten" begriindet sein miisse. Und hangt es nicht auch mit
dem foderativen Charakter des alten Deutschlands zusammen.
7
Fr. W. Foerster * Der Weg
daB die modeme Volkerrechtswissenschaft von Deutschland aus-
ging?
Die Theorien und praktischen Vorschlage von Frantz sind
gewifi nicht alle annehmbar. Manche seiner Auffassungen iiber
konfessionelle Fragen werden berechtigtem Widerspruch begeg-
nen, auch wenn man seiner Ansicht beipflichtet, daB Deutsch-
land fur das friedliche Nebeneinander der Konfessionen die
gleiche Vorarbeit und Weltarbeit zu leisten habe, die ihm auf
volkerpolitischem Gebiete durch seine besonderen Gaben und
durch den Geist seiner Geschichte auferlegt sind. Von hoher
Bedeutung fiir die politische Bildung des neuen Deutschlands
ist es jedenfalls, daB man grlindlich von Frantz’ deutscher Ge-
schichtsphilosophie und von seinen Gedanken iiber National-
staat, Zentralismus und Foderalismus lemt. Was er als die
Grundfehler der Jahre 1 866 und 1 87 1 bezeichnet, das kann aller-
dings heute nicht mehr in dem Sinne riickgangig gemacht wer-
den, wie er es vor dreifiig Jahren noch fiir moglich hielt. Wohl
aber werden die schwierigen Aufgaben unserer neuen Welt-
stellung uns ganz von selbst in die Richtung treiben, von der
wir durch die starke nationale Konzentration abgedrangt worden
sind. Die Welt verlangt heute ebenso Ieidenschaftlich nach
Differenzierung und Freiheit, wie nach Einordnung und Organi-
sation. Man ist reifer geworden fiir Einheit und Disziplin, aber
explosiver als je gegen alles reglementierende Machtwesen. Ein
Staatswesen, das damit nicht rechnen wollte, ware dem Unter-
gang geweiht ... — Auf den weltorganisatorischen, wahrhaft
sozialen Geist kommt es an, von dem wir abgefallen sind und
den wir wiedergewinnen miissen. Ahnlich wie die Kunst der
Glasmalerei verloren ging und hinterher erst wieder entdeckt
werden mufite, so muB die deutsche Wissenschaft sich erst
wieder zur wahren Reichsidee erheben und mit ihr das allge-
meine Bewufitsein durchdringen. Es mufi klargemacht werden,
daB der neuere Nationalkrampf, von dem wir seit den groBen
Erfolgen besessen sind, eine franzosische Infektion ist, die uns
gar nicht ansteht, ja die infolge unserer Schwere und Griindlich-
keit noch haBlicher wirkt als driiben; wir sind dadurch gerade
2i Voi. rn/2
Fr. IV. Foerster ♦ Der Weg
8
m dem gelahmt worden, was unsere Nationalisten so leiden-
schaftlich erstreben, namlich in der Expansion deutschen Ein-
flusses iiber unsere Stammesgenossen hinaus ; die einseitig natio-
nal Konzentration und Zentralisation hat in unserem Volks-
leben und in unseren Beziehungen nach aufien eben jenes fede-
rative Prinzip verdrangt, das dem Prinzip der Zentralisation in
alien komplizierteren Aufgaben so unendlich iiberlegen ist, —
weil es eine Synthese zwischen zwei gleicb starken Lebens-
machten, zwischen Organisation und Selbstandigkeit ist.
Von all diesen Gesichtspunkten und Perspektiven aus er-
kennt man auch deutlich den Kern von Recht und zugleich den
phantastischen Nonsens in der alldeutschen Propaganda. Hinter
den besten Vertretern dieser Sache steckte die richtige Ahnung,
daB Deutschland weit iiber seine jetzigen Grenzen hinaus welt-
organisatorisch wirken miisse. In dieser Beziehung standen sie
dem alten germanischen Geiste naher, als die blofi national-ge-
sinnten Kleindeutschen. Sie entfernten sich aber wiederum weit
von diesem Geiste und gerieten in vollig lebensfremde Utopien
dadurch, daB sie diese Weltaufgabe durch nationale Expansion
und Aufsaugung angrenzender Kulturen und Nationalitaten er-
fiillen zu konnen glaubten. Sie sahen nicht, daB auch hier nur
derjenige wahrhaft herrscht, der zu dienen entschlossen ist. Sie
verkannten, dafi in einer Zeit, in welcher der Respekt vor der
Individualist so sehr im Mittelpunkt der ganzen Kultur steht
und so sehr alle Lebensordnungen durchdnngt, wie es in der
Gegenwart der Fall ist, die Volker sich nicht mehr durch bloBe
Unterwerfung organisieren lassen. Eine dauerhafte Weltwirk-
samkeit kann heute nicht mehr durch Imperium, sondern nur
durch weltorganisatorische Zusammenfassung autonomerVolker-
individualitaten begriindet werden. So gilt auch fur das Volker-
leben in geheimnisvollem Sinne das Wort Christi: „Wer von
euch den anderen dient, der wird der GroBte unter euch sein!“
Wird die deutsche Nation einmal in diesem Sinne wieder die
eigentliche Tragerin intemationaler Kultur, die Basis fiir die
Entwicklung des Volkerrechtes, so wird das auch fiir alle ihre
inneren Lebensordnungen von unberechenbarem Segen werden.
9
Ft, W. Foerstcr * Der
Es gibt gar keine fruchtbarere Expansion, als die Expansion des
Rechtsgedankens iiber die nationalen Schranken hinaus. Das
Volkerrecht erst ist die wahre Sanktion und Befestigung der
Rechtsidee iiberhaupt, so wie anderseits die Anarchie in den
intemationalen Beziehungen auch die Kraft und Sicherheit des
innerstaatlichen Rechtslebens unablassig lahmt und in Frage
stellt. Frantz nennt in diesem Sinne das Volkerrecht ,,die Krone
alles Rechtes, woraus alles andere Recht erst sein voiles Licht
erhalt“. Und er will nur diejenige Politik als wahrhaft groB
gelten lassen, die solche iibernationalen Horizonte im Auge hat.
„Das macht eine Nation noch nicht groB, daB sie eine grofie
Armee schafft und ihre Nachbarn niederschlagt, sondem wahr-
haft groB macht sie erst, dafi sie sich hohe Ziele setzt, und nur
was aus dem Streben danach entspringt, das sind die wahrhaft
groBen Taten.“
Von diesen Gesichtspunkten aus ist es wahrhaft erstaunlich,
wie das deutsche Volk, das auf so groBen T raditionen der Welt-
arbeit steht, es vier Jahrzehnte hat ertragen konnen, in bezug
auf die GroBe seiner Gesamtziele derartig auf Hungerration ge-
setzt zu sein. Viel deutsche Unruhe und MiBstimmung mag
ihre eigentliche Ursache in dieser Erbarmlichkeit der nationalen
Horizonte gehabt haben, viel alldeutsches Sehnen ist sicherlich
aus dieser deutschen Entbehrung entsprungen, und viele
Deutsche haben den Krieg zweifellos auch als endliche Befreiung
aus dieser Enge begriiBt, haben darauf gehofft — so paradox
es scheint — , daB gerade auf den Schlachtfeldem ein groBeres
Programm intemationaler Volkerkultur beschlossen werden
wiirde. Die gahnende Langeweile der bloBen Nationalinteressen
und ewigen gegenseitigen Bedrohung dieser beschrankten Inter-
essen war jedenfalls nicht mehr zu ertragen . . .
Es ist unglaublich, was man in dieser Beziehung der deutschen
Schuljugend an manchen Zentren des Nationalismus zugemutet
hat. Als ob das unablassige larmende Karussellfahren um die
Wiirde und Herrlichkeit der eigenen Nation irgendeinen bilden-
den Wert habe und nicht vielmehr die Seele veroden miisse, trotz
aller Romantik, mit der man die Kahlheit dieses nationalen Ich-
10
Fr. W. Foerster * Der Weg
kultus verhiillt hat. Wer die deutsche Jugend der jtingsten
Generation beobachtet hat, der weifi, wiesehr sie innerlich diesen
Dingen fremd geworden war und wie sehr sie nach grofieren
Horizonten fur ihren Enthusiasmus diirstete. Man kann sagen :
diese Jugend war aus innerster Revolte gegen das Nationaltreiben
wieder mehr wahrhaft deutsch geworden und weniger patrio-
tisch-national. Fur grofie Opfer und wahres Heldentum im
Leben ist das die allein gesunde Basis. So, wie „Personlichkeit“
nicht durch ewiges Reden vom Ich und Sichbesinnen auf das
Ich, sondem durch das Gegenteil davon erzeugt wird, so kann
auch wahre Volksliebe nicht durch unablassige nationale Selbst-
bewunderung gesichert werden, vielmehr lernt man sein Deutsch-
land lieben dadurch, dafi man ganz schlicht angeleitet wird, im
altesten, besten Sinne deutsch zu sein, — dazu gehort eben vor
allem erne Einfiihrung in den tiefgegriindeten internationalen
Beruf des deutschen Volkes, der doch das unzweideutige Ver-
machtnis seiner ganzen Kulturgeschichte ist. Fur die hohere
staatsbilrgerliche Erziehung der reiferen Jugend, fur die Er-
weckung jener volkerverbindenden Tradition ware kein Autor
so geeignet, wie gerade Frantz. Bei ihm konnte unsere Jugend
lernen, in politischen Dingen wahrhaft deutsch zu denken. Wie
wenig hingegen kann sie dies aus der abstrakten Staatsphilo-
sophie Fichtes und Hegels lernen. Da ist iiberall nur vom iso-
lierten Staat und nirgends von Weltkultur und Volkergemeinschaft
die Rede. Wir, das Volk der Denker, leiden geradezu schweren
Mangel an hohen und zugleich konkreten Gedanken iiber den
nationalen Beruf des deutschen Volkes in der Weltpolitik. Da
werden unsem jungen Leuten immer wieder Fichtes Reden an die
deutsche Nation empfohlen. Und jeder redet sich aufs neue ein —
nicht selten, ohne diese Reden wirklich durchgelesen zu haben — ,
dafi sie wirklich herrlich und begeistemd seien. Hat denn aber
niemand den Mut, einmal offen zu sagen, dafi die Grofie Fichtes
als Denker und Personlichkeit ganzlich aufierhalb dieser Reden
liegt, und dafi sie ein ganz erstaunlich leeres, breites und phrasen-
haftes Gerede sind, ohne alle klaren und leuchtenden Direktiven
fiir den personlichen und nationalen Willen?
II
Die Vertiefung in die intemationale Weltaufgabe Deutsch-
lands, in ihre geschichtlichen Wurzein und Voraussetzungen, in
ihre geistigen und sittiichen Erfordemisse wird die ganze poli-
tische und soziale Bildung unserer Jugend auf eine hohere Stufe
heben und alle dem Ideal zugewandten jungen Seelen machtig
ergreifen. Und nur ein durch diese Gedanken gelautertes und
erzogenes Deutschland wird wirksam an der Lauterung der
Welt arbeiten konnen. In den Kriegsmonaten hat man bis zum
Uberdrufi lesen und horen konnen, daB „am deutschen Wesen“
noch einmal „die Welt genesen“ solle. Wie gar wenige von
denen, die ihre Reden und Aufsatze mit dieser VerheiBung ge-
schlossen haben, konnen von sich sagen, daB sie wirklich in der
alten deutschen Tonart geredet haben, auf die sich jenes Dichter-
wort allein bezieht und durch die es allein Sinn erhalt, wie viele
haben vielmehr gerade die Tonart gewahlt, an der die Welt krank
geworden ist, die Tonart der herrischen Selbstsicherheit, der
nationalen Einbildung, des einseitigen Glaubens an Blut und
Eisen ! Moge die neue Jugend hier grundlich Wandel schaffen !“
Man vergleiche nun mit den hier zitierten Absatzen (ein deut-
scher Hauptmann schreibt in der Allg. Rundschau Nr. 27, der
ganze Artikel sei aus „einwandfreiester deutscher Gesinnung“
hervorgegangen) die herausgerissenen Satze und Worte der im
Mai d. J. durch die nationalistische Presse verbreiteten Hetz-
artikel .
Am meisten ist die Publikation meines Aufsatzes in der in der
Schweiz erscheinenden Friedenswarte beanstandet worden —
auch von guten Freunden. Ich glaube sagen zu diirfen, daB hier
nur der Schein gegen mich spricht. Die Friedenswarte erscheint
zwar in Zurich, hat aber die weitaus groBte Zahl ihrer Abon-
nenten in Deutschland und Osterreich, wurde auch in besonders
groBem MaBstabe an die deutschen Universitaten verschickt.
Hatte ich meinen Artikel in einer groBeren reichsdeutschen Zeit-
schrift veroffentlicht, so ware er im Ausland weit mehr beachtet
worden als in der Friedenswarte. Man kann geradezu sagen:
Wer seinen Landsleuten etwas sagen will, das vom Ausland mog-
lichst wenig bemerkt werden soil, der tut am besten, in die
12
Fr. W. Foerster ♦ Der Weg
Friedenswarte zu schreiben. Da mir da ran lag, die pazifistische
Bewegung durch Hinweis auf Konstantin Frantz vertiefen zu
helfen, so war es natiirlich schon darum angebracht, in das
Hauptorgan dieser Bewegung zu schreiben. DaB mein Artikel,
der sich ja nicht im geringsten mit Kriegszielen, Friedenspropa-
ganda und militarischen Angelegenheiten befafit, nicht gegen die
Zensurbestimmungen verstofit, ist ja durch den Abdruck in einer
norddeutschen Tageszeitung klargestellt.
Zur Rechtfertigung gegen die iibrigen Bedenken betreffend
die Zeit der Publikation stelle ich im folgenden die Hauptabsatze
meiner darauf beziiglichen offentlichen Erklarungen zusammen,
aus denen ich alle diejenigen Satze fortgelassen habe, die sich
auf die Aktion der Fakultat gegen mich beziehen :
AUS EINER ERKLARUNC
IN DER VOSSISCHEN ZEITUNG Nr. 300
Ich soli ..die deutschen Stamme gegeneinander aufgehetzt
haben“. Meine ganze Lehrtatigkeit und meine schriftstellerische
Tatigkeit ist stets auf das Gegenteil gerichtet gewesen. In
meinen Vorlesungen iiber politische Padagogik habe ich nach-
driickhch gerade vor einem siiddeutschen Publikum die groBen
Seiten der preuBischen Staatspadagogik hervorgehoben — das
betreffende Kapitel meiner ..staatsblirgerhchen Erziehung"
wurde seinerzeit von der freikonservativen „Post“ als Leitartikel
abgedruckt, diirfte also nicht preufienfeindlich gewesen sein.
Wir stehen aber jetzt vor der dringenden Aufgabe, die uns durch
die kommenden weltorganisatorischen Probleme nahegebracht
wird, die groBen Einseitigkeiten des groBen preuBischen Geistes
durch Ve. tiefung in alte ethische und weltorganisatorische Ver-
machtnisse der deutschen Tradition zu erganzen. Nur in diesem
universelleren Rahmen sind die preuBischen Gaben der unge-
heuren Kompliziertheit der kommenden Volkerfragen gewachsen
und konnen sich segensreich entfalten.
Der klassische Mahner und Philosoph fiir diese Aufgabe ist
aber Konstantin Frantz, den Richard Wagner als wahrhaft deut-
13
Ft. W. Foerster ♦ Der We*
schen politischen Denker gefeiert hat, und dessen Hauptwerk
die , .Deutsche Weltpolitik“ und die „Grenzen der preuBischen
Intelligenz“ sind, in denen er die groBen foderativen Traditionen
des alten Deutschtums als regulatives Prinzip deutscher Welt-
politik nach innen und auBen wieder zu beleben sucht, ohne
Vergangenes einfach wiederherstellen zu wollen. Ich bin selber
PreuBe und stolz auf die groBe mannliche Seite des PreuBen-
tums, die groBe Motorkraft des geordneten Willens, die durch
das preufiische Wesen in die Kulturarbeit eingesetzt wird. Aber
nur der vermag seine ganze Starke zu fiihlen und weise zu be-
nutzen, der auch seine Schwache von Grund aus erkennt und
sich gegen deren Gefahren sichert. Durch Selbsterkenntnis
allein schiitzt man die eigene Starke vor zerstorenden Gegen-
wirkungen. Wir PreuBen sollten den mannlichen Mut haben,
uns zu sagen, daB ein Grund fiir die explosive Abneigung der
iibrigen Kulturwelt gegen uns wohl auch in gewissen abstoBen-
den Harten unseres Auftretens und in mangelnder Kunst der
Menschenbehandlung liegt . . . Man erkannte nicht, daB der
Mensch sich viel Imperium gefallen lafit, wenn man ihn nicht
1m kleinen schikaniert. Die Mahnung, daB wir hier von Grund
aus umlernen miissen (gerade auch unsere jungen Beamten), darf
mcht erst nach dem Kriege ausgesprochen werden, nein, gerade
jetzt muB sie Iaut erhoben werden, denn eben jetzt miissen wir
uns in die ganz neuen mitteleuropaischen Aufgaben hinein-
denken. Darauf zielte mein so stark angegriffener Artikel in der
Friedenswarte (deren weitaus meisten Abonnenten in Deutsch-
land leben), worin ich eben ein Referat und einen Kommentar
zu Frantz’ Hinweisen auf die ethischen Vermachtnisse des alten
deutschen politischen Geistes gegeben habe. Man mag meine
dort ausgesprochenen Ansichten stark bekampfen. Ich lasse mir
aber das patriotische Recht zu solchen Mahnungen nicht ab-
sprechen; es ist wahrlich die Stunde gekommen fiir jedes der
kriegfiihrenden Volker, nicht immer bloB nach aufien hin zu
schelten, sondern die Ursachen fiir die furchtbare Not der Gegen-
wart auch einmal bei sich selbst zu suchen.
14
ANSPRACHE AN DIE UNIVERSITATSHORER
„Meine Damen und Herren ! Sie werden mir gewiB glauben,
daB es nicht gerade ein Vergniigen ist, in grofien Krisen des
nationalen Schicksals ganz isoliert dazustehen, auch von vielen
hochgeachteten Kollegen scharf getrennt zu sein. Els ist zweifel-
los, daB unter den Bismarck-GIaubigen viele der Allerbesten
unseres Volkes sind, und es ist mir ein aufrichtiger Schmerz,
daB ich diese Volksgenossen in dem, was ihnen heilig ist, durch
meine Kritik schwer verletzen muB. Das ist aber nun einmal
ein geistiges Schicksal, dem ich nicht entrinnen kann, denn seit
Beginn meiner Universitatslaufbahn habe ich mich mit keinem
Problem intensiver beschaftigt, als mit dem Problem : Politik und
Moral; dabei bin ich eben durch Studium und Weltbeobachtung
im Ausland und Inland zum radikalen Gegner der Tradition
Bismarck-Treitschke geworden, bei aller Wiirdigung der person-
lichen GroBe und Tragik in dieser Tradition. Ich glaube fest,
daB wir unseren kommenden mitteleuropaischen Aufgaben und
unseren Weltaufgaben nur in dem Mafie gewachsen sein werden,
als wir weit iiber diese Tradition hinausschreiten, genau so, wie
auch die anderen Volker sich von ihren machtpolitischen Tradi-
tionen losen miissen, wenn Europa nicht in Wut und Blut unter-
gehen soil. DaB nun andere durch solche Absichten verletzt
werden, das darf wohl an einer Statte, die der Wahrheitserkennt-
nis gewidmet sein soil, kein Grund des Schweigens sein. Auch
im Kriege, denn wir miissen durchaus heute schon mit der Vor-
bereitung auf das Kommende beginnen, mit dem Durchdenken
all der neuen politischen Probleme, die uns dann gestellt werden ;
genau so, wie ja auch die Diskussion iiber Mitteleuropa schon
jetzt entbrennen mufite; wir konnen das alles nicht bis nach dem
Kriege vertagen. Aus dieser Erwagung heraus stammen meine
gewiB sehr radikalen Beitrage zur Frage unserer politischen Neu-
orientierung, zur Revision gewisser Dogmen unseres politischen
Credo. Gerade in dieser unserer Zeit scheint es mir drmgend,
dafi ein Element in der deutschen Seele, das in den Jahrzehnten
des grofien auBeren Erfolges in den Hintergrund gedrangt ist.
Ff. W. Foerster * Der
jetzt wieder in die Oberwelt der Seelen emporsteigt ; nur an
diesem Element kann die Welt genesen. Wenn Sie den betreffen-
den Artikel in der Friedenswarte lesen, so mag er noch so sehr
den Vorstellungen widersprechen, in denen Sie aufgewachsen
sind, Sie werden doch fiihlen, daB er aus deutscher Seele stammt,
aus Liebe zum deutschen Wesen und seiner Weltmission; und
niemand hat das Recht, mir Mangel an Vaterlandsliebe vorzu-
werfen, weil ich eine andere Ansicht vom Heil des Vaterlandes
habe, als er. Man redet von der Liebe, die den Tod iiberwindet,
groBer noch ist wohl die Liebe, die es auf sich nimmt, von dem,
den sie liebt, als Feind betrachtet zu werden, weil sie ihm schwere
Schmerzen und harten Widerspruch zufiigen muB. So gibt es
auch eine Vaterlandsliebe, bei der man es ruhig auf sich nimmt,
als vaterlandslos zu erscheinen, weil man der Tagesstimmung
schmerzlich und unbegreiflich widersprechen muB, da man zu
einer anderen Ansicht gekommen ist von dem, was dem eigenen
Volke not tut. Wenn es heute scheinen mag, als wollten die
Universitaten aufhoren, ein Asyl auch fur solche Art von kriti-
schem Denken zu sein, so mag an die Zeit erinnert werden, wo
das schwarz-rot-goldene Denken dem Partikularismus als Lan-
des verrat erschien. Genau so erscheint es heute dem nationalen
Denken der alten Schule als unpatriotisch, wenn man laut darauf
hinweist, daB doch der ganze Weltkrieg es drohnend der Kultur-
welt verkiindigt, daB wir alle aus dem bloBen Nationalegoismus
heraus miissen, daB die nationale Gemeinschaft, bei all ihrer un-
ersetzlichen sittlichen und sozialpadagogischen Bedeutung, doch
auch nur ein Partikulares ist gegeniiber der kommenden euro-
paischen Kulturordnung, an deren Herausgestaltung wir jetzt
mit jedem Gedanken und jedem Worte arbeiten miissen. Und
diejenigen, die jetzt mit xiberlegenen Mienen und mit Denun-
ziationen diesem neuen deutschen Streben entgegentreten , das
zugleich das alteste und beste deutsche Streben ist, das aller-
deutscheste Streben, sie werden von den kiinftigen Geschlech-
tern genau so beurteilt werden wie diejenigen, die dam als die
neuen schwarz-rot-goldenen Horizonte verspottet und ihre Ver-
kiindiger verfolgt haben.
I
16
Fr. W. Foerster • Der Weg
Den traurigsten Eindruck in dieser Angelegenheit hat mir die
Technik der Entstellung und Verfalschung gemacht, die man in
einem grofien Teil der nationalistischen Presse fur erlaubt halt.
Wenn z. B. von Miinchen aus ein Drahtbericht an die ganze
deutsche Presse ging, ich hatte ein Flugblatt zur „Verhetzung
der deutschen Stamme“ verfaBt und in der Universitat ver-
breitet, so ist man solchem GroBbetrieb an Verleumdung gegen-
iiber einfach wehrlos. Ich erwahne dieses nur, weil es fur die
publizistische Moral gewisser national krankhaft erhitzter Kreise
charakteristisch ist. Im Ubrigen ist es fur jeden in der Offent-
lichkeit wirkenden Menschen, der nach auBen hin doch immer
besser erscheint als er wirklich ist, zweifellos nur hochst wohl-
tatig, ab und zu einmal griindlich mit MiBachtung und Be-
schimpfung iibergossen zu werden.
Psychologisch mteressant ist es wohl, daB die allerlebhaftesten
Zustimmungen gerade in Feldpostbriefen kommen. Heute
schreibt mir ein deutscher Offizier: „Ja, iiberall sollen sich
Manner erheben, die es in die Welt hinausrufen, daB Europa
aus diesem verrannten Wahnsinn sich nicht herausfindet, wenn
es nicht lernt, ganz neu zu denken, wenn es sich nicht aufrafft
zu der niichternen Kritik: Was ist falsch gemacht worden im
Leben Europas, daB dieser ungeheure Schaden fiir die Mensch-
heit entstehen konnte?“ Und ein Oberlehrer, der als Offizier
seit Begmn des Krieges im Felde steht, schreibt mir : „Ich habe
in Flandern das Eiseme Kreuz I. Klasse erhalten, das freut mich
ganz besonders deshalb, weil ich nun, ohne dafl mich jemand
des mangelnden Patriotismus zeihen kann, meinem Willen zur
Emeuerung der internationalen Kulturideale nach dem Kriege
Ausdruck geben kann.“ Dafi solche Kundgebungen gerade von
der Front kommen, das ist ja nur zu begreiflich, denn welchen
verniinftigen Sinn hatte all dies Grauen und Leiden, wenn man
sich nicht sagen und geloben diirfte, daB daraus eine gelauterte
Welt, ein neues Europa hervorgehen soil, in dem die Wiederkehr
solcher Dinge von Grund aus ausgeschlossen ist. Diese Neu-
ordnung der Dinge aber fallt uns nicht vom Himmel, wir miissen
ihre Atmosphare durch eigene innere Reinigung und Erhebung
Ft. W . Foerster ♦ Der Weg
17
schon heute vorbereiten. Es miissen groBmiitige und aufbauende
Worte allmahlich wie Tauben mit dem Olblatt von einem Lande
zum anderen fliegen. Diese Veredelung der Tonart, diese Be-
reitschaft zur Selbstkritik, statt der bloBen leidenschaftlichen
Anklage nach auBen — das ist noch weit wichtiger als alle
Friedensvorschlage. Fiir diese fehlt zurzeit noch die moralische
Atmosphare. Alle diejenigen, die zwar den Frieden hefbei-
wiinschen, aber keinen Anfang mit einer Anderung der inter-
nationalen Tonart machen wollen, sie scheinen wirklich anzu-
nehmen, der Krieg dauere bis 7 Uhr 10, und der Frieden fange
7 Uhr II an ; man sagt sich bis 7 Uhr 1 0 alle denkbaren Be-
schimpfungen und MiBachtung ins Gesicht; 7 Uhr 1 1 ist dann
plotzlich Friede. Diese Wunderglaubigen vergessen, das der
Friede verdient werden mufi, nicht nur durch Waffentaten, son-
dern auch durch jene stillen Taten der Selbstiiberwmdung, in
denen ein Volk sich auf seine eigenen Siinden, Fehler, Irrungen
besinnt und dadurch eine Atmosphare schafft, in der die starre
Selbstbehauptung sich losen und die Idee eines neuen Europas
praktische Kraft in den Seelen gewinnen kann. Kein einziger
grofier Streit auf Erden kann beigelegt werden, ohne daB jeder
der streitenden Teile sich fragt: Inwiefern bist auch du mit-
schuldig geworden und hast dich gegen Grundgesetze mensch-
licher Lebensgemeinschaft versiindigt? Erst in solcher Selbst-
priifung erhebt man sich iiber den Streit, iiber den Starrkrampf
der Rechthaberei, lost auch im anderen die gleichen Empfin-
dungen aus und befreit sich vom Fluch der eigenen Vergangen-
In den „Miinchner Neuesten Nachrichten“ (Nr. 330) hat Prof.
Dr. E. Marcks unter der Uberschrift : ..Deutsche Geschichte und
deutsche Zukunft“ einen langeren Artikel erscheinen lassen, der
sich mit meinem Aufsatze iiber ,,Bismarcks Werk im Lichte der
groBdeutschen Kritik“ auseinandersetzt. Eine eingehende Be-
antwortung der Marcksschen Argumentation muB auf die Zeit
nach Aufhebung der Zensur verschoben werden : Die entschei-
18
Fr. W. Foerster * Der
den den Griinde gegen die Haltbarkeit jener ganzen Betrach-
tungsweise konnen zurzeit nicht dargelegt werden. Im iibrigen :
Was auch die griindlichsten Beweisfiihrungen nicht vermogen,
das wird inzwischen der Weltkrieg selber besorgen — er wird
auch den hartnackigsten Anhangem des machtpolitischen Natio-
nalismus in alien Nationen von Grund aus die Augen dariiber
offnen, da6 die Fundamente dieser gefeierten politischen An-
schauungsweise langst nicht mehr den Tatsachen und Bediirf-
nissen des modemen Volkerlebens entsprechen und dafi sie alles
andere eher verdienen als den Namen ..Realpolitik . .
Ich glaube nicht, dafi diejenigen, denen mein Aufsatz zu Ge-
sicht gekommen ist, durch die Argumente befriedigt sein werden,
mit denen Herr Professor Marcks mich zu widerlegen sucht. Der
Hinweis auf das Elend des Deutschen Bundes kann die Tendenz
memer Darlegungen nicht treffen, denn auch mir kommt es nicht
auf eine einfache Wiederbelebung der Vergangenheit an; ich
entnehme der alten foderativen und iibernationalen Vergangen-
heit Deutschlands nur gleichsam ein „regulatives Prinzip“ fiir
das Kommende, ich glaube keineswegs, dafi wir im alten deut-
schen Bundeselend hatten steckenbleiben sollen, wohl aber, dafi
es besser gewesen ware fiir uns und fiir Europa, dafi jenedeutsche
Vergangenheit nicht so jah abgebrochen, sondem organisch
weiterentwickelt worden ware; das ware gewifi schwieriger ge-
wesen, als die einfachen, blutigen Losungen der Bismarckschen
Ara — aber wir hatten dann die ethische Fiihrung Europas be-
haiten, wir waren das Zentrum europaischer Organisation ge-
worden, so wie wir es einst waren und wie wir es als Zentralland
sem miissen. Deis hatte uns auch eine gesichertere Stellung ge-
geben, als es alle aufiere Macht der Welt vermag. Vergangenes
lafit sich nicht riickgangig machen, wohl aber kann und soli man
aus den Irrtiimern der Vergangenheit lernen, der einzelne soli
es und die Nation soil es; jetzt ist die Stunde fiir dieses Um-
lernen gekommen, fiir uns und fiir die anderen Volker; wehe
dem, der die Stunde verpafit ! Ich weifi bestimmt, dafi Tausende
in Deutschland ahnlich denken und dafi die kommenden Dinge
uns recht geben werden.
>•
19
Ft. W. Foerster • Der Weg
Herr Professor Marcks hat den schweren Vorwurf gegen mich
erhoben, dafi ich unseren Kampfern in den Riicken falle. Nun
— ich weiB aus zahireichen Briefen von der Front, dafi gerade
unsere Besten dort durchaus fur ein ganz neues Deutschland und
fur ein ganz neues Europa kampfen und nicht fiir ein Weiter-
bestehen des alten europaischen Elends, und dafi sie darum
durchaus auch eine ernste nationale Selbstkritik zu wiirdigen
wissen. Ich kann auf jenen Vorwurf am besten antworten, in-
dem ich aus den Feldpostbriefen, die mir anlafilich der ganzen
Angelegenheit zugegangen sind, folgende charakteristische
Stellen wiedergebe*) :
*
Vor Verdun.
. . Ihre Erklarung im Berliner Tageblatl hat auf mich wie eine Erlosung
gewirkt, daB endlich einmal ausgesprochen ist, wodurch allein ein dauemder,
keine der kriegfiihrenden Machte verletzender Friede geschlossen werden
kann. Ich wiinsche von ganzem Herzen, daB Ihre Worte in alien Landem
Europas Widerhall finden mogen und die Parole ,,UmIernen“ alle wahren
Patrioten sich zu Herzen nehmen, bis die Atmosphare geschaffen ist, in der
allein ein versohnender dauernder Friede gedeihen kann. Das ist ein Ziel, fur
das mir die vielen, vielen Kameraden nicht umsonst gestorben zu sein scheinen
und fiir das wir gerne weiterkampfen und, wenn es notig ist, auch freudig den
Tod erleiden wollen.
(gez.) H., Leutnant.
Vogesen.
. . . Ich glaube nun aus den Zeitungsnotizen so vie! entnehmen zu konnen,
daB ich Ihnen geeigneterweise die Gedanken anvertrauen kann, die wir (es
denkt mancher Kamerad wie ich) uns hier im Feld zusammengedacht haben.
Mehr intuitiv, als rechtlich erkannt. Nicht gemacht, um aktive Politik zu
treiben, wohl aber vielleicht wert, einem fiihrenden Manne anvertraut zu
werden. DaB sie nur aus vaterlandischer Gesinnung erwachsen sind, brauchen
wir unter Gleichgesinnten ja nicht zu sagen.
Ich denke nicht von Grund auf gegen den Krieg, gegen jeden Krieg. Ich
denke nicht gegen die Gewalt, gegen die militarische Gewalt. Sie wird wohl
noch auf lange Zeit die „ultima ratio** der Volker sein. Ich denke so: Neben
der militarischen Gewalt muB sich eine geistige Kraft formen aus dem Inner-
*) Die Originale stehen zur Verfiigung, natiirlich nur mit Unkenntlich-
machung der Unterschriften.
20
Ft. W. Foersier ♦ Der Weg
sten des Volkes heraus ; eine hohe, sittliche Kraft, mit weitem, freiem Blick.
Baut die erste Gewalt auf auf der brutalen Oberlegenheit, so miiBte die zweite
fundamentiert sein auf dem geistlich-sittlichen Boden, der das Heil unseres
Volkes und aller Volker in Frieden und Gesittung erstrebt. Der die Liebe
predigt fiir den HaB, der die Vorziige zeigt, statt die Fehler zu vergroBern.
Und diese Kraft mufi sich fest formen nach auBen hin im gemeinsamen Wirken
unserer besten Manner, sie muB sich durchsetzen in der Offentlichkeit und
aktiv an den Staatsgeschaften teilnehmen, zum mindesten gleichberechtigt
neben der bisher alleinberechtigten mihtarischen Macht. Und das nicht nur
bei uns, vielmehr gerade so oder noch mehr bei unsern Gegnern von heute.
Was diese geistige Kraft auBerlich binden soli, ein hohes ethisches Prinzip
oder ein Kultur-Ideal, das weiB ich nicht. Jedenfalls etwas Tiefergehendes
als Internationale oder pazifistische Foderationen, die zur Kriegsstunde wie
Schaum zerstoben. Das sind die unmafigeblichen Gedanken eines nicht-
politischen Soldaten; nur so bitte ich sie aufzunehmen.
Wir hier glauben nun, daB solche oder grundahnliche Gedanken auch in
einem grofien Teil unseres Volkes daheim leben (wir wissen es ja nicht, weil
wir nichts davon horen). Ja wir glauben, daB auch bei unsern Gegnern eine
solche Kraft lebendig ist. DaB sie aber niedergehalten und niedergeknebelt
wird, weil die herrschenden Klassen ihre Macht nicht aus der Hand geben,
ihren falschen Gedankengang nicht einsehen, ihr Unrecht nicht zugeben
wollen. Aber wir miissen umlernen, wir miissen iiber diese ,,Gewaltigen“
hinauswachsen. Und wir miissen da anfangen, heute noch. Und daB Sie,
verehrter Herr Professor, als erster so zu sprechen wagten, dafiir nehmen Sie
den Dank einiger Soldaten. Sie sind die erste sichtbare Form der neuen Kraft,
und so miissen Sie nun ertragen, daB viele zu Ihnen kommen. Weil sie einen
Weg suchen, aber noch keinen anderen Richtpunkt sehen. Wir wollen her-
auBen treulich und einfach unsere Soldaten pflicht weiter tun. Wir haben sie
immer getan fiir unsere deutsche Sache, weil wir immer den heiligen Glauben
hatten, dafi an ihr emmal die Welt genesen solle. Und nun soli sie erst recht
stark, innerlich stark werden neben der auBern Kraft. Und wir bitten Sie nun,
verehrter Herr Professor, und alle die daheim sind, in dem Sinne weiterzu-
arbeiten im Geiste des Friedens, eines hoheren Friedens, wurzelnd in einer
neuen Kraft . , .
(gez.) F. J. E., Vizewachtmeister.
Argonnen.
. . . Begeistert von den Gedanken, die Sie kiirzlich ausgesprochen haben,
und entriistet iiber die Beschimpfungen, die Ihnen zuteil geworden, freue ich
mich als Deutscher, daB gerade ein Deutscher der Welt den Weg gewiesen hat,
auf dem sie allein vorwarts kommen kann . . .
(gez.) Ltn. H., Feldflieger.
Ft. W. Foerster ♦ Der Weg
21
Vor Verdun.
... So viel darf ich von mir und meinen Leuten bekennen : Wenn wir nicht
den unerschiitterlichen Glauben batten, dafi es einstens moglich sein wird, daB
die Menschheit sich ohne diese kulturwidrigen Greuel weiter entwickelt, so
hatten wir kaum die Kraft, all das Schwere, das uns und die Unsern schon
betroffen hat oder das uns noch bevorsteht, in Rube und mit Gleichmut aus-
zubalten . . . Wer vom sichem Scbreibstubl aus, fern von den Greueln des
Krieges, Loblieder auf den Krieg als etwas fiir immer Unentbehrliches singt,
dem wiinsche icb nur eine der Nachte, die wir bier durchleben.
(gez.) H., Amtsrichter und Lt. d. L.
Im Westen.
. . . Icb babe oft mit Dr. G. iiber die Affare F. gesprochen und wir sind da
ganz gleicber Ansicht: namlich, dafi wir jede seiner Aufierungen obne Be-
denken unterscbreiben wiirden. Oft haben wir ahnliche Gedanken scbon ent-
wickelt . . . Eine grofie Befriedigung war es uns daher, langst gehegte und
empfundene Gedanken aus dem Munde eines F. in konkreter Form zu horen.
Das Umlernen in der Politik ist das wichtigste. Alles vom Standpunkt des
20. Jbd. aus betrachten, sich bewufit sein der uralten Kultur und offen die
vielen Febler anerkennen, die in der Vergangenbeit gemacht wurden, und diese
durcb Werke des Friedens gutzumachen, das ware Aufgabe jedes einzelnen
Staates. Wenn das jeder Staat befolgen wiirde, dann ware „der ewige Friede"
im Zeicben unseres Jahrhunderts noch moglich, was fur Kant vom Stand-
punkt seiner Zeit und seiner Menschen eine Utopie war . . .
. . . Mochte nur das Umlernen und das langsame Hineindenken in das neue
zukiinftige Europa recht rasch erfolgen, das ware hier draufien unser aller-
sehnlichster Wunscb, besonders gerade jetzt, wo wir das ununterbrocbene
Trommelfeuer von der Front her horen, da passen diese Betrachtungen am
besten.
Im Feld, Anfang Juli 16.
(gez.) Dr. H.
Osten.
. . . Aufrichtig danke ich Ihnen fiir Ihr Eintreten dafiir, dafi aucb im offent-
lichen und poiitischen Leben Recht und Moral als oberste Richtschnur und
Grundlage angeseben werden miissen. Wenn diese Anschauung Gemeingut
unseres lieben deutscben Volkes wiirde, so ware dies der schonste Erfolg dieses
blutigen Volkerringens. Dazu beizutragen, ist besonders Aufgabe der Daheim-
gebliebenen . . .
(gez.) F. D.
OV/V/
22
Feuerstellung, Batterie im Westen.
. . . Es ist mir eine Freude und grofite Genugtuung, Ihnen die Zustimmung
weiter Kreise auch bei uns aussprechen zu konnen. Es ist ja wohl kaum notig,
daB ich meine Bitte ausspreche, auf dem von Ihnen eingeschlagenen Wege
unentwegt weiterzugehen. Gerade wir hier drauBen, die mit offenen Augen
zu sehen gezwungen sind, wissen es zu schatzen, dafi daheim G. s. D. doch
noch Manner sind, die sich einen klaren Blick bewahrten und die iiber die
Engherzigkeit der Stunde erhaben sind, Darum gerade hierin durchhalten
gegen alle Anfechtungen, woher sie auch kommen mogen.
Das Interesse fur Ihre Ausfiihrungen ist hier nicht nur bei Gebildeten,
sondern auch in gleichem MaBe — noch mehr beim einfachen Mann sehr groB.
Der einfache Soldat, der frei ist von den anerzogenen und angelehrten und
gelehrten Vorurteilen unsrer bisherigen Geschichtsauffassung und Politik,
weiB den Wert Ihrer Gedankengange besser zu wiirdigen, als man anzunehmen
versucht ist,
Wenn man, wie ich, beinahe 19 Monate die Wut und Wucht des Krieges
aus der Nahe kennen gelernt hat, freut man sich, wenn man sieht, daB man
daheim doch noch nicht vergessen hat, daB es auch noch bessere Siege zu er-
kampfen gibt, als die mit Blut und Eisen errungenen.
Seien Sie unserer regen Anteilnahme und unserer, leider vorlaufig ia nur
mehr passiven Unterstutzung Ihrer Plane und Idecn versichert.
Lassen Sie nicht nachl Die Leute, die Ihnen entgegenarbeiten, ha ben ja
auch nicht die geringste Ahnung, wie man hier drauBen allgemein denkt. Wo-
her auch? Der Offizier und Reserveoffizier kann ja schon aus dem Grunde
sich kein richtiges Urteil bilden, weil ihm der einzelne Mann als Untergebener
ja nie oder hochst selten Einblick in sein Denken ermoglicht.
Ich habe als Kriegsfreiwilliger jetzt nahezu zwei Jahre, davon 18 Monate
im Felde, als Kamerad mit Leuten aus alien Volksschichten zusammengelebt
und glaube darum, mir wohl ein Urteil erlauben zu diirfen.
Darum bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Prof., lassen Sie sich durch nichts
irre machen in der Vertretung Ihrer in der letzten Zeit bekannt gewordenen
Anschauungen ; rari nantes in gurgite vasto, dazu gehoren Sie einstweilen noch,
aber Ihren Ideen gehort die Zukunft.
(gcz)
Vor Verdun.
. . . Wenn die Menschheit weiter organisiert werden soli, so miissen die
Nationalindividuen auch opfern konnen, um eine htthere Lebensform zu
bilden, wie es stets Gesetz gewesen ist in der Geschichte der organischen
Natur, dafi die Individuen einen Teil ihres Selbst opferten (nicht ihre ganze
Existenz), um ein hoheres Leben zu gewinnen. Da erscheinen uns in ihrer
ganzen Kraft und Wahrheit die Worte Christi: „Ich bin der Weg, die Wahr-
>■
Fr. W. Foerster ♦ Der Weg
23
heit undi das Leben** und „Was niitzt es dem Menschen, wenn er die ganze
Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele ?“
Wer sich nicht einfiigt in den Bau urn den Eckstein Christ!, wird keinen
Teil haben am hoheren Leben und zugrunde gehen.
Es ist ganz falsch, Ihre Stellungnahme zum Krieg und zur europaischen
Politik als antinational zu bezeichnen; diejenigen, die das tun, lessen nur er-
kennen, daB ihnen Ihre Anschauungen ganzlich unbekannt sind. Einem jeden
Menschen drang' sich jetzt wohl angesichts der Greuel der Gedanke auf : In
welcher Beziehung steht das alles zum Christentum? Und da ist es wahrlich
kein Verbrechen, wenn einmal dieser Gedanke von berufener Stelle in seine
Konsequenzen verfolgt wird. Wenn ich mit jemand Streit habe, so muB ich
um zum Frieden zu kommen, mit der Kritik bei mir selbst beginnen (wobei
der andere sehr wohl in viel grofierem Unrecht stecken kann als ich). Aber
beide konnen sich aus der Befangenheit in ihrem Ich nur erlosen um eines
gemeinsamen Hoheren willen. Es ist so kein Verrat an mir selbst und meiner
Sache, wenn ich zunachst sorgfaltig mein Gewissen erforsche. Und daB sich
in unserem Vaterland dieses Gewissen zuerst meldet. wie es jetzt durch Sie
geschieht, trotz so groBer Schwierigkeiten, das rechnen wir uns zur nationalen
Eh re an. Mit vorziiglicher Hochachtung
Dr. S., Stabsarzt.
(g
ez
Westen.
. . . Ihre Auffassung von Deutschlands Mission, von Bismarckscher Politik,
das ist ja so meine seit Jahrzehnten selbst geschopfte Oberzeugung, daB ich
nur Gott bitte, er wolle mich den Krieg iiberleben lassen, damit ich einmal
das Gluck habe, mit Ihnen liber diese Punkte zu sprechen . . .
• . .Oberst und Regimentskommandeur.
»
Das ganz Eigenartige und Ergreifende in all diesen Briefen
liegt zweifellos dann, daB aus ihnen keinerlei personliche Kriegs-
miidigkeit und Schwache spricht, im Gegenteil, die Verfasser
gehoren mit ganzer Seele der Pflicht an, die ihnen innerhalb
dieser Welttragodie auferlegt ist, sie sprechen auch kemeswegs
die Sprache des sogenannten „Pazifismus“ ; die Kriegseindriicke
haben wohl allzu bittere Zweifel an der Menschennatur in ihrer
Seele erregt — jedenfalls kommen ihre Worte aus einer ganz
anderen Welt, als es diejenige hinter der Front ist: Es ist, als
wenn sie uns sagten : „Wir stehen jetzt im Dienste der militari-
22 Vol. m/2
24
schen Kraft und Ehre Deutschiands und werden unerschiitter-
lich ausharren — in Euch aber muB nun eine ganz neue Art von
Kraft entstehen, ein Aufschwung iiber die Tierheit des Volker-
egoismus, ein Hinauswachsen des Opfergedankens iiber den
blofien Nationalhorizont. Denn weder mit der Macht der
Waffen nocb mit der Technik des Verhandelns allein sind die
ungeheuren Probleme des Tages wirklich zu losen; bringt Ibr
jene neue Kraft nicht auf, nun, so zerbricht eben unsere „christ-
liche" Kultur an ihrer innersten Unchristlichkeit in tausend
Stiicke und wird ein Steinhaufen werden wie Babel und Ninive !“
Wer einen solchen beschworenden Appell an unsere Aufgabe
nicht aus jenen Briefen heraushort, wer ihn nicht iiberhaupt aus
der immer ratloseren Volkemot heraushort, fiir den gelten wahr-
Iich die Worte im Faust: ,,Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!“
Leider gibt es zurzeit noch weite Kreise unseres Volkes, die
sich mit beangstigender Verstocktheit gegen alle solche Er-
wagungen zur Wehr setzen. Das sind eben die alldeutschen und
nationalistischen Kreise im weitesten Sinne, die durch ihre
Machtromantik vollig unfahig geworden zu sein scheinen, die
allein realpolitischen Schlufifolgerungen aus dem schon seit
Monaten zum Stehen gekommenen Volkerschlachten zu ziehen,
das seinem Wesen nach, namlich wegen der Ebenbiirtigkeit der
streitenden Krafte, zum Stehen kommen mufite und — wenn
keine neue sittliche Kraft in den Volkern durchbricht — auch
weiter stehenbleiben wird, bis alle Beteiligten Bankerott ge-
macht haben werden und als Sieger dann der gelten kann, der
vier Wochen spater Bankerott macht, als die anderen . . .
Jene nationalistischen Kreise sind auch vollig auBerstande,
zu begreifen, dafi die ingrimmige, jeden Frieden ablehnende
Entschlossenheit gerade unserer westlichen Gegner zu einem
sehr grofien Teil eben aus der Befiirchtung entspringt, dafi jene
nationalistischen Elemente den einflufireichsten Teil Deutsch-
iands reprasentieren, dafi der Kanzler ihnen nur miihsam stand-
halt und nur mit grofien Zugestandnissen an ihre Anspriiche den
Frieden abschliefien und die kiinftige deutsche Weltpolitik werde
durchfiihren konnen. Da aber nach Meinung jener unserer west-
Fr. W . Foerster * Der Weg
25
lichen Gegner ein auf solchem Boden mit Deutschland etwa
geschlossener Friede nur ein Waffenstillstand sein werde, inner-
halb dessen das unertragliche, alle Kulturarbeit lahmende Wett-
riisten in verstarktem MaBe weitergehen werde, so ist dort die
unausrottbare Meinung: Jene nationalistisch-alldeutsche Sippe
miisse erst durch die radikale Niederzwingung oder Mattsetzung
Deutschlands endgiiltig auch in den Augen des deutschen Volkes
diskreditiert und als weltpolitischer Faktor ausgeschaltet werden.
An dieser Entschlossenheit nehmen heute auch alle diejenigen
Kreise des englischen Volkes teil, die sonst fur einen verniinf-
tigen, wahrhaft europaischen Frieden durchaus zu haben waren
und auch jetzt noch zu haben sind. Nun kommen natiirlich
unsere nationalistischen Blatter und weisen auf jene starre Ent-
schlossenheit unseres englischen Gegners hin, die wir doch
zweifellos mit noch unversohnlicherer und schonungsloserer
Entschlossenheit beantworten miiBten — sie wollen nicht sehen,
daB es eben lhre eigene national-individualistische Verstocktheit
ist, ihr trotziges Bekenntnis zur Weiterfiihrung des alten euro-
paischen Elends, zur bloB machtpolitischen Behandlung der
Menschheitsprobleme, was driiben die gleichen Elemente am
Ruder halt und auch die vemiinftiger denkenden Kreise zu
absoluter Solidaritat mit dem „Zerstorertyp“ treibt. Das beste
Zeugms dafiir, daB diese meine Deutung der volkerpsycholo-
gischen Wechselwirkung der Tatsachen entspricht, ist wohl in
folgenden Satzen zu finden, mit denen der „Temps“ in einem
Leitartikel die neuesten machtpolitischen Bekenntnisse des
ebenso wohlmeinenden wie kurzsichtigen Staatsmannes Biilow
bespricht, dessen schwere Mifigriffe und Unterlassungen so-
viel zu der gegenwartigen Weltnot beigetragen haben. Es
heiBt dort:
,,Nach 24 Monaten ohnmachtiger Bcmiihungen gesteht Deutschland ein,
was es nehmen will. Wie viel ware das wohl erst gewesen, wenn Deutschland,
nach seinem Plan, binnen sechs Wochen gesiegt hatte? . . . Nichts konnte uns
gelegener kommen, als dieses politische Gestandnis eben in der Stunde, in der
unsere Verbundeten und wir unsere wirtschaftlichen und militarischen An-
strengungen verdoppeln mussen, um Deutschland mit denselben Waffen zu
schlagen, mit denen es uns zu schlagen hofft.*‘
26
Fr. W. Foerster • Der Weg
Ahnte uberhaupt das friedliebende deutsche Volk, was seit
vielen Jahren alle die alldeutschen und nationalistischen Artikel
und Reden unserem Volke im Ausland geschadet, wie sie die
anderen Nationen gegen uns mobil gemacht, die Neutralen mit
Mifitrauen und Arger erfiillt haben und wie sie auch gegen-
wartig wieder die Moglichkeit des Friedens immer weiter in die
Feme riicken — es wiirde ein wahrer Sturm gegen diese Art von
,,Weltpolitikem“ durchs Land gehen. Mit diesen alldeutschen
Herren wird es nach dem Kriege eine griindliche Abrechnung
geben, da wird man mit unwiderleglichen und frappierenden
Beweisen an den Tag bringen, wieviel schwere Mitschuld und
Blutschuld an diesem Weltkriege jener ganzen alldeutsch-natio-
nalistischen Schriftstellerei und Rederei zugeschrieben werden
muB.*) Es war gewifi sehr zu begriifien, daB die ,, Alldeutschen
Blatter** selber (20. Mai 1916) auf einen Artikel der „Neuen
Ziircher Zeitung** vom 1. Mai d. J. aufmerksam gemacht haben,
in dem wir folgende Charakterisierung jener alldeutschen Schuld
finden :
Wahrend in England doch immerhin eine ganze Reihe von Publilcationen
erschienen ist, in denen die Mitschuld Englands sehr freimiitig zugegeben
wurde (vgl. u. a. Carpenters Buch „The healing of nations**), hat man sich in
Deutschland leider in eine schier undurchdringliche nationale Selbstgerechtig-
keit hineingeredet, als konne von keiner, wenn auch noch so geringer Mitschuld
Deutschlands am Weltkriege irgendeine Rede sein. Gegeniiber dieser falschen
Selbstbeurteilung des deutschen Volkes, die es den leitenden Mannern in
Deutschland schwer genug machen wird, ein verniinftiges Friedensangebot
durchzusetzen, muB denn doch festgestellt werden, daB in Deutschland wah-
rend der letzten drei Jahrzehnte so viel laute Weltmachtspropaganda getrieben
worden ist, daB das Vertrauen des Auslandes auf die friedlichen Absichten des
deutschen Volkes dadurch schwer erschiittert werden muBte.
Hierher gehort vor allem das unverantwortliche Machtgerede der All-
deutschen, deren unertragliche Tonart dem deutschen Volke, gerade auch im
neutralen Ausland, eine Unsumme von HaB und Abneigung zugezogen hat
und die man als die eigentlichen Trager der deutschen Mitschuld am Welt-
*) Die Alldeutschen riihmen sich gem* dafi sie diesen Krieg stets voraus-
gesagt hatten. Ja, sie konnten das, denn sie und ihresgleichen in den andern
Landern haben ihn auch herbeigezogen* ja herbeigesehnt, wie das so schon
ausgesprochen war in der ersten Kriegsnummer der Alldeutschen Blatter.
„Die Stunde haben wir ersehnt . . . nun ist sie da. Die heilige Stunde . .
Ft. W . Foerster ♦ Der We°
27
krieg bezeichnen kann. Im April 1913 hielt der Admiral von Breusing einen
Vortrag in Basel, in dem er bemerkte : „Wir sind noch nicht so weit, um eng-
lische Kolonien nehmen zu konnen Und General v. Bernhardi gab in seinem
Buche ,, Deutschland und der nachste Krieg** seinem Volke den Rat, auf kolo-
nialem Gebiete irgendeinen Streit mit England oder Frankreich von Zaune zu
brechen, um dadurch den unvermeidlichen Krieg in Gang zu bringen. Ein
Rezensent der englischen ,, Fortnightly- Re view**, der selber Mitglied der
deutsch-englischen Verstandigungsgesellschaft war, suchte Bemhardis Ansicht
von der Unvermeidlichkeit eines Krieges zwischen den beiden Landern zu
widerlegen, bemerkte aber, daB man doch nicht auBer acht lassen diirfe, daB
in jenem Buche „ein Mann, dessen Meinung von Gewicht ist, uns offen er-
zahlt, daB Deutschland uns in dem Augenblick angreifen wird, in dem sich
eine gunstige Gelegenheit dafiir bietet. Wir waren „mad“, wenn wir uns diese
Warnung nicht zu Herzen nahmen.**
Die ,,Kreuzzeitung‘\ der diese Rezension zu Gesicht kam, bekam damals
eine Ahnung davon, was im Ausland durch solche Schreibereien angerichtet
werde; sie bemerkte: ,,Jener Autor, der iiber ein Nachbarvolk schreibt, sollte
sich bewuBt sein, daB er fur beide Volker schreibt und daB er zu priifen hat,
ob der Nutzen seines Werkes dem Schaden, den er auf der andern Seite seinem
Volke zuf ugt, entspricht Hier ist der Kernpunkt getroffen . Die Kriegshetzer
in alien Landern haben sich nie darum gekiimmert, wie ihre Kundgebungen
im Auslande wirken muBten. Kam dann aber das feindliche Echo, so hieB
es: „Man sieht, die dort driiben wollen den Krieg, lasset uns ihnen zuvor-
kommen !** Driiben aber berief man sich wieder auf die Hetzereien der Gegen-
seite und sagte: „Ein Praventivkrieg ist die einzige Defensive, die uns recht-
zeitig retten kann!'*
Was hier gesagt wird, das ist die einstimmige Ansicht des
neutralen Auslandes iiber die alldeutsche Propaganda.*) Diese
Missionare des odesten und kulturlosesten Machttreibens, in
*) Die obige Zusammenstellung der N. Z. Z. kann ich durch folgende
Exzerpte aus einer eigenen Sammlung erganzen:
Grenzboten Nr. 48, 1895: „Wir lehren, daB das deutsche Volk lediglich
fur sich zu sorgen habe, ohne Riicksicht auf das Wohl anderer Volker, wir
lehren, dafi wenn das Wohl unseres Volkes einen Eroberungskrieg, die Unter-
jochung, Verdrangung, Vertilgung anderer Volker fordem sollte, wir uns da-
von durch christliche und Humanitatsbedenken nicht diirften zuriickschrecken
lassen — wir haben daher auch gegen die auBerste Anspannung der Wehr-
kraft unseres Volkes nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daB sie in absehbarer
Zeit einmal zu dem Zwecke verwendet wird, fur den sie da ist.**
PreuB. Jahrbiicher 1896: „Mehr Lohn und mehr Geschutze** (Verfasser
R. Martin, aus dem Naumannschen Kreise). ,,Die Gesamtheit aller Verhalt-
28
Fr. W. Foersier • Der
deren Seele die besten und ruhmreichsten Traditionen des deut-
schen Geistes iiberhaupt keine Wurzel gefafit haben, sie scbalten
auch jetzt wieder in ihren utopischen Annexionsforderungen mit
dem teuren Blute des deutschen Volkes, als ob es Kanalwasser
ware — wahrlich, es wird dringend Zeit, daB sich bei uns
eine offentliche Meinung organisiert, die das andersdenkende
Deutschland wuchtig zu Worte bringt und dadurch nicht nur
unserem Reichskanzler, dem echt deutschen Manne, eine groBere
Stiitze gegenuber jenem ganzen Treiben gewahrt, sondern auch
den vemiinftigen Elementen im Ausland das Vertrauen auf ein
neues „europaisch“ denkendes Deutschland gibt.
In ihrer Juli-Nummer schreiben die „Siiddeutschen Monats-
hefte“ : „Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, daB wir einmal mit
aller Deutlichkeit erklaren: Wir sind fiir Tirpitz und gegen
KuIturpolitik.“ Und der neue Rektor der Technischen Hoch-
schule zu Berlin halt eine feierliche Rede, worin er erklart, die
Frage unseres Verhaltnisses zu England sei „eine reine Macht-
frage“, alle politischen Beziehungen zwischen den Volkem
kamen letzten Endes auf „Machtfragen“ hinaus. Zum SchluB
wird die nationale Bedeutung des Alldeutschen Verbandes ge-
feiert. Was verlangt man eigentlich vom Auslande, wenn es
immer wieder solche Stimmen und leider so gut wie gar keine
autoritativen Gegenstimmen hort? Was niitzen alle feierlichen
Proteste gegen den Vorwurf, die deutsche Kultur sei dem M1I1-
tarismus verknechtet, wenn representative Zeitschriften und
Akademiker derartige Bekenntnisse zum nackten Machtprinzip
in die Welt schleudem ? Kann man sich noch wundern, wenn
nisse weist das deutsche Volk auf den Krieg, den groBen Vater alles Cuten . . .
Den hochsten Gewinn der Eroberung von ElsaB-Lothringen erblicke ich darinv
daB Frankreich sich mit dieser Abtretung nie aussohnen kann, Deutschland
also noch in Jahrhunderten auf das aufierste gewappnet sein muB. Und ein
kriegerisches Volk verfailt nicht ... In die Verwirrung auf dieser Kugel kann
nur durch mehr Geschiitze die wilnschenswerte Klarheit gebracht werden/*
Diese Programme haben im Ausland die weiteste Beachtung gefunden.
Man hat auch die durchaus begreiflichen Konsequenzen daraus gezogen. Ober
diese Dinge soli das deutsche Volk nach Friedensschlufi griindlich aufgeklart
werden.
29
Fr. W. Foerster » Der
durch solches Gerede von unserer Seite nun auch driiben der
Partei der Vemiinftigen jeder Kredit genommen und den Ver-
nichtungspolitikem das beste Argument geliefert wird? Und
endlich: Wie denken sich denn nur jene reinen Machtpolitiker
den Ausgang in ihrem Sinne? Meinen die jene Professoren und
Journalisten, die niemals einen konkreten Eindruck von den
Mitteln des englischen Weltreiches und von der Bedeutung
dieses Weltreiches fiir unsere eigene industrielle Entwicklung
bekommen haben, meinen sie wirklich, England konne so ein-
fach „niedergerungen“ werden? England kann in Wirklichkeit
so wenig niedergerungen werden, wie Deutschland, das weiB
jeder, der iiber diese Dinge nicht vom Schreibtische aus urteilt
— ein wirklich konsequenter Machtkampf miiBte viele Jahre
dauern und konnte dann nur mit beiderseitigem Zusammen-
bruch endigen. Es gehort ein geradezu gemeingefahrlicher
Mangel an wirklicher weltwirtschaftlicher und realpolitischer
Sachkenntnis dazu, um das nicht zu sehen . . .
Wer, wie der Verfasser dieser Darlegungen, Gelegenheit hatte,
im neutralen Ausland die neuere englische periodische Literatur
in bezug auf die Frage eines kiinftigen Handelskrieges zu ver-
folgen, der weiB, daB eine sehr groBe Anzahl von einfluBreichen
Soziologen und Politikern in England durchaus gegen einen
weiteren Wirtschaftskrieg nach dem Frieden arbeitet — wie sich
nun die englische offentliche Meinung entscheiden wird, das
wird in hohem Grade davon abhangen, ob in diesen Fragen bei
uns ein wahrhaft weltpolitisches Denken oder nur der kurz-
sichtigste mitteleuropaische Defensivkrampf zum Ausdruck ge-
langen wird. Die Entwicklung unserer offentlichen Meinung
innerhalb der nachsten Wochen wird da den Ausschlag geben.
In einem Brief, den der Abgeordnete fiir Carlysle, der Hon.
R. D. Denman, im Mai von der Front in Flandern, woerheute
als Hauptmann der Artillerie dient, an seine Wahler richtete,
heiBt es :
„SolI der Krieg zu einer militarischen Entscheidung gebracht werden*
dann miissen wir auf weitere 18 Monate Krieg und vielleicht noch mehr gefafit
sein. Ein Versuch, das Tempo zu forcieren, konnte fiir uns leicht eine Kata-
30
Fr. W. Foerster ♦ Der
strophe bedeuten. Personlich hoHe ich, dafi Europa vorher zur Vernunft
Itommen und durch weise Staatsmannskunst einen dauernderen Frieden er-
ringen moge, als lhn irgendein militarischer Erfolg je bringen konnte . . .
Wer nicht durch den Machtrausch um jede Fahigkeit zu
objektiver Wiirdigung der Sachlage gebracht ist, der mufi sich
doch sagen, dafi dieser Krieg iiberhaupt gar nicht durch mili-
tarische Machtmittel wirklich entschieden werden kann — es sei
denn durch Verbluten auf alien Seiten. Das Selbstgefuhl aller
an dieser Schlachterei Beteiligten ist so leidenschaftlich erregt,
dafi jeder Teil buchstablich „bis zum letzten Hauche“ kampfen
wird, ehe er sich als ,,besiegt“ erklaren und sich die Friedens-
bedingungen „diktieren“ lassen wird. Aber auch rein diplo-
matisch ist dieser Streit nicht zu losen, solange die Kampfenden
1m Ernst bei dem Vorsatz bleiben, sich durch Beraubung oder
Demiitigung des Gegners reale ,,Garantien“ zu sichern, statt
diese „Garantien“ in ganz neuen europaischen Abmachungen
und Ausgleichen zu suchen, die durch das Grauen vor einer
Wiederholung solcher Dinge und durch jenen ganz neuen Geist
des gegenseitigen Entgegenkommens geweiht sind, der allein
den Realitaten der Weltwirtschaft und den Kulturtraditionen
Europas entspncht. Unsere Regierung wiirde gegeniiber den
nationalistischen Treibereien erst dann wirklich stark werden,
wenn sie den von dorther kommenden utopischen Forderungen
nicht blofi mit ruhiger Abweisung, sondem mit festem Bekennt-
nis zu einem konstruktiven europaischen Programm entgegen-
treten wiirde. In einem solchen Programm miifite ganz offen die
Uberzeugung vertreten werden, dafi der ungeheure europaische
Schaden mit all seinen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen
Folgen nur einigermafien geheilt werden konne, wenn nicht jeder
nur fur sich selbst „Garantien" und Entschadigungen fordere,
sondem den guten Willen kundgebe, auch den anderen in diese
gemeinsame Schuld und Not Verwickelten nach besten Kraften
die Wiederaufrichtung moglich zu machen. Da heute jedes Volk
zugleich Lieferant und Kunde des anderen ist, so ware eine
solche Stellungnahme auch das allein Realpolitische. Ein solcher
Vorschlag zu solidarischer Reparation alles angerichteten
Ft • W. Foerster ♦ Dcr Weg
31
Schadens (statt eines endlosen Streites um die Entschadigungen,
die jeder dem andem auferlegen mochte) scheint etwas Utopi-
sches zu sein und wiirde doch allein imstande sein, den gegen-
seitigen guten Willen, ja iiberhaupt die europaische Gesinnung
zu erzeugen, ohne die eine dauerhafte Beendigung dieser furcht-
baren Entzweiung ganz aussichtslos ist.
In der „Neuen Ziircher Zeitung" haben neben dem schon
zitierten Aufsatze in den letzten Wochen eine ganze Reihe von
Autoren iibereinstimmend die Uberzeugung ausgesprochen, daB
man bei der Debatte iiber die Technik des Friedensschlusses die
psychologischen und moralischen Vorbedingungen viel zu sehr
aufier acht lasse. So sagt ein ehemaliger Diplomat dort (8. Mai
1916):
M... Wer heute emstlich den Fricden wxinscht, dcr mu8 sich daher unbe-
dingt dem Rufe anschliefien, daB zunachst einmal der moralische Kampf
zwischen den Regierungen und den Vdlkem eingestellt werde. Erst wenn
dieser Kampf aufgehort hat, wird allmahlich dasjenige MindestmaB von Ver-
trauen wiederkehren konnen, das die wahre Mpsychologische Vorbedingung
des Weltfriedens“ bildet. Denn man darf sich keinerlei Illusionen hinge ben:
So wie der Krieg seine Entstehung dem gegenseitigen Mifitrauen verdankt, so
kann der wahre Friede nur auf gegenseitigem Vertrauen beruhen. Solange
man also das Mifitrauen stets wieder von neuem schiirt, ist auch kein Friede
moglich. Man muB Achtung auch vor dem Gegner und seinen Beweggriinden
bekunden, wenn man wieder mit ihm in Verkehr treten soil. Dieses Vertrauen,
diese Achtung abcr wird man niemals gewinnen, wenn man den eigenen An-
ted an der Weltschuld immer wieder zu vertuschen und den Gegner immer
wieder schlecht zu machen sucht. Vertrauen erwirbt sich auf der Welt nur
der, der auch bereit ist, Selbsterkenntnis zu iiben und der diese moralische
Bereitschaft auch praktisch betatigt."
Auf die Herstellung einer soichen moralischen Atmosphare,
ohne die es bei einer derartigen Verwicklung der Anspruche und
Interessen iiberhaupt keinen Frieden geben kann, sind alle meine
in diesem Kapitel zitierten oder abgedruckten AuBerungen ge-
richtet gewesen — vor allem auch die Anregung, die Ursachen
der Volkerkatastrophe nicht immer nur bei den andem, sondem
auch einmal in der eigenen Vergangenheit und im eigenen Wesen
und Auftreten zu suchen. Das unerwartete Echo, das jene Be-
trachtungen gefunden haben, laBt mich hoffen, daB ich nicht
32
Fr. W. Foerster » Der Weg
allein stehe, sondem einer bereits weit im deutschen Volke ver-
breiteten Auffassung Ausdruck verliehen habe. Es wird aber
Zeit, daB es nicht bei brieflichen Zustimmungen bleibt, wir
brauchen dringend offene Bekenntnisse ! Vor einigen Monaten
ist unter dem Titel ..Deutsche Kultur“ von acht Edinburger
Professoren ein Sammelband herausgegeben worden, worin zur
Bekampfung tendenzidser Verunglimpfungen die groBe Kultur-
leistung Deutschlands (und gerade auch des modemsten Deutsch-
lands !) ans Licht gerlickt wird. Leider hat man nichts von einer
deutschen Gegengabe gehort. Sollte es wirklich immer noch
nicht Zeit sein, daB die Trager der geistigen und religiosen
Kultur in alien kriegfiihrenden Landem endlich mit einer
ruhigeren und nobleren Schatzung des Gegners und mit ernster
nationaler Selbstkritik pffentlich und nachdriicklich den Anfang
machen? Das wiirde auch fur die Bewahrung und Vertiefung
der moralischen Kultur innerhalb des eigenen Volkes von segens-
reichster Bedeutung werden. Dasjenige Volk, das in diesem
Riesenkampf bis zuletzt verblendet an der Machtidee festhalten
und nur von ihr erfullt bleiben wird, das wird damit auch in alle
seine inneren Interessenkampfe die groben und kurzsichtigen
Instinkte eines gewalttatigen und unvertraglichen Egoismus hin-
emtragen und daran schliefilich zugrunde gehen. Dasjenige Volk
aber, das durch die erschtitternden Erfahrungen des Krieges
dazu gefiihrt werden wird, in der Idee des Rechtes, des Ver-
standigungswillens, die einzig gesunde Weltpohtik zu erkennen
— dieses Volk wird aus solcher sittlichen Erhebung auch die
segensreichsten Folgen fiir alle seine sozialen und wirtschaft-
lichen Konflikte und Probleme gewinnen und dadurch die
Wunden des Krieges tausendfach an sich selbst und an den
anderen wieder gutmachen.
Zweifellos wird durch das Weltgericht dieses Krieges der
blofie Egoismus als „Staats raison" gerade dort am furchtbarsten
ad absurdum gefiihrt, wo man sein Recht bisher am zaghaftesten
bestritten hat — namlich in den Beziehungen der Volker. Und
diesem Bankerott gegeniiber bedeutet die Botschaft des ,,fodera-
Fr. W. Foerstcr ♦ Der W eg 33
nicht blofi von ihren eigenen Interessen und Rechten erfiillen
lafit — das ist Anarchie mit unberechenbarem Ausgang — , son-
dern vor allem von dem Streben nach sittlicher und vemiinftiger
Zusammenordnung der streitenden Anspriiche, nacb dem Im~
perium der Rechtsidee: Weil jeder dieser gewaltigen und von-
einander so vielfaltig abhangigen Interessenkreise nur noch im
Reiche der justitia und der aequitas zu seiner gesicherten Ent-
faltung kommen kann. Wie dies praktisch ins Leben treten soil,
das erfahrt man nicht bei den Juristen, sondern in der Heiligen
Schrift. Abrahams Worte zu Lot: „Gehst du zur Rechten, so
will ich zur Linken gehen“, sind die erhabene Ouvertiire aller
Kultur und aller „menschlichen‘‘ Weltpolitik. Heute heiBt es:
Gehst du zur Linken, so gehe auch ich zur Linken, und dann
schlagen wir so lange aufeinander los, bis zum Schlusse nur
noch zwei groBe Blutlachen da sind! Dies ist die Quintessenz
der politischen Weisheit des Alldeutschen Verbandes — und das
Gegenteil von alien deutschen Gaben und Traditionen. Die
neue deutsche Jugend wird nicht zweifeln, welchen Weg sie nach
diesem Kriege zu wahlen hat!
y"v'vv
34
Albert Ehrenstcin ♦ Dialog
$(beri Ghrensiein :
DIALOG
DICHTER
Mein Herz, du bist zu weltenwarm,
zu zitternd jedem Wind,
der irgend einem armen Menschenarm
Erstarren, Lahmung sinnt.
Ich bin nicht Gott, ein Dichter,
und schiittle mein Haupt.
Alt bist du, o Konigin.
So hat Schonheit keinen Sinn?
KONIGIN
Wohl, ich war das Weib: der Zukunft Gasse.
Korper dorren. Verse sterben,
schwinden hin zu neuen Erben.
Was ist Form und was ist Masse?
BEIDE
Blutsaulen, Heersaulen unverdrossen vorwartseilen,
rasch zu verrinnen unterm Gewolbe der Nacht.
Blutumflossen geboren,
als Leichen in Siimpfe gefroren,
mit erhobenen Handen im Winde schwankend wie Schilf,
wo kein „Hilf!“ hilft,
schallt keiner Frage Antwort.
Sinnlos Erstandene, sinnloser Zerriebene!
0 Blut auf dem Kreuzholz der Wiege und Bahre,
wem gehort die vorbeigetriebene,
wozu die geschlachtete Herde der Jahre?
Hans Gaihmann ♦ Die Niederlage
35
Sffans Qatfimann :
DIE NIEDERLAGE
EINE ERZAHLUNG
L S war die Zeit, wo die Gasflammen in den Restaurants auf-
* — 4 strahlen und Licht aus Spiegeln und Kristall bricht. Wo der
Schritt der heimkehrenden Mutter eiliger wird. Wo das junge
verlangende Leben kiihner ausschreitet und der Himmel dunkel
iiber aufzuckende Bogenlampen und breite Hauser stiirzt. Wo
die Augen der Hunde anfangen zu funkeln, und Elend im Glanz
der Strassen ertrinkt.
Da ging ein zwanzigjahriger Junge gedriickt und scheu an
den Mauern der strahlenden Hauser entlang. Sein Herz suchte
nach den kleinen Freuden der Vergangenheit, und die Heimat
strich mit Aehrenfeldern und ragenden Waldern wie ein Violipen-
lied, von seiner zarten Schwester gespielt, durch seinen Sinn.
Doch larmend, gewalttatig, ungeheuer brach die Gegenwart
iiber seine Sanftmut. Vorgesetzte schrien ihm taglich die Luge
ihres Wesens ins Gesicht. Kameraden uberwaltigten ihn mit ihrer
zudringlichen Gemeinheit. Die Musik, die schmetternd vor ihnen
herzog und iiber so viel Herzensnote den Himmel ihrer frohen
Klange hangte, zermiirbte ihn. Und immer, immer wieder
krampfte sich sein Herz : Was ist das Ziel ? Was ist das Ende— ?
Und reckte er sich auf, durchgliiht von inniger Liebe, und froh-
locktees in ihm : Das Ziel ist Sieg ! ist Sieg ! — er wusste schmerz-
lich, im nachsten Augenblick wiirde ihn ein Wort, ein Wort, das
eine Schlechtigkeit ware, wie ein Keulenschlag niederstrecken,
daBer sich hatte hinwerfen mogen, das Gesicht auf die Erde,
nichts mehr sehen, nichts mehr horen und tun, nur sich verzwei-
feln lassen. War so sein Versuch, Fuss zu fassen in der harten Ge-
36
Hans Gathmann ♦ Die Niederlage
genwart, gescheitert, so begann in ihm, ohneseinen Willen.lok-
kend und siiB, schwellend und iiberwaltigend, die Musik der Ver-
gangenheit und hieB ihn, weiter dasLeben zutragen. Zwischen
schonem Vergangenen und der Pflicht des Tages lebend, die ihn
unerbitthch zum Dienst, zum Gehorsam, zur Kameradschaft-
lichkeit zwang, fiihlte er immer deutlicher, wie er sich verlor.
Es war nichts Wirkliches mehr in ihm. Alles schien ihm
Traum. Sein Willen war gebeugt, seine Liebe, die er in alien
lebendig glaubte und gleich groS und heilig, ward beschmutzt.
Sein Wesen, das fiihlte er, sollte ausgeldscht, sollte in eine Form
geprefit werden, er sollte zu einer Liige gemacht werden, die
vor anderen Menschen prachtig glanzte.
„Ich liebe mein Vaterland“ sagte er zu sich, „ich bin be-
reit, fiir mein Vaterland zu sterben. So muB ich das alles wohl
ertragen“. Aber es lieB und litt ihn nicht in dieser stillen Er-
gebung. , .Dieses Leben“, griibelteer, ,,istdarauf berechnet, uns
selbstaus dem BewuBtsein zu bringen. Und ich will mit Bewufit-
sein lieben, mit BewuBtsein sterben, im BewuBtsein alles dessen,
was in der Vergangenheit schon war, und weshalb ich das Leben
liebte. Und ich will mich rein halten, rein wie ich war, und
will wissen von meiner Schuld, wissend unter ihr leiden, aber
stark sie tragen und . . siihnen.“ Wille brach in ihm auf, wahr-
haft zu sein, fern allem Taumel, aller Massenbegeisterung.
,,Die Pflicht driickt mir einen Sabel in die Hand. Gut. Ich
schwinge ihn. Aber. . ich liebe. . Feuerschliinde schleudem
Eisenhagel auf Menschenbriider . . . Mein Finger wird den
Hahn eines Gewehres losen, und ein pochendes Menschenherz
wird stocken und stille werden . . aber ich liebe . . Ich tote
Leben. . ich tote meinen Bruder. .aber ich liebe?. . JalUnd ich
weiB, dafi diese Liebe nicht sterben darf, daB ich mir, daB du
dir, Kamerad, diese Giebe bewabren muBt, daB du weinen muBt
mit mir liber den gewollten Tod des feindlichen Bruders, wenn
die Zukunft milder werden soil fiir die Menschen und Volker,
und sich der Dom der Liebe mit der himmlischen Kuppel des
Brudertums herrlich liber die zerrissenen Lande wolben soil. .
Ich liebe.
Hans Gathmann • Die Niederlage
37
Ich bin ein Kind der Zeit. . ich liebe die Vergangenheit . .
baue ich an der Zukunft, indem ich tote, vernichte, was ich
liebe. . ? Ichweine iiber den getroffenen Bruder und iiber mich,
dafi ich ihn treffen mufite. .Und, aus diesen Tranen, Kamerad,
begreifst du es nicht, aus diesen Tranen bricht die Saat der Zu-
kunft : ich liebe . . und ich tote nicht mehr . . Ihr entweiht meme
Liebe durch die Blutgier eurer entfesselten Herzen! Die knal-
lende Musik, zu der eure Tritte wuchten, macht euch erstarken . .
Aber ich hore das Lied meiner Schwester durch den Abend
gehen und sehe die Mutter alle, die vor den Kreuzen knien
und sanft iiberschwemmt sind von Glaube und Hoffnung. .
Ihr Schwerter der Gegenwart. .schaffet die Zukunft milde!
Die Zerrissenheit seiner Seele triibte das Schauen seiner
Augen. Er ging versunken, bis in den Kreis seines Blickes etwas
trat, was ihn den kampfenden Gedanken entnB.
Hart blieber vor einem Laden stehen, in dem, lichtiiberstrahlt,
weifies, appetitliches Backwerk lag. Er trat liber die Schwelle,
er wuBte selbst nicht warum, und kaufte sich — die junge Ver-
kauferin lachelte in seine Schwermut — zwei Lebkuchenmanner,
von denen jeder ein groBes, papiernes Herz auf seinem braunen
Leibe trug. Wahrend das blonde Fraulein das Geld wechselte,
fiel ihm ein, warum er iiberhaupt hier eingetreten war.
Daheim war Kirchmefi. Auf einem freien Platze drehte sich
hurtig ein Karussel, Kinder schwirrten bunt durcheinander,
Buden zum Wiirfeln, Schiefien, Buden mit EBbarem und Lecke-
reien waren aufgestellt. Und in diesen gab es genau solche Leb-
kuchenmanner mit bunten Papierherzen. Er erinnerte sich der
alten Frau, die sie feil hielt und mit zitternden Handen den
Kindern reichte. Wie oft waren seine begehrlichen Blicke iiber
ihren beladenen Tisch gestrichen !
Und er sah auch wieder den alten Schimmel, der den ganzen
langen Tag im Kreise ging und das Karussel drehte und mit den
grossen guten Augen blinzelte. Die Freudigkeit lauter Kinder
fuhr neben ihm auf hoIzernenPferdchen, in weichen Schlitten . .
glitzernde Ketten, Flitterglanz und Lampions schwebten heiter
iiber der Freude. Oft griff eine Madchenhand zage nach des
38
Hans Gathmann ♦ Die Niederlagc
Schimmels Kopf, oder ein blonder Junge streichelte ihn wahrend
des Fahrens.
Er wuBte wieder: wie abends die Lampions, die bunten
lieblichen Wunder fiir die Kinder, rot und griin aufgliihten,
der Flitter glimmerte und gleiBte, und die Orgel mutiger
brauste, Miitter standen und sahen zu. Vater drohten Uber-
miitigen. Der weiBe Schimmel ging im Kreise, und sein Fell
war wie Seide unter dem Glanz. Der Schimmel wurde nicht
miide, die Freude wurde nicht miide, die Freude flammte auf
wie die Lampions und strahlte rot und griin. — Und dann das
Feuerwerk: Raketen stiegen, Leuchtkugeln schwirrten in den
sternblauen Himmel.
Doch wie er sich den Platz vorstellte, im Hintergrunde den
dunklen Wald, der oft unter den fallenden Kugeln in weiBe
Helle getaucht war, sah er — wieder stieg eine Leuchtkugel
und blendete fallend — : den Feind.. Dichte Kolonnen.. Offi-
ziere sprangen von erschopften Pferden.. Gewehrfeuer durch-
schlug die Stille.. Wieder wuchtete Dunkel weit und angstvoll..
Wieder ein greller Flammenblitz.. Fern grollten Kanonen..
Fern liefen Bataillone Sturm.. Fern war Bajonettangriff und
Nahmord.. maB sich Manneskraft mit Manneskraft.. urn-
schlangen sich Leiber, ringend, und fielen.. Wieder stiegen
Leuchtkugeln.. Naher kam die Wut der Geschiitze..
Da schreckte ihn die Stimme des Frauleins auf. ,,Stimmts ?“
fragte sie leise, auf das schon langst abgezahlte Geld deutend.
Er zwang seine abwesenden Blicke, zuriickzukehren und auf
dem blanken, flachen Teller vor ihm zu ruhen.
Dann ging er, die beiden sorgsam eingepackten Lebkuchen-
manner in der Hand, auf die tosende Strasse zuriick.
Die Menschen schwammen vor seinem Blick wie in einem
Nebel. Signale der Fahrzeuge trafen ihn hart. Er rifi sich
plotzlich zusammen. Schleuderte seine Hand an die Miitze.
Ein Offizier. Sein Korper zuckte in einem Ruck aus seiner
schlaffen Haltung straff auf.. und tneb welter in dem Strom
der Passanten.
Mechanisch zog er die Uhr. Wahrscheinlich kam jetzt da-
Hans Gaihmann ♦ Die Niederlage
39
heim der Vater aus dem Geschaft. Die Schwester fiel ihm um
den Hals und er brummte etwas Zartliches. Dann saBen sie
am Tisch. Er spiirte, wie sie am Essen wiirgten. Dann spielte
die Schwester.
Sie spielte, daB alle engen Raume versanken und in schim-
memden Weiten sich die begliickte Seele erging.. daB Feier-
tag wurde.. daB alles Triibe tief versank.. Wiesen, von bunten
Schmetterlingen suchend iiberflattert, dehnten sich an den
ruhigen Weiden eines FluBes. In den Biischen lag Sonnen-
gold. Friedliche Ruhe stieg aus den kleinen Hiitten. Kinder
spielten im Sand und Kiihe trabten gemachlich zur saftigen
Weide.
Wie konnte sie jubeln! Freudig sprangen blaue Hiigel aus
fallendem Nebel. Das Leben sanfter Dorfer an stillen Hangen
ward wach. Ein Saer schritt hinter rastlosen Stieren. Eine
Lerche, eine Lerche flog jauchzende Bahnen und ein Kinder-
herz traumte ihr wunderbar nach.. Knospen brachen auf an
stammigen Rosenstocken, Fenster offneten sich und helle Ge-
sichter tauchten sich in die Wonne des Tages..
Ja, die Schwester! Wie er sie liebte. Oft trieb es ihn, wenn
sie spielte, aufzustehen und sanft iiber ihre weichen Haare zu
streichen. Innig, dankbar.. Und sie jubelte ihre tiefste Freude
aus, daB alle mit tieferem Glanz in den Augen sich ansahen
und ein unerklarliches Wohlgefiihl, das bereit ist zu weinen,
bereit ist zu frohlocken und nicht weifi warum, ihre Herzen
umschlang.. Die Schwester..
Plotzlich stieg ein feiner Geruch in seine Nase, deren Fliigel
sich dehnten. Behende trat vor sein Auge das Bild wirren,
lieblichen Kraushaares iiber einer zarten Madchenstirn.
„Nahe an mir sind weiche Madchenhaare vorbeigestrichen“,
dachte er und kehrte um, um unter den eilenden Menschen
das Geschopf zu finden, dessen Haargeruch ihn beunruhigte.
Wahrend er spahte und schneller schritt, jagten sich Vorstel-
lungen in seinem Hirn und, umschwebt noch von dem liebli-
chen Geruch der Haare, presste er seine Gedanken in halb-
laute Worte und murmelte:
23 VoL IH/2
40
Hans Gathmann ♦ Die Niederlage
„Wie plotzlich wacht langst Vergessenes auf, Kindheitstage
sind wieder da. Das Spiel in einem Garten. Die Jagd hinter
der gelenkigen Katze.
Sonne bricht durch bunte Flurfenster und tanzt auf ge-
scheuerten Fliesen mit den gepeitschten Kreiseln. Und tanzte
auf deinem Haar, Schwester, in dem ich oft mein Gesicht ver-
grub.. dessen feinen Duft ich jetzt wieder roch..“
Da erspahte er sie.
In schwebender Anmut schritt sie vor ihm durch die Flut
des Lichtes. Sie musste es sein. Zart floB Seide um ihre zarten
Schultern. Der Gang ihrer FiiBe wurde zum Tanz vor semen
brennenden Augen. Mit einem Schritt war er ihr nahe.
,,Miide vom Spiel, ach wie oft faBten wir uns an den Han-
den. Setzten uns auf die Treppe nahe den unersteiglichen
Fenstern, die auf die Geheimnisse dunkler Hofe niederblickten.
Du konntest Marchen erzahlen, Schwester, Marchen, so bunt
wie dein Herz.“
Er roch ihre Haare, so nahe war er ihr. Ihr Gesicht, das
sie einmal kurz umwandte, erweckte in ihm jenen siiBen, bang-
lichen Schauer, wie er ihn als Kind beim Eintritt in hohe
Kirchen gespurt. Seine Brust wogte, in seinen Ohren brauste
ungestiim das Meer seines Blutes. Er biickte sich einmal 1m
Gedrange, sein Gesicht riihrte schauernd die kiihle Seide, die
eng die Zartheit ihrer Hiiften umspannte. Dann schritt er
unentwegt neben ihr, seltsam begliickt.
,,Nun habe ich dich wieder“, dachte er, ,,Sinn meines
Wesens, du tiefe, tiefe Friedlichkeit, nun bist du wieder da.
Wie ruhig bin ich geworden im GleichmaB deiner Schritte,
Madchen, wie ruhig schreite ich neben der geruhigen Ge~
sammeltheit deines sicheren Wesens. Wie fern ist mir die
Angst des weiten Kasernenhofes. Was ich entbehrte, kostlich
besitzt es dein traumendes Dasem. Du bhckst mcht rechts,
mcht links. Du gehst.. und grofi ist dein Ziel vor meinen
Augen. Wie schreite ich neben dir, von dir getragen fast, wie
wachse ich in dir., und welche Gemeinschaft birgt der Schlag
unserer gleichen Herzen. .“
Hans Gathmann * Die Niederlage
41
Hitze iiberflog seinen Korper. Er fiihlte sich miide, da er
einen Ruheplatz auf seiner Flucht gefunden. Der Atem der
Heimatstube umschwebte ihn. Und, ihr ganz nahe, legte er
wahrend des Schreitens seinen Arm leise um ihre Schulter.
Fliisterte, oder wollte fliistern — aber es erstarb auf seinen
trockenen Lippen — : Schwester..
Ein Augenblick wahrte die Seligkeit. — Der nachste tat
ihm weh.
Fremde wurden aufmerksam. Das Madchen rifi sich in der
Sekunde, in der es beriihrt wurde, mit einem leisen Aufschrei
von ihm los. Ihre Augen redeten Verachtung, ihr glattes Ge-
sicht zog sich in weinerliche Falten. Uber den jungen Soldaten
kam plotzlich das Gefiihl einer bitteren Ausgestofienheit und
Fremdheit. Er horte Worte.. wie von fern., aufgeregte Worte
iiber sich.. iiber sein Tun., das niemand verstand..
Ein Schutzmann fafite derb seinen Arm, als es aussahr, als
wollte er nochmals auf das Madchen eindringen. Er liefi sich
fiihren, die Augen seines riickwarts gewandten Gesichts hingen
hell iiber dem Madchen.
Fortgerissen sah er plotzlich gestaute Menschen sich mahlich
verlaufen ; nur ein dicker Herr redete merkwiirdig eifrig auf
das betroffene Madchen ein.
Hart wandte er sich ab. Schlofi die Augen. Dann, wie er-
wacht, unbefangen um sich blickend, ging er aufrecht durch
den lauten Abend, ein ungewohnliches, tiefes Lacheln um
seinen Mund.
n{ene Scfickefe :
GEBETE
On den fjafiriausenden fiaben
die OKenfcfien gebetei : fei fiiff, dewaft,
aff die Oferzen und die Ofdnde, die ficfi gaben,
fie begruben die dewaft.
Oft der OCamp f um date zwifchen
dir und mir
vor den fietien, vor den H ifcfien ,
ORenfcfientier,
nicfit urfcfiwer und voffer drauen
und der Zorn des oftofzen vor dem Gauen
und die cfcbmacb des cfcHwacben und die Hot
armer Sftrmen, Hod im Oeucfiten,
Hod im Ofeffien, und das eWeifi und Hot
einer Giebe nocb im OCronenfeucfiten
fpiegefnder cfafone, ift nicfit jeder cfcfifag
unfrer Oferzen alfer: OCdmpfe, ofiege,
Qjldrfcfie, di) unden, ffluf- und Hiederfliege,
Quafen, Tieber, flubef, beff und dunfcfer Hag ?
Ofeifge Hi ere, wie erjcfi eint i fir grofi und gut
traumfiafi wandefnd durcfi den ffebef ORenfcfienbfut !
"< %
? \ n
Rene Schickde ♦ Gebete
43
HYMNE AN MITRA UND VARONNA, BESCHUTZER
DER HEILIGEN DICHTER
(NACH DER ATHARVA-VEDA)
Lachelnde Meister der heiligen Regeln,
Alle meine Sinne
Beten euch an.
Kluge Cotter,
Die ihr die Ungeweihten
Weit von euch entfernt,
Ihr, die ihr Satyavan beschtitztet
In den Schlachten.
Erloset uns von a Hem Ubel.
Kluge Gotten
Die ihr die Ungeweihten
Weit von euch entfernt
Und Satyavan beschiitztet
In den Schlachten,
Die ihr die Menschen anfiihrt
So wie Indra seine Rosse
Zu dem Flammenopfer,
Das er selber sich bereitet,
Erloset uns von allem Ubel.
Gotter, deren Wagen
Uber die sichere StraBe fliegt
Und mit immer straffen Ziigeln,
Die ihr die traurigen Kampfer
Doch zum letzten Ziel entfiihrt,
Hort, euch ruf ich,
Mitra und Varonna,
Euch werf ich mich zu FiiBen :
Erloset uns von allem Ubel!
DER UNBEFLECKTE
(EURIPIDES, HIPPOLYTOS)
Schonste unter alien Jungfrauen,
die den Olymp bewohnen,
Geliebte, Artemis!
hier diesen Kranz
hab ich gepfliickt
auf einer unberiihrten Wiese,
kein Huf hat sie gestreift,
es wagte nie ein Hirt,
die Herde herzutreiben,
allein die Friihlingsbiene
kommt hierher,
und die Scham befruchtet sie
mit ihrem Tau.
Der allein,
der von der Natur
alle Dinge gleicherweise lernte,
darf diese Blumen pfliicken,
den Schlechten ist es nicht erlaubt.
Siifie Geliebte,
empfang von meiner frommen Hand
die Krone auf dein goldnes Haar!
Ich, ja ich
darf sie dir reichen:
ich begleite dich, ich spreche mit dir,
ich hore deine Stimme,
obwohl ich deine Ztige nicht erkenne,
und ich werde mein Leben beenden,
so einfach, wie ich es begann.
Rene Schickele ♦ Gebete
45
GELOBT !
(HEIL. AUGUSTIN)
Gelobt sei Gott, unser Herr
mit aller Kreatur,
vor allem mit unserm Bruder Sonne:
schon ist er und iiberflieCt von Glanz,
er ist dein Zeichen, Herr.
Gelobt sei der Herr
fur unsere Schwester Mond und die Sterne.
Du hast sie hell und schon gemacht.
Gelobt sei der Herr
fiir unsern Bruder Wind,
fiir die Luft voll Wolken und Licht
und alle Jahreszeiten,
in denen die Kreatur gedeiht.
Gelobt sei der Herr
fiir unsre Schwester Wasser:
niitzlich ist sie und bescheiden,
kostbar und rein.
Gelobt sei der Herr
fiir unsern Bruder Feuer.
Er ist schon und angenehm, voll Kraft,
rasch, und er leuchtet in den Finsternissen.
Gelobt sei der Herr
fur unsre Mutter Erde,
die uns nahrt und tragt.
Sie schenkt uns die Friichte, die Graser
und die farbigen Blumen.
Gelobt sei der Herr
fiir unsere Schwester Tod,
in deren Umarmung
der irdische Leib vergeht.
Ihre Augen fiihren in den Himmel.
46
Rene Schtckele ♦ Gebete
GLORIOSA
(XIII. Jahrh .)
Gegriifit, ruhmvolle Jungfrau,
du himmlischer Stem
und Tau der Erde,
gegriifit deine perlenreine,
sonneniiberstrahlende
frdhliche Jungfrauschaft !
O ewiger Frieden.
0 Hoffnung aller Schuldigen,
O Ruhm der Erlosten,
0 Ende des Todes und Lebensweg,
das dreifach getiirmte
Konigreich der Engel
endet nie das Lied von deinem Lob.
0 Zweig voll Bliiten,
Gottes Hand entsprossen,
0 Strahl vom wirklichen Licht,
0 Lebensbaum voll Friichte
an der schimmemden Kiiste,
wegweisender Blick
im abendlichen Wald.
0 Blumengarten, dessen Duft
so siifi zu atmen alien Kranken,
0 Brunnen der Reinheit,
aus dem Magdalena
Rent Schickde * Gebete
47
madchenhafte Glieder streckt,
Du bist der wilde Rosenbusch,
den Mose in den Flammen griinen sah,
das wollene FlieB,
das der Tau nicht trocknen lieB,
und das in Gideon gedieh.
O kluge Jungfrau,
die der Konig des Ruhms
mit den schonsten Dingen
des Himmels behing,
siiBe Madchenmutter, Heil der Welt,
Geliebte und Herrin aller Engel,
schenk uns den ewigen Frieden
der heimgekehrten Liebe!
48
Rene Schickele • Gebete
‘Warum fcdwebt der Rapf nicdt auf
grofi auf ‘Fefsenzedn,
rufi und fie fit :
,,‘TJlan fad den Veto (can
in feinem Rfute untergedn.
‘IJlan fad den Scdwan
ein trubes Gicdt im ofturm verwedn.
Man fad das Gamm fled ganz verfieren.
‘ Ulan fad die Martyrer vor wifden ‘C ieren .
Rocd der Red (can iff auferfanden,
man fad den cfcbwan im ‘Bfauen fanden,
es fand das Gamm zu do ties ‘Fufen din,
die Mdrtyrer, fie jubifieren !
fJcb, der icd affes (cann
in unfers fJferren Cdrifi Sinn
und das dedwert des fHimmefs dute :
(debt, dedneedtete ! icd werf es in der Zeiten
Riefenfcdafen, debt! ejedt! meine fflrme breiten
fflrmeen von Sngefn uber eucd,
die foffen euern fherrn und idren fHunden wedren,
O Giebe, Giebe: wute!
*Der <rPapft fand auf, und fo if doit mit eucd.
cfein ‘Wort if medr afs dunderttaufend ‘Reiter dffieb,
<Sr, der das toffe ‘Pacd der ‘Wecdsfer aus dem ‘Cempef trieb,
<Sr fitt an euerm dffafi, (Sr mufi eucd fegen febren."
Rer Rapst bfeibt stumm. — ‘Ifnd dott ?
( Vor dem doden OCreuz verfuedt
cfatan idn umfonf mit einem ‘Wunder.
Andre Suaris * Vber Charles Peguy
49
&ndre Saares:
UBER CHARLES PEGUY
Andre Saares fiat eine R eiAe von RampAfeten gegen ReutscR*
[and gescArieben ; woza icA be mermen mdcAte: Gin RampAfet ist eme
[RerariscAe Gattung wie das OdyU, der Roman, die ByriA. Gine
[RerariscAe Gattung, nicAt em ArRiscAer Regriff. Saaris war von je
ein gfdubiger Roman e. Gs fief sic6 erwarten , dafi er die Getegenheii
nicAt versdumen werde, das Romanentum zar wicAtigsten Angele-
genAeit der RlenscAAeR zu macAen ; seine Argument e tiberrascAen
ebenso wenig toie seine Byrismen. Gr verteidigt ein cfystem, das
er mit grofiem talent in ztoei OaArzeAnten aufgebaut Rat. Rabei
gescAieAt es, daft er aucA Renan verteidigt, and nicAt nar, xoeif Renan
ein RicAter war, and wei[ er iAn nicAt ganz an die ReutscAen aus •
liefern wi([ Gr verteidigt den spdten Wagner, den Wagner des
„Hlristanu and des „Rarzh>a[‘ , die er fdr das Romanentum in
AnspracA nhnmt. cJysteme zwingen za sofcAen ‘Vergewaftigungen .
Raneben fdQt er es sicA nicAt neAmen, RlenscRen zu scRitdem. On
der ReiAe seiner cftreitscAriften ist ein RacA fiber CAarles Rtguy
erscAienen , worm er den *Coten (eben Idfit, wie er war. [Hugo Rail
Aat cfteffen daraas ins ReutscAe dbertragen. Ra Rdguy eme ganze
Generation geformt Aat, ist es nicAt unwicRtig za wissen, was er
war. Oder die — nicAt tendenzidsen, sondem wesentlicAen AuszUge,
die [Hugo RaU aus dem RucA gemacAt Aat.
I
Er hatte Bauernblut in den Adem. Seine Vater waren Winzer
in der Beauce : er selbst konnte recht artig reden vom Wein ; aber
er konnte keinen trinken. Seine Mutter kam vom Bourbonnais;
durch sie war er der letzte einer ganzen Generation von Holz-
fallern. Er hat viel zugehauen und viel Breschen geschlagen, aber
nicht mit der Axt, und er hat mehr Liigen zersplittert, als Geholz.
II.
Er war immer im Kriege. Er war ein Soldat. Krieg machte
er der Sorbonne, die ihm als erstem faul erschien. Krieg machte
50 A vdre Suaris * Ober Charles Peguy
er den Politikern jeder Ordnung. Krieg den Teutonikern der
verschiedensten Schulen und Parteien; einer falschen Justiz und
einer verkehrten Gleichheit; Krieg gleicherweise einer iiblen
Finanz und einem iiblen Proletariat; einer todlichen Geldwirt-
schaft und einer bekenntnislosen Arbeit ; Krieg den Ubergriffen
eines Materialismus, der sich riihmte, das Gluck der Armen im
Geiste zu sein und die Sanktionierung eines Lebens ohne Herz
und Opfersinn. Er war der geborene Feldprediger der Republik,
sozusagen ihr stetes Gewissen.
Menschen seines Schlages : immer tippelnd und in Eile, unter-
wegs von friih bis spat, finden keine Zeit, mit selbstgefalliger
Miene.aber destogeheimnisvollerihren Schnurrbart zu zwirbeln.
Sie sind die unentwegbaren Soldaten der Tat. Man triibe uns
das Bild Peguys nicht ! Man lasse die iiberschwenglichen Hymnen
und den beriihmten Weihrauch, der weder aufrichtige Trauer
iiber den Verlust, noch Bliitenwedel aus Smyrna ist. P^guy war
nicht der erste Schriftsteller der Nation, er war nicht der beste
Poet seiner Zeit. Aber er war Peguy, grofi durch seine Nach-
driicklichkeit, grofi durch sein Gewissen und grofi durch seinen
Charakter. Er war der erste unter den Soldaten, die schreiben,
und unter den Handwerkem, die denken. Es gibt nicht viele
Menschen, die mehr Konsequenz zogen aus ihrer Zeit, als er.
Er hatte Schuler und Anhanger. Sie standen zu ihm wie Pfarr-
kinder zu ihrem Geistlichen. Er legte ihnen den Text der Ereig-
nisse aus und zeigte ihnen, wohin die Dinge tneben. Er war
Fiihrer, Haupt einer Schule und sein eigener Kanzlist. Nicht
zuletzt: Er hat Genie bewiesen, und zwar mehr als einmal.
III.
Peguy war Zeit seines Lebens religios. Glaubte er? Oder wie
hat er geglaubt? Und an was? Unglaubigkeit war ihm uner-
traghch. Zum Leben brauchte er einen Glauben. In seinen
Augen war der Glaube das Fundament der Gerechtigkeit. Sein
Begriff von Religion und Kirche hatte nichts mit schmarotzen-
den und noch weniger mit eingefleischten Priestem zu tun. Er
stand sich in Glaubensdingen besser mit Analphabeten als mit
Andre Suaris * Vber Charles Piguy
51
Pharisaem und Duckmausem. Der grofite und geistigste Katho-
lik, den ich unter den heutigen kenne, sagte mir eines Tags :
„Was ist das also mit Peguy? Was will er? Seine Kinder sind
nicht einmal getauft, und er empfiehlt sie dem Schutze der
heiligen Jungfrau. Das ist mir unverstandlich.” Peguy war nicht
so sehr aus Rom, als aus Orleans und aus Paris. Er hatte etwas
von jenen alten Franzosen, die sich, vor der Reformation und
dem tridentinischen Konzil, den direkten Kontakt mit Gott und
Jesus Christus wahrten. Nirgends zeigt sich dieses Wesen deut-
licher als im Fall der Jeanne d’Arc. Sie verweigert den Gehor-
sam. Hatte sie gehorcht, so hatte sie nichts vollbracht. Den
einzigen Tag, wo sie ihren Gehorsam beweisen sollte, verweigerte
sie ihn. Und sie starb den Feuertod, indem sie sich selbst die
Strafe ihrer Ketzerei erteilte, dieses sehr sublime junge Madchen .
Man bilde sich nicht ein, Jeanne d’Arc sei fur Peguy ein lite-
rarisches Sujet. Jeanne d'Arc ist sein Lebenswerk, seine Auf-
gabe, seine Mission. Er betrachtete sich gesandt und geboren
fur Jeanne d’Arc, wie Joinville fur den heiligen Ludwig. Sein
erstes Buch, mit 25 Jahren, ist eine Jeanne d’Arc. Er gestand
mir, dafi er sein ganzes Leben iiber Jeanne d’Arc zu schreiben
gedenke, sollte er hundert Jahre alt werden. Zwanzig und selbst
dreifiig andere Bande schreckten ihn nicht. Er widmete alles
insgeheim Jeanne d'Arc. Er ubersetzte alles in Jeanne d’Arc,
steigerte es in eine hohere Real i tat. Jeanne d’Arc war fur P^guy
zuletzt das passionierte Frankreich in seiner hochsten Gegen-
wart. Der wahre Christ lebt unaufhorlich in der Passion Jesu-
Christi. Peguy ward nicht miide zu leben in der Passion unserer
lieben streitbaren Frau von Orleans.
All seine anderen Werke, seine Pamphlete, Abhandlungen,
seine Reden an sich selbst und iiber sich selbst, sind nur die
Kampfe und Scharmiitzel der heiligen Jeanne im 20. Jahrhundert.
Tief religios, war er der geborene Haretiker. Die Haresie ist
das Leben der Religion. Der Glaube ist es, der die Ketzer macht.
In einer toten Religion gibt es keine Haretiker mehr. In Wahrheit,
Peguy war der Ketzer aller seiner Religionen, nur einer nicht:
Ketzer der sozialistischen Doktrin ; Ketzer der Sorbonne; Ketzer
52
Andre Snarls * Uber Charles Peguy
der Biicherdruckerei, wo ihm soviel Liebe fur schone Bucher und
Lettern in zwei, drei Fallen durch sorglose Parteinahme beschmutzt
worden war; sogar Ketzer der Kirche, da er schheBlich ja nach
eigener Fa?on Christ sein konnte, und man streitet sich noch,
ob dieser grofie Katholik wirklich Kathohk war oder nicht.
Er ist Freund und Patron tiichtiger Arbeit.
Geboren unter Leuten des Handwerks, bei denen er viel Zeit ver-
bracht hat, kennt und hebt er liber alles den guten Handwerker.
Verachtet er den schlechten, der Material und Werk verdirbt.
Wer ohne Uberzeugung ist, ist fiir ihn der schlechte Arbeiter.
Peguy gebrauchte gerne das Wort: ,,Wer kein Gewissen hat
bei seinem Handwerk, ist nur ein Burger. Wahrend der Burger,
der gut macht, was er anfangt, und der es immer besser machen
will, gelten mag als tiichtiger Mann.“ Da hat man den Inbegriff
der Moral Frankreichs und des f ranzosischen Ideals der Egalite :
sie besteht im Gewissen und im Talent : vollendete Handwerker
oder groBe Kiinstler, vollendete Soldaten oder groBe Feldherrn :
hier sind alle sich gleich in der Noblesse, mit der sie leben und
mit der sie sterben : sie wissen, was sie tun, und sie wollen gerade
das tun : sie verstehen einander, beurteilen einander und nehmen
Urteil an, in vollkommener Freiheit, vollkommener Geltung, alle
gleich vor dem Gebaude, das sie bauen, sei es erne Kathedrale,
die Prosa oder das Vaterland. Anders gibt es keine Republik.
IV.
Er hatte die Idee, daB seine Prosa, so gut sie auch sei, seine
Verse nicht erreiche. Er wagte nicht den alten Glauben an die
Gattungen und an eine Hierarchie innerhalb der Werke aufzu-
geben. Ein Roman konnte sich seiner Auffassung nach nicht
messen mit einer Epopoe, die Komodie nicht mit den tragischen
Meisterwerken. DaB ein Prosabuch das gelungenste Drama sein
konnte, hatte er niemals zugestanden. Es ist wohl wahr, dafi
mancher gelungene Vers bei ihm besser ist, als seine Prosa: aber
er hat sehr viel gute Prosa und wenig gute Verse.
Um auf den Grund zu gehen, mochte ich von Peguy wie von
uns heutigen alien sagen, seine Leistung liege in der Form, die
Andre Suarls • Vber Charles Piguy 53
die Form unserer Zeit ist und unsere eigenste Schopfung : nam-
lich weder Prosa noch Vers, sondem beides zugleich.
Diese neue Form, die sich mit jedem neuen Poeten verandert
und die sich deshalb so gliihend dem Genius anvermahlt, ist die
starkste Schopfung der franzosischen Kunst seit der Prosa des
siebzehnten Jahrhunderts. In Rousseau und Chateaubriand wird
sie geboren. Mit Baudelaire wird sie sich bewuBt. In Flaubert
ist sie schon ein wundersames Ausdrucksmittel. Rimbaud hat
aus ihr das bisher unerhorte Instrument gebaut, jene groBe
klingende Bratsche, auf der er jene Fragmente spielte: heiliger
Fieberwahn, tapp>end und blind das Genie erstickend.
P6guy ist der Soldat im Kriege, und jedes seiner Bucher ist
seine Schlacht. Seinem Genie in der Aufdroselung und im
Selbstgesprach, seiner moralischen Zahigkeit und der Glut seines
Gewissens bot sich als freiester Tummelplatz das Pamphlet. Hier
ist er sehr am Platze : seine Bonhomie, seine altmeisterliche Art
zu denken, sein priesterlicher Schwung, selbst in der ausfallig-
sten Invektive, geben seinen Satiren einen seltenen Geschmack.
Auch kennzeichnet ihn, daB er Menschen nicht von Ideen trennt.
In der Politik sind ohne weiteres Ideen ohne Vertreter nicht
denkbar. Viele Liigen verschwinden, wenn man deren Urheber
mit diesem Prinzip einschwefelt. P^guy kann sehr hart sein,
wenn er anklagt und sich emport. Er hat den groBen Zug. Er
fiihrt starke Beweggriinde und machtige Ideen ins Feld gegen
kleine Leute. Er scheint in keinem Verhaltnis zu stehen zu
seinen mittelmaBigen Gegnem. Es ist ein Zug von GroBe, der
den Sinn und das Merkmal hat, daB hier jemand den Knirpsen
groBe MaBe anlegt. — Man ist nicht Franzose, wenn man keinen
Geist hat. Das machtigste Genie, wenn es nicht spirituell ist, ist
weniger franzosisch als irgendwer. Dies Geschenk kommt von
Athen und Paris. Shakespeare, wenn er soviel Witz hat, hat ihn
nur, weil er ganz lebhaft Kelte ist. Eine Seite Montaigne oder
Pascal enthalt mehr Geist, als alle deutschen Bucher zusammen-
genommen. Conti hat so viel Geist, daB man gar nicht mehr
auf sein Genie achtet. Peguy hatte Geist : er war voll einer dorf-
lichen Malice.
54
Andre Suaris ♦ Vber Charles Peguy
Fur Leute, die Uberzeugungen haben, ist zuviel Geist eine
Gefahr. Sehr viel Geist haben, heifit iiber den Ideen stehen, und
auch mit ihnen nur spielen. SchlieBlich spielt man auch mit sich
selbst nur. Solcher Art HeiBt Geist haben : in souveraner Weise
frei sein. Wer Souveran ist, hat immer Verdacht um sich. Bis
dahin konnte Peguy nicht gehen : er hatte einen Plan, innerhalb
des Geistes sogar.
V.
Peguy hat gelebt : tapfer und frei . Er ist nie ausgewichen vor
den Parteien, nicht einmal vor seiner eigenen. Er hat sich nie
verpflichtet gefiihlt, auch seinen Anhangem nicht. Die „Cahiers“
hatten immer Hunger, und er suchte allseits ein Linsengericht
fur sie : aber er ist nie, auch nur einen Finger breit, vom Recht
der Erstgeburt abgewichen, vom Rechte, frei zu sein. Je mehr
man Franzose ist, desto weniger gehort man zu einer Partei. Je
freier man wird, desto weniger kann man Theologebleiben. Und
in dem MaBe, wie man franzosischer wird, wird man mensch-
licher. Man gilt dann fur undankbar.
Indem Peguy sich von der Partei befreite, hat er sich wohl auch
von der Moral befreit, die ebenfalls eine Partei ist. Man hat keine
Moral notig, wenn man ganz Gewissen ist. Man hat damit
Fesseln genug.
Die Moral ist ein Aberglaube wie irgend ein anderer. Die
Deutschen riihmen sich, die moralischsten Leute zu sein. Aber
nichts ist wichtig, als die Freiheit. Nichts ist rein, als die innere
Freiheit. Nichts ist fruchtbar, wie das Wagnis, zu dem die Frei-
heit fiihrt. Sich frei machen ist die einzige Moral. Frei sein auf
eigene Rechnung und Gefahr, voila un homme. Man ist nicht
frei, wenn man es nur auf Schaden und Kosten eines andem ist.
Weil man namlich ein Gewissen hat. Die Deutschen, die mora-
lisch sind und kein Gewissen haben, konnen die wahre Freiheit
nicht einmal verstehen. Die hochste Freiheit besteht darin, daB
man sich opfert, und zwar einer wahrhaft groBen Sache, die man
jedem Interesse vorzieht. Es gibt keine Freiheit, die hoher steht,
als die Freiheit der Heroen und der Heiligen, es sei denn die
Freiheit des Kiinstlers.
Alfred H. Fried ♦ Die Cholera
55
F2>ffred Of. Fried:
DIE CHOLERA
*Der folgende imagmdre Worirag isf der im (flossenteif ange *
zeigien ‘Brofcfifire $ If red ZK. Frieds entnommen: ,/Vom Weft Grieg
zum tyeltfriederi* • <Sr mag afs Gpifog zu einer
tf
ew/ssen
ZKriegs
[iteralur getien, die zum 5 fade faji fchon der ^ erg an gen fieri an
geddrt.
Die Volksseuchen, die die MenscHen von Zeit zu Zeit heim-
suchen und sie in grofien Massen hinraffen, werden noch immer
kurzsichtig als ein LJbel beklagt. Von einem hoheren Gesichts-
punkte aus wird man jedoch leicht erkennen, dafi dieses Ubel
auch seine Vorteile hat, ja, dafi die Vorteile dabei iiberwiegen.
Wer nicht nur das Schicksal des einzelnen, sondem auch das der
Gesamtheit im Auge behalt, wird nicht im Zweifel dariiber sein,
dafi sich auch dieses scheinbare Ubel, so wie manches andere
dafiir gehaltene, in das Ganze der Weltordnung einfiigt, in ihr
regelnd und forderlich wirkt.
Die Menschheit, die die Neigung zur Entartung besitzt, be-
darf der Zuchtruten, die die Ausschreitungen des ichsiichtigen
Emzelwesens zum Vorteile der Gesamtheit wieder ausgleichen.
Die wirksamsten jener Zuchtruten und Regelmittel smd gerade
die grofien Volksseuchen, weil sie mehr als jedes andere Mittel
dieser Art die grofie Masse der Menschen erfassen und daher
am umfassendsten ihre regelnde und erneuernde Wirkung aus-
iiben konnen.
Unter diesen Volksseuchen nimmt die Cholera deshalb eine
ganz besondere Stellung ein, weil sie so ziemlich die einzige
Volksseuche ist, deren wir uns in dem verderbten alten Europa
noch erfreuen diirfen. Pest und Aussatz, die im Mittelalter und
bis in die Neuzeit hinein bei uns eine so hervorragende Rolle
24 Vol. m/2
56
Alfred H. Fried ♦ Die Cholera
spielten und so befruchtend auf die Kultur jener Tage einge-
wirkt haben, kommen als Massenseuchen nicht mehr in Betracht.
Ebensowenig wie das gelbe Fieber, das unseren Breiten iiber-
haupt vorenthalten blieb. Aus diesem Grunde will ich mich hier
besonders mit der Cholera befassen.
Gewifi, die Cholera ist, an sich betrachtet, ein Ubel, erne
Himmelsplage. Aber schon unser groBer Dichter bezeichnet die
Wirkung dieser Himmelsplagen als „furchtbar“,aber „gut“. Und
es gehort in der Tat ein hoher Grad von Kurzsichtigkeit dazu,
bei einem Ubel nur immer die eine Seite zu betrachten und nicht
auch die andere, immer nur das Mittel in seiner Schreckhaftig-
keit ins Auge zu fassen und nicht auch dessen heilsame Wirkung.
Von jenem falschen Gesichtspunkt gehen die Bestrebungen von
Leuten aus, die in der Cholera nur das Schreckhche, das Grauen-
hafte sehen, den grofien Endzweck aber nicht zu erkennen ver-
mogen und deshalb in unsinniger Weise diese letzte Zuchtrute,
die uns noch geblieben, ganz auszurotten versuchen wollen.
Dieses Treiben ist auBerst gefahrlich. Denn wiirde ihnen ihre
Vornahme gelingen, dann wiirden wir den letzten Regeler ver-
lieren, der unsere Volkskraft erhalt, und das groBe Kulturleben
Europas ware bald fur immer erloschen unter den ungezahmten
Trieben einer genufisiichtigen und eitlen Gesellschaft. Gliick-
licherweise setzen sich jene Personen mit der Vernunft des Welt-
geschehens in Widerspruch, und ihre Bemiihungen werden da-
her Utopie bleiben. Es smd Ideologen, die sich von dem Boden
der Tatsachen entfernen, wenn sie meinen, dab sie den Men-
schen ,,ewiges Leben" bereiten konnten, sobald sie sie von der
Cholera befreit haben. In dieser Welt, wo alles sterben muB,
gibt es kein ewiges Leben. Der Kampf gegen die Cholera ist
daher ein Traum, und nicht einmal em schoner. Wir danken
jedenfalls fiir eine Welt, wo dieTriebe zum Wohlleben unein-
geschrankt herrschen, und die Menschheit notwendigerweise zur
Tierheit herabsinken miiBte. ,,Etwas hoffen, fiirchten und
sorgen muB der Mensch stets fiir den kommenden Morgen",
konnen wir auch hier mit dem Dichter sagen. Er wollte damit
andeuten, daB eine Menschheit, der die Cholera, die letzte
Alfred H. Fried * Die Cholera 57
Kulturseuche, noch genommen werden wiirde, die also ohne
Hoffnungen, Furcht und Sorgen von einem Tage zum andern
hindammem sollte, keine Menschheit mehr ware.
Stellen Sie sich eine solche Welt nur emmal vor, meine Damen
und Herren. Wiirde die Furchtlosigkeit nicht alle Triebe aus-
schalten, die das Werk unseres Kulturlebens geschaffen haben?
Wiirde sie nicht alle Bande der Ordnung losen und alles zer-
storen, was uns heute wert und teuer ist? In einer Welt, wo die
Menschen fur den kommenden Morgen nichts zu fiirchten
hatten, wiirde die Familie nicht mehr bestehen konnen, denn sie
beruht auf dem Wunsche der Eltern, den Kindern die Furcht
und Sorge der Zukunft zu ersparen. Mit der Lockerung oder
gar dem volligen Versagen der Familienbande wiirde aber der
Staat zerfallen, dessen feste Grundlage die Familie bildet. Und
mit dem Staate wiirde die Menschheit von hinnen gehen. Sie
erkennen schon hieraus, dafi die Cholera den Grundstein der
sozialen Ordnung bildet, und dafi jene, die die Cholera iiber-
winden wollen, in frevelhafter Weise an dieser Ordnung riitteln,
daher im hochsten Grade gefahrlich wirken. Sie wollen das
Familienleben untergraben, die Stiitze des Staates erschiittern
und damit jene grauenhaften Zustande des Urmenschentums
zuriickrufen, die keine Kultur kannten. Sie werden zugeben, dafi
es etwas Gemeingefahrlicheres als jene Bestrebungen gar nicht
geben kann. Nein, rufen wir, die wir es mit der Menschheit gut
meinen, die Cholera mufi dem Volke erhalten bleiben, und wenn
wir sie nicht schon hatten, miifite sie erfunden werden !
Gewifi mag es schrecklich sein, seine Liebsten unter den qual-
vollen Erscheinungen dieser Krankheit hinsinken zu sehen, mit
einer Plotzlichkeit, die das Schreckhafte noch vermehrt, die
Kinder der Eltern, die Frau des Gatten, die Eltern der Kinder
beraubt zu sehen, dabei zu wissen, dafi die noch Lebenden jede
Minute dasselbe Schicksal treffen konne. Els wird niemandem
einfallen, die Entsetzen einer solchen Seuche schon zu finden.
Aber hier ist auch der menschlichen Betatigung ein wichtiges
Feld eingeraumt. Der Mensch kann den Tod nicht aus der Welt
schaffen; doch kann er ihn mildern. Er kann dem unter qualen-
58
Alfred H. Fried * Die Cholera
den Schrecken Sterbenden das Leid abkiirzen, es ihm durch Be-
taubungsmittel ertraglich macben. Hier kann der Mensch seine
Menschlichkeit zeigen, sein edles Herz bekunden, das ihn von
der Tierwelt unterscheidet. Vermenschlichen wir die Cholera,
und wir werden ein groBes, unserer Zeit wiirdiges Kulturwerk
vollbringen. Aber seien wir stets eingedenk, daB der Mensch
doch nicht nur zum Vergniigen auf der Welt ist. Eine giitige
Natur hat ihm Schmerz und Qual mit auf den Lebensweg ge-
geben, damit er aus dem Widerpart der Empfindungen erst recht
die Wonnen des Lebens genieBe. Er wird das giitige Walten der
Natur auch daran erkennen, daB der Choleratod ein rascher ist.
Nur Unverstand vermochte die Natur als grausam hinzustellen.
Sie iibt in Wirklichkeit Barmherzigkeit. Ewig kann der Mensch
nicht leben, in der Regel ist ihm langes Siechtum beschieden.
Nun kommt die Cholera, die ihm den Tod, dem er ohnehin nicht
entgangen ware, in abgekiirzter Form bringt. Els ist doch Un-
sinn, immer nur das Leid und die Qual sehen zu wollen und
nicht zu erkennen, welcher Gewinn dabei trotz alledem auch fur
das Einzelwesen herauskommt, ganz abgesehen von den Vor-
teilen, die der Gesamtheit zuteil werden. Erkennt man aber
diesen Gewinn, so wird man zugeben miissen, daB es keinen
schoneren Tod geben kann, als den Choleratod wahrend einer
das Volk erneuemden Seuche. Es ist ein Tod fur die Gesamt-
heit, die opfervolle Hingabe des einzelnen fur die Menschheit,
wie die Dichter aller Zeiten und Lander ihn preisen. „Das Leben
ist der Giiter hochstes nicht!**
Bei alien Vorteilen, die uns die Cholera bietet und bei aller
Einsicht ihrer Wichtigkeit fiir die Entwicklung der Menschheit
konnen wir natUrlich nicht wiinschen, daB die Seuchen ununter-
brochen andauern. Wir brauchen Zwischenzeiten, wahrend wel-
chen wir uns all der durch die Seuchen errungenen Vorteile er-
freuen konnen. Wir erstreben ja die Cholera nicht um ihrer
Schrecken willen, sondern um der heilsamen Folgen, die diese
Schrecken mit sich bringen. So ist uns auch die Seuche nur ein
Ubergang zur seuchenfreien Zeit. Wir sehnen die Seuche herbei,
um sie los zu werden. In diesem ewigen Wechsel liegt ihre Be-
A Ifred H . Fried * Die Cholera
59
deutung. Auch in der Zwischenzeit wird die Cholera befreiend
und emeuemd wirken, denn die drohende Gefahr ihrer Wieder-
kehr wird die Menschen aufriitteln. Deshalb geht es nicht an,
die ewige Seuchenfreiheit herbeizusehnen. Indem wir der Ge-
fahr der Seuche bewufit sind und uns auf sie vorbereiten, ziigeln
wir die Wucherungen des Lasters, hemmen wir die Entwicklung
des Materialismus, geniefien wir schon die wohltuende Macht
der Zuchtrute, ohne die Zuchtrute selbst zu fiihlen.
In dieser Zeit der Erwartung geniefien wir schon die Vorteile
der Einrichtung. Die Erwartung ist es, die die Furcht wachhalt
und den Kampf gegen die Cholera ermutigt. Das heifit, nicht
den Kampf zu ihrer Ausrottung, sondem den zur moglichst
langen Erstreckung der Zwischenraume. Dieser Kampf be-
fruchtet das geistige Leben, regt die Ideen an und setzt die
Hande in Bewegung zur Erzeugung all der vorbeugenden und
lindemden Mittel. Tausende finden Arbeit durch diesen Kampf
gegen die drohende Seuche. Es kommt daher Geld in unge-
heuren Massen unter die Leute, Millionen und aber Millionen
werden ausgegeben, die die Volkswirtschaft befruchten, da sie
im Lande bleiben. Wir bauen Spitaler, errichten Barackcn,
fiihren Wasserleitungen aus entfernten Gebirgen bis in unsere
Stadte, errichten wohlausgekliigelte umfangreiche Kanalisations-
netze, stellen teure Filteranlagen her, erzeugen in grofienMengen
die bewahrten Entkeimungsmittel ; wir errichten Lehrstiihle fiir
Bakteriologie und Gesundheitslehre an unseren Uni versitaten ,
bilden Arzte, Krankenpfleger und Entkeimungstechniker aus,
kurz, es kommt ein Streben und Ringen zum Durchbruch, das
die Gesamtheit erhalt, und angesichts der Drohungen des Todes
schaffen, starken und erhohen wir das Leben. Immer eindring-
licher und verstandlicher wird die Lehre : „Wenn du das Leben
willst, bereite den Tod vor”.
Betrachten wir nun die heilsamen Einfliisse der Cholera auf
das Leben der Gesellschaft . Da ist vor alien Dingen das grofie
und wichtige Gebiet der offentlichen Gesundheitspflege. Wir
wissen heute, welche Rolle die Reinlichkeit im Leben des Men-
schen spielt und berechnen den Kulturgrad eines Volkes nach
60
Alfred H. Fried ♦ Die Cholera
dessen Verbrauch an Seife. Gewifi freuen wir uns, wenn wir uns
dabei sagen konnen, dafi gerade unser Volk In diesem Konsum
an der Spitze steht. Aber da miissen wir uns auch befriedigend
sagen, daB die volkstiimliche Korperpflege, das offentliche Bade-
wesen noch sehr im Argen liegen wiirde, daB nur wenige sich
waschen wiirden, das Relnhchkeitsbediirfnis in keinem Falle so
ausgebildet ware, wenn nicht die dauernde Gefahr der groBen
Seuche drohend iiber unseren Hauptern schwebte.
Bekannt ist ferner, daB diejenigen am leichtesten das Opfer
der Seuche werden, die nicht die geeignete korperliche Wider-
standskraft besitzen. Diejenigen, die unterernahrt sind, deren
Korperhaushalt durch Mangel oder Ausschweifungen in Un-
ordnung geraten ist, sind die vorherbestimmten Opfer. Was ist
die Folge davon ? Die stets drohende Gefahr der Cholera treibt
die Menschen an, ihren Korper widerstandsfahig zu machen,
ihm die richtige Ernahrung zuzufiihren. Um dies durchfiihren
zu konnen, miissen sie Fleifi und Tatkraft an den Tag legen, um
im Kampfe ums Dasein sich die Moglichkeit einer
Ernahrung und durch sie die notige Widerstandskraft zu er-
ringen. So sehen wir hier die Seuche nicht nur als emen wirt-
schaftlichen Beweger hochsterBedeutung, denn der FleiB des em-
zelnen Menschen hebt die gesamte Wirtschaft, sondern auch als
emen unentbehrlichen Hauptpunkt der Gesundheit. Die Cholera
ist es gerade, der wir unseren erhohten Gesundheitszustand ver-
danken. Diejenigen Volker, die haufiger an der Cholera zu
leiden haben, sind nicht nur die gesiindesten, sie sind es auch,
die wirtschaftlich und kulturell am hochsten stehen; wahrend
jene, die sie sich vom Leibe zu halten suchen, sich im Verfall
befmden und zum Untergang bestimmt sind.
Und nun die sittlichen Werte, wie werden diese durch die
Cholera gesteigert? Sehen wir doch hin, wie in Zeiten der
Seuche alle Eitelkeiten und Kleinlichkeiten verschwinden, wie
alle Unterschiede des Glaubens, des Volkstums, der Geburt, des
Ranges, des Besitzes, des Geschlechtes und des Alters aufhoren,
und jeder, nur als Mensch unter Menschen sich fiihlend, ledig-
lich darauf bedacht ist, an den Werken zur Bekampfung der
Alfred H. Fried ♦ Die Cholera
61
Seuche und zu ihrer Linderung mitzuwirken. Nur in solcher
Zeit sieht man den Sinn fur Gemeinsamkeit, die Opferfreudig-
keit, die Hingebungsfahigkeit, die wahre Rehgiositat der Men-
schen sich entfalten und reiche Bliiten tragen. Man hat diese
Eigenschaften auch dem Kriege zugeschrieben. Diejenigen, die
das tun, haben nur zum Teil recht. Der Krieg ist nicht mehr
imstande, im gleichen Mafie wohltuend zu wirken wie die
Cholera. Schon weil er viel zu selten geworden ist. Dann aber,
weil er einen grofien Teil der Menschheit von den Wohltaten,
die er erzeugt, von vomherein ausschliefit. So kommen fur die
Auslese und Forderung im Kriege nur die Manner in Betracht,
und auch da nur die im wehrfahigen Alter stehenden. Die
Cholera geht auf die Gesamtheit der Menschen, sie macht keinen
Unterschied zwischen Mann und Frau, zwischen Saugling,
Jiingling und Greis, zwischen Hochgestellten und Niedrigen.
Sie erfafit sie alle. Sie ist das Allheilmittel der Menschheit. Und
wahrend es im Kriege auch bei den Teilnehmern noch immer
einen groBen Bruchteil gibt, der nicht unmittelbar an den
Kampfen beteiligt ist, sondem hinter der Front wirkt, gibt es bei
der Cholera diese Unterschiede nicht. Da stehen alle an der
Front. Beim Kriege kommen die durch ihn gezeitigten Vorteile
auch noch dem gegen uns kampfenden Feinde zugute. Diese
Unzutraglichkeit fallt bei der Cholera weg. Els ist moghch, sie
allein im eigenen Lande wiiten zu lassen und so den Nachbar
ihrer Vorteile zu berauben. Sie ist daher nicht nur das groBte,
allgemeinste, sondern auch das nationalste Zuchtmittel der
Menschheit.
Aber trotzdem wirkt sie auch, innerhalb verniinftiger Grenzen,
volkerverbindend, fordert sie — weit entfemt, zu Traumereien
Anlafi
zu
geben
auch die Verstandigung von Volk zu Volk, von
Staat zu Staat. Wir wissen namlich, daB sich die Seuche allmah-
lich von Land zu Land fortzupflanzen pflegt. So ist man auf den
Gedanken gekommen, die Beobachtung ihrer Entwicklung, die
Vorbereitungen zu ihrer Bekampfung durch zwischenstaatliche
Einrichtungen und MaBnahmen zu erleichtern. Wir wissen, daB
der Beste nicht seuchenfrei leben kann, wenn es dem bosen
62
Alfred. H. Fried • Die Cholera
Nachbar nicht gefallt. Das hat uns aber gelehrt, den bosen
Nachbar zu iiberwinden und aus ihm einen guten zu machen.
So fiihrt die Cholera die Menschen auf einen Weg der briider-
lichen Zusammenarbeit.
Wir haben schon angedeutet, welche Forderung die Cholera
der Wissenschaft zuteil werden lafit, als wir von der Entwicklung
der Gesundheitslehre sprachen. Els soli aber nicht unerwahnt
bleiben, dafi sie es ist, der wir den grofien Aufschwung der
Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert verdanken. Auf der
Suche nach ihren Ursachen sind unsere Gelehrten immer tiefer
in die Geheimnisse des Alls eingedrungen. Die Drohungen und
Note der Seuche waren es, die zu einem immer vollkommeneren
Ausbau der Mikroskopie gefiihrt und uns so die jahrtausende-
lang verborgene Welt des unendlich Kleinen erschlossen haben.
Die Cholera fiihrte so die Wissenschaft zur Elntdeckung zahl-
reicher anderer Krankheitserreger und damit die Heilkunde zu
einer friiher ungeahnten Bliite, die Biologie zur Liiftung der
geheimsten Vorgange des Lebens.
Aber nicht nur die Naturwissenschaften und die Heilkunde
hat die Cholera belebt und gefordert. In der steten Sorge um die
uns durch sie bedrangende Gefahr verfolgen wir die Spuren der
Seuche durch die ganze Welt. Der einfachste Mann, dessen
Kenntnis von der Welt sonst fiber die engen Grenzen seiner
Heimat nicht hinausreichen wiirde, lemt auf diese Weise, sich
auf dem Erdball auskennen. So fordert die Cholera auch unser
Wissen von der Erde, die Wissenschaft der Geographic. Und
„wenn Wissen Macht ist, so ist das Wissen von der Welt Welt-
macht“, wie ein Verleger von Atlanten und Landkarten weise
behauptet.*)
Ich sehe eine Frage auf den Lippen meiner verehrten Horer
und Horerinnen. Wie steht es mit dem EinfluC der Cholera auf
die Kunst ? Hier konnen wir allerdings nicht so befriedigend die
Antwort geben. Doch lafit uns die Allbewegerin auch hier nicht
*) DaB auch der Krieg das geographische Wissen fordert, hat Ludwig
Bauer (Wien) in der ..Frankfurter Zeitung" (15. Dez. 1914) iiberzeugend
dargelegt. Dies sei neidlos zugegeben. Der Verf.
Alfred H. Fried * Die Cholera 63
ganz im Stich. Gewifi, so befruchtend wie die groBen Seuchen
des Mittelalters auf die Kunst gewirkt haben, wirkt die Cholera
nicht. Zu den Zeiten, als die Pest noch unsere Lander heim-
suchte, bliihte das Zeitalter der Wiedergeburt, schufen die
groBen Meister des Quattrocento und des Cinquecento. Wer
steht nicht bewundernd vor den Pestgemalden eines Rubens und
anderer, vor den herrlichen Pestsaulen in unseren Stadten, die
aus Dankbarkeit fiir das Verschwinden der Seuche von frommen
Kiinstlem errichtet wurden ? Wahrend einer Pestzeit in Neapel
hat das Meisterwerk der Weltliteratur, Boccaccios Dekameron,
seinen Ausgang genommen. Die Cholera kann nicht mehr in
solchem Umfange auf die Kunst belebend einwirken, in einer
Zeit, die mehr der Entwicklung der Wissenschaft und Technik
zustrebt als der kiinstlerischen Entfaltung. Aber der in der jiing-
sten Gegenwart sich so sehr entwickelnde Zweig der Graber-
kunst findet in der Cholera, indem sie die Todesfalle mehrt,
einen Anspom. Auch die Baukunst findet in ihr eine Forderin,
wenn das Beispiel der Dankkapellen fur erloschene Epidemien,
wie wir ein solches in der Cholerakapelle bei Baden nachst Wien
besitzen, Nachahmung fande. In Bertha von Suttners Welt-
roman „Die Waffen nieder !“ finden wir in dem Kapitel „Die
Cholerawoche von Grumitz" in ergreifender Weise das Wiiten
der Seuche geschildert. Im allgemeinen hat sich die heutige
Literatur noch wenig dieses dankbaren Themas angenommen.
Es ist jedoch zu hoffen, daB nach dem Ende des Weltkrieges
namentlich unsere Lyriker in ihr einen dankbaren Stoff finden
werden. Das langst erwartete „Lied von der Cholera" wird auch
noch seinen Sanger finden.
So sehen wir denn, meine verehrten Horer und Horerinnen,
dieses sogenannte Ubel auf alien Gebieten menschlicher Betati-
gung befruchtend und befreiend wirken, sehen wir, wie die Kul-
tur durch sie Anregung empfangt, die Wirtschaft und der gesell-
schaftliche Fortschritt Forderung finden und wie, nicht zuletzt,
die sittlichen Triebe der Menschheit durch sie zur Entfaltung
gebracht werden. Technik, Wissenschaft, Kunst, Handel, Ge-
werbe, Gesundheit, das innere Ich des Menschen, alles dies wird
64
Alfred H. Fried * Die Cholera
hoher entwickelt durch ihren segensreichen Einflufi! Wie schal
ware das Leben ohne Cholera! Wie wenig lebenswert ware es,
wenn jene Erfolg hatten, die sich unterfangen, der giitigen Natur
in ihrWalten zu pfuschen, und uns ganzlich von dieserSeuche
befreien wollen.
Ohne Cholera wiirde die Menschheit in Marasmus verfallen.
Hatten wir die Cholera nicht, die Menschheit befande sich noch
auf der Tierstufe; sie wiirde mit ihrem Erloschen wieder zur
Tierheit herabsinken. Nein, in einer solchen Welt mochte man
nicht leben. Der Cholera verdanken wir unseren Aufstieg, ihr
werden wir unsere weiteren Fortschritte verdanken. Sie ist das
groBe Schicksal, von dem der Dichter sagt, dafi es den Menschen
erhebt, indem es den Menschen zermalmt.
Willy Kiistcrs ♦ Mdancholie des Soldo. ten
65
Cliffy (JQisters:
MELANCHOLIE DES SOLDATEN
Verblichner Abend Schwermut schlingt sich grau
Um meine friihgefurchten Schlafenflachen ;
Erbebend seh ich meine Hande feucht vom Tau
Der Seelennote aus des Fleisches Schwachen.
Mem weher Kopf! Das Denken ist zerbrochen.
Es weitet wilde Ebene trostlos sich und leer.
Ein grauer Vogel zieht die Seele iibers Meer
Zu Schadelstatten und gebleichten Knochen.
O dafi kein Trost in dieser Wirrnis blieb!
Mit bosem Wahn, getneben, ohne Trieb
Bin ich verdammt, der Jugend Lust zu tauschen.
Will denn der Quell der Not sich nie erschopfen?
Ich hor des Todesengels schwarze Schwingen rauschen.
Er spiegelt sich in meinen blankgeputzten Knopfen.
S. D. Steinberg ♦ Gesicht
of. (D. Steinberg :
GESICHT
In einer Wiese stehst du, ganz im Schmerz ertrunken.
Die Sonnenkugel liegt gesunken
Am Rand der Welt.
Du stehst hineingestellt
In ihre rote Scheibe;
Auf deinem demutsvollen Leibe,
Auf deine Hande, iiber dein Gesicht
Rinnt wie ergliihter Flu8 ihr blutig Licht.
Mir ist, als standest du entkleidet in dieser Glut ;
Und durch dein Fleisch hindurch seh ich dein Blut
Als wie in unsichtbaren Rohren — steigen — sinken.
Dein unruhvolles Herz wachst auf im Trinken,
Erfiillt den Korper, wachst aus ihm heraus
Und schwillt und rundet sich und dehnt sich aus.
Verdrangt die Sonne, lodert rot in Flammen,
Verzuckt, erlischt — und fallt in Nichts zusammen .
Und auch die Sonne steht nicht mehr am Grat.
- Tut es so weh, was ich dir tat?
Hab ich dein Tiefstes aufgeriihrt?
Schwer ist der Weg, der Mensch zum Menschen fiihrt.
Glossen
67
GLOSSEN
<S/n eRei<£siagsausf<Aufi fur
auswdrfige Sflngefegenfieiten.
Stiirmisch pocht das deutsche Volk
an die heilige Pforte des Tempels, wor-
in die Diplomaten die Geschicke der
Nation weben. Els begehrt nichfc nur
EinlaB zum Schauen, sondem auch
tatige Mitarbeit am diplomatischen
Werk, Mitarbeit und Aufsicht. Eine
Instanz soil geschaffen werden, wel-
che diese Betatigung des Volkes an
den auswartigen Angelegenheiten liber-
nehmen kann. Man spricht von einem
standigen parlamentarischen AusschuB.
Nun, dieser AusschuB miiBte jeden-
falls etwas anderes sein, als der heute
bereits bestehende BundesratsausschuB
fur auswartige Angelegenheiten, wo
Bayern zwar den Vorsitz fiihrt, der aber
nur da zu sein scheint, um der Reichs-
regierung bei den seltenen Gelegen-
heiten, wo er zusammentritt, eine gute
Zensur zu erteilen.
Versuchen wir, uns ein praktisches
Bild von einem solchen parlamentari-
schen AusschuB zu machen. Bisher
wurden bekanntlich im Reichstage die
auswartigen Angelegenheiten, schon
mit Riicksicht auf das Ausland, meist
sehr oberflachlich behandelt. Die
eigentliche Stelle dafur ist heute die
groBe, aus 28 Mitgliedern bestehende
Budgetkommission. Der Staatssekre-
tar des Auswartigen Amtes und sein
Stab geben hier gewiinschte und nicht-
gewiinschte, meist vertrauliche Auf-
klarungen bei der Beratung iiber den
Etat des auswartigen Amtes. Auch
werden manchmal den begliickten Ab-
geordneten einzelne Berichte oder viel-
mehr Teile aus den Berichten unserer
auswartigen Vertreter zur Kenntnis ge-
bracht. Ein Recht der Kommission auf
Vorlage von Akten und Zeugnissen, auf
Anstellung einer Enquete oder ahn-
liches gibt es nicht. Wohl entspinnen
sich ab und zu eingehendere Diskus-
sionen zwischen den Vertretem des
Amtes und des Volkes. Zu praktischen
Ergebnissen fiihren sie selten. Irgend-
einen EinfluBauf die Fiihrung der gros-
sen auswartigen Politik haben diese Er-
orterungen aber auf keinen Fall. Sie
konnen dies schon deswegen nicht, weil
sie stets post festum kommen und ge-
wohnlich nur einmal im Jahre statt-
finden. Auch fehlt den Abgeordneten
jedes Material, um die auswartigen
Vorgange ernsthaft beurteilen zu kon-
nen. Denn das, was sie aus der Presse
erfahren, entspricht auch nur selten der
Wirklichkeit oder ist von amtlicher
Stelle in dem Sinne beeinfluBt, wie es
dem Leiter der auswartigen Politik im
Augenblick gerade passend erscheint.
Hier muB zuerst der Hebei angesetzt
werden. Um Mitglieder eines aus-
wartigen Ausschusses eingehend auf
dem Laufenden zu erhalten , muB dieser
68
Glosscn
dguemd tagen. Dabei ist es nicht aus-
geschlossen, daB er durch seinen Vor-
stand die tagliche Beriihrung mit dem
Auswartigen Amte aufrecht erhalt. Er
selbst sollte aber mindestens einmal im
Monat in Berlin zusammenkommen.
Zu Mitgliedern dieses Ausschusses
mlifiten die einzelnen Parteien des
Reichstages besonders solche Abgeord-
nete wahlen, welche infolge ihres Auf-
enthaltes, ihrer Studien oder Bezieh-
ungen Auslandserfahrungen gesammelt
und daher in der Lage sind, die poli-
tische undsozialeStruktur, Geschichte,
Denkweise und Stimmung fremder
Volker richtig zu wiirdigen. Solchen
Abgeordneten wird es viel leichter
fallen, das vom Auswartigen Amte dar-
gebotene Material kritisch zu beur-
teilen und unseren oft in Kastengeist
und Standesdiinkel befangenen Diplo-
maten die Augen zu offnen. Falls der
heutige Reichstag derartig qualifizierte
Personlichkeiten in genugender Anzahl
noch nicht besitzen sollte, so wird ge-
rade die Mitarbeit im Ausschufi und
Um einen niitzhchen EinfluB auf die
Fiihrung der auswartigen Pohtik aus-
zuiiben, darf der AusschuB keinen nur
informatorischen Charakter tragen,
wenn er auch umgekehrt nicht die Be-
fugnis haben soli, Anordnungen oder
Befehle zu erteilen. Die Art seiner
Tatigkeit ist am besten als eine berat-
schlagende zu bezeichnen, indem der
auswartige Staatssekretar und der Aus-
schuB in voller Kenntnis der Sachlage
wichtigen auslandischen Fragen gegen-
iiber gemeinsam Stellung zu nehmen
versuchen. Die letzte Entscheidung
und Verantwortlichkeit mufi auf jeden
Fall der Minister tragen.
Allerdings darf man sich dabei nicht
verhehlen, dafi bei unseren heutigen
politischen Verhaltnissen diese Verant-
wortlichkeit rein auf dem Papiere steht
und ein leeres Wort bedeutet. Umdies
zu andern, miiBten wir im Reich den
Boden des Scheinkonstitutionalismus
verlassen und in demokratischere Bah-
nen einlenken mit verantwortlichen
Reichsmmistern.
die dabei erworbenen Kenntnisse die- Bei den Beratschlagungen kann es
sem Mangel schnell abhelfen. Nach- sich natiirlich nicht darum handeln,
dem das Volk die Wichtigkeit der aus- daB die Volksvertreter sich in den Gang
wartigen Politik fur das ganze Staats- jeder einzelnen diplomatischen Ver-
leben durch diesen Krieg erkannt hat, handlung oder Besprechnung ein-
wird es hoffenthch bei der Wahl seiner mischen. Was aber verlangt werden
Vertreter in Zukunft mehr darauf muB, ist, dafi der auswartige Lenker
achten, solche Manner in den Reichs- vor Eintritt in Verhandlungen mit
tag zu senden, welche zur Losung aus- fremden Regierungen dem AusschuB
landischer Probleme besonders geeig- die Richtlinien genau darlegt, denen er
net sind. zu folgen gedenkt, damit dieser Stel-
Die Zahl der Mitglieder sollte weder lung dazu nehmen kann. Auch ware
zu groB, noch zu klein sein, damit einer- dem AusschuB von jeder Veranderung
seits ernsthaft gearbeitet werden kann, in den Beziehungen zu fremden Staa-
anderseits geniigend KraftezurBildung ten Kenntnis zu geben, schon damit er
von (Jnterkommissionen zur Verfugung in der Lage ist, festzustellen, ob dieser
stehen. 20 Mitglieder sollten geniigen. Umschwung der eigenen oder der
>•
Glossen
69
fremden Regierung zur Last zu legen
ist.
Ober vertrauliche Mitteilungen hat-
ten die Mitglieder des Ausschusses
selbstverstandlich Stillschweigen zu
beobachten. IndieserBeziehungkennt
die Regierung z. B. von den militari-
schen Kommissionsverhandlungen her
die Verschwiegenheit unserer Volks-
vertreter. Es wird aber darauf zu ach-
ten sein, daB nicht etwa nach heutiger
Diplomatensitte jedes eingegangene
chiffrierteTelegramm als groBes Staats-
geheimnis behandelt werde. Wirkliche
heutigen
Die Di-
meistens
Geheimnisse gibt es in der
Zeit nur noch recht wenige.
plomatengeheimnisse sind
„secrets de Polichinelle‘\
Ein Hauptpostulat ware ferner, daB
der AusschuB das Recht bekommt,
nicht nur die Vorlage von Akten und
anderen Zeugnissen zu verlangen, son-
dern daB er auch befugt ist, von unsern
auswartigen Vertretern Berichte iiber
besondere Fragen einzuholen. Er
miiBte auch das Recht haben, unsere
Auslandsvertreter in seine Mitte zu
rufen und anzuhoren. Dies ware auch
aus einem andern Grunde sehr nutz-
bringend. Die Volks vertreter hatten
dadurch Gelegenheit, in personliche
Beziehungen mit unsern Auslands-
beamten zu kommen und sich ein
eigenes Urteil liber deren Fahigkeiten
zu bilden. Sie konnten auf Grund
dieser Personalkenntnisse ihren Ein-
flufi bei Besetzung der Auslandsposten
zum Ausdruck bringen. Heute er-
folgen diese Ernennungen oft weniger
nach rein sachlichen Gesichtspunkten,
als vielmehr nach Familien-, Korps-
und Regimentsbeziehungen. Im Inter-
esse der Allgemeinheit ist es daher
dringend erforderlich, daB der Aus-
schufi gerade bei der Wahl unserer aus-
wartigen Vertreter einWort mitzureden
hat. Schon heute bekanntlich wird jede
Ernennung eines Konsuls vor den Bun-
desratsausschuB fiir auswartige Ange-
legenheiten gebracht. Warum soli
nicht auch die Volksvertretung ein ahn-
liches Recht erhalten, von dem sie aber
hoffentlich bessern Gebrauch zu ma-
chen verstehen wird als heute der
Bundesrat? Gerade da von, daB im
AusschuB der richtige Mann auf dem
richtigen Posten steht, hangt, wie wir
alle heute wissen, das Wohl und Wehe
Tausender ab.
Wenn man dagegen einwenden
wollte, daB dies eine Einmischung in
die Rechte der Exekutive sei, so ist dar-
auf zu erwidern, dafi es sich nur um
eine Abwehr der Legislative handeln
wiirde gegen unberechtigte Ein-
mischung unverantwortlicher Faktoren
in die Geschafte eben dieser Exekutive.
Im Grunde wird es sicher der Regie-
rung nur angenehm sein konnen, wenn
ihr hierdurch ein Teil ihrer Verant-
wortlichkeit dem Lande gegeniiber ab-
genommen wird.
Die Kenntnisse, welche unsere
Volksvertreter sich iiber die tatsach-
liche diplomatische Lage und iiber die
im auswartigen Dienste wirkenden
Personlichkeiten erwerben.werden dem
ReichstagsausschuB erst die Moglich-
keit geben, mit Autoritiit der Regierung
und dem Lande gegeniiber seine
Stimme geltend zu machen. Denn
Kenntnisse sind Macht, ohne Kennt-
nisse sanke der AusschuB zu einem
blofien Schatten herab, wie die heutige
Budgetkommission in auswartigen
Fragen.
70
Glossen
Auch d er Geist der diplomatischen
Berichterstattung wiirdc sich von
Grund auf andern, wcnn unsera Aus-
land avert re ter wiiBten, daB ihre Be-
richte vor die Kontrolle kenntnis-
reicher Vollcsvertreter kommen. Heute
wird diese Berichterstattung haufig
stark beeinfluBt durch personliche
Motive. Man kennt die Ansichten der
Zen t rale und hoherer Stellen. Man
will vorwarts kommen. Da heiBt es oft
vorsichtig sein, urn nach oben nicht an-
zustoBen. Kommt es doch leider sogar
vor, daB der Beamte im Auslande von
der Berliner Zentrale einen Wink be-
kommt, lieber in dieseroder jener Rich-
tung zu berichten. So werden viel-
fach mehr bureaukratische oder dy-
nastische Interessen gefordert ; das
Volkswohl tritt zuriick.
Gber die auswartige Politik des
Reiches hatte der AusschuB in be-
stimmten Zeitraumen, mindestens je-
doch zweimal im Jahre, dem Reichstag
einen ausfuhriichen Bericht vorzu-
legen. Die Kenntnisse der Volksver-
treter in auswartigen Fragen wiirden
dadurcherheblicherweitert. Auch dies
konnte der Regierung nur angenehm
sein, da ein unterrichteter Reichstag ihr
weniger fruchtlose Kritik entgegen-
setzen wird. Und schlieBlich konnte
auch die Presse aus diesen Berichten
wert volte Informationen schopfen und
mit mehr Sachkunde als bisher die
offentliche Meinung unterrichten, was
zur Zerstreuung von MiBtrauen und
zur Aufklarung von MiBverstandnissen
im In- und Auslande viel beitragen
wiirde. Chis dfpfomaticus.
&ciuafismus
Alle kiinftige Rede, Aussprache, Li-
teratur, Mitteiiung fiirs Leben wird
nicht mehr psychologisch sein, sie wird
metaphysisch sein. Ubersetzt ins Vo-
kabular unserer Realitat, der Realitat
von Wesen der groBen Menschen-
gemeinschaft, heiBt das: sie wird
ethisch sein. Unsere Ohren, die trotz
der Mordjahre in eine neue Zeit
hinein horchen, werden anderes nicht
mehr zulassen.
Der Weg, den wir in die Ewigkeit
nehmen, muB durch die Jetzigkeit
gehen. Der Leib des Menschen ist
nur einmalig, aber diese Einmaligkeit
ist sein hochster Wert. Je tiefer und
vollkommener wir einmalig sind, urn
so gemeinsamer sind wir alien. Je
eindeutiger wir uns entscheiden, um
so unendlicher ist unser Handlungs-
bereich. Nur wenn wir unser Leben,
das eines menschlichep Wesens, ganz
auf der Erde durchsetzen, werden wir
auch geistiges Wesen sein. Der Eremit
und der (sogenannte) Asket sind
Spezialitaten. Sie betrachten das Gei-
stige als Sonderexistenz, wie Kinder
das Licht durch ein Kaleidoskop an-
schauen; sie sind Verwirrer, denn sie
lenken das menschliche Denken vom
Geist ab, und der Betrachtung eines
Betrachters zu; zuletzt, sie verwirk-
lichen nicht, sondern traumen nur die
Verwirklichung. Jede Lehre, die allein
auf die bloBe „Vermeidung des Sund-
haften*' ausgeht — kann sehr groB
sein, sie ist aber nur eine Lehre der
schonen Haltung, des Symbolischen
und des Niveaus. Nichts ist ruchloser
Glossen
71
als Exklusivitat, und nichts grausamer
als Isolation. Nur die Lehre, und
einzig sie, hat Sinn fur den Menschen,
deren Wort uns ein Zeichen auf den
Weg setzt gegen unsere Frage: Was
sollen wir tun?
Was wir nicht tun sollen, wissen
wir heute mehr als je.
Aber nie kann eine Antwort auf
diese Frage heifien : Abwarten I — Sie
mu6, im Gegen teil, auf bestimmteste
Einzelheit gebracht, heiBen : Handeln !
Und : Selbst handeln 1 Und : Ge-
meinsam handeln ! Zu fordem ist
noch mehr; die Bestimmung: Wann
handeln, wie handeln, wohin handeln.
Wenn wir handeln, begehen wir oft
Unrecht. Es ist falsch, darum vom
Handeln abzulassen. Unsere Ver~
einzelung, die des Nichthandelnden,
begeht viel grofieres Unrecht. Jeder
weiB das aus seinem praktischen
Leben. Nur das Schlimmste sei er-
wahnt: der Vereinzelte will nicht
^gestort*1 werden. Es ist uns aber
gegeben, oft Unrecht zu begehen,
wenn es aus Giite geschieht und fur
die Gerechtigkeit. Ohne Giite und
ohne das Ziel der Gerechtigkeit gibt
es kein Handeln; was man, falschiich,
so nennt, ist nur die automatische,
wieder in sich zuriickschnappende Be-
wegungeinesangestoBenen Uhrwerkes.
Wirkliches Handeln ist aber stets :
Handeln fur den Geist. Und was ist
,,Vermeiden des Siindhaften" anderes
als Schmuck; Dekoration des Ethi-
schen; Kunstgewerblichkeit des Ge-
meinschaftslebensl Es ist weder see-
lische noch geistige Gesinnung, das
Bose aus dem Leben ( — um einen fur
die Besitzidee bezeichnenden Maler-
ausdruck zu gebrauchen — ) „auszu-
sparen“. Es ist nur bequem. Es ist —
erbarmlich schauerlichster aller Zu-
stande — zufriedenstellend ! Kennen
wir nicht jene hohen, hellen und
jammerhaft oden Laboratorien, Bier-
hauser, Kaufpalaste, in denen das
Storende, Unangenehme und soge-
nannte Unklinstlerischeausgespart und
vermieden wurde ? Sie sind die Kron-
zeugen der Monumentalitat aus Men-
schenangst. So fuhrt auch die Ver-
meidung des Siindhaften zu einer
leerhallenden Architektonik des Le-
bens. Und es bleibt im erhabensten
Falle, daB der Betrachter, welcher
menschenfliichtend im chaotisch echo-
werfenden Mittelsaal seines siind-
losen Monumentalhauses sitzt, sich
von Stinde frei glaubt. Wahrend
drauBen rings um die Unschuldsburg
das Bose an die Mauem schaumt.
Nicht Vermeidung des Bosen gilt
es, sondern Widerstand gegen das
Bose.
Aber der Widerstand gegen das
Bose ist nur ein geringer Kreisaus-
schnitt des Lebens, und schon langst
einbegriffen im groBen Umkreis des
Handelns. Wer handelt, fur den Geist
handelt, der iebt auch zugleich stets
im Widerstand gegen das Bose.
Entriickte und Ekstatiker preisen
die Zeitlosigkeit. MiBtraut ihnen!
Denn der Zeitlose weiB nur vom Ich,
nicht mehr vom Anderen. Er weiB
nicht von Gut und Bose, nicht von
Recht und Unrecht. Er weiB nicht
von Werten. Aber die Werte sind
gottliche Stundenzeiger fur den Men-
schen. Der Zeitlose will uns glauben
machen, er sei in Gott eingegangen.
Aber das kann man nicht. Und er
beliigt sich und uns um einer Aus-
n voi. m/a
72
Glosscn
flucht willen. Man kann nur, in der
groBten Stunde des Lebens, zum
eigenen BewuBtsein von der Existenz
Gottes kommen. Abcr diese Stunde
gibt unverlierbar die gottlichen Weg-
weiser, die Werte, in die Hand des
Menschen. Dagegen die Zeitlosigkeit
der Mystiker ist nur eine Entschuldi-
gung fiir die Beschaftigung mit der
rein psychologist: Hen Verfassung des
Menschen, seiner elementenmaBigen.
Die eitle, unausgefiillte, alles gleich-
setzende — entwertende — Wider-
standslosigkeit des Psychologischen
gegeniiber der metaphysischen Exi-
stenz des Menschen wird immer in
Zeiten der Krise sichtbar. Vielmehr
diese Sichtbarkeit rtf die Krise.
Hcilig sei uns die Zeit. Die er-
habcnste Forderung vor uns selbst
heifit: Jetzt! Entzeitlichung heifit
Aufschub. Aller Aufschub entmenscht
uns. Nicht Vertrostung tut heute
Not, sondern Trostung. Nur wenn
wir geben, aktiv lieben aus dem Geiste,
wenn wir handeln : konnen wir trosten.
Nichts bleibt uns iibrig, als in die
Welt einzugreifen.
Der Aufschub, die leeren Ver-
sprechungen, brennen der Menschheit
die tiefsten Wunden. Nur die ewige
und stets von neuem wundertragende
Entscheidung des Augenblicks, der
Mut zum unbedingten „Gleich Jetzt f‘
kann uns heilen. Nicht einmal be-
greifen werden wir die Ewigkeit, noch
weniger in ihr leben, ohne das Gegen-
maB des Jetzt. Aber gerade das
auBerste, beschrankteste, unmittel-
barste und gliihendste Jetzt ist das
Sprungbrett, das uns im Sturm-
schwung in die Ewigkeit tragt, und
selbst, unter dem Anprall unserer
FiiBe, in Triimmer fliegt.
Badwig ‘Rubmer.
tfb'mm dem OCreuz .
Ein Mensch, zermartert vom Wusten
der Tage, in Notwehr feindselig gegen
alles um sich und gegen das eigene
Herz, fltichtete ins Gebirge, fliichtete
vor dem Gebirge zuriick in vertraute
Umklammerung des kleinlich Promp-
ten, erlebte dieses Buch, konnte wieder
weinen, schlug an seine Brust und
kniete: — „Gott, sei mir Sunder
gnadig!“
Franz Jungs Dichtung „Opferung“
(im Verlag der Wochenschrift }fDie
tflfrtiori*, Berlin-Wilmersdorf) hat jenes
Leuchten von innen, mit dem sich
jede wertvolle Schopfung beweist,
jenes kristallisch eindringliche Leuch-
ten, das die Seelen sich erschiittert auf
sich selbst besinnen laBt. Weil sie ein
Bekenntnis ist, rein wie der Schild, in
dem der Unerbittliche sich spiegelt,
noch gliihend von der kostlichen Miih-
sal urns letzte, eigene Hier-stehe-ich,
mit keinem voreiligen Stigma bestemt,
miindend in den groBen goldenen
Ozean, wo Menschen welle zu Men-
schenwelle in ewiger Umarmung halt.
Dabei nicht blind oder hart vor eitel
Askese, sondern gleitend in einer fast
schon uberirdischen Freude, von man-
chem AuBenwege und manchem ab-
seitigen Rasten einen zartbunten Kranz
und ein allgiitiges Lacheln mit hiniiber
nehmend in den weiten, noch kaum
Glossen
73
iibersehbaren Plan, in dem das end-
giiltige, entscbeidende Werk der Ver-
heifiung sich leistcn will. Eine vor-
bildliche Dichtung — vorbildlich nicht
fur das Was des Lebens: man kann eine
ganz entgegengesetzte Skala der Leiden
und Gliicklichkeiten, der Motivierun-
gen und Endurteile aufbauen, aber
im hochsten Grade vorbildlich fur das
! Wie: fiir das Eine, das not tut, den
Grund, ohne den alles Schmutz wird
und Liige und Verlust, vorbildlich
fur die Frommigkeit, mit der das
Dasein gesichtet werden muli. Das
Wort Frommigkeit bekommt von sol-
- cher Dichtung seine schwere Verant-
wortung und Bedeutsamkeit wieder
t und eine neue, zum reifsten bereite
" Jugend. Nimm Dein Kreuz auf Dich
c und folge mir nach ! Aber mit cDeinem
- Kreuze — Du Bruder mein! — Ich
mochte noch verkiinden, dafi ich
„Opferung“ als das vollkommenste,
schlichteste, wahrhaftigste von den
Buchern des Franz Jung fiihle (die alle
schlicht und wahrhaftig sind). Dafi
eine Musik darin ist, die im Blute
bleibt . . . im Blute Bliiten aufers'ehen,
: im Blute Glockchen schwingen lafit . . .
Als ob der Dichter in einer glasernen
Kugel nachtlich iiber aller Welt schwe-
bend einmal so nahe seines Herzens
unbeirrtesten Ton erhascht hatte, wie
man ihn nur in der Stunde horen darf,
die man mit dem ganzen Leben zu
zahlen entschlossen ist. Nichts wird
abgetuscht, nichts nachgestickt — der
ganze Passions - und Heils - Weg noch
einmal von Anbeginn zu Anbeginn
durchschritten, erhobenen . . . fast
erhobenen, nicht stolzen, gliickselig
halb geneigten Hauptes... wie lau-
schend auf eine bestarkende, innere
Harmonie... mit einem beinah tan-
zerischen, priesterlich tanzerischen,
sicheren Schritt..., der im Aller-
heiligsten mit den grofien Schwingen
einer Bachschen Orgel sich giirtend
jetzt schon den rechten Fufi auf die
Stiege stellt, die eines Mondstrahls
aufierster Schnee uns griifit . . . Eine
grofie Beichte vor Gott.
Eine grofie Himmelfahrt . . . mit Dir
Du Bruder mein — wenn Du ftem
Kreuz sehen willst und heben und
behalten!... Eine Stufe zur Er-
losung.
Wax ZKerrmann**Keifie.
QZoetenleben.
Auf Grund der Ermittlungen, die
wir geglaubt haben veranstalten zu
sollen, konnen wir sagen, dafi dieser
Poet eine verhaltnismafiig mangelhafte,
d. h. diirftige Erziehung genofi, und
wir glauben uns daher berechtigt, Fra-
gen aufzuwerfen, wie folgende: Woher
schdpfte er das unerlafiliche bifichen
Bildung, welches nach unserem Dafiir-
halten ein Poet notwendigerweise be-
sitzen mufi? Die Antwort lautet: Es
gibt ja Lesesale, voll Lesestoff, in der
Welt. Zum Teil liegen diese Lese-
zimmer ja sogar im Griinen, derart, dafi
der emsige Leser, wenn er am offenen
Fenster sitzt, noch eine Augen- und
Ohrenfreude mithat, wofiir er Gott
dankt. Aufierdem haben wir gefalligst
Stadtbibliotheken, die jedem jungen
und unbescholtenen Menschen zugang-
lich sind und zum Vorteil gereichen.
Der Poet, den wir hier im Auge haben,
74
Gloss en
scheint friih schon eincn gewissen Bil-
dungsdurst heftig bewiesen undfreund-
HcH an den Tag gelegt zu haben, was
selbstverstandlich durchaus anerken-
nenswert is*. Wir schenken einem Ge-
riicht, das uns zu Ohren gekommen ist
und das besagte, dafi unser Cegenstand
hier eine Zeitlang SfraBen gefegt und
gereinigt haben soil, deshalb keinerlei
Glauben, weil wir wissen, daB da eher
Dichtung und Phantasie als Wahrheit
und Wirklichkeit mitspielen. Bespro-
chener war vielmehr zu seinem absolut
nicht geringen Nutzen zeitweilig in der
Abteilung fur Inseratenwesen einer be-
deutenden Verlagsanstalt tatig, womit
wir deutlich dartun, daB es sich in
diesem Poetenleben mehr um sorgsame
und saubere Schreib- als um Arbeit
mit dem StraBenbesen handelte. Die
feinsinnige, spitzige, zarte Schreib-
feder, welche iiber das Blatt Papier
grazios und behend hinschweift, um
allerlei niedliche, zierliche Zahlen und
Satze zu zeichnen, spielte in dem Da-
sein, das uns interessiert, von jeher eine
ausschlaggebende Rolle. Hammer-
schlage und Axthiebe sind und waren
hier so gut wie ganzlich ausgeschlossen.
Mit Nageln hat Reflektant oder Mittel-
punkt dieser Zeilen nur immer inso-
weit irgend etwas zu tun gehabt, als er
etwa ein Bild an die Wand seines Zim-
mers nagelte und heftete, woraus der
SchluB gezogen werden darf, daB er
weder jemals schlosserte noch jemals
schreinerte, was iibrigens durchaus
weiter nicht ilbel gewesen ware. Wir
und solche, die ahnlich denken wie wir,
stehen auf dem Standpunkt, daB jeg-
liche fleiBig begonnene und mit festem
Willen weitergetragene Arbeit den
adelt, der sie verrich*et. Ob nun eine
Speditionsfirma oder eine Bankanstalt
allerersten Ranges oder eine stille, ver-
borgene Rechtsanwaltei (Advokatur)
hier in Betracht und ins Cewicht fallt,
mehr oder weniger bedeutsam am
Dichterleben mitwirkte oder nicht :
dieses zu priifen muB doch wohl zu-
nachst vollig nebensachlich sein, und
es konnen uns diese Dinge vorlaufig
merklich kuhl lassen. Wir haben uns
hier mehr um innere als um auBere
Beziehungen zu kiimmern und mehr
mit Merkwurdigkeiten als mit Ober-
flachlichkeiten zu beschaftigen. Inneres
weist zwar unserer Meinung nach
immer auch auf AuBeres hin, wie denn
z. B. eine Regierung innere so gut wie
auBere Angelegenheiten zu behandeln
hat und umgekehrt.
Uns geniigt einstweilcn die Tatsache
sehr, daB wir in der angenehmen Lagfe
sind, mit nicht wieder umzustiirzender
und wegzufegender Bestimmtheit fest-
stellen zu konnen, daB Gegenstandant
oder Zielscheibe Handelsbeflissener
war und daB er als solcher stets bemiiht
war, feinste Zeugnisse sowohl wie beste
Empfehlungen einzuheimsen. Neben-
bei scheint er schon sehr friih ange-
fangen zu haben, auf kleine Streifen
Papier Gedichte zu schreiben. Er saB
in allerlei geheizten oder ungeheizten
Zimmern, Gelassen und Gemachem,
bei jederlei Wetter, zu jeder Tages- und
Jahreszeit, um sich seinen Phantasien
mit mehr oder weniger Genugtuung in
der denkbar auBersten Weltentlegen-
heit, zeitweise wenigstens, zu iiber-
lassen. Zu bemerken ist hiebei, daB
wir uns jedes Urteiles iiber den Poeten
entschlossen sind zu enthalten. Wir
teilen einfach hiibsch mit, was uns ge-
lungen ist in Erfahrung zu bringen.
dosstn
75
Fest steht immerhin, daB es dem
Poeten beliebte, iiberaus eigensinnig
zu verfahren. Warum tat er das? Hm !
Wenn sich bewahrheiten sollte, was
einige Leute behauptet haben und noch
immer behaupten, namlich, daB unser
Held und jugendllcher Liebhaber zu
einer Zeit, wo er als Hotter und pflicht-
eifriger Hilfsbuchhalter auf einem
Transport -Versicherungsinsti tut be-
schaftigt war, auf FlieB- oder Losch-
papier, wie man es fur dicke Folianten-
biicher und Hauptbiicher verwendet,
die Kopfe seiner Herren Bureau-
kollegen beziehungsweise Herren Vor-
gesetzten abzeichnete, gleichsam eine
bochinteressante Bildergalerie produ-
zierend, so mag das ja an sich gewiB
ganz nett und spaBhaft sein. Fiirkenn-
zeichnend konnen wir indessen der-
artige Obungen kaum halten. Hoch-
stens kann das beweisen, daB der junge
Mann hin und wieder nicht besonders
stark durch seine Obliegenheiten be-
ansprucht war, was man ja geneigt
sein kann zu bedauern. Es wird mit-
geteilt, daB einer der Herren, deren
Bildnisse der Poet anfertigte, dem-
selben bei Gelegenheit gesagt haben
soil: „Ei ei, Sie haben Talent. Gehen
Sie doch zwecks weiterer Ausbildung
nach Miinchen. Hier im Bureau sind
derlei Kunstleistungen unpassend.
Zeichnerische Begabung muB hier ja
verkiimmern und die Taten eines zu-
kunftigen Genies sind hier nicht am
Platz." Auf diese satirische und spot-
tische Bemerkung soil laut Aussage der
hier Beschriebene erwidert haben : „Ich
kann unmoglich glauben, daB ich der
geborene Maler bin, wie Sie meinen.
Es scheint mir eher, daB ich starke An-
iagen und eine ganz gehorige Ader zum
Schriftsteller habe. Ich danke Ihnen
herzlich fiir Ihren so aufrichtig und
ehrlich empfundenen und gemeinten
Wink, nach Miinchen zu gehen. Ehe
ich jedoch nach Miinchen ginge, spa-
zierte und ginge ich weit lieber in den
Kaukasus, wo ich Abenteuer anzu-
treffen hoffen konnte, wie doch wohl
son st nirgends/*
Im Zeugnis, welches ihm anlaBlich
seines Austrittes aus dem Hilfsbuch-
halterposten ausgehandigt, wurde, ste-
hen unseres Wissens die beziehungs-
reichen und anspielungsgesattigten
Worte: „Er hat sich als hochst brauch-
bar, ehrlich, fleiBig, pflichttreu und
talentvoll erwiesen, und er begibt sich
auf durchaus eigenen Wunsch in ange-
messene Entfernung. Sein Wirken auf
Loschpapier wird uns immer unver-
geBlich bleiben. Seine kiinstlerischen
Leistungen haben uns entziickt, und
wir bedauern daher seinen schleunigen
Austritt. Wir fiihlten uns genotigt, ihn .
flehentlich zu ersuchen, uns zu ver-
lassen, damit er seine feine, zarte Be-
gabung nicht ganzlich ruiniere. Indem
wir ihn baten, spazieren zu gehen,
wiinschten wir ihm auf seine zukiinf-
tige beschwerliche Laufbahn alles er-
denkliche Gliick, und indem er sich
entschliefit, Abschied von uns zu neh-
men, sind wir mit ihm so zufrieden,
wie wir es gar nicht sagen konnen. Die
Buchhaltung hat er jederzeit so ge-
fiihrt, wie wir vermuten mufiten, daB
er sie fiihren werde. Sein Betragen gab
im allgemeinen zu weiter keinen als nur
zu ^inigen winzig kleinen Bedenken
AnlaB/*
Uns scheint, daB in diesem Poeten-
leben ein ungewohnlich haufiger Stel-
len- sowohl wie Ortswechsel stattge-
76
Glossen
funden hat, und wir wollen gerne be-
kennen, daB wir das einigermaBen be-
greifen, weil wir notwcndigerweise ein-
sehen und zugeben miissen, daB eine
junge Seele, welche sich berufen fiihlt,
zu dichten, dcr Freiheit und der Be-
weglichkeit bedarf. Es erscheint uns
ganz klar, daB sich ein Poet unter alien
Umstanden zu befreien, zu entfalten
suchen muB; denn ohne Freiheit gibt
es sicherlich auch keine Entfaltung;
und eine menschliche Entwicklung
lauft nicht ohne Situationen ab, die den
Bildner derselben mitunter in ein
schlechtes Licht stellen. Wir behaup-
ten, daB wir dies ohne weitere Urn-
schweife anerkennen, wiewohl uns
manches eigenthch noch unklar sein
mufi.
Auf dem Zentralstellenvermittlungs-
bureau war Traktant, wie wir zu wissen
glauben diirfen, eine nachgerade satt-
sam bekannte Bewerberfigur. Seine
Erscheinung und seine Personlichkeit
lockten daselbst regelmafiig eine Art
ironisches Lacheln hervor.
,,Ist es wahr, dafi Sie Gedichte
schreiben?4* fragte man ihn.
,,Jat ich glaube es fast/4 gab er sanft
und gutmiitig und demutvoll zur Ant-
wort. Es ist klar, daB eine solche zarte
Antwort allgemein belachelt werden
muBte, was denn auch tatsachlich statt-
fand. Der Poet scheint da und dort
auch als Vorleser bei hohen Damen
stark in Betracht gefailen und beliebt
gewesen zu sein. Er las Selbstgedich-
tetes so gut wie anderes mit einem An-
stand und mit einer Zungenfertigkeit
vor, die, wenn nicht Staunen und Be-
wunderung, so doch wenigstens Zu-
friedenheit und Vergniigen erregten.
Das Essen, das er aB, war dagegen
mehr schmal und dunn als iippig und
reichlich, und eher ungeniigend als be-
friedigend. Auf diese Tatsache ist je-
doch unseres Ermessens nach kein allzu
hohes Gewicht zu legen. Es ist ziem-
lich gleichgiiltig, ob ein Poet nur eine
Suppe mit Wurst oder ob er g&nze
Speisekarten voll wegifit; Hauptsache
ist, wenn ihm gute Gedichte entstehen,
und die entstehen und entschliipfen
ihm bei zarter und magerer Kost besser
als bei irgendwelcher andem. davon
sind wir fest iiberzeugt. Einem Poeten
steht es wohl an, schlank zu sem, er soli
einen durchgeistigten Anblick gewah-
ren; man soil ihm aus betrachtlicher
Entfernung schon ansehen konnen, daB
er sich verhaltnismaBig mehr mit tage-
langem Denken als mit stundenlangem
materiellen Schwelgen abgibt. Dick-
leibige Dichter sind etwas wie ein Ding
der Unmoglichkeit. Dichten heiBt
nicht dick werden, sondern heiflt fasten
und entbehren. Von dieser Auffassung
auch nur einen Schuh oder eine Hand
breit abzuweichen, soil fur uns ausge-
schlossen sein, und es soil niemandem
gelingen, uns irgend welche andere
Den kart aufzuzwingen oder abzu-
notigen.
Obrigens diirften den Poeten von
Zeit zu Zeit wohlhabende und frei-
gebige Leute zum Essen eingeladen
haben, was wir aber allerdings hoch-
stens nur vermuten konnen. Diesbe-
ziighche Beweise herbeizuschaffen, war
uns leider nicht moglich, so sehr wir
uns darum Miihe gegeben haben.
Soviel uns gelungen ist auszukund-
schaften, und soweit wir giiicklicher-
weise haben zu Kenntnis gelangen kon-
nen, war er aufierst sparsam, haushalte-
risch, ja in mancher Hinsicht sogar ein
i
Glosscn
77
wenig geizig. Auslagen, Kosten und
Spesen hatte er erstaunlich wenig.
Schneidern und Arzten gab er jahraus
jahrein fast so viel zu verdienen wie
nichts. Da er ein ausgesprochener
Freund von Wanderungen war, so sah
man ihn vielfach mit Schuhmachern
verkehren, denen er die Aufgabe uber-
trug, das zerrissene und zerlocherte
Schuhwerk auszubessern. Was die
Kleider betrifft, so trug er meistens ge-
schenkte Anziige, und zu Medizinern
zu springen hatte er keine zwingende
Ursache, weil es ihm an Gesundheit
nicht fehlte und er nicht das geringste
(Jbelbefinden aufzuweisen hatte, was
fur ihn natiirlich von grofiem Vorteil
war. Er ersparte damit ebensogut Geld
wie Zeit. Der Arzt freilich vermochte
ihn nicht zu loben, aber wir erinnern
hier an den alten Spruch, welcher
lautet: Man kann es mit dem besten
Willen nicht jedermann recht machen.
Irgendwie und -wo stoBt der vorziig-
lichste Mensch an.
Wie er zur Politik stand, wollen wir
ununtersucht lassen ; ebenso wenig
sollen wir ausmitteln oder nur anfragen
wollen, ob er fleiBig zur Kirche ging
oder nicht. Das Alltagliche, Natiir-
liche, Nii'zliche, Dienliche und Prak-
tische war es, das ihm nahe lag. Er
scheint das von seinem Vater geerbt zu
haben. Vom Vater ging jedenfalls unter
anderem auch eine Spur und Portion
Ironie auf ihn iiber, die ihm nachlief
und ihm treulich anhing wiedem Herrn
oder der Herrin das folgsame Hiind-
chen, das nicht aufhdrt, folgsam und
anhanglich zu sein, obschon es viel-
leicht manchmal Schlage kriegt.
Wenn wir uns nicht irren, so arbeitete
er einmal acht Tage lang im Kontor
eines Elektrizitatswerkes. Nach Ver-
lauf dieser kurzen Zeit beschied ihn
der Herr Direk- or auf das Direktions-
zimmer und setzte ihm mi?* kurzen
Worten auseinander, dafi in hohen und
vornehmen Industriebetrieben, welche
auf nur allerfeinsten Voraussetzungen
beruhen, Menschen unmoglich ge-
duldet werden konnen, von denen es
erstens heifit, daB sie dichten und von
denen es zweitens verlautet, daB sie
Umgang mit Leuten pflegen, die nicht
zur bessern und besten Klasse zahlen.
Der Poet hatte namlich hin und
wieder Umgang mit nicht sonderlich
sauberen Elementen. Er war in dieser
Hinsicht nicht immer sehr klug, aber
er war menschlich.
An Etablissementen und Handels-
hausern, in denen er zu seinem mehr
oder weniger starken und grofien
Nutzen tatig war, sind ferner zu
nennen : eine an der schaumenden und
blauen Aare gelegene Bierbrauerei, eine
Hilfs- oder Spar- und Leihkasse, eben-
falls umgeben von reizender Architek-
tur und Landschaft, eine Nahmaschi-
nenfabrik, wo er sich ganz prachtig be-
wahrte, eine Strumpfbandweberei, wo
er den Schatz seiner Kenntnisse nicht
ganz unwesentlich vermehrte.
Es handelt sich also demnach in die-
sem fast kleinlichen und, wie wir sagen
mochten, proletarischen Poetenleben
hauptsachlich um Arbeit in allerhand
Schreibstuben und Bureaus, um man-
cherlei Stellenwechsel, also um etwas
durchaus Alltagliches und Gewohn-
liches, sozusagen um Zweierlei: um
Bureauarbeit und um Landschaft, um
ein Stellenbekleiden und ein Stellen-
preisgeben, um ein Herumwandern in
der freien Natur und um ein Sitzen,
V
Glossen
Schreiben und Festkleben an kauf-
mannischen Schreibtischen, die man
Pulte nennt, um cine Freiheit sowohl
wie um eine Gefangenschaft, um eine
Ungebundenheit sowohl wie um eine
Fessel, um Not, Bediirfnis, Sparsam-
keit sowohl wie um uppiges Ver-
schwenden und kostliche Geniisse, um
Arbeit sowohl wie um Vergniigen, um
saure Pflichterfullung sowohl wie um
vergnugliches Schlendem, Vagabun-
dieren und Spazieren. Aus diesen und
Shnlichen Oingen empfing der Poet
seinen poetischen Grund und Boden.
Die Jahreszeiten, die Liebe, die Musik,
die Phantasie, Stadt und Land und die
Malerei, die Gefiihle, die Gedankenv
das Leben und die wachsende Bildung
gaben seiner Poesie die Nahrung, deren
sie zu ihrem Gedeihen bedurfte. So
lebte er hin. Was aus ihm wurde, wie
es ihm sp&ter erging, entzieht sich un-
serer Kenntnis. Weitere Spuren ver-
mochten wir einstweilen nicht zu ent-
decken. Vielleicht gelingt uns das ein
anderes Mai. Wir wollen sehen, und
sobald wir irgend etwas Neues aus-
(indig gemacht haben, soli es mit Ver-
gniigen mitgeteilt sein. Natiirlich
miissen wir dabei in erster Linie ein
Interesse voraussetzen dQrfen.
\ Robert Walker.
do (dot im TeUd.
So ich einst nach Haus komm — gehe
ich durch unsre Gasse,
geh durch unsre Gasse hin, langsam
und stille,
werde wiedersehn den Gehsteig, alle
Fenster, alle,
wird jemand reden, bleibe ich stumm.
Dann aber erblick ich, dann aber
erblick ich
ein seltsam Ding. Trockne vor Sehn-
sucht ein,
bis ich sie wiederseh, bis ich sie wie-
derseh,
und zu ihr sage: Hauschen mein, Herd
mein, Nestchen . . . !
Auf jedem Stiifchen, ach wie ich
schrumpfe,
das wird eine Schlachti Und wacker
entgegen !
Kommt mir die herrliche Fraue ent-
gegen,
stiirz ich dahin ins Gras, ins tiefe
Gras hin.
Dahin ins tiefe Gras — wenn ich nach
Haus komm,
setz ich mich zur Frau, lafi von ihr
den Blick nicht durch drei Tage.
Nachts werd ich still bei ihr schlafen.
Morgens
herrlich, ach, herrlich werden ihre
Hande auf der Decke sein.
Sag ihnen alles. Und werde rein sein.
Steh auf dann,
begieBe die Fensterblumen. Finde
unter ihren Blattchen
griines, gesegnetes Leben. Werde sein
wie ein Bauer und Hirte.
*Frd)ta dr dm etc
(Deutsch von Oito *Pic£).
Glossen
79
Flotizen,
Jakob Hegner in Hellerau verschickt
wieder ein Buch von Theodor ‘Ddubhr :
„Der ncuc Standpunkt**. Elf Essais
uber junge Kunst, uberschrieben : Si-
multanitat, Unser Erbteil, Munch,
Barlach, Matisse, Henri Rousseau,
Chagall, Marc, Picasso, Futuristen,
Expressionismus. Einige davon haben
in den „Weissen Blattern44 gestanden.
Daublers Art, Kunst zu schauen:
die immer gleiche Land sc ha ft im wech-
selnden Licht, darin Kiinstler wie eine
grosse farbige Blume, die wandert, oder
breit ausladend, in dichter Fillle ver-
zweigt, fest und rund, wie ein Baum.
Nie hat es — auch nicht in den „Sa-
lons" der Dichter wie Gautier und
Baudelaire — eine weniger „kritische“
Betrachtung von Kunst und Kiinstlern
gegeben. Manchmal, wenn er etwa
von Rousseau sprichtoder von Chagall,
erzahlt er die schonsten Marchen.
Jedoch ganz und gar nicht nur „bei
Gelegenheit von Rousseau, von Cha-
gall so wie Andr4 Gide friiher ,,bei
Gelegenheit*’ dieses oder jenes Buches
Visionen skizzierte, denen er die Be*-
zeichnung „Vorw8nde" gab. Rousseau
und Chagall sind fur Daubler nicht
Vorwand, sie sind eine Ecke seiner
eigenen verschleiert ilppigen Natur, die
sie, Rousseau und Chagall, ihm ent-
hiillen. Da geschieht die schone Ver-
wandlung des Ich nnd Du in die hohere
Einheit Bild, das nun von dieses Be-
trachters Gnaden, doch ganz in der
eigenen ungeteilten Pracht besteht.
Die Romantiker haben ahnliches ver-
sucht. Aber ihnen fehlten fast alle
Voraussetzungen zum Gelingen solcher
Kommunion : die Vertrautheit mit dem
Handwerk,das briiderliche Zusammen-
und Mitleben in Iangen Jahren,
Wachen und Schlafen in Ateliers, ge-
mein same Fahrten, Arbeiten zu zweit
im selbem Geist, und vielleicht, viel-
leicht auch die adequate Kunst. Sie
waren um vieles alter oder jiinger, als
diebildende Kunst, die sie vorfanden.
Sie logen, wo sie ein Bildwerk mit
Worten entzaubem wollten, sie mubten
vergewaltigen, um zu lieben.
In Daubler,
einem Balzac des Verses,
voll uberstromenden Reichtums, un-
ban digen Fleisses,
ungleich,
vulkanisch und mondsiichtig, weit-
schweifig und prazis, rund und
eclrig, zart und hart,
Seite auf Seite haufend, Buch auf
Buch,
wie die Tage kommen,
lebt, fern und nah, unsere ganze Zeit.
*
Alfred 9f. Fried hat in eincr Bro-
schiire, die bei Orell Fiissli (Zurich)
erschienen ist und 2 Franken kostet,
zwanzig Kriegsaufsatze zusammenge-
stellt: „Vom Weltkrieg zum Welt-
frieden**. Hier eine Reihe von Zitaten
aus den verschiedenen Aufsatzen.
Aus dem ersten: „Operieren oder
behandeln?41, der zwei Monate vor
Kriegsausbruch erschien:
„Els ist vielleicht einer der gcfahr-
lichsten Augenblicke in der geschicht-
lichen Entwicklung unseres Erdteils,
den wir durchleben. Gefihrlich, weil
die Verzweiflung die Entscheidung
bringen kann, und die Stimme der
Vemunft in solchen Augenblicken an
80
Glossen
Macht verlicrt. Das durch einen Krieg
aus seiner unhaltbaren Lage befreite
Europa kdnnte den Gewaltwahnsinn
uberwunden, aber selbst aufgehort
haben zu bestehen und das wohl-
vorbereitete Opfer werden der vom
Osten anriickenden jungen Kulturen
und der Vasall der verjiingten alten
Kuitur des jenseitsseeischen Westens.
Wir wollen aber Europa soretten, daB
es erhalten bleibt, und deshalb rniissen
wir in dieser gefahrlichen Stunde unsere
Krafte einsetzen, um die Verzweifeln-
den vor Verzweiflungsschritten zuriick-
zuhalten. Nicbt operieren, behandeln
rniissen wir das Obel. Wo friiher der
einzelne Staat mit seinem Gegner einen
Streit auskampfen konnte, sieht er sich
jetzt der Verantwortung gegeniiber,
einen Weltbrand zu entziinden. Die
schonen Zeiten sind fiir immer vorbei,
wo man seine eigenen Kriege gefiihrt
hat. Ein jeder, der heute das Macht-
wort ausspricht, das die Gewaltmittel
in Bewegung setzt, verpflichtet die
gesamte Staatenfamilie zu diesem
Kampf.44
Der zweite Aufsatz 1st der erste nach
Kriegsausbruch veroffentlichte. Er
heiBt : „Der Krieg4' und beginnt tapfer
mit den Worten : „Die Friedensarbeit
wird fortgesetzt!44 Dann heiBt es wei-
ter : „Auch dieser Krieg wird zum Frie-
den fiihren. Aber daB es kein Friede
der alten Art werde, mit Landerver-
teilung blofi und Kriegsentschadigung,
sondern ein wirklicher Friede, der das
Verhaltnis der Staaten zueinander auf
eine neue, gesicherte Grundlage stellt,
dafiir rniissen wir uns rechtzeitig ein-
setzen. Es ware Wahnsinn, wenn all
dieses Blut vergossen werden wiirde,
um einen Zustand neu zu besiegeln.
der in erneutem Wettriisten, in erneu-
ter MiBgunst und Anarchie der Weis-
heit letzten SchluB sahe wie bisher.
Nein! Eine neue Welt mufi erstehen
aus diesem Kriege, die mit der alten
nichts mehr gemein hat. Dieser erste
Weltkrieg muB zu dem notwendigen
Weltfrieden fiihren.
Eine Probe auf die Richtigkeit unse-
rer Lehre bildet dieser Krieg heute
schon. Er weist die Formen und Zei-
chen auf, die wir vorher verkiindet
haben. Er be weist in seiner Art die
engen Zusammenhange der Mensch-
heit, auf denen wir unsere Lehre auf-
bauten. Dieser Weltkrieg ist an sich
der Beweis eines vorhandenen, aber
noch nicht erkannten Weltzusammen-
hanges. Es ist eine eigentiimlich an-
mutende Erscheinung zu sehen, daB
alle die Volker, die sich heute blutig
zerfleischen, dies um des gleichen
Zieles wegen tun. Es ist die Einig-
keit mitten in der Zwietracht. Alle
fiihren den Krieg um ihre Sicherheit.
Da die fortwahrenden gegenseitigen
Bedrohungen, die bisher herrschende
Unsicherheit, das Ergebnis der zwi-
schenstaatlichen Anarchie waren, unter
der Europa litt, da die Sicherheit nur
das Ergebnis einer zwisehenstaatlichen
Ordnung sein kann, so tobt dieser
Weltkrieg um kein anderes Ziel als
jenes, das die Grundlage der pazifi-
stischen Bewegung bildet.44
Nach einem halben Jahr Krieg rich-
tet Fried einen tflufruf an die geistigen
* T&firer alter Wationen, der im Satze
gipfelt,: „Seid die Briickenkopfe, die
intakt erhalten bleiben rniissen, damit
die Briicken, die heute allerorten ge-
sprengt wurden, wieder hergestellt
werden konnen.44
V
Glossen
Am ersten Jahrestag des Krieges wird
an einige Vorgange erinnert, die sich
in dem Vierteljahr vor den verhang-
nisvollen Julitagen von 1914 zugetra-
gen haben. Die Leporelloliste von
aufrichtigen Taten und Heucheleien
enthalt unter andern ahnlichen folgende
Daten :
22. April. Ober 2000 sozialistische
Frauen verschiedener Lander veran-
stalteten eine Massenkundgebung in
Berlin for den Weltfrieden.
26. April. Der mexikanisch-ameri-
kanische Konflikt, der zum Krieg aus-
zuarten drohte (Bombardement von
Tampico, Einnahme von Veracruz),
wird durch Annahme der von den
A-B-C-Staaten angebotenen Vermitt-
lung seitens der Union friedlich bei-
gelegt.
26. April. Das Exekutiv-Komitee
der Inter parlamentarischen Union lafit
durch einen SonderausschuB die Frage
behandeln, wie dem Wettriisten der
GroBmachte ein Ende bercitet werden
soil.
29. April. Im HaushaltsausschuB
des deutschen Reichstags erklart Mini-
sterialdirektor Dr. Kriege, daB Deutsch-
land dem Schiedsgerichtsgedanken
durchaus nicht feindlich gegenuber-
stehe.
7. Mai. Sir Edward Grey entwirft
im englischen Unterhause die Bedin-
gungen, unter welchen die britische
Regierung bereit sei, Vorschlage be-
zliglich der Unverletzlichkeit des Pri-
vateigentums zur See in Erwagung zu
ziehen.
8. Mai. Jahresversammlungderbri-
tischen Abteilung des kirchlichen
Komitees zur Pflege freundschaftlicher
Beziehungen zwischen GroBbritannien
und Deutschland in London. Anwe-
send: Erzbischof von Canterbury, Kar-
dinal Bourne, Fiirst Lichnowsky, Bi-
schof von Hereford und andere. Erz-
bischof von Canterbury : „Konig Georg
und Kaiser Wilhelm haben groBes In-
teressefor dieBewegung“. D.Lahusen
freut sich, „dafi die MiBverstandnisse
zwischen England und Deutschland
nicht mehr bestehen. Beide Lander
verstehen sichjetzt besser als je zuvor44.
15. Mai. Abg. Wendel ruft im deut-
schen Reichstag am SchluB seiner
Rede: „Vive la France!44
1 6. Mai. Vorlesungdesfranzdsischen
Gelehrten Boutroux an der Berliner
Universitat.
17. Mai. Englische Kriegsschiffe
festlich empfangen in Triest und Fiume.
19. Mai. Gegenbesuch des oster-
reichischen Gesch waders in Malta.
20. Mai. Auf dem Bankett zu Ehren
der auswartigen Presse in London, dem
auch die Botschafter von Frankreich,
RuBland, Deutschland, Osterreich-
Ungarn beiwohnen, sagt Sir Edward
Grey: „Fiir den europaischen Frieden
ware es notwendig, daB die Nationen
einander Kredit for guten Willen und
gute Absichten geben.44
20. Mai. Hundert englische Arbei-
ter in Berlin. BegriiBungsreden durch
Staatssekretar a. D. Dr. Dernburg
und Geh. Reg.-Rat Dr. von Bottiger.
„ . . . Wir wollen die Wohlfahrt unse-
res Vaterlandes, und Wohlfahrt kann
nur im Frieden gedeihen. Undenkbar
erscheint uns der Gedanke an einen
Krieg zwischen England und Deutsch-
land. .
24. Mai. Expose des russischen
Ministers des AuBern Sasanow: „Die
Tripleentente ... sei immer bereit,
V
82
Glossen
mit dem Dreibund zur Erhaltung des
Friedens zusammenzuarbeiten.44 —
„ . . . Die unniitze Polemik der deut-
schen und russischen Blatter moge auf-
horen. . . “
26. Mai. Ansprache des Papstes in
einem geheimen Konsistorium. „ . . .Die
Zeit verlange jetzt mehr als je nach
Frieden. . . . Es seien ernste, angese-
hene Manner an der Arbeit, die die
Sache der Nationen und der mensch-
lichen Gesellsehaft im Auge hatten und
die . . . daran arbeiten, die Kritgsgreuel
zu vermeiden.44
Ende Mai. Das Endergebnis der
unter der Parole der Wiedereinfiihrung
der dreijahrigen Dienstzeit ausgeschrie-
benen franzosischen Wahlen ergibteine
iiberwiegende Mehrheit fiir die deutsch-
franzosische Verstan digun g.
30. Mai. Zweite Konferenzdeutsch-
franzosischer Parlamentarier in Basel.
Annahme eines Beschlusses, in einer
deutschen und einer franzosischen
Stadt am gleichen Tage Konferenzen
fiir die franco-deutsche Verstandigung
zu veranstalten.
I . Juni. In Paris erscheint eine neue
Monatsschrift ,.Amitie franco-etran-
gere44 mit der Aufgabe, die guten Be-
ziehungen Frankreichs mit dem Aus-
lande, namentlich mit Deutschland, zu
fordern. Mitarbeiter u. a. Anatole
France, Boutroux, Sembat.
3. Juni. Die Universitat Oxford er-
nennt den deutschen Botschafter Lich-
nowsky zum Ehrendoktor.
8. Juni. VI. Internationaler Han-
delskammerkongreB zu Paris.
9. Juni. Der osterreichische Volker-
rechtsgelehrte Hofrat Prof. Lammasch
wird in Oxford zum Ehrendoktor pro-
moviert.
21. Juni. Besuch der englischen
Flotte in Kiel.
22. Juni. Der deutsche Verein Ber-
liner Kaufleute und Industrieller Cast
der Londoner Handelskammer.
22. Juni. Eroffnung der deutschen
Abteilung auf der Lyoner Stadte-Aus-
stellung. Anwesend der Militargou-
vemeur und der Prafekt von Lyon,
mehrere franzosische Generale, Ver-
treter der deutschen und franzftsischen
Presse.
30. Juni. Unter dem Vorsitz von
Lloyd George findet im Londoner
Savoy-Hotel ein Festmahl zu Ehren
der Entente cordiale statt. Baron
d’Estournelles halt eine Rede iiber die
Aufgaben der Entente. Sie hatte viele
als „unvermeidlich14 angesehene Kriege
verhindert. Ein beispielloses Erzieh-
ungswerk wird sie fiir die ganze Welt.
Die Milliardenlast der Riistungen ver-
mochte sie noch nicht zu erleichtem.
Warum ? Weil angeblich noch ein un-
vermeidbarer Krieg vor uns liegt, der
deutsch-franzosische Krieg oder der
englisch-deutsche Krieg oder der rus-
sisch-deutsche Krieg oder gar alle drei
auf einmal. Wir miissen mit dieser
neuesten Gefahr, die sich wiirdig ihren
Vorgangern anschlieBt, ebenfalls ein
Ende machen. Die Entente cordiale
war ein Anfang, sie war die Inangriff-
nahme einer neuen Politik. Nunmehr
miissen die wiederversohnten Staaten
Frankreich und England mit RuBland,
mit den Vereinigten Staaten, mit der
groBen Mehrheit der wirklich friedlie-
benden Staaten der alten und der neuen
Welt handeln, Deutschland den Beweis
zu erbringen, dafi es auch in seinem
Interesse liegt, mit dem Marchen vom
unvermeidlichen Krieg durch gegen-
Glossett
83
seitigzugewahrendesEntgegenkommen
Schlufi zu machen. Die Politik der
Entente cordiale ware uns ein verfehl-
tes Beginnen, eine Enttauschung, wenn
tie nicht zur Politik der ganzen zivili-
sierten Welt wird.44
Reichhaltig war das Programm der
organisierten Friedensarbeit fiir die
n&chsten Wochen. Die groBen Inter-
nationalen Hatten Kongresse in Aus-
ticht genommen, um sich gegen den
Krieg zu organisieren. In Liittich sollte
der internationale katholische Friedens-
kongreB, in Wien der internationale
SozialistenkongreB, in Frankfurt der
internationale Freimaurer - Friedens-
kongreB stattfinden. Die evangelischen
Kirchen-Pazifisten gaben sich ein Stell-
dichein in Konstanz. Die XIX. Kon~
ferenz der Interparlamentarischen
Union sollte in Stockholm, der XXI.
Weltfriedentkongrefi in Wien stattfin-
den. Graf Berchtold hatte bereits das
Ehrenprasidium dafiir iibemommen.
Gleichzeitig mit dieter Sammlung
bringt der VerlagOrell Fiiflli eine Neu-
auflage von Frieds bekannter Schrift
liber den „revolutionaren Pazifismus'4
heraus. Sie tragt den Titel: „Die
Grundlagen des ursachlichen Pazi-
fitmus44.
CD ie Ginricfxtung der inter nation
nafen flgentur fdr die OCriegsgefan *
Cenen*) in Genf war im August 1914
escheiden ; zwdlf Personen arbeiteten
in drei kleinen Raumen. „Jedermann
•) Diete Angabcn findcn sich in eincm
Aufutz von Guillaume Fatio: ,tDie philan-
thropiachen Werke der Schweiz wahrend des
Krieges**, den das Septemberheft der schonen
Monatschrift t3chweizerUnd4< veroffentlicht.
legte selbst Hand an, schrieb einen
Brief, schickte ein Telegramm ab oder
empfing einen Besucher.
Die ersten Listen trafen am 7. Sep-
tember 1914 aus Deutschland ein.
Wenige Tage spater kam ein ahnliches
Dokument aus einem Spital der Stadt
Lyon. Von da ab wurden die Gefan-
genenlisten, diese von den offiziellen
Auskunftsttellen hergestellten unent-
behrlichen Dokumente, durch die na-
tionalen Gesellschaften des Roten
Kreuzes der Gefangenenagentur in
Gen( regelmaBig zugesandt. Dieter
dienen sie alt Grundlage fiir ihre
ganze Arbeit.
Am 12. Oktober 1914 installierte
sich die «Agence des prisonniers* in
dem geraumigen Museum Rath, das
ihr von der Stadt Genf zur Verfugung
gestellt wurde. Dort verteilte man die
Arbeit unter verschiedene Depar-
tements.
Wahrend des ertten Kriegswinters
waren iiber tausend Mitarbeiter auf
der Agence tatig: Manner, Frauen,
junge und alte Leute, Genfer und
Schweizer aus andern Kantonen, end-
lich sogar Fremde — jeder trug durch
seine mitunter recht schwierige Arbeit
zum Erfolg eines Untemehmens bei,
das betrachtiiche Dimensionen an-
genommen hatte. An der Spitze dieter
ganzen Organisation steht Herr Gustave
Ador, der ein groBes administratives
Talent an den Tag gelegt hat. Diesem
Manne ist es auch gelungen, die deli-
katesten Unterhandlungen mit zahl-
reichen Behorden zu einem gunstigen
AbschluB zu bringen.
Das System des „Zettelkatalogs44
wurde fiir alle gegebenen oder ver-
langten Auskunfte von Anfang an an-
84
Glossen
gewendet: kein anderes hatte sich fur
eine derartige Arbeit besser geeignet.
Im ErdgeschoB des Gebaudes be-
finden sich die Zettel der Alliierten
(weisse fiir die Anfragen, grilne fur
die Auskiinfte), im ersten Stockwerke
diejenigen der Zentralmachte (weiB
und rosa fiir die Deutschen, lila fiir
die andern Nationalitaten).
Die nachstehenden Zahlen geben
AufschluB iiber die Tatigkeit des
Bureaus:
Franzosische, englische, belgische Zet-
tel 2 000 000 Stuck
Deutsche Zettel
Zettel betreffend Zi-
1000 000
If
vilpersonen im be-
setzten Gebiet 300 000 „
Tagliche Post:
Einlaufende Briefe und Karten
1500 bis 1 800 Stiick
Versandte Briefe
und Karten 3000 „ 4000 „
Den Gefangenen iibermittelte Betrage
Fr. 1994000
Pakete in Transit fiir die Kriegs-
gefangenen 30 665 33 1 Stiick
Von Genf abgehende
Pakete 776 505 „
Bis zum 30. Juni 1 91 6
gebrauchte Druck-
sachen der Agentur 6 750 000 „
Den Familien erteilte Aus-
kiinfte 470 399
Beim Empfangsdienst erhal-
tene Besuche 78 713
Gegenwartig wird die Arbeit, die
nicht mehr den Umfang der ersten
Monate aufweist, von 350 bis 400
Personen besorgt, von denen ungefahr
100 bezahit sind.
Auf Wunsch des Genfer Komitees
hat das danische Rote Kreuz von An-
fang an eine Filiale der Agentur er-
richtet fiir den ostlichen Kriegsschau-
platz, das ist fiir Deutschland und
RuBland. Das Rote Kreuz von Oster-
reich-Ungarn und das von Serbien
und RuBland haben sich direkt ver-
standigt wegen Obermittlung der Aus-
kiinfte und Aufstellung der Listen.
Das gleiche geschah beim Eintritt
Italiens in den Krieg: das Rote Kreuz
von Wien und das von Rom korre-
spondieren direkt miteinander. Die
Tatigkeit der Genfer Agentur, die sich
anfanglich auf den westlichen Knegs-
schauplatz, das heifit Frankreich, BeL
gien, England und Deutschland be-
schrankte, erstreckt sich jetzt auch
auf die Tiirkei und Bulgarien, sowie
alle andern entfernteren Kriegsschau-
platze.
Trotzdem die Agentur keine Taxen-
freiheit fiir Telegramme genoB, hat sie
eine sehr grofie Anzahl von Depeschen
abgesandt: an die Lagerkom man dan-
ten, Chefarzte der Lazarette, urn Nach-
richten von Verwundeten oder Gefan-
genen zu erhalten, um Mannschaften
zu befragen, die den gleichen Re-
gimentern angehorten wie die Ver-
mifiten, deren Familien ohne Nach-
richten waren.
Zu diesen naturgemaB summarischen
und unvollstandigen Auskiinften ge-
sellte sich nach und nach ein ganzes
System brieflicherSpezialuntersuchun-
gen.
Das Komitee hat oft protestieren
miissen gegen die Nichtbeachtung der
Vorschriften der Genfer Konvention
in bezug auf das arztliche und Sani-
tatspersonal, das ungerechterweise in
Konzentrationslagern gefangen gehal-
ten wurde; es hat erreicht, daB einige
Wt
Glossen
85
tausend Sanitatspersonen wieder in
ihre Heimat zurilckkehren durften.
Wir erwahnen nur nebenbei seine
Scbritte zugunsten jeweiliger kurzer
Waffenstillstande (wenn die Notwen-
digkeiten des Kampfes dies zulassen),
um die Verwundeten aufzuheben und
die Toten, nach ihrer Identifizierung,
zu beerdigen. Ferner erinnern wir an
die Proteste gegen die Behandlung
der armenischen Bevolkerung und die
Repressalienlager in Deutschland; an
die unablassigenSchritte des Komitees,
um fur die Zivilbevolkerung der Nord-
departemente Frankreichs dieMoglich-
keit der Korrespondenz mit ihren auBer-
halb jener Gebiete befindlichen Ver-
wandten zu erwirken.
Die Schwer verwundeten.
Nach langen Verhandlungen, die
zwischen Frankreich und Deutschland
durch Vermittlung des Internationalen
Komitees stattfanden, wurde das
schweizerische Rote Kreuz beauftragt,
den Transport der Schwerverwundeten
von einer Grenze zur andern vermit-
tels schweizerischer Sanitatsztige zu
organisieren.
Am 2 . Marz 1915, um 9 Uhr abends,
traf in Genf, von Lyon kommend, der
erste Zug deutscher Schwerverwun-
deter ein, wahrend der erste Zug fran-
zosischer Schwerverwun deter am fol-
genden Morgen um 4 Uhr von Kon-
stanz ankam. Auf diese Weise wurden
anfangs Marz 2650 Schwerverwundete
heimgeschafft. Vier Monate spater
wiederholte sich der Austausch; vom
10. bis zum 29. Juli fuhren 18 fran-
zosische und 1 1 deutsche Ziige durch
das schweizerische Gebiet ; sie brachten
8906 Schwerverletzte ihrer Heimat
wieder.
Internierung von Verwundeten und
Kranken in der Schweiz.
Dank der Initiative des Herrn Gustav
Ador, dem der Heilige Stuhl seine
wertvolleUnterstiitzunglieh, kam end-
lich die Internierung der Verwundeten
und Kranken in der Schweiz zustande.
Trotzdem dieses Projekt vom ersten
Tage an die beste Aufnahme beim
franzosischen Kriegsminister gefunden
hatte und sogleich von der schwei-
zerischen Regierung angenommen
wurde, vergingen zehn Monate, ehe
das endgiiltige Abkommen zum Ab-
schluB kam, auf Grund dessen heute
diese Kranken in unserm Lande be-
herbergt sind.
Die Internierung der kranken Ge-
fangenen, die sich anfanglich auf Fran-
zosen und Deutsche beschrankte,
dehnte sich im Lauf der letzten Mo-
nate auch auf Englander und Belgier
aus, die in eine groBe Anzahl von
schweizerischen Ortschaften verteilt
wurden.
Heimschaffung der Zivilinternierten.
Die Zivilinternierten nehmen unter
den Kriegsopfern eine besondere
Stellung ein ; es gibt fiir sie keinerlei
internationale Konvention.
„Die Zivilpersonen14, schreibt Dr.
Ferriere, „die arme Herde von Frauen,
Kindern,Greisen,Unfahigen, Kranken,
aus alien Klassen der Gesellschaft her-
vorgegangen und alle ins gleiche Un-
gliick gebracht, Arbeiter, Kaufleute,
Bauer n, armselige Gestalten, Leute
ohne Ausweis, sowie auch Rentner,
Glossen
Be&mte usw. — alle, wer sie auch
seien, jeglicher Verteidigung unfahig
gegcn das MiBgeschick, das sie ohne
Unterschied erreichte, sie werden alle
von heute auf morgen dem eindringen-
den Feinde ausgeliefert, — herrenlose
Wesen, oder sie fliehen auf den Land-
straBen einer dunklen Zukunft ent-
gegen/4
Einem Genfer, Herrn Edouard Au-
d£oud, gelang es, unter dem Eindruck
ail dieses Jammers den Bundespr&siden-
ten von der Notwendigkeit zu iiber-
zeugen, diesen Ungliicklichen Hilfe zu
leisten. Die Schweiz bot ihre Dienste
Deutschland, Frankreich und Oster-
reich an, um diesen unschuldigen
Opfern des Krieges ihre Heimat wieder-
zugeben. Die Einigung betreffs der
Frauen und Kinder kam bald zustande,
dagegen bedurfte es langer Unterhand-
lungen wegen der dienstfahi gen Manner.
Man gab schliefilich zu, dafi Manner
unter I 7 Jahren und solche liber 60
Jahren in ihre Heimat zuriickkehren
diirften. Spater lieB man auch einige
kampfunfahige Kranke zuriickkehren
und strebte im allgemeinen damach,
die Internierungsbedingungen der Zi-
vilpersonen zu verbessem.
Mit einem ErlaB vom 22. September
1914 beschlofi der Bundesrat die Er-
richtung eines Bureaus fiir die Heim-
schaffung von Zivilinternierten, unter
der Direktion des Herrn Professor
Rothlisberger in Bern, Ober 1 00 000
internierte Franzosen, Deutsche und
Osterreicher wurden dank diesem Bu-
reau durch die Schweiz heimgeschafft.
In dieser Zahl waren nicht nur die
eigentlichen Intemierten inbegriffen,
sondern auch die Evakuierten der
aus ihren Wohnorten entfemt worden
sind.
DieserHeimbefdrderungsdienst hatte
eine auBerordentliche Arbeit zu be-
waltigen: Organisation der Tran sport e,
Aufstellung der Namenlisten, Emah-
rung und Verpflegung wahrend der
Reise, Identifizierung der Nationalist
und Herstellung des Kontaktes mit
den Familien der Evakuierten.
Es war ein Riesenwerk. Man kann
sogar sagen, daB der Durchgang der
Intemierten eines der bittersten Er-
eignisse war in dieser Schreckens-
periode! Wahrend einigen Monaten
kamen 1 000 Evakuierte pro Tag nach
Genf; wahrend zwei Tagen gab es
deren bis zu 1 300.
Endlich mufite man auch fur Be-
kleidung sorgen, denn die Evakuierten
und Intemierten waren oft des Not-
wendigsten entbloBt, und was sie be-
saBen, taugte nicht viel. Viele Klei-
dungsstiicke wurden durch Privat-
personen beschafft; es liefen ungefahr
1 25 Pakete taglich ein. Mit diesen
Bekleidungsstiicken konnte man der
schlimmsten Not steuern, den Armsten
helfen.
Die Ernahrung und Bekleidung
der Gefangenen.
Schon zu Beginn des Krieges war
Herr Max Dollfus, einer der Mit-
arbeiter an der ^Agence des prison-
niers iiberrascht iiber die bittere
Situation, in der sich, nach den Briefen
zu schlieBen, viele Kriegsgefangene
befinden muBten. Er beschloB, eine
Hilfsaktion zu organisieren, und schon
im November 1914 iiberlieBen ihm
Departemente Nordfrankreichs , die die schweizerische Postverwaltung und
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Glossen
87
die Zolldirektion fortab alle unbestell-
baren Pakete. Unter diesen sind zu
verstehen alle diejenigen Sendungen,
die aus irgend einem Grunde (unge-
niigende Adresse usw.) weder ihre Be-
stimmung erreichen, noch dem Ab-
sender zuriickgesandt werden konnen.
Bis dahin wurden solche Pakete ver-
kauft und der Erlos fiel der Zollver-
waltung zu. Sie verzichtete nun auf
diese Einnahme und wetteiferte so mit
der schweizerischen Postverwaltung,
ein neues Liebeswerk zu ermoglichen.
Sendungen von 50, lOOoder 150
Paketen treffen nun in der Agence ein ;
dort wird ihr Inhalt sortiert und in gro-
Gen Schranken aufgestapelt, Strumpfe,
Leibchen,Hemden, Tabak, Schokolade
usw. Dann werden Original pakete her-
gestellt mit Dingen, die den Kriegs-
gefangenen am unentbehrlichsten sind.
Erfolgtein Hilferuf, sogehtauch schon
ein Paket fur den Bedrangten ab. 900
Pakete wurden wahrend des ersten
Monates abgeliefert.
Herr Dollfus hatte sich anfanglich
mit einer Genfer Firma iiber die Her-
stellung von Lebensmittelpaketen ver-
standigt. Als er dann im November
1915 vom Hilfsbureau fiir Kriegsge-
fangene nach Bern berufen wurde, um
dort die Verabreichung des Brotcs zu
orgamsieren, hatte er bemerkt, daG
Brot von guter Qualitat das notwen-
digste Nahrungsmittel ist, so daG er
von da an seine Unterstutzung vor-
zugsweise in Form von Brotabonne-
ments k 2 Kilogramm per Woche ab-
sandte.
Auch andere Institutionen beschaf-
tigten sich mit der Ernahrung der Ge-
fangenen. Die „Brotversorgung der
Kriegsgefangenen der Konferenzen
von Saint-Vincent de Paul" versendet
fiir Fr. 5.50 per Monat einem Ge-
fangenen 2 Kilogramm doppelt ge-
backenes Spezialbrot jede Woche. Die
Zahl der Abonnenten betrug 85 im
ersten Monat, stieg auf 250 im fol-
genden Monat und auf 400 im dritten ;
heute iibersteigt sie 3800. Gewisse
Familien abonnieren sich fiir doppelte
und dreifache Rationen zu Fr. 1 1 und
I 6.50 per Monat. Es gibt vermogliche
Abonnenten, die ihr Brot unter den
weniger begiinstigten Kameraden ver-
teilen; fiir Unbemittelte besteht die
unentgeltliche Verteilung.
Frau Julia Medwed griindete schon
im Jahre 1914 ein ahnliches Liebes-
werk; sie richtete auf Veranlassung
eines franzosischen, in Ingolstadt inter-
nierten Arztes einen Aufruf an das
Publikum underhieltUnterstiitzungen,
die es der Unternchmung erlaubten,
20 Kilogramm Brot per Tag zu ver-
senden. Nach und nach stiegen die
Sendungen auf 8000 Kilogramm
monatlich. Was die Sendungen an die
einzelnen Gefangenen anbetrifft, so ist
es unmoglich, eine genaue Zahlung
vorzunehmen, aber man kann sich
einen Begriff davon machen, wenn
man feststellt, daG bis heute von der
Schweiz aus nahezu drei Millionen
Pakete durch die Post versandt worden
sind, mit ungefahr 5 Millionen Kilo-
gramm Brot, welche fiir die kriegs-
gefangenen Franzosen, Englander und
Russen in Deutschland besti m mt waren .
Dabei sind die sehr groGen Eilfracht-
sendungen gar nicht mitgezahlt. Es
muG beigefiigt werden, das viele Aus-
landerkolonien in der Schweiz fiir den
Unterhalt ihrer gefangenen Landsleute
gesorgt haben.
26 Vol. in/2
88
Glossen
Die schweizerische Post.
Die Haager Konvention von 1 907
und diejenige des Weltpostvereins,
welche die Portofreiheit fiir Kriegsge-
fangene bestimmten, haben denselben
ausdriicklich das Recht zuerkannt,
Nachrichten mit ihren Familien kosten-
los auszutauschen. Da die direkten
Beziehungen zwischen den Krieg-
fiihrenden aufgehort haben, anerbot
sich die Schweiz als Vermittlerin zwi-
schen einigen dieser Staaten. So wurden
kurz nach Ausbruch des Krieges Ver-
einbarungen getroffen mit Deutsch-
land und Frankreich und spater mit
Osterreich-Ungarn, der Tiirkei und
Italien. Gleichzeitig sicherte die hol-
landische Post den Dienst zwischen
England und Deutschland, die schwe-
dische Post zwischen Deutschland und
RuCland, die rumanische Post zwischen
Osterreich, RuBland undSerbien. Die
Schweiz hat ohne Zweifel die weitaus
grosste Arbeit iibernommen.
Wir geben einige Daten, die den
Umfang dieses Dienstes beweisen.
Durch die Schweiz gingen etwa 140
Millionen Briefe und Karten an die
Adresse der Gefangenen (60 Millionen
an die Gefangenen in Deutschland, 59
Millionen an die Gefangenen in Frank-
reich und seinen Kolonien). Dieschwei-
zerischen Postanstalten erhielten und
versandten 8 Millionen kleine, nicht
eingeschriebene Pakete von einem Kilo-
gramm Maximalgewicht. Die schwei-
zerische Postverwaltung hat femer
4,5 Millionen Mandate von zusammen
65 Millionen Franken gewechselt und
befordert. Im verflossenen Monat Juli
betrug der Durchschnitt taglich
355 748 Briefe und Karten, 25 439
kleine Pakete, 46 827 groflere Kolis,
5639 Mandate im Betrage von 76 41 9
Franken. Diese Riesenarbeit wurde
vom Personal der schweizerischen Post
bewaltigt, unterstiitzt durch Freiwillige,
die unermiidlich mitwirkten.
Hilfeleistung an die Serben, Belgier,
Polen, Armenier usw.
Das Schweizervolk hat die Aufrufe
zugunsten der vom Kriege schwer
heimgesuchten kleinen Lander, wie
Belgien, Polen, Serbien und Armenien,
teilnahmsvoll entgegengenommen. Das
Mitleid und die Nachstenliebe unseres
Volkes, das so sehr an seinem heimat-
lichen Boden hangt, wandte sich
gerade diesen Heimatlosen aufopfernd
zu. In alien Kantonen bildeten sich
Komitees, die sich bemiihen, Getreide,
Reis, kondensierte Milch, Konserven
und Kleidungsstiicke nach Serbien ge-
langen zu lassen fiir die zwei oderdrei
Millionen Einwohner, die noch in
jenem Lande geblieben sind.
Das tragische Schicksal Belgiens
wurde in der Schweiz tief empfunden.
Seit Oktober 1914 hat man in alien
Kreisen der Bevolkerung den Wunsch
und den Willen geauBert, den Familien,
die ihrer Heimat entrissen, oft ganz
ohne Existenzmittel waren, tatkraftige
Sympathie zu bezeigen. In vieien
Kantonen bildeten sich Komitees ; Lau-
sanne wurde der Zentralsitz. Ober 2000
Belgier sind untergebracht worden,
besonders in der sprachver wand ten
Westschweiz.44
Rene Schickele ♦ Die Pflicht zur Demokratic
89
Q{ene ofchicfcefe .*
DIE PFLICHT ZUR DEMOKRATIE
„FlenscA[icAe ‘Beirachiungen zur Fo(Hid“ . ‘Verfasser : (Franz
Blei. (Verleger: Georg Flatter in FluncAen. 366 Seiten, von
denen nicAt a((es gesagt wdre, wenn man s/e gescAeit nennie.
(Flag aucA der erste Gindrucd der der GescAeiiAeit sein. c FacAe
des Fempos, des geraden und rascAen ^lOegs vom Ginfatt zur
Formulierung. Fiber selbst wenn der Ginfatt nur gescfieit war,
die Form ulierun g ist bereits (Fug, soil Aeiflen : nacAdendlicA ; nacA
einem Fundblicd fiir einen besiimmten, nicAt wittdurlicA gewaAften
Fundi entscAfossen, von wo das beAandefte Objedt in den Flngeln
zu bewegen ist. FlicA interessiert am meisten das (Kapitel uber
‘ Vemodratie .
Blei und ich, wir sind uns einig: ,,Demokratie ist keine
Regierungsform. Weder Partei, noch Politik, noch Staatsver-
fassung. Sie ist menschliches Verhalten, das sich emmal poli-
tisch in drei Worten ausdriickte: Freiheit, Gleichheit, Briider-
Iichkeit.“
Blei schlagt vor, die umgekehrte Reihenfolge anzunehmen.
Die Griinde, die er dafiir nennt, sind morahscher Art, wie er
fast zu gern aus der politischen und historischen Betrach-
tung in eine moralkasuistische Bewertung umschlagt — welche
Eigentiimlichkeit ihm mit den gottlosen Enzyklopadisten der
vorrevolutionaren Zeit gemein ist. Zur Historic iibergehend,
stellt er am Schluss des Aufsatzes fest :
,,Ein ganzes Jahrhundert nach der Revolution glaubte, die
Gleichheit und Freiheit zu realisieren, und daB die Bruderhch-
keit sich dann als Effekt von selbst einstellen wiirde. Ein Jahr-
hundert und mehr schuf biirgerliche Freiheiten und gesetzhche
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90
Rene Schickele * Die Pfltcht zur Demokratie
Gleichheiten, indem es das biirgerlich-politische Vertragsver-
haltnis der Menschen anderte : freier Arbeitsvertrag, freie Ziigig-
keit, freier Wettbewerb, freie Forschung, freie Berufswahl, freie
Liebe, freie Presse, — dafi Freiheiten nicht die Freiheit be-
deuten, bewies diese „freie“ Zeit an sich selber, ja sie bevvies sogar,
dafi Freiheiten nicht einmal Freiheiten sind, sondern nur poli-
zierte Interessen. Denn jede dieser Freiheiten braucht den
Zwang von ein paar Dutzend Gesetzen und Polizisten, die sie
garantieren. Es sind Freiheiten, die gewissermafien befolgt wer-
den miissen. Aus diesen die Menschen isolierenden Freiheiten
ergab sich die Briiderlichkeit nicht nur nicht, sondern sie ver-
kiimmerte in den Vereinsbruder, den Kegelbruder, den Partei-
bruder oder das Genossentum wirtschaftlicher Interessengrup-
pen. Die Briiderlichkeit wurde unmenschlich, indem sie sich
partikularisierte in Zirkeln, Verbanden, Parteien, Klassen, denen
Interessen, Wiinsche und Absichten em Gemeinsames gaben,
in dem sich die Vereinigten als ,,Briider“ gegen andere fanden,
die ihnen nicht einmal feindliche Briider waren, sondern Gegner.
In den Bruderschaften hat sich jeder Sinn der menschlichen
Briiderlichkeit aufgehoben. Es gibt heute Freiheiten, Gleich-
heiten und Briiderlichkeiten — alles in der Mehrzahl, die aber
aufhebt, was nur in der Einzahl existiert oder iiberhaupt nicht
ist. Die Demokratie ist die Briiderlichkeit der nur in Gott glei-
chen und der Freiheit sich bewufiten Menschen."
Wenn wir, Blei und ich, einig waren, dafi die Demokratie
beileibe nicht eme Regierungsform sei, so hatte ich, im weitern
Verlauf der Auseinandersetzung mit der Histone — wenn diese
schon herhalten muB — daraus eine wenn nicht entgegengesetzte,
so doch in einer ganz andern Kurve Iaufende Gedankenfolge
entwickelt, die nicht bei dem politischen Nihilismus angelangt
ware, mit dem Blei sich zufrieden zu geben scheint. Die Freiheit,
Gleichheit und Briiderlichkeit, nach Bleis Definierung, besafien
zum Beispiel die russischen Bauern auch schon vor der Auf-
hebung der Leibeigenschaft im hochsten Mafie. Das ware aber,
denke ich, kein Grund gewesen, sie in der Leibeigenschaft zu
erhalten. Obwoh! es Ideologen gibt, die auch diesen Schlufi ge-
Rene Schickele ♦ Die Pfltcht zur Demokratie
91
zogen haben. Wohingegen der moralisch folgernde Tolstoi
ausfiihrte :
,,Etwa vor dreifiig Jabren hatte Henry George ein nicht nur
verstandiges, sondern auch durchaus durchfiihrbares Projekt
der Aufhebung des Grundeigentums vorgeschlagen . . . Wenn
aber in Amerika und in England dieses Projekt nicht angenom-
men wird, so ist noch viel weniger Hoffnung vorhanden, dafi es
in monarchischen Staaten wie Deutschland, Osterreich und
Rufiland akzeptiert werden sollte. Bei uns in RuBland befinden
sich kolossale Landerstrecken im Besitze von Pnvatpersonen,
als auch des Kaisers und der kaiserlichen Familie, und daher
ist keine Hoffnung vorhanden, dafi diese Menschen, die sich
ohne das Recht am Boden so hilflos fiihlen wie junge Vogel
aufierhalb ihres Nestes, diesem ihrem Recht entsagen oder auch
nur daran riitteln liefien ; s/e werden fur dieses ‘Recht bis zu
ikren fetzten OCrdften damp fen.
Und daher wird, sofange sick die Qewaft auf seiten einer
aus Grundbesitzern bestehenden Regierung befindet, eine Auf-
hebung des Grundeigentums nicht stattfinden konnen."
Hier ist bereits vom Grundeigentum die Rede, nicht mehr
von Leibeigenschaft. Els wird festgestellt, dafi es zur Anderung
der Gewalt bedarf, also einer politischen Handlung, die allein
die Menschheit von der moralischen Tatsache ihrer Freiheit
entbinden kann.
Die Vorschlage Tolstois, so weit zu gelangen, sind bekannt.
Er ging bis zum Aufiersten. In einer andern Flugschrift —
„Patriotismus und Regierung"
erklarte er:
„Wenn das Fehlen der Regierung nun wirklich der Anarchie
im negativen, die Unordnung bedeutenden Sinne des Wortes
(welches das iibrigens gar nicht bedeutet) gleichkame, so konnte
auch dann keine Ordnungslosigkeit der Anarchie schlimmer als
die Lage sein, in welche die Regierungen ihre Volker schon ge-
bracht haben, oder zu welcher sie dieselben fiihren."
Schlimmstenfalls, sage ich zu Blei, werden radikalepolitische
Mafinahmen, wie er sieaufzahlt, und aufderen Unzulanglichkeit
er hinweist, wenn nicht zu einer wahrhaften Neuordnung, will
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*
92 Rene Schickele ♦ Die Pflicht zur Demokratte
sagen: zur Ordnung hinfiihren, dann gewifi zu einer immer
grofieren Unordnung, aus der die Menschheit sich schliefilich
nur noch durch einen Gewaltakt retten kann und retten wird,
da sie zu allem bereit ist, nur nicht dazu unterzugehn.
Jede grofie gemeinsame Anstrengung, die, mit oder ohne
Wissen derer, die sie tun, durch die politische und wirtschaft-
liche Befreiung von Volksteilen, durch Entrechtung der Herr-
schenden das ‘Prcbfem des Qfiicfcs zuspitzt, nenne ich emen
Fortschritt. Denn so gewifi das Gluck nicht in materiellen Gii-
tern hegt, so gewifi ist die Sklaverei in jeder Form das grofie
Hindernis, womit der Teufel der Masse der Menschen den
Weg zum innern Licht, zur wahren Freiheit verrammelt.
Und der Teufel weifi, warum er sich an die Masse halt und
die ,,Auserwahlten“ nebenbei laufen lafit, wie er es nicht hin-
dem kann.
Er weifi, dafi die Auserwahlten, weil sie gute Menschen
sind, niemals gliicklich sein konnen, well sie die Ausnahme
bilden, und dafi sie sich deshalb lieber kreuzigen lassen, als
sich mit dieser unmenschlichen Einsamkeit abzufinden.
,,Christus als Politiker“ : ein Buch, das zu schreiben ware.
Es hatte mit der Bergpredigt zu beginnen und zu schliefien
mit der Bergpredigt. Dazwischen ware aufzuzeigen das Hm
und Her der politischen Aktion:,von der Disputation mit den
Schriftgelehrten bis zur Weigerung, das Wunder zu tun, das
ihm am Kreuz von einem aus der Masse zugemutet wurde:
,,Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab“. Hatte Christus
das Wunder getan, ware er vor seinen Henkern vom Kreuz
gestiegen, so hatte er mit dem freien Willen des Menschen den
Sinn der Welt vernichtet. Er hatte die ewige Sklaverei iiber
die Menschheit verhangt. Er hatte sich, er hatte Gott ver-
tiert. Was ist das, dieses unheimlich pathetische: ,,des Men-
schen Sohn“, der sich doch Gottes Sohn nennt zugleich — was,
wenn nicht die Vergottlichung des Menschen durch die Be-
riihrung des sich menschlich zu ihm niederneigenden Erlosers ?
Die ,, Auserwahlten" kannten Gott von je. Deshalb mmmt
auch das Neue Testament die Gerechten der alten Zeit von
? der allgemeinen Verderbnis aus. Der Masse, der Mehrheit ward
1 der Erldser geboren. Fiir die Auserwahlten konnte er nur die
Besfatigung sein, die sie, die Starken in der Erkenntnis, ent-
behren konnen, wie sie sie Jahrhunderte lang entbehrt haben,
ohne darum schwach geworden zu sein.
Es ist eine zweifelhafte Sache um den Einzelnen, Auser-
wahlten. Als ich in Benares an den bekranzten Scheiterhaufen
vorbeifuhr, auf denen die festlichen Toten in den unendlich
blauen Himmel rauchten, sagte, angesichts der Tempel und
Fratzen, der Ruderer: „Die Masse betet zu den Gotzen. Aber
der Bramahne tragt Gott im Herzen. “ Damit mag der Bra-
mahne sich begniigen, der ein Damagoge ist, der Christ muB
die Masse befreien wollen, denn er glaubt an die Freiheit des
Willens im Menschen, in jedem, und das heiBt iiberhaupt
gfauben. Und gfauben heiBt woffen. Wollen, daB der Mensch
glaube. Die Inquisition strafie den Menschen dafiir, daB er
nicht glaubte. Es ist kein Zufall, daB diese lacherlichen Ver-
suche, durch leibliche Vernichtung zu iiberzeugen, von Spanien
ausgingen, das eine christlich geschminkte Provinz Nord-
afrikas war.
Wiinschen, wollen, daB der Mensch glaube, heiBt : wiinschen,
wollen, daB er glauben konne, selbst, wenn er nicht ein Auser-
wahlter, das heifit ein — sehr selten nur aus eigner Kraft — Em-
porgehobener ist. Aber die meisten Menschen lafit die leibliche,
die geistige Not gar nicht zur Besinnung kommen. Sie fronen.
Und vertrauen ihr Seelenheil irgend einer Form der Gebet-
miihle an. Aus Mangel an Zeit. Aus Ermiidung. Aus Angst
und Aberglaube. Aus Not, aus Not.
Der Mensch wird mit der Pflicht zur Demokratie geboren.
Er lebt als Verrater an seinen Briidern oder als Mitkampfer
fiir das Gluck der Menschen. Es gibt keine andere Wahl fiir
ihn. Wir alle erreichen mit Sicherheit nur eins, den Tod — ob
Durchgang oder Ende, wer weiB es? Aber wir miissen, wenn
unser Glaube nicht starker ist, so doch an dieser geringsten
Vorstellung der Ewigkeit hangen: der Ewigkeit unserer Werke,
alles dessen, was im geringsten von uns auf andere gewirkt hat.
94 Rene Schickele * Die Pflicht zur Demokratie
Und die Gemeinschaft der Menschen ist so eng, daB jede eines
jeden auf alle wirkt.
Wir glauben zuversichtlich an den Sieg der guten Werke
im langen Kampf, den die Geschlechter leben. Nur der gute
Mensch ist gliicklich. Die Menschheit aber will das Gluck. Sie
wird es erkampfen, koste es, was es wolle, dauere es noch so
lang. DaB sie in der Welt gliicklich werde, ist der Sinn der
Menschheit. Anders ware sie nicht eine Schopfung Gottes, son-
dern desTeufels. Dies aber behaupten in der Christenheit nicht
einmal die Asketen.
Der Mensch wird mit der Pflicht zur Demokratie geboren.
Sie heiBt : Restlose Parteinahme, unablassiger Kampf fiir die
Befreiung von Armen und Kopfen zur gliickhaften Anschauung
der Welt und zur Betatigung der Giite, gebend und nehmend,
in der herrlichen Gemeinschaft der Menschen.
Zwar kann der beste Zweck ein schlechtes Mittel nicht gut
machen. Aber es ist nicht gesagt, daB ein schlechtes Mittel dem
guten Zweck nicht zugute komme.
In diesem Sinn konnte einKrieg, diese aufgebliihteTeufels-
saat, sich am schrecklichsten Abend mit dem Regenbogen der
Botschaft iiberziehen, die eine neue, bessere Zeit verbiirgt,
kann die Revolution, dieser bose Ausbruch der gerechten
Ungeduld, eines der Tore zerschlagen, hinter denen das Bose
mit groBer Wissenschaft verwaltet wird.
Nein, Demokratie ist gewiss keine Regierungsform . Aber,
frage ich, ist es unsere Aufgabe, den Darius zu belehren, daB
sein Volk „in Gott frei“ sein und er trotzdem ein Tyrann
bleiben konne? Das versichern die unzahligen Wegelagerer
unter den Padagogen, die alles in ihre Taschen stopfen, was
auf dem Weg zwischen ihrer proletarischen Herkunft und
dem vergotterten Herrenhaus sie an sich bringen konnen.
Auch der Tyrann wurde mit der Pflicht zur Demokratie
geboren. Er ist einzig darnach zu beurteilen und zu be~
handeln, wie er dieser Pflicht geniigte, hinter der uner-
bittlich das Kreuz steht, woran Gottes Sohn in den Nageln
verblutet.
v
Rene Schickele * Die Pflicht zur Demokratie 95
Ich glaube an die Vergeltung aller Leiden, und nenne sie die
Rache. Ich glaube an die Kraft, die solches Werk bereitet, das
ist der Hafi. Ich kenne den Preis dieser Kampfe: die Liebe.
t Solche Rache, solchen Hafi, solche Liebe teile ich weder mit
dem Militar, noch mit dem Kaufmann, noch mit dem „Nichts-
als-Klassenkampfer“. Aber mit Ihnen, Blei. Wir vertreten
keine „Intere$sen“, sondern den freien Menschen, den ewigen
Menschen von morgen. Auch Sie, Blei. Trotzdem Sie nach
der Tiara mit einem Wohlbehagen schielen, das mir ein wenig
zu unverbindlich scheint, wahrend es Unschuldige zu Traume-
reien und den philosophischen Applikationen verfiihren konnte,
die zu den verstaubten Geduldspielen des dekorativen Symbo-
lismus gehoren. Ich will nicht, dafi wir eine Bande libertiner
Chorknaben und Sakristane bilden und in die Rocke ebenso
gearteter, wenn auch noch nicht immer getaufter Damen beich-
ten, die fiir ihre so begreifliche Unruhe metaphysische Griinde
suchen. Ich will nicht, dafi wir uns mit der Geste der Beschei-
denheit und Mord und Totschlag zum Trotz in ein Floten-
konzert vergraben, worin wir unsre anmutigeren Gefiihle zu
Schaum schlagen. Ich will aber auch nicht, dass wir uns hyste-
risch auf das Postament Zwinglis hinauf schwingen, der, die
Heihge Schrift auf ein Henkerschwert stiitzend, gebieterisch
den Sonnenquai hinunterblickt. Und ich will auch nicht, dafi
wir zu einer Heilsarmee von kleinen Rentnern werden. Das
alles wollen auch Sie nicht. Deshalb haben Sie Ihre „Mensch-
lichen Betrachtungen zur Politik** geschrieben. Nur erkenne
ich manchmal bei Ihnen die gefahrliche Tendenz, aus Ekel an
der Unzulanglichkeit des Gestern und Heute in das Vorgestern
zu fliichten und aus diesem Hintergrund die „innere“ Civitas
Dei zu dekretieren. Ich will sie nicht nur innen, die Civitas
Dei, ich will sie auch aufien. Ich will sie sichtbar fiir alle, fiir
alle bewohnbar. Wenn moglich gleich. Und wenn nicht gleich,
dann morgen, aber so, als ob wir schon heute, in unserm
Heute sie beziehen sollten. Sie stimmen zu, Blei. Dann schrei-
ben Sie schnell ein zweites, noch viel niitzlicheres Buch:
..Politische Betrachtungen zur Menschlichkeit.“
y',vvs
96
Franz Blei ♦ Der Geizige
tfranz £Z Wei :
DER GEIZIGE
KOM0DIE nach moli£re in vier akten
PERSONEN:
De r Geizige
Joachim, sein Sohn
Luise, seine Tochter
Heinrich, Selcretar beim Geizigen
Marianne, des Joachim Geliebte
Simon, ein Geldverleiher
Die Schuwitsch, eine Gelegenheitsmacherin
Jakob, Diener beim Geizigen
Laurenz, Koch und Gartfier beim Geizigen
Ein Regierungskommissarius
Babette, Amme der Luise
Spielt zu Breslau kurz vor Ausbruch des dritten schlesischen Krieg».
In einem Gartenzimmer im Hause des Geizigen, vom Morgen
bis zum Abend eines Tages.
ERSTER AKT.
ERSTE SZENE.
Luise. Babette.
Babette: Kind, du hast ordentlich f rische Backen bekommen
in den vier Wochen zu Potsdam! Halt preuBische Luft.
Luise: 1st die gute Muhme auch arm, geht’s doch froh zu
in ihrem Haus.
Babette: Bei uns ist’s umgekehrt. Gott helf es!
Lu i s e : Wie steht’s ?
Babette: Und wird schlimmer um jeden Tag.
Franz Blei ♦ Der Geizige 97
^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ~ ^ ^ ^ _-. + ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ * J: + ^ ^
Luise: Schlimmer? Kann’s denn noch?
Babette: Jetzt hat Euer Vater noch einen Heifer, einen
Sekretarius wie er sich nennt, — der wahre Teufel, sag ich Euch !
Das ist ein Tanz! War, weiB Gott, an dem Alten schon mehr
als zuviel.
Luise: Der Konig soli wieder Krieg bereiten, sagt man,
gegen die Kaiserin in Wien.
Babette: Krieg wieder? Noch nichtgenug? Die arme Frau.
Luise : Da renvoyiert man was nicht hingehort, schickt alles
Fremde, wo es herkam. War gem noch blieben bei der Muhme.
Und muBt’ so heim. Ah, was ein Heim.
Babette: Ich hab dir keinen Trost, mein Kind.
Luise: Ich weiB, Amme, du meinst es gut. Und wiiBtest
du, wie von anderm voll mir das Herz noch ist, du hiilfest.
Babette: Das Herz voll, sagst? Dann bist verliebt, Luis-
chen! Nicht?
Luise: Verliebt — gar kein Wort dafiir, Amme! Verstorben
in Liebe! Ganz.
Babette: Kam auf einmal iiber dich. Und darf man’s
wissen, wer meinem Luischen das angetan hat?
Luise: Lafi mich allein damit, Babette.
Babette: So schhmm ist’s? Mein Luischen! (Ab.)
*
ZWEITE SZENE.
Luise (allein).
Luise (packt aus einer Reiseschachtel eine Haube) : TVug ich beim
Abschied. Wie lang her, mein Gott! Zwei Wochen und ist mir
eine Ewigkeit. Die Zittenadel bog er schief beim letzten KuB.
So blieb es. Kein Zeichen von ihm seither. Nichts. Und wie
verschwunden. Sind so die Manner? Ah, Heinrich! Warum
kamst in mein Leben und bliebst nicht? Warum gingst?
*
98
Franz Blet * Der Geizige
DRITTE SZENE.
Luise. Heinrich.
Luise: Heinrich!
Heinrich: FaBt Euch, Luise, und verratet mich nicht. Ich
mufite fort vor zwei Wochen aus Potsdam und hierher zu Eurem
Vater. Bin sein Sekretar. Els gab kein ander Mittel, Euch nah
zu sein, Luise. Kein anderes, das uns zu unserm Gliicke bringt.
Seufzer? Bereut Ihr schon, jetzt schon, daB Ihr mir Eure Liebe
gestanden habt?
Luise: Heinrich! Wie sollt ich, wozu so siiBe Macht mich
zwingt, bereuen? Lieb ich Euch nicht mehr als ich sollte?
Heinrich: Und Seufzer, Luise?
Lu ise: MuB ich nicht fiirchten? Den Vater, die Leute?
Und mehr als alles das, daB Ihr mein allzustarkes Lieben mit
weniger Liebe vergeltet?
Heinrich: Nur mit meinem Leben wird sie enden.
Luise: Worte aller Manner, nicht?
Heinrich: Dann wart die Taten, Madchen!
Luise: Ich glaube deinem Herzen, Geliebter!
Heinrich: Meine Luise.
Luise: Du muBt mich vor mir selber schiitzen, Heinrich.
Gott ! Du immer nah und ein Fremder doch — Seligkeit und
Qual — es stiirzt aus mir, Heinrich — du, schone mich!
Heinrich: Meine Braut. Auf rechtem Weg sollst du mein
Weib werden, ich schwor es dir, Luise.
Luise: Und der Vater?
Heinrich: So wie er ist, und dir, dem Bruder und alien
das Leben zur Qual macht, zwingt er mich zur Maske, die ich
vor ihm trage, und in der ich ihm gleichen muB, soli ich seine
Gunst behalten und wissen um seine Plane. Erschrick dariiber
nicht, Luise, wie ich mich verstelle, — du weiBt, wofiir ich es
tue. Er ist ein Teufel —
Luise: Heinrich!
Heinrich: Verzeih. Ein Narr, ein boser Narr und ich
der Narrheit Sekretar, verstellter Teufel wie er der echte.
Franz Bid * Der Geizige
99
Grausen der Menschheit. Doch mir durch wichtigen Dienst
verpflichtet.
Luise: Weifi Joachim um dich — um uns?
Heinrich: Mit beiden kann ich’s nicht halten. Beider
Vertrauen kann ich nicht zugleich haben. Joachim ist ein gutes
Kind, der Vater — da kommt der Bruder durch den Garten.
Vielleicht sprichst du mit ihm, Luise. (Ab.)
*
VIERTE SZENE.
Luise. Joachim.
Joachim: DaB du nur wieder da bist, Schwester! Ich allein
in dieses Hauses Holle, kaum ertrag ich’s, ertriig ich’s, ware
nicht — kannst du ein Geheimnis wahren, Schwester?
Luise: Was ist’s denn?
Joachim: Ganz ungeheuer vieles, Luise, eingewickelt in
ein einziges Wort: ich liebe.
Luise: Liebst?
Joachim: Du wirst sie Schwester nennen, siehst du sie zum
erstenmal. Gottes schonstes Geschopf. Holdestes ! Aber da ist
einer, der mich mit dem Namen Sohn, den er mir gibt, zu
seinem Sklaven machen will und mich wie einen Sklaven halt.
Der Vater — Wort, das, suB sonst, meine Lippen bitter macht
als war’s ein Gift! — Bin ich ein Hund, daB er mich an der
Kette seines Geizes halt? Ich sag dir alles, Schwester. Marianne
ist ein armes Ding, ganz arm, bei ihrer Mutter. Nie wird dazu
der Vater sein Ja sagen.
Luise: Das wird er nie.
Joachim: Schwesterchen, du liebst nicht, du kennst diese
Gewalt nicht, die Liebe iiber unsere Herzen ausiibt — sprich
nicht verstandig, Schwester, wenn du mich nicht toten willst !
Luise: Ah, meine Verstandigkeit — Sahest du in mein
Herz —
Joachim: Gute, hast Mitleid —
Luise: Arm ist sie, sagst du?
100
Franz Bid • Der Geiztge
Joachim: Schon! Schtin! Ein Engel des Himmels, Luise!
Luise: Liebst sie?
Joachim: Ich liebe sie! Und kann ihrer Armut nicht
helfen. WeiG, wie kiimmerlich zu leben Not sie und die Mutter
zwingt — und kann nicht helfen, ich, des Reichsten dieser
Stadt Sohn, und des Armsten zugleich. Wie leben wir,
Schwester! Wie leben wir! Es ist eme Schmach.
Luise: War Mutter noch am Leben!
Joachim: Kannst du helfen, Schwester? Mit dem Vater
sprechen? Ihn ausholen? Ich seh deinem Gesicht die Antwort
an, die du von lhm erwartest. Dann bleibt nichts als — Krieg
gibt’s wieder, Madchen, ich geh zu den Soldaten und such
den Tod.
(Man hort den Geizigen schelten.)
Luise: Der Vater! Komm, nicht jetzt ihn sehen. (Ab mit
Joachim.)
*
FUNFTE SZENE.
DerGeizige. Jakob.
Geiziger: Aus meinem Haus und auf der Stelle! Halunke!
Galgenvogel! Erzspitzbube!
Jakob: Der Leibhaftige, bei der Mutter Gottes!
Geiziger: Was redst du da? Du Hundsfott?
Jakob: Warum jagen mich der Herr weg, frag ich, warum?
Geiziger: Den Stock zur Antwort, Galgenstrick! Zu
Schanden schlag ich dich!
Jakob: Was hab’ ich denn getan ?
Geiziger; DaB du noch da bist, das hast du getan!
Jakob: Hier soil ich warten, ist Befehl Eures Herrn Sohns.
Geiziger: Wart auf der StraBe, nicht 1m Haus! Schild-
wache, was? Gucken und spitzen und aufpassen, was vorgeht,
wo man steht, was man denkt, ha? Ich will keinen Spion um
mich haben! Augen, die mir alle Winkel abstobern, ob’s was
zu stehlen gibt! Diebsvolk!
Franz BUi ♦ Der Gctztge
101
Jakob: Euch was stehlen ! Das Gott erbarm ! Das konnte
nichteinmal der Teufel selber! Ihr sperrt ja harte Brotrinde eln!
Geiziger: Ich sperr ein was mir pafit, versteht Er! Alles
sperr ich ein ! Das bifichen Habe, der bittern Not zu steuern,
mufi man beisammen halten. Er bringt wohl noch gar unter
die Leute, bei mir sei Geld versteckt, was?
Jakob: Geld versteckt ?
Geiziger: Nein, Schuft! Ich hab kein Geld und so auch
keins zum Verstecken! Ich frag dich nur, ob du’s nicht schon
herum erzahlt hast, ich hatte welches?
Jakob ; Und hattet Ihr auch Geld — uns hiilf es doch nichts.
Geiziger: Halt dein Maul! Und fort!
Jakob: Ich geh ja schon!
Geiziger: Nimmst nichts mit? Fort! Zeig deine Hande,
beide!
Jakob: Da!
Geiziger: Und in denTaschen? (Durchsucht ihn.) Nur ge-
niacht in solcher Menge, urn Gestohlnes drin zu verstecken,
Bedien ten pack! Spitzbubenpack. (Zieht einen Knochen aus der Tasche
Jakobs.) Ha! Sag ich’s nicht? Wem stahlst du den Knochen?
Jakob: Wenn Ihr es schon wissen wollt, — vielleicht dem
Tyras.
Geiziger: Du schamloser Dieb ! Mir den Hund bestehlen !
Jakob: Der Teufel hoi ihn!
Geiziger: Meinen Hund?
Jakob: Den Geiz! (Lauft ab.)
Geiziger: Schuft! Schurke! Ich will dir! — Ah, sollst es
auf dem Gewissen schwer haben, wenn du mir noch mehr
gestohlen hast! — Diebsvolk alle zusammen! Und zwischen
ihm, ich, der gute wehrlose Mensch, Herr seiner sauer erwor-
benen Habe, Herr? Gelachter! Herr! In die Erde mufi man
sein Gut vergraben, sich draufleger> wie ein heiliger Leichen-
stein, der es vor Schandung bewahrt, und bewahrt’s doch nicht.
Stiehlt der anfallende Strafienrauber, der nachtlich einschlei-
chende Dieb nicht, der Diener im Hause nicht, so tut es einer,
der sich den Diener des Staates nennt, und nimmt dir weg
Franz Blei • Der Geizige
102
was dein ist, und sagt es sei sein Recht! Gestern war es die
Kaiserin, heut ist es der Konig. Das kommt und geht, und weg
ist weg. Aber ich, ich bleibe, und will mit dem was mein ist
bleiben, verstanden? „Her mit deinem Gold!“ sagt der groBe
Rauber, „ich geb dir Papier dafiir.“ Ha! Das Papier! Ich kenn
das Papier! Ich hab es selber fabriziert! WeiB was es wert ist.
Ich habdamit die Finanzen ihrer apostolischen Majestat in Wien
ruiniert und denen meines neuen Herrn in Potsdam geholfen.
Und den meinen. — Aber was mein ist, soil es auch bleiben!
Lieber ins Stockhaus, wenn ich es behalte, als es hergeben und
frei sein ! Frei ! Arm und frei — Gelachter ! — Dafi mir Heinrich,
bevor es alle wufiten, vom kommenden Kriege sagte, das dank
ich ihm. Meine achtzehntausend goldenen Dukaten wanderten
in die Erde. Das dank ich ihm. Ohne zu danken verpflichtet.
Denn er weiB nichts, weiB mchts von den achtzehntausend.
*
SECHSTE SZENE.
Der Geizige. Joachim.
Geiziger (erblickt Joachim, der aus der Tiire trat): Was glbt es?
Schleichst herum, mich auszuhorchen? Lang schon so?
Joachim: Eben trat ich ein. Such die Schwester. Sie ist
zuriick aus Potsdam.
Geiziger: Hast gehort?
Joachim: Was, Vater?
Geiziger: Was es Miihe macht, heut Geld aufzutreiben,
sprach ich so zu mir selber. Und daB einer gut daran ist, der
ein paar tausend Taler im Hause hat. DaB du mich nur nicht
miBverstehst und dir gar einbildest, ich hatte sie im Hause.
Nichts ist da, nichts!
Joachim: Kummerte ich mich je um Eure Angelegenheiten,
Vater?
Geiziger: Wollte Gott, ich hatte ein paar Taler im Hause!
Franz Blei ♦ Der Geiztge
103
Joachim: Man weiS doch, Vater, dafi Ihr nicht iiber
schlechte Zeiten zu klagen braucht. Man weifi doch, Ihr seid
reich.
Geiziger: Reich? Ich reich? Welcher Narr redet so
dummes Zeug? Sieh mich an, sieh das Haus an, — ist das
eines Reichen Haus? Lumpen und Gauner streuen Geriichte!
Und meine eigenen Kinder verbreiten sie, verbiinden sieh
gegen mich, den Vater!
Joachim: Deshalb schon Euer Feind — ?
Geiziger: Den Hals wird man mir eines Tages durchschnei-
den, weil man meint, bei mir stecke es voll Geld. Raubgesin-
del Iockt dein einfaltiges Gerede von meinem Reichtum mir
an den Leib ! Ich reich ! Man konnt es wohl glauben, wenn
man euch sieht, dich und deine Schwester. Das schreit zum
Himmel. Ein Vermogen tragst du auf deinem nichtsnutzigen
Leibe. Seidene Striimpfe hat der Herr an ! Silberschnallen an
den Schuhen! Und aus Sammet den Rock. Und Spitzen!
Spitzen ! Als ob er der Graf Kaunitz ware ! Und ist nichts als
dieses armen Vaters leichtsinniger Sohn! Zu Grunde richtest
du mich ! Pltinderst mich aus !
Joachim: Ich Euch?
Geiziger: Woher nimmst du das Geld, so sinnlosen Auf-
wand zu treiben ?
Joachim: Wenn Ihr es wissen wollt : ich spiele. Und spiele
mit Gluck. Von Euch, Vater, ist an all dem was Ihr Aufwand
zu nennen liebt, nicht fiir einen Groschen, den der Puder im
Haar kostet.
Geiziger: Wenn du Gluck im Spiel hast, verleih den Ge-
winst auf Zinsen, damit du eines Tages was hast. Puder im
Haar! Geld fiir Penicken ausgeben, wenn man selbstgewach-
senes Haar hat, das nichts kostet. Mein dtinner Scheitel brauchte
eher solchen Schutz und ich entbehre ihn, weil ich
nicht
mit Gluck spiele wie Er, der junge Herr Graf! Ich sage dir,
du endest auf dem Galgen! Bleib! Ich hab mit dir zu reden.
Setz dich. Nicht hier. Willst du mir meine Borse ziehn, weil
du so nah kommst?
27 Vol. m/2
104
Franz Blei * Der Geizige
Joachim: Ihr wiinscht, Vater?
Geiziger: Ich hab mit dir vom Heiraten zu sprechen.
Joachim: Vater!
Geiziger: Macht dir das Wort angst? Sag, kennst du ein
Madchen, das Marianne heiBt ? Ich meine nur, weil sie mit
ihrer Mutter in der Nachbarschaft wohnt, und du von ihr ge-
hort ha ben konntest.
Joachim: Ich kenne das Madchen, Vater.
Geiziger: Und wie findest du sie?
Joachim: Bei Gott, ein entziickendes Geschopf.
Geiziger: Und ihre Sitten? Benehmen?
Joachim: Holde Sanftmut.
Geiziger: Du meinst also, daB ein solches Madchen es
wohl verdiene, daB man es ins Auge faBt ?
Joachim: Gliicklich der Mann, der Marianne zum Weibe
nimmt !
Geiziger: Und daB sie eine gute Hausfrau abgeben wird?
Joachim: Die Sonne im Hause!
Geiziger: Hat nur eine Schwierigkeit. Sie wird, fiircht
ich, nicht viel Vermogen haben, wie man es wohl verlangen kann.
Joachim: Was kommt es hier auf Geld an, bei diesem
Himmelsgeschopf !
Geiziger: Redensarten ! Auch die Himmelsgeschopfe stellen
irdische Anspriiche von allerlei Art und kosten Geld. Man
miisste sehen, das Fehlende auf irgendeine andere Weise herein-
zubekommen.
Joachim: Die geringste Sorge ware mir’s.
Geiziger: Dass du so denkst, freut mich. Freut mich
durchaus. Denn der Friede im Hause geht mir iiber alles.
Dich gegen diese Heirat zu wissen, hatte mich verdrossen.
Und dieses liebliche Geschopf hat mein Herz gewonnen.
Joachim (freudig): Vater, Ihr wollt —
Geiziger: Ja. Ich will Marianne heiraten.
Joachim: Ihrsagt?
Geizige r: Dafi ich Marianne heiraten werde.
Joachim (springt auf, schwankt, lehnt sich an die Wand) : 0 Gott. . .
Franz Blei * Der Geizige
105
Geizige r : Was ist denn ?
Joachim: Mir ist nicht wohl.
Geiziger: Trink in der Kiiche ein Glas frisches Wasser.
Joachim (geht rasch ab).
*
SIEBENTE SZENE.
Der Geizige (allein).
Geiziger: Ja- Das ist das einzige Bedenken. Das Mad-
chen hat nichts- Und hat nie was gehabt, dafi sie hatte halten
und haben lernen konnen. So was lebt leicht in den Tag und
hat kein Morgen. Denkt nicht. Sorgt nicht. Hat ein niedliches
Larvchen, Wohl. Wohl. Sind’s Narrenpossen, die mich an das
Madchen denken machen ? Nicht so. Nicht so. Aber eine im
Hause haben, ein Weib im Hause, mein Weib, meines, sich
sorgend um Gleiches wie ich, helfend meiner Sorge mit der
ihren, teilend, mitteilend — es ware schon. Eine haben, die mit
gleichen Augen wie ich in den Gartenwinkel schaut, wo es
liegt ... wo der Schatz liegt . . . (Ruft in den Garten:) Was machst
du dir da zu schaffen, Luise? Hab zu reden mit dir! —
Den Buben unter die Soldaten und das Madchen unter die
Haube- Ich allein mit meinem Weibe, so war es das Rechte,
war Marianne die Rechte. (Luise tritt ein :) Ich hab mit dir zu
reden.
*
ACHTE SZENE.
Der Geizige. Luise.
Luise: Ihr wiinscht, Vater?
Geiziger: Wo du in Potsdam warst, hab ich es iiberlegt
und beschlossen. Es ist Zeit, dass du heiratest. Kurz und gut,
ich habe einen Mann fiir dich ausgesucht.
Luise: Ihr habt —
Geiziger: Keinen Dank dafiir — Braucht es nicht. Ist
meine Pflicht als Vater, das Wohl meiner Kinder zu bedenken.
Du bekommst einen reifen, klugen und gesetzten Mann. Nicht
1 06 Franz Blei • Der Geizige
alter als fiinfzig. Witwer ohne Kinder. Und reich. Du wirst
das beste Leben bei ihm haben.
Luise: Ich will mich noch gar nicbt verheiraten, Vater,
mit Eurer Erlaubnis.
Geiziger: Aber ich will es, mit ohne Ihrer Erlaubnis.
Hab nicht Zeit und Lust, ein Madchen auszuhiiten. Und die
Manner sind rar geworden, die was sind undtaugen. Wir gehen
schlimmen Zeiten entgegen. Da werden die wenigen noch rarer
werden.
Luise (steht auf) : Ich bitte Euch, mich zu entschuldigen,
Vater. Ich werde den Herrn nicht heiraten.
Geiziger: Und wirst ihn noch heut abend heiraten, mein
Fraulein Zieraffe.
Luise: Nie werdet Ihr mich dazu bringen!
Geiziger: 1st alles bestellt und abgemacht.
Luise: Lieber mich toten als dies.
Geiziger: Hat man je eine Tochter mit ihrem Vater so
sprechen horen. Gott wird dich strafen fur deine Siinde. Ich
suche den allervortrefflichsten Mann, der dich nimmt, ohne
Riicksicht darauf, daB ich armer Mann dir nichts mitgeben
kann, als eine vortreffliche Erziehung, die mich weiB Gott Geld
genug gekostet hat, und sie kommt da und, lieber sterben —
Da frag ich die Welt — Da ist Heinrich. Ihn frag ich. Er soil
Schiedsnchter in der Sache sein.
Luise: Gut. Er soli Schiedsrichter sein.
Geiziger: Und wirst dich seinem Spruch unterwerfen?
Luise: Tue was er sagt. Vollig.
*
NEUNTE SZENE.
DieVorigen. Heinrich.
Geiziger: Wer hat recht, Sekretarius, ich oder meine
Tochter?
Heinrich: Wer anders sonst als Ihr?
Geiziger: WiBt Ihr, wovon wir sprachen ?
Franz Blei ♦ Der Geizige
107
Heinrich: Wovon auch immer, Ihr konnt gar nicht unrecht
haben, Herr.
Geiziger (zu Luise): Horst? Els ist das: Ich will ihr heut
abend einen ebenso klugen wie reichen Mann, einen alten Ge-
schaftsfreund von mir, zum Gemahl geben. Sagt mir der Fratz
ins Gesicht, sie stiirbe lieber! Was sagt Ihr dazu?
Heinrich: Ich?
Geiziger: Sagt Ihr dazu!
Heinrich: Da8 ich ganz Eurer Meinung bin. Ihr habt
recht, nur hat auch Demoiselle Luise —
Geiziger: Mein Freund Simon ist die allerbeste Partie.
Aus seiner ersten Ehe ohne Kinder. Keine Verwandte, die sich
lastig machen konnen. VermogeninsicherstenWerten. Konnte
sie es besser treffen, sprecht ?
Heinrich: Ihr habt recht durchaus. Fraulein Luise meint
wohl nur, die Sache drange nicht so, und dafi sie wohl auf ihre
Neigung mit der Zeit kommen werde —
Geiziger: Die Gelegenheit fahren lassen? Beim Schopf
muB man sie greifen! Gibt’s solche Manner denn viele? Und
er, bedenkt! Er nimmt sie ohne roten Heller Mitgift!
Heinrich: Ohne Mitgift?
Geiziger: Ohne Mitgift!
Heinrich: Da sag ich nichts mehr. Das iiberzeugt.
Geiziger: Was ich dabei erspare, Mensch!
Heinrich: Da bleibt nichts andres. Man muB sich erge-
ben. Eure Tochter konnte ja sagen, heiraten sei eine emste
Sache, wobei es sich um ein ganzes Leben handle.
Geiziger: Ohne Mitgift!
Heinrich: Ganz recht. Das entscheidet alles. Natiirlich
gibt es Leute, die sagen, auf die Neigung der Tochter miisse
Riicksicht genommen werden, und Ungleichheit des Alters,
Temperamentes und Geschmackes konnte fatale Folgen in der
Ehe haben. —
Geiziger: Ohne Mitgift !
Heinrich: Dagegen gibt’s kein Argument, ich weiB. Aller-
dings gibt es seltsame Vater, die auf das Gliick ihrer Tochter
hoheren Wert legen, als auf das Geld, das sie bezaklen miifiten,
und die ihr Kind nicht in eigenen Interessen opfem mochten,
da das Gliick der Ehe ihnen wichtiger —
Geiziger: Ohne Mitgift!
Heinrich: Das schlagt jeden Einwand nieder.
Geiziger: Wer ist da drauBen? Was bellt der Hund im
Garten? Bin im Augenblick wieder da. (Ab in den Garten.)
*
ZEHNTE SZENE.
Heinrich. Luise.
Luise: Was tun, Heinrich?
Heinrich: Wir miissen eine List finden, Geliebte.
Luise: Bis heut abend?
Heinrich: Du mufit Aufschub verlangen. Dich krank
stellen. Oder —
Luise: Oder?
Heinrich: Das AuBerste. Wir fliehen. (Der Geizige kommt
zuriick.)
*
ELFTE SZENE.
Die Vorigen. Der Geizige.
Geiziger: Soldaten zogen am Gartenzaun voriiber. Bellt
das Vieh und schreckt mich auf den Tod.
Heinrich (zu Luise): Eine Tochter muB gehorchen. Hat
nicht zu fragen, wie der Brautigam aussieht, wenn Klugheit
der Eltern gewahlt hat. Ohne Mitgift — bedenkt!
Geiziger: Ihr seid auBer mir der einzige verniinftige
Mensch, den ich kenne, Sekretarius.
Heinrich: Ah, verzeiht, dafi ich mich hinreiBen lieB, so
mit Ihrer Tochter, der Demoiselle Luise zu sprechen.
Geiziger: Was denn ? Was denn ? Sagt ihr es nur ordent-
lich. Ich geb Euch unbeschrankte Gewalt iiber sie. Setzt ihr
Franz Blei * Der Geizige
109
den Kopf zurecht. Horst du ? Heinrich hat alle Autoritat, die
der Himmel mir iiber dich verliehen hat. du gehorchst ihm,
als ob er dein Vater ware.
Heinrich: Horst Du es, Demoiselle Luise? (Luise ab.)
*
zwOlfte szene.
Der Geizige. Heinrich.
Geiziger: Ihr tut mir einen groGen Dienst, Heinrich, geht
Ihr dem storrigen Ding nach und redet ihm ins Gewissen. Es
liegt mir viel daran, mein lieber Sekretarius.
Heinrich : Ich glaube, man wird ihr die Ziigel stramm
ziehen miissen.
Geiziger: Tut das, tut das. Ihr findet das rechte Wort
besser als der Vater, den Liebe zu seinem Kinde noch schwach
machen konnte. Und Ihr wisst auch, daB Geschafte mich dran-
gen. Keine viele Zeit lassen, diesem einen nachzugehen. Ich
muG auf die Borse. Der Konig mag den Krieg gewinnen. Ich
muG ihn verdienen. Als Ihr mir vor zweien Wochen die Nach-
richt brachtet, daB es wieder losginge, war mir die Botschaft
so neu nicht, wie ich Euch aus Griinden wichtiger Geschafte
sagte. WuGte es langst. Langst. Mein Weizen war schon lang
in Bliiten sozusagen. Ich brachte ihn ein. Ich kann meinem
Konig dienen, wie zuvor dem. Ich bin geriistet. Habt mir auf
das Haus acht. Ich schenk Euch viel Vertrauen. Und stramm
die Ziigel bei der da drinnen. Wie Ihr sagtet. (Ab).
Heinrich (allein): Fiirwahr, ein vaterlandisch Herz wie ein
vaterliches tragst du im Busen, boses Tier!
Vor ha n g.
110
Franz Bid ♦ Der Gdzige
Z WE I TER AKT.
ERSTE SZENE.
Joachim. Jakob.
Joachim (rasch von links): Find dich nirgends. Hier hiefi ich
dich warten.
Jakob: Und stand auch hier. Und hier hat mich Euer Herr
Vater verpriigelt und mich dann aus dem Hause hinausge-
schmissen
Joachim: Wie steht dieSache? Els drangt mehr als je.
Mein Vater — es ist nicht zu sagen vor Scham und Wut —
er ist mein Nebenbuhler bei Marianne. Will sie heiraten !
Jakob: Er ist ganz toll geworden?
Joachim: Gottes Strafe fur meine Siinden mufi es sein,
dafi er ihm den Gedanken einblies.
Jakob: Und Ihr sagtet ihm nichts von Eurer Liebe, gna-
diger Herr?
Joachim: Das noch! Das noch! Er darf keinen Verdacht
auf mich haben, sonst geht alles ungliicklich. Der eigene Vater
— es ist grauenvoll und unerhort! — Was fiir Antwort?
Jakob: Das voraus, Herr, damit Ihr auf alles gefafit seid;
wer borgen will, Herr, ist iibel dran, und doppelt so, wenn er
sich Halsabschneidern in die Hande geben mufi wie Ihr, Herr.
Joachim: Kein Geld also? Dann ist’s aus!
Jakob: Noch nicht, gnadiger Herr. Dem guten Simon hat
Euer Gesicht, das ich ihm von weitem zeigte, gefallen. Er sagt,
er wolle tun, was er kann.
Joachim: Schafft mir die fiinftausend Taler?
Jakob: Mit Bedingungen ! Mit Bedingungen!
Joachim: Hat er dich mit seinem Geldgeber reden lassen?
Jakob: So einfach ist das nicht, wie Ihr es denkt. Der
Geldgeber gibt sich noch mehr Miihe, im Verborgenen zu
bliihen als Ihr selber, gnadiger Herr. Seinen Namen will mir
der Simon nicht nennen. Aber heute treffe er mit ihm zu-
Franz Blei * Der Geizige
II
sammen, sagte Simon, und kam die Auskunft gut aus dem
Munde des dunlden Ehrenmannes, dann war das Geld bereit
fiir Euch.
Joachim: War s so!
Jakob: Da sind die Bedingungen, die mir der Herr Simon
diktiert hat auf dem Papier. Ich les es Euch: „Vorausgesetzt,
dafi der Geldgeber geniigende Sicherheit findet, der Entnehmer
groBjahrig und aus guter Familie ist, deren Vermdgen solide,
groB, gesichert, schuldenfrei, wird ein genauer Vertrag — “
Joachim: Selbstverstandliches ! Formalien! Was weiter!
Jakob: ,,Der Geldgeber wiinscht sein Geld nur mit fiinf
Prozent zu verzinsen, um sein Gewissen mit keinerlei Vorwurf
zu belasten.“
Joachim: Nur fiinf Prozent? Was ein weifier Rabe von
Simon !
Jakob: Es kommt noch. „Aber da besagter Geldgeber die
Summe nicht selber besitzt und da er, um dem Entlehner ge-
fallig zu sein, sie selber von einem Dritten zu fiinfundzwanzig
Prozent ausleihen muB, so ist es selbstverstandlich, daB be-
sagter Entlehner auch diese Zinsen bezahlt, unbeschadet der
iibrigen fiinf
Joachim : Was Teufel ein Jude! Ein Armenier! Das macht
ja dreiBig vom Hundert !
Jakob: s ist zu uberlegen, Herr.
Joachim: Kann Not uberlegen ? Ich muB das Geld haben .
MuB ja zu allem Ja sagen, und schnitte mir der Kerl ein Ohr
ab.
Jakob: Das sagte ich auch.
Joachim: Was weiter?
Jakob: Ein kleiner Artikel noch, das Ohr betreffend: „Von
den verlangten fiinftausend wird der Geldgeber nur dreitausend
in barem Gelde zahlen konnen. Fiir den Rest gibt er Effekten,
die das Doppelte von zweitausend Talern wert sind. Namlich :
einen Posten gesteppter Decken, hundert Stuck. Einen Posten
Haarwickler, zweitausend Stuck in vier Kisten wohlverpackt.”
Joachim: Was Teufel tu ich —
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112
Franz Bid * Der Gdzige
Jakob: ,,Em echtes Bologneser Hiindchen, als Prasent fiir
eine Dame geeignet. Ein Schachbrett zum Zeitvertreib aus
Bein. Ein Krokodil, mit Heu ausgestopft, an die Zimmerdecke
zu hangen. Zebn Stiick auseinandergenommene Kachelofen.
Tausend Stiick Kochtopfe in alien GroBen.“
Joachim: Das er stiickweis darin siede!
Jakob: ,,Vier alte Flinten aus dem letzten Kriege. Ein
Betthimmel aus rosafarbenem —
Joachim: Kann der Schurke denn nicht mit den wahn-
witzigen Zinsen zufneden sein? MuB er mir auch noch statt
Geld den alten Trodel aufhangen? Keine fiinfzig Taler kriegen
wir fiir den ganzen Schwindel.
Jakob: Und miissen ihn fiir zweitausend nehmen und mit
dreifiig vom Hundert verzmsen. Ihr kauft teuer ein und ver-
kauft billig. Das ist ein schlechter Handel, den Ihr bei Eurem
Vater nicht gelernt habt, gnadiger Herr.
Joachim: Kann ich anders? Ist der Vater nicht schuld?
Ich unterschreib. Gib her denWisch! (Links ab, Jakob ihm nach.)
*
ZWE1TE SZENE.
Der Geizige (mit) Simon (aus dem Garten).
Geiziger: Ihr irrt, irrt durchaus, wenn Ihr Reichtum bei
mir vermutet, Simon. Mitgift! Mitgift! Mehr als sie wiegen
Schonheit, Tugend, Erziehung — alles das hat meine Tochter
mehr als eine. Und bedenkt, Ihr seid nicht der Jiingste mehr,
lieber Simon, und der Schonste, wie sich ihn ein junges Ding
vermeint, wohl auch nicht. So plagt mich nicht mit Mitgift.
Simon: Ihr gabt den Gedanken an diese Ehe mit Eurer
Luise mehr als er mir kam. Doch gefiel er mir. Aber ich iiber-
leg’s noch. Kann warten. Manner werden rar, und gar die ein
Madchen ohne Mitgift nehmen.
Geiziger: Ihr wiBt: nach meinem — Ich leb nicht ewig.
k
Franz Blei ♦ Der Geizige
113
Simon: Hundert Jahre. Also habt I hr noch gut vierzig vor
Euch. Das ist mir zu lang zu warten. Wer weifi, erleb ich’s.
Und Ihr wollt doch nicht, dafi ich Euch einen friihen —
Geiziger: Sagt bitte das Wort nicht. Gut. Gut. Uber-
legt’s. Ich drang nicht. Luise hatte ich gem als ernes guten
Mannes Weib gesehen, wie sie es verdient. Ihr kommt noch
darauf zuriick. Sie liebt Euch.
Simon: Sagt Ihr? — Wer liebt uns? Alles flucht uns.
Warum? Wir nehmen die Sorgen aller auf uns, und man
flucht uns.
Geiziger: WeiC Gott, Ihr sprecht wahr! So ist die Welt!
Simon: Wer von seinen Schulden lebt, lebt gliicklich. Und
wir? Uns beschimpft man. Das bekommt uns schlecht. Wir
armen guten Menschen, die helfen, wir sind in keiner guten
Gesundheit.
Geiziger: Kann nicht klagen.
Simon: Wir haben’s in der Leber. Im Magen. In derGalle.
Geiziger: Ein Geschaft hattet Ihr mit mir, sagtet Ihr?
Und ist?
Simon: Und schlechten Schlaf. So denkt man, es war gut,
ein Weib zu nehmen.
Geiziger: Luise liebt Euch, wie ich schonsagte. Uberdenkt’s.
Simon: Uberdenkt die Mitgift.
Geiziger: Was fur ein Geschaft —
Simon: Eine Kleinigkeit. Fur Euch eine Bagatelle. Fiinf-
tausend Taler. Der Schuldner zahlt Euch, gebt Ihr sie, fiinfi-
zehn vom Hundert. Auch zwanzig.
Geiziger: Und Euer Profit?
Simon: Was wird er schon sein ? Man sieht, daC man lebt.
Zehn.
Geiziger: Und gebt ihm von meinen fiinftausend in
bar die Halfte.
Simon: Eine Kleinigkeit in Waren. Soil der Leichtsinn
lernen, wie schwer der Handel ist.
Geiziger (ist aufgestanden und in die Gartentiir getreten, schaut
in den Garten). *
Franz Blei * Der Geizige
DRITTE SZENE.
Die Vorigen. Joachim.
Joachim (kommt von links, ohne daB ihn der Geizige sieht, wohl
aber erblickt ihn Simon).
Simon: Sieh, sieh! Hat’s der junge Herr aber eilig. Und
wer hat Euch denn gesagt, dafi es hier ist, wo ich das Geld
fur Euch hole?
Geiziger (tritt zuriick, zu Simon): Wie?
Simon: Das ist der Junker, der die bewuBten Fiinftausend
borgen mochte.
Geiziger: Was? Mein Sohn geht zu Wucherern?
Simon: Wucherer? Der Sohn? Ah sooo! (Zum Geizigen.)
Ich iiberlasse Euch das Geschaft. (Ab.)
*
VIERTE SZENE.
Der Geizige. Joachim.
Joachim: Solche Geschafte macht Ihr, Vater?
Geiziger: Durch solche Anleihen willst du dich also zu-
grunde richten?
Joachim: Mit solchen Einkiinften mehrt Ihr Euren Reich-
tum, Vater.
Geiziger: Und wagst es, mir nach dem Vorgefallenennoch
ins Gesicht zu sehen?
Joachim: Und denke meiner armen Mutter —
Geiziger: Schamst dich gar nicht, zu solchen ehrlosen
Mitteln zu greifen, dich in solche wucherische Schulden zu
stiirzen und das Geld deiner armen Eltern zu vergeuden, das
sie im SchweiBe lhrer ehrlichen Arbeit sieh verdient haben?
Joachim: Ehrliche Arbeit! Taler auf Taler haufen durch
Wuchergeschafte und nennen’s ehrliche Arbeit! Schmach und
Schande !
Geiziger: Mir aus den Augen ! Lump ! Mir aus den Augen !
Franz Blei * Der Geizige
115
Joachim: Ihr stehlt das Geld, das Ihr nicht gebraucht,
schmaht den einen Lump, der es zu Ieihen nimmt, weil er es
notig hat und weil Ihr ihn in Armut verkommen la8t.
Geiziger: Hat man das erhort! Straft Gott solche Rede
nicht mit seinem Blitz? Du sollst Vater und Mutter — Mir
aus den Augen !
Joachim: Das Grauen stofit mich weg von Euch, Vater!
(Ab.)
FONFTE szene.
Der Geizige (allein).
Geiziger: Liiderlich, liiderlich- Mein Gott, wofiir hab ich
das verdient? — Liiderlich. Ich mufi ein Auge auf ihn haben.
— Es ist schwiil hier innen. (Er stoBt ein Fenster auf.)
*
SECHSTE SZENE.
Der Geizige. Babette (von links).
Geiziger (fahrt herum): Was ist? Was das Geschleiche und
Gehorche?
Babette: Die Madame Schuwitsch ware da und hatte den
gnadigen Herrn zu sprechen. Sei herbestellt.
Geiziger: Warum sagst das nicht gleich? Warum stehst
erst und horchst? Soli eintreten. Und bring mir ein Glas
Wasser.
Babette («b). *
SIEBENTE SZENE.
Der Geizige (allein).
Geiziger (schaut in den Garten): Fiele es nicht auf, liefi ich
mein Bett in der Hundehiitte aufschlagen. Die Nachte sind
zu erbarmlich mit ihrer Angst und dem ans Fenster springen.
Aber Tyras ist ein guter Wachter. Weniger Fressen, damit er
scharfer wird. *
I ! 6
Franz Blei ♦ Der Geizige
ACHTE SZENE.
Der Geizige. Madame Schuwitsch (tritt ein).
Geiziger (fahrt herum): Steht Ihr schon lange da?
Schuwitsch: Wie? Ihr miiBt lauter reden, mein Gehor
ist etwas klein. Wie sagtet Ihr?
Geiziger: Gott sei Dank. Alle urn einen miiBten stocktaub
sein. Und blind. Dann hatte man Ruhe.
Schuwitsch: Wie gut Ihr ausseht! Wie die Gesundheit
selber.
Geiziger: Kann nicht klagen.
Schuwitsch: Frisch wie ein Jungling.
Geiziger: Wirklich?
Schuwitsch: In Eurem Leben wart Ihr nicht so jung,
Herr Baron, ich kenne Leute von fiinfundzwanzig, die alter
sind als Ihr.
Geiziger: Meine Sechzig machen mir allerdings nicht
das geringste zu schaflen.
Schuwitsch: Was ist auch Sechzig! Das beste Mannes-
alter beginnt da.
Geiziger: Wahr, wahr. Aber zwanzig weniger ware mir
lieber, glaub ich.
Schuwitsch: Was will das sagen ! (Hascht nach seiner Hand.)
Geizige r: Holla! An meine Borse?
Schuwitsch: Eure Lebenslinie. Seht, die Lime da. Gott,
Gott, was hat der junge Mann eine Lebenslinie. Man wird
Euch totschlagen miissen, sag ich Euch, Ihr werdet noch
Kinder und Kindeskinder begraben.
Geiziger: Ausnehmend zu horen.
Babette (von rechts, bringt eine Karaffe mit Wasser, stellt sie vor
den Geizigen. Ab).
Geiziger (schenkt sich Wasser ein, holt ein kleines Stuck Brot aus
der Tasche, taucht es in das Wasser und ifit ) : Sie gestatten, daB ich
mein Vesperbrot zu mir nehme. — Wie steht es mit unserer
gewissen Angelegenheit?
Franz Blei * Der Geizige
117
Schuwitsch: Welche Frage! Fange ich je was an, das ich
nicht zum guten Ende schaffe? Es gibt keine Partie, die ich
nicht in kurzer Zeit zustande bringe. Und wenn es sein miiBte,
den Papst mit dem GroBtiirken zu verheiraten. Ich hab es also
der Mutter Mariannes auseinandergesetzt, welches Gliick ihrer
Tochter bevorsteht.
Geiziger: Und was hat sie geantwortet?
Schuwitsch: Welche Frage! Mit Freuden war sie ein-
verstanden. Mit Freuden! Heut abend, sagte sie, soil ich die
Tochter abholen und zu Euch bringen, damit der Ehevertrag
unterzeichnet wird.
Geiziger: Schon. Schon. Habt Ihr auch iiber die Mit-
gift mit der Mutter gesprochen? Sie muB, und das habt Ihr
der Alten hoffentlich klar gemacht, sie muB sich etwas ab-
zwacken, etwas Ubriges tun bei solcher Gelegenheit. SchiieBlich
heiratet man doch kein Madchen, das nichts mitbringt.
Schuwitsch: Ich versteh immer, daB sie nichts mitbringt.
Aber sie bringt doch mit. Achttausend Taler Rente jahrlich
bringt sie mit!
Geiziger: Was? Achttausend Rente? Zapperlot.
Schuwitsch: Aber freilich. Erstens ist sie in bezug auf
das Essen hochst emfach und sparsam erzogen. Das Kind lebt
von Milch und Brot, Salat und Obst. Auf einen reichgedeckten
Tisch, wie ihn andere Frauen verlangen, wird sie nie Anspruch
machen. Das macht im Jahr tausend Taler aus.
Geiziger: Wieso, erlaubt —
Schuwitsch: Ferner halt Marianne nur auf einfache,
saubere, bescheidene Kleidung. Nach Putz und groBartigen
Toiletten, Schmuck und luxuriosen Mobeln steht ihr der Sinn
gar nicht. Das macht mindestens 3000 Taler im Jahr.
Geiziger: Dreitausend —
Schuwitsch: Und dann: Sie geht leidenschaftlich gem zu
FuB, nichts da mit Reiten und Fahren. Macht zweitausend
im Jahr. Und ferner: Sie hafit das Spiel, ganz im Gegensatz
zu alien unsern Damen. Ich kenne manche, die im Trente et
Quarante jahrlich an die zehntausend Taler verloren hat. Rech-
I 1 8 Franz Bid ♦ Der Geizige
nen wir davon nur den fiinften Teil, so erspart sie Euch damit
zweitausend Taler, macht zusammen mit dem in Essen, Klei-
dern, ZufuBgehen, ersparten sechstausend Talem im Jahr
sage und schreibe achttausend, die sie Euch als hiibsche
jahrliche Rente mit in die Ehe bringt. Keine Mitgift, ich
bitt Euch!
Geiziger: Alles nicht iibel. Sehr zufrieden. Aber das ist,
erlaubt, doch kein reeller barer Wert, diese achttausend.
Schuwitsch: Nichts Reelles? Kein Wert? Niichternheit,
Bescheidenheit, HaB gegen das Spiel, — nichts Reelles?
Geiziger: Ich gebe keine Quittung iiber etwas, das ich
nicht bar in die Hand bekommen habe. Eure achttausend
Taler Mitgift sind ein Scherz, meine liebe Madame Schu-
witsch.
Schuwitsch: Ja ja, es gibt ja auBer den achttausend wohl
sonst noch einiges. Ich habe mir sagen lassen, es sollen da so
gewisse Aussichten auf bestimmte Liegenschaften bestehen,
welche die Mutter irgendwo hat.
Geiziger: MuB ich erst sehen. Vielleicht sind sie auf dem
Mond.
Schuwitsch: Naher, viel naher.
Geiziger: Aber es ist da noch was, was mich beunruhigt.
Das Madchen ist noch jung, und junge Leute lieben nur ihres-
gleichen. Ich fiirchte, ein Mann in meinem Alter ist vielleicht
nicht ganz nach ihrem Geschmack, und das konnte in der Ehe
so kleine Unannehmlichkeiten hervorrufen, die wieder nicht
nach meinem Geschmack sind.
Schuwitsch: Da kennt I hr Marianne schlecht. Das ist
ja geradezu eine Eigenschaft von ihr, — sie kann die jungen
Manner nicht ausstehen Sie mag nur alte Herren.
Geiziger: Die Mutter oder die Tochter?
Schuwitsch: Die Tochter. Ich wollte, Ihr hattet sie
liber diesen Punkt reden horen ! Sie ist entziickt, hingerissen,
wenn sie einen schonen Greis sieht. Je alter, um so lieber ist
er ihr.
Franz Blet * Der Geizige
119
Geiziger: Wirklich?
•- Schuwitsch: Ich rate, macht Euch um Gotteswillen nicht
~ jiinger als Ihr seid. Setzt Eure Brille auf. Ein Sechziger muB
v es sein, sagte sie, und wie oft! Mindestens ein Sechziger! Was
sagt ihr, voriges Jahr brach sie mit einem Brautigam, weil sich
herausstellte, dafi er erst sechsundfiinfzig Jahre alt war.
Geiziger: Nur deshalb?
Schuwitsch: Sie ist einmal so.
Geiziger: Das freut mich ja auBerordentlich. Und ich
verstehe diese Neigung vollkommen. Wenn ich eine Frau ware,
wiirde ich mich auch nur an die alteren Manner halten.
Schuwitsch: Das sag ich ja immer. Die jungen Herren!
Das Gott erbarm! Wer soli sich in diese Rotznasen verlieben?
Ich verstehe nicht, was manche in denen findet.
Geiziger: Und ist das Frauenzimmer doch oft wie ver-
sessen darauf. Ganz ratselhaft.
c Schuwitsch: Sind denn das Manner? Neben einem Mann
wie Ihr einer seid! Das nenn ich einen Mann! So muB einer
>r gebaut sein, damit man sich in ihn verlieben kann.
Geiziger: Findet Ihr?
Schuwitsch: Zum Malen seid Ihr! Konnt gar nicht
l schoner aussehen! Ich bitt Euch, geht einmal ein biBchen. —
*. Das nenn ich einen gut gewachsenen, frei und sicher auftreten-
den Mann! Der verspricht ! Jawohl, der verspricht! Da merkt
.. man nichts von Beschwerden oder dergleichen.
r Geiziger: Hab auch keine besonderen, Gott sei es gedankt.
Nur der Husten plagt mich manchmal.
- Schuwitsch: Das macht doch gar nichts. Der Husten steht
Euch reizend! Ihr hustet mit Grazie gewissermaBen. Es liegt
ein eigener Reiz in Eurem Husten.
Geiziger: Marianne hat mich noch nicht gesehen?
Schuwitsch: Nur so von weitem. Aber wir haben sehr
viel von Euch gesprochen. Nachtelang. Ich habe ihr Schilde-
, rungen von Euch gegeben, die der Kleinen ganz heiB gemacht
haben. Im Vertrauen: Sie konnte nicht einschlafen dariiber.
28 Vol. m/2
Franz Blei
Der Geizige
Geiziger: Dafxir dank ich Euch auch schon, Madame
Schuwitsch.
Schuwitsch: Und da hatt ich bei der Gelegenheit, weil wir
so hiibsch miteinander plaudern, hatt ich auch ein kleines An-
liegen, erne Bitte an den gnadigen Herrn Brautigam. Ich habe
da namlich einen Prozefi und ich fiirchte, ihn zu verlieren, weil
ich kein Geld nicht habe. Wenn der gnadige Herr Brautigam
mir da helfen wollten, ihn zu gewmnen. Es geht um keinen
Pappenstiel. Nein, wie sich das Mariannerl freuen wird, Euch
zu sehen! Ganz verriickt wird sie werden!
Geiziger: Glaubt Ihr? Das freut mich. Freut mich fur
das Madchen.
Schuwitsch: Der Prozefi ist fur mich von der allergroBten
Wichtigkeit. Einfach ruiniert bin ich, verlier ich ihn. Nur eine
Kleinigkeit vom Herrn Brautigam, und die Sache war in Ord-
nung. Ich wollte, Ihr hattet die Kleine gesehen, mit welchem
Entziicken sie mir zuhorte, wenn ich von Euch sprach. Die
Freude glanzte ihr nur so aus den Augen, als ich ihr Eure
Eigenschaften aufzahlte.
Geiziger: Damit habt Ihr mir einen Gefallen erwiesen,
und bin Euch dankbar. In der Tat.
Schuwitsch: Und ich Euch, gnadiger Herr, wenn Ihr
mir in der Prozefisache helft.
Geiziger: Und nun mufi ich auf die Borse. Geschafte von
hochster Wichtigkeit. —
Schuwitsch: Ihr wiirdet mir aus grofiter Not helfen.
Geiziger: Seht, so geht es immer. Man hat doch nicht
ein bifichen Ruhe, sich von angenehmen Dingen zu unterhalten.
Ja, das Leben hat eine rauhe Hand.
Schuwitsch: Ich wiirde Euch gewifi nicht belastigen, war
ich nicht durch die schlimmste Not gezwungen.
Geiziger: Zum Abend also Marianne. Ich bin erwartet.
Auf Wiedersehen. (Ab.)
Schuwitsch (allein) : Dafi dich das kalte Fieber zu alien
Teufeln schaffe, verdammter Hund!
*
Franz Blei * Der Geizige
121
NEUNTE SZENE.
cnu
eine rauhe Hand“,
Schuwitsch. Jakob.
Jakob: Ich seh es Euch an, Schuwitschin, Ihr seid mit dem
Herm Brautigam nicht auf Eure Rechnung gekommen. Hatt
ich Euch gleich sagen konnen. Hier im Hause ist das Geld
verflucht teuer.
Schuwitsch: „Geschafte“, ,,Auf die Borse“. „Leben hat
so hohnt der alte Affe ein ehrliches
Weibsstiick, dem es weifi Gott schwer genug wurde, sich um
seinen ekligen Brauthandel zu kiimmern.
Jakob: Aber an Lob fur Euch hat er es doch nicht fehlen
lassen? Und an seiner Freundschaft und Dankbarkeit? Nur
die Hand macht er nicht auf. Gegen das Wort „geben“ hat
der eine solche Abscheu, daB er nie sagt : Ich gebe Euch die
Hand, sondern ich leihe Euch die Hand.
Schuwitsch: Ist das noch ein Christenmensch ?
J akob: Man diirfte verrecken, ohne daB er sich riihrt. Sein
Eingeweide gibt er dir lieber als einen Groschen. Wie war
es, Schuwitschin, Ihr tatet, was ich Euch vorhin schon sagte:
Ihr schlagt Euch auf die andere Partei? Ist da schon auch
nicht in barem zu holen, so trifft es doch den Alten. Ich hab
so meine Planchen.
Schuwitsch: WeiB Gott, das pafite mir, dem Affen einen
Possen zu spielen. Was hast fur ein Planchen? Erzahl.
Jakob: Hier nicht. Ich miiBt es in Eure tauben Ohren
briillen, und da konnten es noch andre horen. Ich komm zu
Euch.
Schu wi tsc h: Wird es ihn auch richtig treffen, dein
Planchen?
Jakob: Ich sag Euch, mitten ins Herz. Kommt.
(Ab mit Schuwitsch.)
Vor ha n g.
Franz Blei ♦ Der Gtizige
DRITTER AKT.
ERSTE SZENE.
Madame Schuwitsch (kommt mit) Marianne.
Marianne: Ich hab so Angst, Schuwitschin.
Schuwitsch: Angst? Wovor denn Angst, mein Taubchen ?
Marianne: I hr fragt noch! Konnt I hr Euch das Grauen
eines Menschen nicht vorstellen, der im nachsten Augenblick
vom Leben zum Tod exekutiert werden soil?
Schuwitsch: Ja ja, mein Lammchen, ich denk mir schon,
dafi der alte Herr kein Henker ist, von dem du einen ange-
nehmen Tod erwarten konntest, und dafi dir ein anderer junger,
blonder, von dem du mir erzahlt hast, lieber ware, dafi er dir
dein Leben nahme.
Marianne: Joachim meint Ihr? — Er kam zu uns oft ins
Haus, und ich mufi Euch gestehen, mein Herz blieb nicht un-
geriihrt von ihm.
Schuwitsch: Und hast dich gar nicht gekiimmert, heraus-
zukriegen, wer und was und wo er ist ?
Marianne: Wie sollt ich! Wir arme Leut! Was kiimmert’s
ein armes Ding wie mich? Gliicklich, ihn lieben zu konnen
und von ihm sich geliebt wissen, das ist schon mehr als genug.
Und nun soil ich — versteht doch, wie furchtbar mir das nun
sein mufi!
Schuwitsch: Mein Kind, die jungen Blondkopfe wie dein
Joachim sind ja sehr scharmant und verstehen es, sich recht an-
genehm zu machen. Aber meist sind sie arm wie Kirchenmause.
Drum sag ich dir, nimm den Alten, der dir Geld hinterlafit.
Heiratest ihn doch nur auf Abbruch. Und dann — der Blond-
kopf. Nicht besser so?
Marianne: Geht, den Tod eines Menschen nur darum
wiinschen, um gliicklich zu werden, das ist nicht christlich.
Schuwitsch: Du heiratest den Alten nur unter der Be-
dingung, dafi er dich zur Witwe macht. Das mufi in den Kon-
t
Franz Blei * Der Geizige
123
trakt aufgenommen werden. In drei Monaten muB er spate-
stens tot sein. In der Zeit hat dir dein Herr Gemahl kein Haar
gekriimmt, sag ich dir, und dein Joachim bekommt dich.
Marianne: Wie Ihr red’t!
Schuwitsch: Da kommt er schon selber. Erschrick nicht
zu sehr.
*
ZWEITE SZENE.
Die Vorigen. Der Geizige.
Geiziger: Nehmt mir es nicht libel, schone Demoiselle,
daB ich mit der Brille auf der Nase vor sie trete. Ich weiB
wohl, dafi Eure Reize auch ohne das deutlich sind und man
kein Glas braucht, um sie zu merken. Aber auch die Sterne
sieht man durch Glaser an, nicht? Und daB Ihr ein Stern seid,
der schonste — Schuwitschin, sie scheint mir nicht erfreut zu
sein, mich zu sehen, die Demoiselle.
Schuwitsch: Son jung Ding! Es schamt sich halt zu
zeigen, was es fiihlt. Klopft ihr das Herz vor Freude im Hals.
Nicht, Mariannel? So plotzlich dem Geliebten gegeniiber —
Ihr versteht.
Geiziger: Vorbereitungen, notige, zu treffen, muB ich
Euch vorerst lassen, schonste Marianne. Meiner Tochter Luise
lassen, die hier kommt. GroBe Tochter, ja ja. Unkraut wachst
rasch. (Ab.)
*
DRITTE SZENE.
Marianne. Schuwitsch. Luise.
Luise: Demoiselle, Ihr habt getan, was eigentlich meine
Pflicht gewesen ware. Ich hatt dem Euren mit meinem Besuch
zuvorkommen sollen.
Schuwitsch: Das arme Ding —
Marianne: Aber das ist ja fiirchterlich ! Das ertrag ich
nicht !
1
124 Franz Blei ♦ Der Geizige
Schuwitsch: Was soli ich — Nun sprecht das miteinan-
der ab. (Ab.)
Luise: Arme Marianne!
Marianne: Ihrsagtdas? Seine Tochter?
Luise: Ich kenne Euren Kummer, Marianne. Und konnt
ich ihn aufheben, ich tat's.
Marianne: Ein siiBer Trost, die Teilnahme einer Dame
wie Euch zu besitzen. Ich bitt Euch, bewahrt sie mir, diese
groBherzige Freundschaft, die mir mein grausames Geschick
erleichtern wird. Ihr denkt nicht schlecht von mir?
Luise: Ihr liebt einen andern — warum dann dies mit dem
Vater ?
Marianne: Meine Mutter — ich kann ihr den Schmerz
nicht antun, daB ich mich iiber all das hinwegsetze, was einzu-
halten mein Geschlecht mich zwingt. Mutter lebt nur fur mich,
hat immer nur fiir mich gelebt. Ich kann ihr den Kummer
nicht antun. Es wiirde ihr Tod sein.
Luise: Und der Euch liebt, Marianne, und den Ihr liebt,
sprach er nicht mit Eurer Mutter?
Maianne: Sprach s. 1st hoffnungslos. Und arm. So arm
wie wir selber. Aber — das kann ich nicht! Kann ich nicht!
Verzeiht mir, aber ich kann Euren Vater nicht ehelichen ! Lieber
soli alles den Tod finden.
Lu ise (zu sich): Sag ich’s ihr? Heinrich verbot es. (Laut:)
Kommt zu mir. Hier sind wir nicht mehr allein. Ich hor den
Vater. (Ab mit Marianne.)
*
VIERTE SZENE.
Der Geizige. Lauren z. Jakob. B a b et t e (folgen lhm).
Geiziger: Kommt alle her. Nehmt meine Befehle fiir nach-
her. Ihr helft mir, Sekretarius, daB mir nichts Wichtiges ent-
fallt. Du, Babette, sorgst dafiir, daB alles sauber ist. Gib
acht, mir das Mobel nicht zu stark zu reiben und abzunutzen.
Und was zerschlagen wird an Geschirr, das zieh ich dir vom
Franz Blei * Der Geizige
125
Lohn ab. Du lean ns t gehn. (Babette ab.) Jakob, Galgenstrick.
Du schenkst ein. Aber nur wenn jemand Durst hat und nicht
so wie manche Liimmel von Lakaien, die die Leute formlich
mit ihrer Flasche uberfallen und zur Trunksucht zwingen.
Wartest auch, bis man ein paarmal gebeten hat. Und sorgst
dafiir, dafi immer viel Wasser da ist.
Jakob: Der pure Wein steigt nur zu Kopf. Soil ich die
Livree anziehn?
Geiziger: Erst wenn die Gaste da sind. Und mach sie
mir nicht schmutzig.
Jakob: Es ist nur, sie hat am Aufschlag einen groBen
Olfleck.
Geiziger: Da haltst du beim Servieren den Hut vor.
Jakob: Und hinten hat die Hose ein Loch. Man sieht, mit
Respekt zu melden —
Geiziger: Halt’s Maul! Diese Seite kehrst du immer ge-
schickt gegen die Wand und prasentierst den Leuten die Vor-
derseite. Abgetreten! (Jakob ab.) Laurenz.
Laurenz: Was bin ich heut, Koch oder Gartner, gnadiger
Herr?
Geiziger: Du muBt heut ein Souper herrichten, Laurenz.
Laurenz: Ein Souper? Gottes Wunder!
Geiziger: Wirst du was Ordentliches kochen?
Laurenz: Wenn der gnadige Herr mir das Geld zum Ein-
kaufen gibt —
Geiziger: Kocht man mit Geld? Immer Geld! Nichts
als Geld!
Heinrich: Unverschamt ! Als ob es ein Kunststiick ware,
mit Geld was Leckeres herzustellen ! Das trifft der Diimmste.
Mit wenigem, mit Nichts ein gutes Essen machen, das ist die
Kunst.
Geiziger: Was ich immer sagte.
Laurenz: Da miissen mir der Herr Sekretarius schon
das Geheimnis verraten, oder gleich selber das Amt iiber-
nehmen, mit nichts ein Souper herzustellen. Wieviel Gaste
sind’s denn?
126
Franz Blei * Der Geizige
Geiziger: Da ist die Demoiselle Braut Marianne, der Herr
Simon, der andere Brautigam. Der ersten Mutter denk ich,
macht drei Gaste. Du kochst fiir vier. Wo vier satt werden,
werden s auch sieben.
Sekretarius: Einfachste Sache.
Laurenz: Nicht fiir einen Koch! — Da braucht’s dazu
vier grofie Schiisseln und fiinf Zwischengerichte, Suppe, Vor-
speisen —
Geiziger: Damit fiittere ich ganz Breslau!
Laurenz: Braten —
Geiziger: Du hast es auf mein Vermogen abgesehen,
Schurke !
Laurenz: Gefliigel —
Geiziger: Dafi dich die Pest! Gefliigel!
Heinrich: Will Er die Gaste denn umbringen? Zu Tode
fiittern? Das ist ja kein Essen mehr, ist eine Mordergrube!
Geiziger: Mir aus der Seele!
Heinrich: Man ifit, um zu leben, lebt nicht, um zu essen.
Geiziger: Wie wahr, wie weise! Man soil leben, um zu
essen, — nein, wie war’s? Schreibt mir den wundervollen Spruch
auf. Ich will lhn in goldenen Lettern, ich will ihn in Lettern
iiber dem Kamin im Speisezimmer anbringen lassen.
Heinrich: Ich werd’s besorgen. Und um das Souper —
das lafit meine Sorge sein!
Geiziger: Wir geben Gerichte, die nicht viel kosten und
rasch satt machen. Fettgekochte Bohnen, Kastamen —
Heinrich: Lafit mich nur machen.
Laurenz: Die Kiiche tret ich Euch gern ab.
Geiziger: Halt’s Maul! Du kochst, was dir der Herr Se-
kretarius befiehlt, verstanden?
Laurenz: Das wird ein grofiartiges Souper werden. Mir
lauft schon das Wasser im Munde zusammen. All meiner Leb-
tage werd ich der Hochzeitstafel Eures Herrn Sekretarius ge-
denken. (Ab.)
*
Franz Bid ♦ Der Gdzige
127
FONFTE szene.
Der Geizige. Heinrich. Joachim.
G e i z i g e r : Und du, mein schoner Herr Sohn und Schulden-
macher, dem ich das von vorhin verzeihen will, — dafi du dir’s
nicht einfallen lafit, ein saures Gesicht zu schneiden.
Joachim: Wie sollt ich?
Geiziger: Du lieber Gott! Als ob ich nicht wiiBte, wie
Kinder denken, deren Vater sich wieder verheiraten will, und
was fur Augen sie ihrer Stiefmutter machen! Wenn ich deine
Streiche vergessen soli und du Wert darauf legst, daB ich
sie vergesse, so empfehl ich dir, dieser Dame ein freund-
lich Gesicht zu zeigen und sie so gut zu empfangen wie irgend
moglich.
Joachim: Mich dariiber zu freuen, daB sie meine Stief-
mutter werden soli, das, Vater, kann ich Euch nicht ver-
sprechen. Aber was den guten Empfang und das freund-
liche Gesicht angeht, so versprech ich Euch unbedingten
Gehorsam.
Geiziger: Das ist nicht mehr als verniinftig von dir.
Joachim: Ihr werdet Euch nicht zu beklagen haben,
Vater.
Geiziger (zu Heinrich): Holt mir Luise und die Demoiselle.
(Heinrich ab.) (Zu Joachim:) DaB Kinder nie begreifen lernen,
wie Eltern nur zu ihrem Gliick da sind. Da denkst du, Joachim,
ich seh dir’s an, du hast einen Feind in mir, und bin dein
bester Freund, um dich mich sorgend und miihend und
dein
Vater mit einem Wort. Geb dir eine Mutter ins Haus! Ist’s
das nicht, was ich mehr, was sag ich! ausschlieBlich nur be-
denke, wenn ich mich wieder verheirate? Meinst, es sei, daB
ich ein Weib habe? Seh ich aus wie ein Freier? Euch wieder
eine Mutter zu geben, das ist der einzige Gedanke, der mich
leitet.
Babette (kommt und ziindet, da es dammert, Kerzen in einigen
Leuchtern an).
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Franz Blei
Der Geizige
Geiziger: Schon dunkel? (Er geht an die Tiir in den Garten;
zu sich:) Ob man nicht des nachts im Garten Windlichter brennte?
Treibt sich allerlei Gesindel in den Gassen. (Kommt wieder vor.)
Das ist mein einziger Gedanke, Joachim. Wie ich sagte.
*
SECHSTE SZENE.
Die Vorigen (oHne Babette). Luise. Marianne. Heinrich.
Geiziger (zu Marianne): Und das ist mein Sohn Joachim, der
Euch seine Referenz erweisen will.
Mari anne (halt sich an Luise): Himmel, Er!
Heinrich (leise zu ihr): Fafit Euch!
Geiziger: GroBe Kinder, ja ja, wie gesagt, Unkraut wachst
schnell. Aber ich werde sie beide in kurzer Zeit los sein.
Joachim (zu Marianne): Ein wenig iiberrascht, als mir mein
Vater vorhin seinen EntschluB mitteilte, — verzeiht, mein
Fraulein.
Marianne (verwirrt): Ganz unerwartet, dies Zusammen-
treffen —
Joachim: Mein Vater konnte keine schonere Wahl treffen.
Aber den Titel Stiefmutter kann ich Euch nicht wiinschen.
Els wiirde mir schwer fallen, ich gesteh es, Euch so anzureden.
Das klingt nicht polit. Aber Ihr werdet mich verstehen. DaB
ich iiber diese Heirat nicht entziickt bin, nicht sein kann, wird
Euch nicht wundern, Fraulein. Ist sie nicht ganz gegen alle
meine Interessen? So mufi ich Euch, mit Erlaubnis meines
Vaters sagen, dafi, kam es auf mich an, diese Heirat nicht statt-
finden wiirde.
Geiziger: So begriifiest du, wen du kiinftig deine Mutter
nennen sollst?
Marianne: Antwort ich nicht dasselbe? Ich Euch Stief-
sohn nennen? Wiinschte ich das je? Es tate mir sehr leid,
Euch Kummer zu bereiten, und wenn ich mich nicht durch
eine hohere Gewalt dazu gezwungen sahe, ich wiirde nie in
eine Heirat willigen, die Euch miBfallt, Joachim.
Franz Blci ♦ Der Geizige
129
Geiziger: Ganz recht so! Grob wiedergeben, was grob
herkam. Ich bitte Euch um Verzeihung, Demoiselle, fiir die
Unverschamtheiten meines Sohnes, der nicht versteht, was er
spricht und dessen Herz seinem Vater entfremdet ist. Gott
allein weifi, wofiir diese Strafe.
Marianne: Er hat mich nicht beleidigt. Ich bin ihm dank-
bar, dafi er mir gleich seine wahren Gefiihle zu erkennen gab.
Hatte er anders gesprochen, ich wiirde ihn weniger achten.
Geiziger: Eure Giite entschuldigt seine Fehler. Er wird
sich bessern. Die Zeit wird ihn verniinftiger machen.
Joachim: Ich schwore Euch, Fraulein, hierin werden sich
meine Gefiihle niemals andern. Dessen ruf ich Gott zum Zeugen.
Geiziger: Welche Frechheit!
Joachim: Soli ich verleugnen was ich fiihle?
Geiziger: Immer noch? Wirst du gleich anders reden!
Joachim: Da Ihr es wiinscht, Vater, will ich anders reden.
Erlaubt mir, Marianne, dafi ich an meines Vaters Statt zu Euch
spreche und Euch gestehe, dafi ich nie auf der Welt ein
Schoneres sah als Euch. Kein groBeres Gluck kenne, als Euch
zu gefallen und Euer Gemahl zu heifien Seligkeit ware, allem
auf Erden vorzuziehen. Das Gliick, Euch zu besitzen, ware das
herrlichste Los, das einem Sterblichen zufallen konnte. Kein
Hindernis —
Geiziger: Es geniigt, geniigt, Joachim!
Joachim: Ich spreche ja nur an Eurer Stelle.
Geiziger: Brauche keinen Dolmetscher.
*
SIEBENTE SZENE.
Die Vorigen. Babette.
Babette: Gnadiger Herr, da ist ein Mann, der Euch zu
sprechen wiinscht.
Geiziger: Bin jetzt nicht zu sprechen.
Babette: Er sagt, er bringe Geld.
Geizige r : Einen Augenbhck ! (Ab mit Babette.)
*
130
Franz Blei * Der Geizige
ACHTE SZENE.
Marianne. Joachim. Heinrich. Luise.
Joachim: Marianne, mein boser Stern hat es so gefiigt.
Was wollt Ihr tun ?
Marianne: Joachim — hilf mir!
Joachim: Nichts als dies? Keine hilfreiche Giite? Keine
Liebe, die zum Handeln treibt?
Marianne: Ich fiige mich in alles, Joachim, was Ihr be-
schliefit. Wifit Ihr es nicht langst?
Joachim: Ah, was laBt du mir iibrig, wenn ich mich auf
das beschranken soil, was die strenge Ehre und die Vorurteile
der Sitte gestatten!
M ananne: Luise!
Luise: Ich sprech fur dich — und mich, Marianne. Ein Ver-
such, noch ein letzter, daB Ehre und Sitte nicht leiden. Hilft
auch der nicht, dann hat nichts davon mehr Gewalt iiber uns.
Mari anne (stiirzt ihr an den Hals): Schwester!
Heinrich (zu Joachim): Euer Jakob schwur es mir in die
Hand, er brachte den Alten herum bevor es zu spat sei. Er tut
es ganz sicher.
Joachim: Hofft Ihr, Heinrich?
Heinrich: Ist’s nichts, dann werden die Freunde einander
durchhelfen. Nicht so, Joachim? (Streckt ihm die Hand hin.)
Joachim (schlagt in die Hand ein): Komme was immer! Auf
Leben und Tod!
Heinrich (Iacheind): Hitzkopf!
Marianne: Mir ist das Herz freier.
Joachim (kiifit ihr die Hand): Gehebte!
*
NEUNTE SZENE.
DieVorigen. DerGeizige.
Geiziger: Was das? Mein Sohn kiifit seiner zukiinftigen
Stiefmutter die Hand? Und sie hat nichts dagegen einzu-
Franz BUi ♦ Der Geizige
131
wenden ? Sollteda etwas dah inter stecken ? (Ruft :) Achim, ich
hab mit dir zu sprechen.
Luise: Dann wollen wir inzwischen in den Garten gehen.
Geiziger: Warum in den Garten? Was willst im Garten?
Es wird Nacht. Els ist f eucht im Garten. Geht auf deine Kammer.
(Luise und Marianne ab.)
Heinrich: Wiinscht Ihr mich, gnadiger Herr?
Geiziger: Nicht im Augenblick, Herr Sekretarius. Ihr
verspracht, Euch um die Kiiche zu kiimmern.
Heinrich: Das wird besorgt. (Ab.)
*
ZEHNTE SZENE.
Der Geizige. Joachim.
Geiziger: Also von der Stiefmutter abgesehen, wie gefallt
dir das Madchen? (Er hscbt wahrend des Folgenden alle LicKter bis
auf eines aus.)
Joachim: Gefallt?
Geiziger: Ihr Benehmen, ihre Haltung, ihre Schonheit
und so weiter. — So viel Verschwenden !
Joachim: Um die Wahrheit zu sagen, und Ihr es wissen
wollt, — ich hab sie nicht so gefunden, wie ich mir dachte. Ihr
Benehmen ist kokett, ihre Haltung ungeschickt, ihre Schonheit
nicht iibermaBig, und was den Geist betrifft, ist, dtinkt mich,
keine Spur davon. Ich will sie Euch nicht verleiden damit,
Vater, denn schlieBlich ist mir eine Stiefmutter so lieb wie die
andere.
Geiziger: Du hast ihr doch vorhin gesagt —
Joachim: Schmeicheleien, in Eurem Namen, nichts weiter.
Euch zu Gefallen, Vater.
Geiziger: Marianne gefallt dir also nicht.
Joachim: Ganz und gar nicht. Aber sie soil auch nicht
meine, sondern Eure Frau werden, Vater.
Geiziger: Also sie gefallt dir nicht. Schade. Els stdrt einen
Plan, der mir in den Sinn kam. Stort ihn nicht nur, erledigt
132
Franz Blei * Der Geizige
ihn. Vorhin, wie ich sie so ansah, da muBte ich doch iiber mein
Alter neben dieser Jugend denken. Man wird lachen iiber mich,
wenn ich ein so junges Madchen heirate. Meine Geschafts-
freunde werden in mir zweifelhaft werden. Das hat mich fast
von meiner Absicht zuriickgebracht, sie zu heiraten. Nun hat
sie aber mein Wort. Ich hatt es eingeldst, indem ich Marianne
dir zur Frau gegeben hatte, wenn sie dir gefallen hatte natiirlich.
Fern von mir, ein Kind zu zwingen.
Joachim: Mir zur Frau?
Geiziger: Ja, dir!
J oachim: Zur Frau?
Geiziger: Zur Frau, ja doch!
Joachim: Wenn ichEuch damit eineLiebetun kann, Vater,
will ich mich, trotzdem sie nicht mein Geschmack ist, ent-
schliefien, sie zu heiraten. Nur weil Ihr es wiinscht.
Geiziger: Zwang? Wunsch? Befehl? Nie wiirde ich dich
zwingen, einen so entscheidenden Schritt zu tun, wenn du da-
gegen bist, mein Sohn. Ich gehore nicht zu den Vatern, die
das Gliick ihrer Kinder ihrem eigenen Gliicke opfern.
J nachi m : Dir zu Liebe bring ich gern das Opfer.
Geiziger: Eine Ehe ohne Liebe — nie kann das gliicklich
enden .
Joachim: Man sagt, die Liebe kommt oft in der Ehe.
Geiziger: Kann kommen, kann! — Das Risiko ist zu
groS. Ich konnt es nicht verantworten, dich ungliicklich ver-
heiratet zu sehen. Ja, wenn du eine kleine Neigung gehabt
flattest, eine ganz kleine Sympathie, nun gut, schon, da hatte
man denken konnen, sie wiirde wachsen und starker werden,
und ich hatte dich auf der Stelle heiraten lassen. Aber da das
leider nicht der Fall ist, komm ich wieder auf mich zuriick
und heirate das Madchen selber.
Joachim: Hort mich an, Vater. Ich muB Euch, da es so
ist, die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, daB ich Marianne
liebe, seit ich sie zum erstenmal sah. Und daB ich sie mir
von Euch zur Frau erbitten wollte. Nur die Furcht, Euch zu
miBfallen, hat mich davon abgehalten.
Franz Blei ♦ Der Geizige
133
Geiziger: Kennst du sie lange?
Joachim: Den Monat.
Geiziger: Besuchtest sie?
Joachim: Jeden Tag.
Geiziger: Gut aufgenommen?
Joachim: Herzlich. Doch wufite sie nicht, wer ich bin.
Daher vorhin ihre Uberraschung, mich als Euren Sohn wieder-
zusehen.
Geiziger: Sprachst doch wohl auch mit ihr von deinen
Heiratsabsichten ?
Joachim: Auch mit der Mutter.
Geiziger: Die nahm sie freundlich auf?
Joachim: Sehr freundlich. Ihre eigene Armut und meine
waren ihre Bedenken allein.
Geiziger: Und das Demoisellchen Marianne?
Joachim: Triigt Schein nicht, dann liebt sie mich wie ich
sie. Ah, nein, nein, kein Schein triigt, Vater, sie liebt mich,
liebt mich unaussprechlich !
Geiziger: Dann bitt ich dich, dir Miihe zu geben, diese
Liebe zu vergessen. Und alle Absichten auf das Madchen
durchaus aufzugeben. Das ich fur mich haben will. Verstan-
den? Fur mich. Und kannst du nicht vergessen, dann steht
dir die Welt offen. Der Konig braucht Soldaten.
Joachim: Ein Spiel? — Da es so weit ist, sag ich Euch:
me werde ich auf Marianne verzichten. Und jedes Mittel werd
ich anwenden, sie mir zu gewinnen, sie Euch streitig zu machen.
Mag die schwache Mutter Euch nachgeben, — andere werden
mir helfen, daB Marianne mein Weib wird. Mein Weib, hort
es, den ich jetzt Vater nicht mehr nennen kann.
Geiziger: Ins Gehege will mir der Junge kommen?
Joachim: Ihr kamt in das meine!
Geiziger: Und der Respekt vor dem Vater?
Joachim: Die Liebe kennt keinen Vater.
Geiziger: Du sollst mich kennen lernen. Wo ist ein Stock!
Joachim: Noch mehr kennen lernen?
Geiziger: Ich verstofie dich!
134
Franz Blei ♦ Der Geizige
Joachim: Das Vaterherz!
Geiziger: Ich erkenne dich nicht mehr als meinen Sohn
an. Ich enterbe dich!
Joachim: Wie Ihr wiinscht!
Geiziger: Und gebe dir meinen Fluch mit!
Joachim: Euer erstes Geschenk.
Geiziger (ab in den Garten).
*
ELFTE SZENE.
Joachim. Jakob.
Jakob (eilig, leise): DaB ich Euch finde, junger Herr! Wir
haben sie!
Joachim: Was gibt’s? Was hast du?
Jakob: Ihr kriegt das Fraulein Marianne und das Fraulein
Luise kriegt ihren Sekretarius.
Joachim: Was ist denn ?
Jakob: Unter der Hundehiitte haben wir sie ausgegraben,
ich und die Schuwitschin.
Joachim: Ausgegraben? Wen denn? Ich versteh kein
Wort.
Jakob: Die Geldtruhe Eures Herrn Vaters! Voll mit Gold-
stiicken ohne Zweifel. Und er kriegt sie erst wieder, wenn er
einwilligt. Und verlafit Euch darauf, er willigt ein. In alles.
Lieber gibt er das Leben als sein Geld.
Joachim: Er wird Euch einsperren lassen.
Jakob: Wird sich hviten. Konigliche Verordnung: Wer
Gold fur sich behalt und nicht gegen Schein fin die Knegskasse
abhefert, dem wird es konfisziert, er selber inkarzeriert im
Stockhaus. — Kommt! Hort! Ist er es nicht schon? Wie er
schreit ! Kommt! (Ab mit Joachim.)
*
135
I
Franz Blei • Der Geizige
ZWOLFTE szene.
Geiziger (nocKim Garten): ZuHilfe! Diebe! Diebe! Morder!
Diebe! Gerechtigkeit! Polizei! (Kommt auf die Buhne.) Mord!
Mord! Man schneidet mir den Hals ab! Man hat mir mein
Geld geraubt! Haltet den Dieb! Polizei! — Wo steckst du,
Morder? Halt da! (Er packt seinen Arm.) Gib mir mem Geld,
Schurke! Ah, ich bin ganz verwirrt. Und wie dunkel es hier
1st. (Er ergreift den einen Leuchter nnd ziindet die anderen Kerzen an.)
Licht machen ! Gott, Gott, Gott, mein Geld, mein armes Geld,
mein armes! Diebe! Mein teurer Freund, mein einziger! Man
hat dich mir geraubt, meine Stiitze, Stab, Trost, im Jammer
dieser Welt. Diebe! Zu Hilfe! — Von Kindern verlassen, be-
trogen, geschmaht. — Du — der einzige Freund Diebe!
Zu Hilfe! — Jetzt ist alles aus. Ich habe auf der Welt nichts
mehr zu suchen. Ohne dich kein Leben mehr. Es ist aus. Aus.
Diebe! Die Stimme erstickt mir. Morder! Keiner kann mich
horen! Ich sterbe! Bin schon tot. Begraben. — Morder! —
Ist denn niemand da, der mich wieder aufwecken kann? Mir
mein Geld wiedergibt? Sagt, wer es hat ? GroBer Gott im
Himmel, laB diese Priifung gnadig an mir voriibergehen. Vater
unser, der du bist im Himmel und weifit, wer mich bestohlen
hat, zeig mir den Dieb, weise mir den Morder! Was? Was
sagt Ihr? Was? Niemand da. Niemand. Gehen wir. Ich muB
die Polizei holen. Ich will das ganzeHaus foltern lasseg, foltern.
Knechte, Magde, Sohn, Tochter, mich selber — foltern. Wer
spricht da? Der Morder? Was ist denn da oben fur ein Larm?
Ist mein Dieb da oben? Mein Henker? Alle glotzen mich an.
Lachen mich aus. Alle haben dabei geholfen. Alle Rauber,
Diebe, Henker Kraft ! VerlaB mich nicht Stimme, verlaB
mich nicht. Diebe! FiiBe, auf! Diebe! Gendarmen! Polizei!
Ich lasse alle aufkniipfen ! (Er schwankt schreiend nach links ab, mit
einem Armleuchter.) Ich will mein Geld wiedersehen! Ich will
leben, leben! Morder!
(Vorhang, der gleich wieder aufgeht.)
29 Vol.
Franz Blei * Der Geizige
VIERTER AKT.
ERSTE SZENE.
Der Geizige.
Geiziger (kommt wieder, mil dem Leuchter): Meine FiiBe tra-
gen mich nicht . . . Hier sterb ich. Und mein Morder inzwi-
schen zum Land hinaus. Auf vier Pferde schlagt er ein. Der
Dieb! Morder! Haltet ihn auf! Keiner im Haus hort mich!
Wo sind sie? Allegeflohen? Diebe! Luise! Achim! — Meine
Stimme — ich fliistere ja. (Er schlagt ein Fenster ein:) Ich mu6
Larm machen. Vielleicht treibt das einen her. (Der Hund bellt
im Garten, der ganz dunkel ist :) Ah! Tyras! Verraterisches Hunde-
vieh! Was hast ihn nicht zerrissen, der mir das Herz — ! Ver-
hungern IaB ich dich ! Bestie, an der Kette verhungern ! Mor-
der! (Er nahert sich mit dem Lichte einem Vorhang:) Ziind ich das
Haus an? Ein groBes Licht machen, daB man kommt? — —
*
ZWEITE SZENE.
Der Geizige. Der Kommissarius.
Kommissarius: Wohnt hier ein Herr Heinrich von Wer-
nitz?
Geiziger (stiirzt auf ihn zu): Halt ich dich, Morder! Hab
ich dich, Dieb! Wo? Wo hast du sie versteckt?
Kommissarius: Wer seid Ihr?
Geiziger: Ah! Verzeiht meinem kurzen Gesicht. Nun
fiihl ich zum Beispiel Degen. Pistolen. Habt Ihr Handschellen
auch mitgebracht?
Kommissarius: Ihr seid?
Geiziger: War der Hausherr. Bin niemand mehr. Bin
namenlos. Bin bestohlen. Ihr seid vom Amte. Endlich. Gott
segne Euren Eintritt. Ich bin um alies bestohlen, Herr! Ich
Franz Bid ♦ Der Gdzige
137
bin ein ruinierter, ausgeldschter Mann 1 Ihr miiBt ein Interesse
daran haben, dafi es ans Licht kommt. Ihr miiBt mir den Dieb
finden. Wenn ich nicht meine Habe wieder bekomme, ziehe
ich das Gericht vors Gericht! Gerechtigkeit ! Gerechtigkeit!
Kommissarius: Bestohlen ? Da muB zuerst ein Protokoll
aufgesetzt werden.
Geiziger: Ein Protokoll. Ihr glaubt, wir fangen ihn mit
einem Protokoll?
Kommissarius: Wen?
Geiziger: Den Dieb.
Kommissarius: Welchen Dieb?
Geiziger: Der mir alles stahl, was ich hatte.
Kommissarius: Das war?
Geiziger: Eine Kassette.
Kommissarius: Mit Inhalt?
Geiziger: Sucht doch den Dieb, ich bitt Euch !
Kommissarius: Ohne Protokoll? — Habt Ihr einen
V erdacht ?
Geiziger: Ich habe jeden in Verdacht. LaBt die ganze
Stadt verhaften. Zusamt den Vororten. Und alles was sich
im Umkreise von zehn Meilen auf den LandstraBen herumtreibt.
Kommissarius: Das hieBe den Dieb verscheuchen . Man
darf ihn nicht kopfscheu machen. Wir miissen ganz sachte die
Beweise zusammenbringen, und dann konnen wir mit aller ge~
setzlichen Strenge vorgehen, um das gestohlene Gut wieder
zur Stelle zu schaffen. Versteht Er?
Geiziger: Der Dieb — fangt den Dieb!
*
DRITTE SZENE.
DieVorigen. Lauren z.
Laurenz (ruft nach riickwarts): Komm gleich. Man soli lhm
sofort die Gurgel abschneiden, die FiiBe rosten und das iibrige
in kochendes Wasser werfen.
10
138
Franz Blei ♦ Der Geizige
Geiziger: Der Dieb? Er hat den Dieb ! Mein guter Lau-
renz, ja, schneid ihm die Fiifie ab.
Laurenz: Dem Spanferkel, das mir Euer Sekretanus ge-
schickt hat. Ich will es vielfach zubereiten. Viel Kunst.
Geiziger: Was — Spanferkel? Mit dieser Amtsperson
wirst du jetzt eine ganz andere Sache auszukochen haben,
Schurke !
Kommissarius: Er braucht keine Angst vor mir zu haben,
sagt Er nur, was Er weiB. Die Sache wird sich in aller Giite
erledigen.
Geiziger: 1st der Herr der achte Gast am Souper ?
Kommissarius: Und nichts verheimlichen !
Laurenz: Der gnadige Herr General konnen jederzeit
meine Kiiche anschauen und sehen was ich koche. Da wird
nichts verheimlicht.
Geiziger: Du sollst sagen, wo die Truhe ist, die du mir
gestohlen hast, Halunke!
Laurenz: Eine Truhe?
Geiziger: Wozu Euer Degen, Herr Kommissarius ? Setzt
ihn dem Schurken auf die Brust ! Rennt ihm das Schwert durch
den Wanst!
Kommissarius: Wir diirfen ihn nicht angstigen, Es wird
uns auch ohne das alles sagen. Ja, lieber Freund, wenn Er ge-
steht, wird ihm nichts passieren. Sein Herr wird Ihn sogar noch
belohnen. Man hat ihm eine Kassette gestohlen, eine Truhe.
Wenn Er es nicht war, so hat Er vielleicht einen Verdacht. Er
mufi doch was wissen von der Sache. Sein Herr belohnt es ihm.
Laurenz: Wart, Herr Sekretarius!
Geiziger: Was?
Kommissarius: Nur ruhig, das Gewissen riihrt sich.
Laurenz: Also wenn ich die Wahrheit sagen soil, wie sie
ist, so glaub ich immer, das war der Sekretarius, der Euch den
Streich gespielt hat, gnadiger Herr.
Geiziger: Heinrich?
Laurenz: Eben der.
Geiziger: Der mir solche Treue heuchelte —
Franz Blei * Der Geiztge
139
Laurenz: Eben darum.
Kommissarius: Und worauf griindet sich sein Verdacht ?
Laurenz: Man hat so seinen Glauben.
Kommissarius: Indizien?
Laurenz: Jawohl. Jawohl. Die hat er. Die hat er sicher.
Er sieht ganz so aus.
Geiziger: Hast du ihn nicht um den Platz herumschleichen
sehen, wo ich die Kassette vergraben hatte?
Laurenz: Immer schlich er da herum. Natiirlich. Wo war
sie denn vergraben ?
Geiziger: Im Garten unter der Hundehiitte.
Laurenz: Ganz richtig. Bei der Hundehiitte. Da schlich
er herum.
Kommissarius (schreibt auf); Schlich er herum.
Geiziger: Und hast die Kassette bei ihm gesehen?
Laurenz: Und oft!
Geiziger: Ha!
Kommissarius: Wie sah denn Eure Kassette aus?
Geiziger: Braun war sie.
Laurenz: Ganz recht. Wie ich sagte. Braun. Und so mit-
telgroB. Und richtig braun. Ich dachte mir immer: Was fur
eine schone braune Kassette.
Geiziger: Schreibt, Herr Kommissarius I Es ist meine
Kassette! Wem soil man heute noch trauen! Heinrich, eines
Sinnes immer mit mir, ganzes Vertrauen ihm in den Busen
schenkend — Man darf auf keinen Menschen bauen, auf kei-
nen. Ich glaube, ich konnte mich selber bestehlen, so schlecht
sind die Menschen.
Kommissarius: Und wann hat Er die Kassette bei diesem
Heinrich —
Laurenz: Da kommt er selber. Aber sagt ihm nichts, daB
ich Euch die Geschichte verraten habe. Er fiihrt eine grobe
Hand und ein Dieb ist zu allem fahig. (Ab.)
*
140
Franz Blei * Der Geizige
VIERTE SZENE.
Geiziger. Kommissarius. Heinrich.
Geiziger (auf Heinrich zu): Ungeheuer! Gesteh und mach
alles gut. Gesteh das Verbrechen, das entsetzlichste, das je
verilbt wurde.
Heinrich: Was wiinscht Ihr, da6 ich gestehe?
Geiziger: Schurke! Die Anklage wirft dich mcht zu
Boden ?
Heinrich : Von welchem Verbrechen sprecht Ihr?
Geiziger: IstScham noch bei Menschen? MiissenHyanen
von lhnen die Heuchelei lernen ? Als wenn du es nicht wiiBtest !
Leugne nicht mehr ! Lohnt die Miihe nicht ! Alles ist entdeckt !
Ich weiB alles ! Elender ! Meine Giite hast du teuflisch miB-
braucht, machtest dich mir freundlich, um mich zu verraten!
Mir dies anzutun!
Heinrich: Da Ihr alles wiBt — ich will nichts mehr
leugnen .
Geiziger: Schreibt! Schreibt! Er gesteht!
Kommissarius: Herr Heinrich von Wernitz. Em konig-
lich Reskript Euch zu uberreichen, war der Auftrag, der mich
herfiihrte. Doch sprecht zuvor, was Ihr zu gestehen habt.
Ihr habt Euch, wie es scheint, schwer vergangen an diesem
Mann.
Heinrich (zum Geizigen): Mit Euch davon zu sprechen, war
ich oft schon entschlossen. MuBte nur die Gelegenheit ab-
warten. Nun die Sache ohne mein Sprechen heraus ist, hdrt
meine Griinde, bevor Ihr mich verurteilt.
Geiziger: Griinde! Griinde! Die wird man dir mit dem
gliihenden Eisen auf den Nacken brennen. Dieb!
Heinrich: Den Namen hab ich nicht verdient. Wohl hab
ich nicht recht gegen Euch gehandelt —
Geiziger: Hort doch: nicht recht! Nicht recht nennt er
den Schurkenstreich auf mein Leben !
1
Franz Blei » Der Geizige
Ml
Heinrich: Aber mein Fehler ist verzeihlich.
Geiziger: Ein Raub, ein Mord verzeihlich! Er ist von
Sinnen, Herr Kommissarius, oder er macht sich lustig.
Heinrich: Ein Raub, ein Mord gar — Ihr iibertreibt,
Herr. Das Ungliick ist so grofi nicht.
Geiziger: So groB nicht? Mein Herz, mein Blut, mein
Alles hast du gestohlen, Ungeheuer!
Heinrich: Es kam nicht in schlechte Hande. Meine Familie
ist unter den Besten des Landes. Nichts ist an der Sache, was
nicht wieder gut zu machen ware.
Geiziger: Was kiimmert mich deine Familie! Hierherden
Raub! Liefere, vor allem anderen Wort, den Raub aus. Dann
sprechen wir weiter.
Heinrich: Eurer Ehre soli Genugtuung werden.
Geiziger: Was Ehre! Hier handelt es sich um viel Ern-
steres als um Ehre! Sag mir nur, was hat dich denn zu dieser
ungeheuren Tat gebracht, und gerade dich!
Heinrich: Das fragt Ihr? Die Macht, die alles entschul-
digt, wozu sie uns treibt: die Liebe!
Geiziger: Die Liebe zu meinem Geld!
Heinrich: Nem. Eure Reichtiimer haben mich nicht dazu
gebracht. Nichts will ich von Euren Schatzen haben, wenn
Ihr mir den lafit, den ich schon mein Eigen nenne.
Geiziger: Was sagt Ihr, Herr Kommissarius! Ich finde
das Wort nicht. Er will behalten, was er mir — Er will die
Diebesbeute behalten!
Heinrich: Diebsbeute?
Geiziger: Man wird sie Ihm abzunehmen wissen!
Heinrich: Ich bitte Euch, aus Erbarmen mir den kost-
barsten Schatz zu lassen, den die Welt fur mich tragt.
Geiziger: Kostbarsten ! Glaub ich dir ! Nicht wahr ? WeiB
Gott, er ist kostbar! Uber alles kostbar!
Heinrich: Und haben uns Treue geschworen. Uns gelobt,
einander ewig anzugehoren.
142
Franz Blei * Der Getzige
Geiziger: Was, was, was, hat dir’s gelobt?
Heinrich: Nur der Tod kann uns trennen.
Geiziger: Der wird dich friiher erreichen als du denkst,
Biirschchen ! Aufs Rad kommst, schaffst du mir sie nicht sofort
zur Stelle. Wo hast du sie hingeschleppt? Kurz und gut, wo
hast du sie hingeschleppt?
Heinrich: Aber — sie ist ja hier im Hausel
Geiziger: Im Hause? Herr Gott in deinem Reich, ich
danke dir, Herr Gott, danke dir auf den Knien. Und hast du
sie nicht angeriihrt?
Heinrich: Meine Liebe ist rein und voll Ehrfurcht!
Geiziger: Ich verbiete dir, daB du so von ihr sprichst als
war sie dein! Verstehst du? Mein ist diese Liebe! Mein, nur
mein!
Heinrich: Lieber ware ich gestorben, als daB ich einem
unehrbaren Wunsch Raum gegeben hatte.
Geiziger: Der Sinn ist der, er hat sie nicht angeriihrt.
Ich danke dir, o Gott!
Heinrich: Nichts als das Wort gab mir Eure Tochter.
Ich ihr das meine.
Geiziger: Meine Tochter hat mit der Sache zu tun?
Kommissar: Also eine Komplicin.
Geiziger: Der Dieb mit meiner Tochter! Der Dieb ist
der Verfiihrer meiner Tochter! Und da sitzt das hohe Gericht
ruhig dabei. — Habt Ihr’s zu Protokoll?
Heinrich: Dieb? Verfiihrer?
*
FONFTE szene.
Die Vorigen. Luise.
Geiziger: Tochter! Auswurf! Schamlose! Unwiirdig eines
Vaters wie ich bin! Alles ist am Tag. So befolgst du
und Lehre, die ich dir gab! Liebschaft mit einem gemeinen
Franz Blei ♦ Der Geizige
Dieb treibst du heimlich, nennst es Verlobungl Aber du
tauschest dich! Noch bin ich dein Vater! Ins KJoster steck
ich dich, Dirnenmensch! Und dein Galan kommt an den
Galgen !
Heinrich: Euer sinnloser Zorn wird nicht Richter in dieser
Sache sein.
Geiziger: Was sag ich — Galgen! Lebendig geradert wirst
du, Dieb, Erpresser, Verfiihrer, Morder!
Luis e: Ihr seid unmenschlich, Vater. Rechte, die Ihr habt,
macht Ihr zu grausamer Gewalt iiber Euer Kind, und verliert
un Zorne ein Urteil liber den, den Ihr besser kennen lernen
solltet und nicht ihn so beschimpfen wie Ihr es tut. Anders
ist er, und gut. Nicht wie er Euren Augen erscheint. Ich kenne
sem Herz und gab ihn darum das meine. Ihr andert’s nicht,
Vater. Seid auch, was Ihr Euch nennt und wiitet nicht gegen
Euer eigen Blut. Sonst kehrt es sich ab von Euch, wie Ihr es
von ihm tut.
Geiziger: Possen! Worte! Hier liegen Taten vor, ruchlose
und nie gehorte! Die Gerechtigkeit muB ihren Lauf nehmen.
Ich rufe sie nur an als der vom Unrecht schwer Betroffene.
Tut Eures Amtes, Herr Kommissar. Habt Ihr Handschellen
bei Euch?
Heinrich: Wessen mich der wiitende Mann beschuldigt,
Herr Kommissar, es liegt klar zu Tag. Ob s ein Verbrechen
ist, daB ich mich mit seiner miindigen Tochter ohne ihn zu
fragen verlobte, das wird Eurer Entscheidung nicht schwer
fallen.
Kommissar: Und der Diebstahl?
Heinrich: Welcher Diebstahl?
Kommissar: Der Kassette?
Heinrich: Welcher Kassette?
Kommisar: Die Euerm Herrn gestohlen wurde, und Aus-
sage ist, daB Ihr sie stahlt, allein oder mit Komplicen. Ihr
selber habt es zugegeben.
Heinrich: Ich die gestohlen?
Kommissar: Gestandet, den Schatz gestohlen zu haben.
144
Franz Blei * Der Geizige
Heinrich: Diesen meinteich, — Luise, meine Braut. Vom
anderen Schatz erfahr ich das erste Wort aus Eurem Munde,
Herr Kommissar.
Geiziger: Er nicht? Wieso? Er nicht der Dieb? Eine
Ausflucht, Herr Kommissarius! Schlagt ihn in Fesseln! Er muB
ihn haben! MuB! Ihr habt’s im Protokoll! Ich sah sie, hielt
sie ja schon wieder, und nun auf einmal wieder fort ? Das Ge-
richt! Das Gericht! Lest’s im Protokoll nach! Da drin steht,
sie ist da, ist da, zur Stelle, im Haus! Wieder fort sein? Lafit
ihn nicht aus den Augen, den Dieb! Fesselt ihn. Fesselt alle
beide ! Das ist ein abgekartetes Spiel ! Mir macht man nichts
weifi! Es ist abgekartet, sag ich Euch! Die beiden da haben
meine Kassette gestohlen.
*
SECHSTE SZENE.
Die Vorigen. Joachim. Marianne.
Joachim (ist wahrend des Vorigen des Geizigen aus dem Garten
gekommen): Beschuldigt niemanden ! Vater! Eure Truhe ist ge-
funden.
Geiziger: Wo, wo ist sie? Sag, wo ist sie? LaB mich
nicht auf das Wort warten !
Joachim: Sogleich zur Stelle und hierher gebracht, er-
fiillt Ihr eine Bedingung.
Geiziger: Jede! Jede!
Joachim: Ihr willigt ein, und gebt es schriftlich mit Unter-
schrift Eures Namens unter ein Papier, das hier die Amtsperson
aufsetzt .
Geiziger: Sie ist da, ist da! Schriftlich zu Papier —
Joachim: Dafi Ihr Marianne mir zur Frau gebt, und meine
Schwester Luise meinem Freund Heinrich von Wernitz.
Geiziger: Du warst der Dieb.
Joachim: Dann habt Ihr Euer Gold wieder.
Franz Blei * Der Geizige
145
Kommissar: Gold, sagt Ihr? Gold ist in der Kassette?
Joachim: Sagte ich Gold? Ich habe nicht hineingesehen,
nicht, Vater?
Geizige r: Was Gold! Dummes Geschwatz!
Joachim: Nur bildlich gemeint, nicht, Vater?
Geiziger: Gold bei mir armem Mann! Und [hatt ich je
Gold besessen, weifi ich meine Pflicht.
Kommissar: Ihr kenntdes Konigs Verordnung.daBKriegs-
not den Burger goldgepragte Miinzen dem Staatsschatz abzu-
liefern zwingt gegen Schein.
Geiziger (zu sich): Der andere Dieb ! Der grofie unsicht-
bare, gegen den es kein Gericht (laut) Ich lebe und sterbe
fiir meinen Konig und bin gliicklich, seinen Befehlen zu ge-
horchen. Gold! Gold in der Kassette! Dokumente, Briefe,
Briefe von Seiner Majestat darunter, ehrfiirchtig aufgehoben
den Enkeln und Enkelkindern, was weiter noch? Luischens
erste Schiihlein, erste Kinderklapper des Jungen, eine Locke
von meinem seligen Weibe nichts als derlei heilig-liebe
Dinge, dem Gemiit ein unersetzbarer Schatz, daB Ihr versteht,
Herr Kommissar, wie Diebstahl solcher teuerer Kostbarkeiten
einen Mann, einen armen Mann, unsinmg machen kann und
rasend. Gold, mein Gott! Ist so etwas darunter, ist eine Ge~
denkmiinze von Ahnen.
Kommissar: Sei es wie Ihr sagt. Ihr wiBt die Strafe, die
den trifft, der die Verordnung iibertritt.
Geiziger: Was sagtest du, Joachim, soil ich nicht was
unterschreiben ?
Heinrich: Hier hab ich es aufgesetzt. DaB es gelte, setzt
Euren Namen darunter.
Geiziger: Hierher, ihr Schurken?
Joachim: Hierher, lieber Vater. (Der Geizige unterschreibt.)
Und hier daneben das Amt, — verzeiht, daB ich Euch bemiihe,
Herr Kommissar. (Kommissar unterschreibt.)
Marianne: Gilt’s nun auch wirklich amtlich?
146
Franz Blei * Der Geizige
Kommissar: In alien Rechten ist’s ausgestellt, schone
Jungter. Herr Heinrich von Wernitz, dies Resknpt von Seiner
koniglichen Majestat fiir Euch. Die Giiter, die man Eurem
hochseligen Vater konfiszieren muBte, da er die Wallen des
Feindes trug im letzten Kriege, sind Euch in Gnaden wieder
zuriickerstattet fiir geleistete wichtige Dienste. Somit empfehl
ich mich.
Geiziger: Und ich? Und ich? Wo, wo ist sie?
Kommissar (zu Joachim): Beruhigt ihn und schafft ihm
die Kassette her.
Joachim (ruft): Jakob!
Jakob (schleppt die Kassette herein).
Kommissar: Die Locke Eures seligen Weibes scheint
recht schwer zu wiegen. Nun, Gott befohlen. (Ab.)
*
SIEBENTE SZENE.
Die Vorigen (ohne Kommissarius und Jakob).
Geiziger (stiirzt sich auf die Kassette, zieht sie ganz nach vome
links. Entledigt sich seines Rockes und wirft ihn dariiber): Was schaut
Ihr? Eure Blicke stehlen! Macht, dafi Ihr weiterkommt!
Heinrich: Willst du zu mir, Achim, mit Marianne, unsern
Kohl bauen und gliicklich sein?
Joachim (schiittelt Heinrich die Hand): Lebt wohl, Vater.
Geiziger: Mach ihn nur zu deinem Verwalter, und ein
Jahr wird nicht vergangen sein, dann sind deine Giiter hier
drinnen (er klopft auf die Kassette).
Joachim: Lebt wohl, Vater!
Geiziger: Pack dich!
Luise (auf den Geizigen zu): Vater!
Geiziger: Weg! (Die beiden Paare gehen durch den Garten ab.)
*
Franz Bid ♦ Der Gcizige
147
fr
ACHTE SZENE.
Der Geizige (allein).
Geiziger (ruft den Abgehenden nach): Und nehmt auch noch
den Hund mit! Und alles was sonst noch atmet in diesem
Hause aufier mir, denn es ist ein Morderpack, unmenschlich!
(Er geht und schlieBt die Tiir in den Garten fest zu. Dann versichert er
sich der beiden anderen Tiiren, Fenster, nimmt die Leuchter, tragt sie zur
Kassette, stellt sie urn sie herum auf den Boden): Mach die Lichter
dunkel, meine Sonne! Mach die Lichter zu Nacht, mein
Strahlendes ! (Er reiBt den Rock von der Kassette, stiirzt sich dariiber:)
Herz ! Herz wieder in meine Brust gesenkt ! Blut wieder in
meine Adern! Luft in meine Lungen! (Er schlieBt auf:) Mein
Gold! Schatz! Geliebte, treue! Lachst mich an? Ist ja auch
keiner, der dich mehr liebt, als ich! Ist einer, der dich mehr
liebt als ich? Verzeih mir, ich hab dich vergraben miissen.
Du weifit, der grofie Dieb! Aber was tut dir die dunkle Erde,
deine Mutter? Du bleibst uberall rein und strahlend. Gold!
Gold! — Ah, da gibt es noch was, das sich die Menschen er-
funden haben und das sie Geld nennen. Aber wir beide lachen
dariiber, ich und du, nicht? Uber diese Erfindung, diesen
Schein, diese Fetzen schmutzigen Papieres! Das steigt und
fallt, ist oben, ist unten, und ist doch nicht. Ist doch nicht.
So wie du ewig bist und hart und fest und wirklich. In dir
kann man sich spiegeln, Gold, in dich kann man aus Liebe
beiBen, dich kann man schlagen und streicheln und du kannst
lachen wie eine Geliebte! (Er klimpert mit dem Goide:) O wie du
lachst! DaB du wieder bei deinem treuen Liebhaber bist, mein
Schatz, mein goldener Schatz, mem blonder! Was anderes
noch auf der Welt? Was anderes, an dessen Stelle du dich
nicht wie erne Siegerin setzen kannst? Da laufen sie hm, die
Narren, in ihrer Narrenliebe, und kommt doch ein Tag, so
sicher, daB sie sich hassen! Da laufen sie ihren Liisten nach,
ihren stinkenden, auf die so sicher die Faule fallt. Laufen
Ehren nach und Wiirden und hegen Talente und spielenTugend!
v
Franx Blei * Der Geiztge
148
Wie lange? Bis du goldglanzender Schatz nahst und sie in die
wahre Liebe bringst! Und du leuchtest ihnen dann aus den
Augen, dein Glanz, Gold, ist ihrer Augen Glanz, und sie ver-
zehren sich nach dir als ihrer wahren, einzigen Liebe!
Steh
einer auf von Euch Menschen da unten, und sag, es war anders !
So efi ich dich und trink ich dich, mein Gold. Leben und
Sterben ist bei dir, mein Gold, mein Gold mein Gold
V or hang.
Leonhard Frank ♦ Der Kellner
149
Beonfiard Frantc:
DER KELLNER
„£JHr Otiemgez&cftte, wer fiat derm eucH gewiesen, da(S ifir
dem fc&nftigen Zorn entrinnen werdet?
Ss ist sc Hon die fflxt an die dlOurzef gefegt. Varum wefcfier
Vaum nicfit gute “TrUcfite brmgt, wird abgedauen und ins Veuer
geworfen."
U OBERT war Servierkellner in einem Hotelrestaurant. Ge-
*• wohnlich. Blond. Und wenn er, in devoter Verbeugung
erstarrt, vor dem Gaste stand und eine Bestellung entgegennahm,
kroch der Gedanke durch sein Gehirn : jeder andere Beruf ver-
tragt sich eher mit der Menschenwiirde. Er war Kellner in einem
deutschen Hotelrestaurant.
Auf ihn wirkte das hingeschobene Trinkgeld wie eine Ohr-
feige, fiir die man sich bedanken muBte. Und wenn das Trink-
geld von einem Gaste kam, der armer als der Empfangende war,
stieg aus Roberts verletzter Menschenwiirde sichtbar die Ver-
achtung empor, steigerte sich manchmal zu Rachsucht und
Frechheit. Es kam vor, daB Robert solch einem Gaste das
Trinkgeld zuriickschob. Vomehmen Gasten Kredit zu gewah-
ren, war ihm eine Erlosung.
Im Jahre 1894 bekam seine Frau den lange vergeblich er-
warteten Sohn. Und Roberts Liebe stiirzte sich auf dieses
Kind. Das bekam alles: Kinderzimmer, sterilisierte Kinder-
milch, einen fedemden Kinderwagen, einen weisslackierten
Stall, Hampelmanner. SpaterDampfmaschinchen, Eisenbahnen,
Luftballons.Trommeln, Sabel, SchieBgewehrchen, Bleisoldaten,
Spater ein Spazierstockchen, einen Matrosenanzug mit einer
150 Leonhard Frank * Der Kellner
Miitze, auf der stand „S. M. S. Hohenzollern“, einen rind-
ledernen Biicherranzen, eine Rechenmaschine mit roten und
weifien Kugeln, einen polierten Griffelkasten.
Der Sohn bekam Geigenstunden, mufite Klavierspielen lemen.
Und durfte das Gymnasium besuchen. Er sollte studieren.
Nicht Kellner werden. Schon mit zehn Jahren besafi der Sohn
ein Fahrrad. Und gehorte mit zwolf Jahren der patriotischen
Jugendvereinigung an.
Roberts Leben erschopfte sich im Dasein des Sohnes. Und
der Satz: jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, war ihm zur
Weltanschauung geworden. Robert flog, die Bestellungen
auszufiihren, verbeugte sich, dankte furs Trinkgeld, verbeugte
sich, dankte, sparte, scharrte zusammen, rechnete, strebte,
wurde Zimmerkellner, dann Oberkellner, wies heimlichen
Liebesparchen stille Zimmer an fur ein paar Stunden, driickte
Augen zu, sank in einen Abgrund der Liebe fiir seinen Sohn,
schickte ihn auf die Universitat, bekam graue Haare, war selig
im Dienen, selig in seinem Sohne, besafi hundert Photo-
graphien von ihm, hatte die Kinderkleidchen aufgehoben, das
Spielzeug: die Sabelchen, die Gewehrchen, die Bleisoldaten.
Das Miitzchen, auf dem stand „S. M. S. Hohenzollern".
Der Sohn war zwanzig Jahre alt. Er bekam die Einberufung
an einem Dienstag, bekam ein halbes Jahr spater das eiseme
Kreuz.
Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, dafi sein
Sohn gefallen war. Auf dem Felde der Ehre.
Eine Welt war erschlagen.
Der Erschlagene las immer wieder: „GefaIlen auf dem Felde
der Ehre“. Den Zettel trug er bei sich in der Brieftasche,
zwischen den Banknoten. Er las ihn, wenn ein Fremder kam
und ein Zimmer verlangte, wenn er an der Billardecke stand
und Bestellungen erwartete, wenn er, von der Glocke gerufen,
den langen Gang hinter lief, las ihn, bevor er das Zimmer betrat
und nachdem er, die bezahlte Rechnung und das Trinkgeld in
der Hand, das Zimmer wieder verlassen hatte. Er las ihn in der
Kiiche, im Wemkeller, auf dem Klosett. ,, Gefallen auf dem
Leonhard Frank * Der Kellner
151
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Felde der Ehre.“ Ehre. Das war ein Wort und bestand aus vier
Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Luge
bildeten von solch hollischer Macht, dass ein ganzes Volk an
diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in unge-
heuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden konnen.
Das Feld der Ebre war nicht sichtbar, nicht vorstellbar, war
Robert nicht begreifbar. Das war kein Feld, kein Acker, war
keine Flache, war nicht Nebel und nicht Luft. Es war das
absolute Nichts. Und daran sollte er sich halten. Sein ganzes
Leben lang. Hinter ihm lag nichts und vor ihm lag nichts.
Robert stand in der Mitte auf dem Nichts.
Seine Hande servierten, quittierten, empf ingen Trinkgelder.
Wofiir? Es gab keine Banknoten mehr. Und sein Sparkassen-
buch war fur ihn das Feld der Ehre. Und das Feld der Ehre war
nicht begreifbar.
Robert gab die besten Zimmer auf Wunsch um die Halfte des
festgesetzten Preises ab, gab noch einen Salon dazu, ein Bade-
zimmer. Wurde zum Servierkellner degradiert. Gab im
Restaurant ohne Wiederstreben die teueren Speisen undWeine
billiger ab, wenn den Gasten die Rechnung zu hoch erschien.
Wurde daraufhin nur noch zur Mithilfe herangezogen, wenn im
groBen Hotelsaale ein Fest, eine Versammlung war.
Gab es etwas Gleichgiiltigeres, als aus der Lebensstellung
verdrangt worden zu sein ? Das alles war nur das Feld der Ehre.
War ein vollkommenes Nichts.
Oft fand er sich in seines Sohnes Zimmer, wo er wahrend des
Krieges die Photographien, Kinderkleidchen, Sabelchen, Trom-
melchen, Gewehrchen, Bleisoldaten zusammengetragen hatte,
und empfand nichts beim Betrachten dieser vergilbten und
verkratzten Uberbleibsel, ging, automatisch wie er eingetreten
war, wieder hinaus.
Dieser Zustand, in dem Robert sich nur noch wie eine
Maschine bewegte, dauerte wochenlang, bis eines Tages der
Mensch in ihm die Kraft fand, sich dem Schmerze zu stellen.
Seiner Hand entfiel die Photographie des Sohnchens — in
Infanterieuniform, mit prasentiertem Gewehrchen — und
30 Vol.
152
Leonhard, Frank * Der Kellner
Robert sauste, von einem Dampfhammerschlag getroffen,
hinnnter in den Abgrund, das Herz blossgelegt dem Schmerze
und der Liebe. Robert schrie. Nur einmah Und ganz kurz.
Von etwas Unnennbarem beriihrt, wich er der Erlosung, die
im Schmerze liegt, aus.
Und als seine Frau ihn trosten wollte mit den Worten, die sie
von dem unter dem gleichen Leide stehenden Kolomalwaren-
handler, Backer, von der Nachbarin iibemommen hatte: jetzt
miisse man sich halt damit abfinden, schrak sie zuriick vor
Roberts gefahrlich blickenden Augen und schwieg femerhin.
Auch Robert schwieg, tat die Arbeit, die man ihm zuwies.
Und da man ihn, der wiederholt Gaste fortlaufen lieB, ohne daB
sie bezahlt hatten, nur noch als Wassertrager im Hotelcafe
verwenden wollte, erklarte er sich auch hierzu bereit.
Robert wufite, daB etwas geschehen werde. Deshalb ertrug er
weiter diese gefahrliche Ruhe. Denn wie konnte es moglich sein,
daB nichts geschah durch ihn, der nichts mehr verlieren konnte,
da er alles schon verloren hatte? Der von einer diinnen Kellner-
haut iiberzogen war, unter welcher der Mensch schrie, ent-
setzlich lautlos der Schmerz, die Liebe schrie? Durch den
geringsten AnlaB konnte die Haut zerspringen. Dann stieg der
Schrei.
Die Kindergewehrchen und Sabelchen hatte er sich aus den
Augen hiniiber ins Hotel getragen und hinter das Klavier
gesteckt. Denn wenn er dieses Spielzeug nur anblickte, brannte
ihn die Schuld. Aber wenn er einen mit dem Kriegsorden ver-
zierten Leutnant bediente, zitterten seine Hande nicht.
Und als eines Tages ein patriotischer Jugendverein — halb-
wiichsige Jungen unter Gewehr — die StraBe herauf und am
Hotel vorbei das Lied trugen „Kann dir die Hand nicht reichen,
dieweil ich eben lad...“ fraB sich das SchuldbewuBtsein gliihend
in Robert hinein. Denn auch er hatte seinem Sohne solche Lieder
gelehrt und lehren lassen und voll Vaterstolz ihm zugehort.
In wilder Spannung stand er unterm Hotelportal und fiihlte,
daB sein Sprung auf die vorbeimarschierenden, schlecht be-
ratenen Jiinglinge ein Sprung in die Luft sein wtirde. Denn
Leonhard Frank ♦ Der Kellner
153
hinter den Jiinglingen und hinter dem Kampfliede stand etwas,
das nicht zu greifen war: ein unsichtbarer, unkorperlicher
Gegner. Gott hielt ihn zuriick vor dem Sprunge. Gott hob ihn
auf fur die Minute, da der Feind greifbar werden wiirde, fiihlte
Robert.
Und eines Tages hatte er den Feind, der im Menschen selbst
und nicht aufier ihm ist, so scharf erkannt, daB seine Augen die
eines schuldbewufiten Morders wurden. Da geschah es, daB
Tranen wilden Zomes ihm hinter die Augen traten, wenn er ein
Madchensah, das ihrenBrautigam,eine Frau, die ihren Mann, ein
Eltempaar, das seinen Sohn verloren hatte und doch lacheln und
wie immer das Glas Bier bestellen konnte.
Einer Mutter, der ihre Stiitze furs Alter, ihre Hoffnung, der
Zentralpunkt all ihrer Liebe — ihr einziger Sohn zerstampft
worden war auf dem Felde der Ehre und die zu Robert sagte,
jetzt muB man sich halt damit abfinden, griff er wild an den
Hals. Gott strich iiber des Kellners Hande und legte seine
plotzlich von Liebe durchbebten Finger der Mutter sanft auf die
Schulter. Denn nicht die Frau war schuld, nicht sie war der
Feind und nicht ihre Worte, sondern das, was hinter den Worten
stand. Und das war etwas, was nicht da war. Es war das Nicht-
vorhandensein der Liebe.
Das mordensche SchuldbewuBtsem brannte die kleme Vater-
liebeweg, sodafi das Urgefiihl der grofien Liebe aufstehen konnte
in ihm.
In tiefster Demut, in deren Mittelpunkt die unbesiegbare
Kraft der Liebe stand, verrichtete er die Arbeit des Pikkolos,
trug den Gasten Wasser zu, spiilte Glaser aus, gmg, als die
Glocke ihn rief, in den groBen Hotelsaal.
Schlosser, Maurer, Schreiner, Spengler, Tapezierer, Glaser,
zerarbeitete Manner, die haarigen, abschreckend hafilichen
Tieren mit Menschenaugen glichen, fiillten den grofien Hotel-
saal: die Bauarbeitervereinigung hielt ihre Jahresversammlungab.
Robert brachte dem Redner, der auf dem Podium stand, erne
Flasche voll Wasser und horte, ans Klavier gelehnt, hinter dem
die Sabelchen und Schiefigewehrchen steckten, dem Redner zu.
154
Leonhard Frank * Der Kellner
Der erklarte, daB Unterstiitzungsgelder an arbeitslose und
kranke Mitglieder dieses Jahr nicht ausbezahlt werden konnten.
Denn es seien so gut wie kerne Beitrage eingelaufen. Zudem
habe man den Mitgliedern, die im Felde standen — und die
gingen alien andern vor
fortlaufend Unterstiitzungsgelder
geschickt. „Die Reserven sind aufgebraucht. Die Kasse ist
leer.“ Es frage sich nun, ob die Mitglieder, die noch gesund
seien und Verdienst hatten, iiber ihren Beitrag hinaus zusammen-
steuern wollten fur die kranken und arbeitslosen Mitglieder.
Wenn nicht, dann bleibe nur noch iibrig, die seit fiinfzig Jahren
bestehende Bauarbeitervereinigung samt der Krankenunter-
stiitzungskasse aufzulosen. „Sozusagen den Konkurs anzu-
melden.“
Siebenhundert Augenpaare von siebenhundert dumpf schwei-
genden Menschen blickten ratios auf den Redner. Die Frauen,
deren Kiichentopfe leer waren, und die Frauen, deren Manner
im Felde standen oder schon gefallen waren, hatten rotgefleckte
Wangen bekommen. Die Eisenplatte, die seit zwei Jahren iiber
ganz Europa lag, lag sichtbar auch iiber diesen siebenhundert
in Leid und Not verkrampften Lasttieren.
Fin kleiner Junge hatte das KinderschieBgewehr hinterm
Klavier, das auf dem Podium stand, vorgezogen und zielte, den
Schaft an der grauen Backe, hinunter auf die siebenhundert
reglosen Manner und Frauen. Alle blickten auf das Loch des
Rohrlaufes aus Weifiblech. Und drauBen standen, den Gewehr-
schaft an der Backe, in Schuld und Siinde Millionen Menschen
gegeniiber Millionen Menschen, die in Schuld und Siinde
standen.
Da tat Robert den Sprung. Es war ein ganz langsamer Sprung.
Er ging traumwandlerisch sicher auf den Jungen zu, nahm ibm
das Spielzeug von der Backe weg und trat vor, bis an den Rand
des Podiums.
Und wahrend der Redner Wasser trank und seme Abrech-
nungshsten zurechtlegte, sagte Robert:
„Das hier ist ein Schiefigewehr. Das habe ich... ich selbst
habe das meinem Jungen gekauft. Damit hat er gespielt. Damit
Leonhard Frank * Der Kellner
155
hat er sich unmerklich die Liebe aus seinem Herzen hinaus-
gespielt. Damit hat er schiefien gelernt. Ich habe ihm das
Schiefien, habe ihm das Morden gelehrt. Mein Sohn ist
gefallen. Er ist tot. Ich bin sein Mtirder... Vaterstolz, Ruhm-
sucht, Gedankenlosigkeit und Gewohnheit haben mich zum
Morder werden lassen. Und doch habe ich nur getan, was auch
lhr getan habt. Auch von euch hat mancher seinen Sohn...
verloren.“
Robert hieb das Gewehrchen gegen die Knie und legte die
zwei Stiicke ruhig zu seinen Fiifien nieder. „Das hatte ich vor
fiinfzehn Jahren tun miifien... Habt ihr es getan?... Also seid
auch ihr Morder.“
„Unsere Manner und unsere Sohne erschiefien Manner und
Sohne. Und jene Manner und Sohne erschiefien unsere Manner
und Sohne. Und jeder Daheimgebliebene hofft : mein Mann, mein
Sohn kommt zuriick. Mogen die anderen fallen und sterben.“
„Solches kann nur ein Wahnsinniger wiinschen... Ich frage
euch ; ist der kein Morder, der ein unschuldiges Kind so erzieht,
dafi es erst zum Morder werden mufi, bevor es selbst ermordet
wird ? Wird der so erzogene Unschuldige, wenn er einen gleich-
falls schlechtberatenen Unschuldigen erschiefit, nicht zum
Morder? Es gibt heute in Europa keinen Menschen mehr,
der nicht ein Morder ist!... Wir sind verblendet und Morder,
weil wir den Gegner aufier uns suchen und zu finden glaubten.
Nicht der Englander, Franzose, Russe und fur diese nicht der
Deutsche, sondern in uns selbst ist der Feind. Und wir stempeln
deshalb andere Menschen zum Feind, weil der tatsachliche
Feind in uns etwas ist, das nicht da ist. Das Nichtvorhandensein
der Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege. Ganz
Europa weint, weil ganz Europa nicht mehr lieben kann. Ganz
Europa ist wahnsinnig, weil es nicht lieben kann.“
„Oder ist es nicht Wahnsinn, wenn ihr euch freut iiber die
Notiz: zweitausend franzosische Leichen lagen vor unserer
Linie? Ist die Einwohnerschaft von Paris nicht wahnsinnig,
wenn sie sich freut iiber die Notiz: zweitausend deutsche
Leichen lagen vor unserer Linie ?“
156
Leonhard Frank * Der Kellner
,,Wir schreien vor Schmerz oder die Augen bleiben trocken
vor Schmerz, wenn unser Sohn fallt. Solange wir nicht ebenso
vor Schmerz schreien, wenn ein Franzose fallt, lieben wir nicht.
Solange wir nicht fiihlen: ein Mensch, der uns nichts getan hat,
fiel und starb, so lange sind wir Wahnsinnige. Denn dieser
Mensch, der fiel und starb, hat eine Mutter, einen Vater, e>ne
Frau, die vor Schmerz schreien. 1st ein Mensch. Wollte so
gerne leben. Und muBte sterben. Wofiir? Warum? Er muBte
sterben, weil er nicht liebte. Und wir, seine Morder, lieBen ihn
sterben, weil wir nicht liebten.“
Robert machte wahrend des Sprechens ganz kleine Bewe-
gungen mit der Hand, daB die weiBe Serviette baumelte. Es
war so schwer, auch den anderen mitzuteilen, was man selbst
fiihlte und erkannt hatte. Und dabei war das Ganze doch so
einfach, so selbst verstandlich. Aber die Menschen hatten sich
von der Selbstverstandlichkeit weggestellt. Sie hatten die Liebe
einfach vergessen, wie man seinen Schirm stehen laBt.
„Man braucht ja nur zu lieben, dann fallt kein Schufi mehr.
Dann ist der Friede da. Kinder sind wir dann auf unserer Erde...
Der ganze Erdteil weint. Daran merkt man doch, daB der Erdteil
fahig ist zur Liebe. Ganz hoffnungslos ware erst dann alles,
wenn Europa lachen wiirde, weil ganz Europa blutet. Aber es
gibt kein Haus in Europa, in dem nicht die Tranen fliefien. Das
ist die Liebe, die aus den Menschenaugen heraus weint, weil sie
vertrieben worden ist aus den Herzen der Menschen."
,,Was tut ihr, wenn jetzt 1m Augenblick ein euch fremder
Mensch in den Saal hereintritt und einem von euch, den er nie
gesehen hat, das Bajonett in den Leib stoBt? Ihr wtirdet den
Wahnsinnigen nicht begreifen. Genau dasselbe tun eure
Manner und Sohne; auch sie stoBen Mannern und Sohnen, die
sie nie gesehen haben, das Bajonett in den Leib, dafi der Durch-
stofiene aufschreit, sich kriimmt und fallt. Was hat er eurem
Sohne getan ? Und was hat euer Sohn dem getan, der lhm das
Bajonett in den Leib stiefi?... Habt ihr euch schon einmal vor-
gestellt, auf welche Weise euer junger Sohn, der so gerne, ach so
gerne noch hatte leben mogen, sterben muBte?... Madchen,
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Leonhard Frank * Der KeUner
157
vergegenwartige dir den letzten Blick deines Brautigams, der
verwundet, diirstend sechs Stunden lang in der Sommerhitze im
Stacheldraht hing. Stelle dir seinen letzten, furchtbar langen
Blick vor.“
„Frau,“ sagte Robert zu einer Erbleichenden, leise, daB es alle
Siebenhundert horten, ,,was hat dein Mann, den du liebtest, der
dir Brot und Kinder gab, dem getan, der ihm das Bajonett in den
Leib stiefi?“
Die Frau wimmerte, ihr Kopf sank dem neben ihr Sitzenden
auf die Schulter.
„Die Menschen sind wahnsinnig, wirklich und wahrhaftig
wahnsinnig, weil sie die Liebe vergessen haben. Und weil sie
die Liebe vergessen haben, glauben sie, es miiBe alles so sein,
wie es ist. Unser Volk, wie wir es sehen, besteht nur noch aus
Kriippeln und elend aussehenden Kindem und Greisen. Wenn
man jetzt noch die ArmeundBeine, die losgetrennten Menschen-
kopfe, die Millionen zerrissenen Leichen, unter denen auch
eure Sohne und Manner sind, von den Schlachtfeldern holen
und auf eure Strafien werfen wiirde, euch vor die Augen,
wiirdet ihr auch dann noch sagen, man muB sich halt damit
abfinden? Oder wiirdet ihr endlich hinknien, bereit zum
Lieben.was auch dabei herauskomme? Wiirdet ihr dann endlich
sagen: ich will nicht leben, wenn ich nicht lieben darf? Wiirdet
ihr einsehen, daB diejenigen, die euch das Lieben verbieten,
Feinde sind? Feinde des Menschen. Volksfeinde! Seht ihr
nicht die Berge von zerrissenen Menschenleibem ? Sieliegenauf
euren StraBen, daB kein Wagen mehr fahren kann und ihr
keinen Schntt mehr machen konnt. Eure Sohne! Eure Sohne!
Eure Manner! Vater! Blutig! Zerrissen! Unkenntlich !“
Ein Schrei stieg aus der Saalmitte empor. Hinten beim
Saaleingang erklang ein tierisches Stohnen. Einem alten Manne
fiel die Stim in die Hand. Ein Madchen verlieB die Stuhlreihen ;
sie hatte groBe Augen bekommen und stiirzte in die Knie.
„Wir diirfen uns nicht langer beliigen und sagen : der Zar,
der Kaiser, der Englander ist schuld." Robert legte langsam
die Hand mit der Serviette an die Brust: „Ich bin schuld. Und
158
Leonhard Frank * Der Kellner
du bist schuld. Und du und du, nicht mehr und mcht weniger
als der Zar, der Englander, der Kaiser und der Milliardar.
Denn auch die nur hatten, ebenso wie wir, die Liebe vergessen.
Nehmt die Schuld auf euch, damit ihr der Liebe wieder teil-
haftig werden konnt. Denn nur, wer hier sich schuldig fiihlt,
kann entslindigt werden und wieder lieben."
„Und jetzt wisset: die Liebe tragt in sich ein hartes Gebot.
Die Liebe sagt: wer nicht liebt ist schuldig und bose und soli
weichen, damit der Liebe auf Erden keine Schranken mehr
gesetzt werden konnen. Wir wollen fallen und sterben dafiir,
dafi der Liebe die Regierung Europas iibergeben werde.“
Die Menschengesichter unten im Saale waren aufgeldst.
Weitersprechend stieg Robert vom Podium herunter. Alle
waren aufgestanden, drangten ihm nach.
,,Das Gebot der Liebe ist: wer sich nicht schuldig fiihlt, die
Schuld nicht auf sich nimmt, liebt nicht, ist unser Feind und
muB weichen. Das ist Gesetz. Neues Gesetz! Ihr, die ihr
nichts mehr verlieren konnt, da ihr alles schon verloren habt...“
Roberts Worte gingen unter in den hundertstimmig wieder-
holten Worten: ,, Alles verloren! Wir haben nichts mehr zu
verlieren! Wir, die wir nichts mehr zu verlieren haben...
Nichts! Nichts!
Die Nachricht hatte sich schon verbreitet, als sie durch die
Strafien zogen. Voran der Kellner, ohne Hut, im schmiengen
Smoking, die Serviette in der Hand. „Die wollen Frieden
machen. Die wollen Frieden machen.“
Verkauferinnen — verwaiste Braute — verhefien den Laden-
tisch und schlossen sich an. Zwei Schaufensterreimger — alte
Manner — liefien die Leiterstehen und schlossen sich an. Der
Wagenfiihrer der Elektrischen horte das Wort „Friede“, er-
starrte und sprang vom Wagen herunter, schloB sich an. Die
Fahrgaste schlossen sich an. In wenigen Minuten hatte sich die
Menge verdreifacht. Und verzehnfachte sich, als Robert, auf
dem Platze angelangt, auf der Brunnenschale stand und sprach.
Sein Mund zeichnete den letzten Satz in meterhohen Buch-
staben an den Himmel: ,,Es ist schon die Axt an dieWurzel ge-
T ff\ ?YS\
.y*K" A
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V
Leonhard Frank ♦ Der Kellner
159
legt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abge-
hauen und ins Feuer geworfen.
Eine junge Frau stand da und tat nichts als lacheln und
,,Friede“ sagen. Reisende, die vom Bahnhof kamen, vergaBen al-
les und schlossen sich an, als die Menge weiterzog. Fiammend.
Schnell. Entziindet vom Glauben. Eine Schar Urlauber,
feldmarschmaBig ausgeriistet, das Gewehr quer iiber dem
Riicken und das Grauen des Schlachtfeldes in den Augen,
schlofi sich an. Alte Miitterchen kamen kaum mit. Kinder
bekamen schmale Gesichter vor Staunen und ahnten das Grofie.
Ein alter Polizeiwachtmeister mit grauem Spitzbart, das
Trauerband am rechten Arm, bekam fanatische Augen und
schloB sich an. Menschen, die dem Zug entgegen kamen,
machten kehrt, vom Feuer ergriffen. Radfahrer sausten durch
die StraBen. „Die wollen Friede machen!“ Die Wirtshauser
entleerten sich. Werkstatten, Baustellen entleerten sich. Trans-
missionen standen still. Eine Abteilung Soldaten unter Gewehr
wurde mitgerissen. Gesange der Liebe ertonten im Marsch-
tempo. Kranke stiegen aus den Betten, schleppten sich ans
Fenster. Kilometerlange Linien von Frauen, schrag bewegt,
trieben aufemander zu, stieBen zum Zuge.
Em Zwanzigjahriger — Fanatismus und Geist auf der Stim —
sprang aus einer menschengefiillten Seitengasse heraus, auf den
Kellner zu, kiifite ihn. Und sein heiBer Blick offnete die Herzen.
Die ganze Stadt war aufgestanden und schrie ein Wort. Friede.
Das so gesprochene Wort wurde zu vieltausendstimmigem, ge-
waltigem Gesange. Alle Kirchenglocken lauteten.
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Theodor Ddubler ♦ Georg Grofi
167
Feodor ‘Daubfer.-
GEORG GROSZ
LT R ist vorlaufig Zeichner und futuristischer Schriftsteller :
* — 4 das ist bei ihm alles eins. Seine Handschrift bezeugt’s : diese
exotische Buchstabenmalerei driickt sein Wesen sehr ausdriick-
lich aus. Er wird demnachst auch Maler sein!
Ob Grofi seinen Namen unterzeichnet, den Rauch einer
Esse verschlangelt, ein Abenteuergesicht mit Tatowierungen
bedeckt, immer der gleiche Zug. Mit Fliegen, Spinnen, anderm
Teufelsgeziicht bezeichnet, stempelt er Verbrechergesichter,
Kitschkasemen, Eisenbahntunnels. Seine Buchstaben sind aber
auch eine Art von Insekten, Vielfiifilern ; ja sogar Kafer findet
man drunter, zumal beim grofien G in seinem Namen Georg
Grofi,
Die Zeichnungen sind sehr voll : er fiillt sie aber nicht eigent-
lich aus, viel eher bespannt er sie mit Linien, mit Drahten.
Etwas vom Telegraphen- und Telephonnetz haben alle seine
Schopfungen : in einigen, zumeist Berliner oder New Yorker
Grofistadterlebnissen, hebt er diese Eigenart ganz besonders
und bewufit hervor.
Wir konnen ohne Zaudern drahten : Georg Grofi augenblick-
lich das futuristische Temperament von Berlin.
Er ist niemals elegisch: seine Cowboy-Romantik, die Him-
melkratzersehnsucht hat sich in Berlin ein vollkommnes Wild-
west zur Tatsache gemacht: er zeichnet namlich nicht, was
er nicht besitzt ; die Gegenstande, die um seinen Schreibtisch,
seine Staffelei stehn, verschwinden, wenn er pathetisch anhebt:
Niggertanze in Hoboken oder grofies Affen - Schauturnen im
31 Vol. m/2
168
Theodor Daubler * Georg Grofi
Urwald. Man kann sich eigentlich kein ernsteres Ktinstlerleben
vorstellen, als beim Zeichner Grofi. Der Schriftsteller ist noch
nicht so Vollblut wie der Bildner, da hangt die Anschauung
faktisch oft in der Luft ; er fiihlt es und lacht iiber die Dame
auf dem Trapez ltn Wintergarten. Er wird sich nie iiber sich
selber argern. Er ist der Zeichner Grofi!
Seine Vorstellung der Grofistadt ist eigentlich apokalyptisch :
er gibt von ihr etwas Kosmisches, vielleicht Meteorhaftes.
Leichenwagen tauchen auf, die Hauser sind geometnsch, nackt,
wie kurz nach einer Beschiefiung. Schnellbahnen iiberstiirzen
sich, wie ein Gewitter zittern sie blitzschnell herein und sind
wieder weg. Die Menschen, meistens blofi der Ausdruck ihrer
Gier, mit zerhagelten Gesichtern, sind bestiirzt; einer iiber den
andern ! Oder sie konnen nicht welter : die Passage ist versperrt.
Ein Leichenwagen. Die Sonne wird genau sichtbar: eine stiir-
zende Kugel! Er bringt iiberall Sternchen an, auch beim blos-
sen Schreiben, rhythmisch verbundne, wie bei einem Stern-
feuerwerk. Oder davonfliegende : auf dem Sternbanner ! Auch
die Streifen auf dem Unionjacht sind ihm kiinstlerisches Er-
lebnis. Sie geben in ihrem Geflatter fast die musikalische Note
fur die daherknatternden Ziige auf Eisenbahnbriicken an. Sein
Wesen sagt: durch die Stadt streifen. Zu einem letzten tato-
wierten Indianermadchen abschweifen : ihr Korper ist mit Strei-
fen und Striemen bedeckt.
Ein Cafe. Die Leute in Ruhe: die innerste Natur besinnt
sich ihrer Entsetzlichkeit. Spieler ringsum : irgend einer wird
durch Selbstmord enden: welcher? Alle sind des Verbrechens
verdachtig. Nur keinen von der Moglichkeit, es zu begehn,
freisprechen ! Alle smd angeklagt. Der Billardtisch wirkt wie
em Sarg. Die elektrischen Lampen scheinen bose Spinnen mit
stechenden Strahlenbiindeln.
Wenn Grofi die Menschen oft summarisch, fast abstrakt,
zeichnet, so wirken Tiirklmken, Wasserhahne, Bogenlampen
haufig ausgesprochen menschlich-korperlich. Eigentiimliche
Beziehungen zu Geschlechtsteilen werden offenbar, die Dinge
wirken aber dadurch unheimlich logisch, scheinen warmer und
Theodor Daubler • Georg Crop
169
besser zu sein, als die Menschen ; allerdings diese Leute bei
GroB sind zynisch, kaltbliitig, unangenehme Patrone.
Aber er hat auch eine friedliche Rheinlandschaft gemalt.
Friedlich wie eine Uhr. Denn alles bewegt sich auf der Zeich-
nung. Ein Ruinenberg mit geduldigem Gesichtsausdruck speit
seinen D-Zug aus dem Tunnelmaul, die Nase erkennt man an
einer vereinzelten Tanne; sie ist eigentlich eine Nasenwarze.
Die Rhemdampfer gischten durch die Flut bei der Pfalz auf
einer Insel vorbei. Der Himmel ist wunderbar voll. Fast iiber-
laden: Ballons, Luftschiffe, eine Sonne, Wolken, alles schwirrt
dahin, aber diese schnurrigen Dinge sind so rhythmisch ange-
bracht, richtig in die Landschaft eingezeichnet, daB sie uns
einen beinah tarifmaBigen, jedenfalls fahrplanartigen Eindruck
machen. In der Ordnung liegt der Friede dieser bewegten
Stunde.
GroB hat auch die alte und neue Zeit auf einer Flache in
Einklang gebracht. Ein Mensch von einer unerhorten Misch-
rasse steht mit Revolver und Beil in der Mitte, ganz korrekt
ist das Bild komponiert. Wie beim Rhein die neue Landschaft
sich auf die alte gesetzt hat, so stehn hier die zwei Zeiten neben-
emander, auch friedlich. Die alte Kirche ist kaum sichtbar
in ihrer zierlichen Kleinheit zwischen Kasernen und Schulen
hineingeengt. Sie macht sich aber horbar, ihre groBen Glocken
lauten, lauten noch immer, ja immer starker. Schiffe schrillen
jedoch noch vernehmbarer vorbei, Industrieanlagen verschieben
die Geometrien der Rebenhiigel. Der Neuling hat einen Revol-
ver: das ist starke Ausdruckskunst, so ein Revolver wirkt als
Symbol eines Beschlusses, sich durch die Widerstande Bahn
zu brechen, hindurchzufeuern. Der Revolver ist bei GroB sehr
deuthch das Sinnbild mannlicher Kraft und Fruchtbarkeit.
Das Leben war niemals so bunt wie jetzt : GroB liebt die
Renaissancehauser aus den Griinderjahren mit Wellblechkup-
peln. Unten ist ein Unternehmen nagelneu eingerichtet wor-
den, der Leichenwagen zieht grade vorbei, man kann aber durch
sein Schwarzgehange blitzschnell ablesen, was auf dem Riesen-
fenster blitzt und blinkt: Restaurant. Abends kommen dort
170
Theodor Daubler ♦ Georg Grofi
die Bierphilister zusammen ; um sie an das Lokal zu gewohnen,
werden vorderhand Negertanze aufgefiihrt, die schwarzen Gri-
massen auf den schwarzen Gentlemananzug ausgedehnt. Beine
spreizen sich, Armesindins Unbestimmte gereckt, eine groteske
Tanzkreuzigung; alles das schwarze Zeug gibt uns aber GroB
durch WeiBverwirkung! Eine Uhr hangt drin irgendwo, sie
nimmt einen gespenstig halbbewuBten Ausdruck an. Das Ge-
triebe ringsum imponiert ihr nicht, zur Stunde ernes Selbst-
mordes im Hause wird sie da unten im Getrubel unbemerkt
stehn bleiben. Erst morgen wird man wissen, was geschehn
ist. Dann fahrt der Leichenwagen vor. Erwird vordem prunk-
vollen Stockgebaude halten.
In einem Akt, den er zeichnete, gibt GroB seine Wehmut,
seine Sehnsucht nach New York, von Berlin aus, hinein ins
tiefste Berlin, wieder. Das entkleidete Modell hat den Ausdruck
seiner Augen. Er wuBte es wohl, als er solches schuf.
Glossen
GLOSSEN
OControffe der auswarifgen
'Pofiiik im Sflusfande.
In der inneren Politik hat sich seit
dem Zeitalter der franzosischen Re-
volution fast bei alien zivilisierten
Staaten das Recht der Volksvertreter
Geltung verschafft, in alle Zweige des
innerstaatlichen Lebens hineinzu-
leuchten, auf Abhilfe oder Besserung
zu drangen, wo sie auf MiBstande
stofien, und bei jeder Gelegenheit
von der Regierung Aufschliisse zu
verlangen. Die auswartige Politik da-
gegen wird noch vielfach als etwas
ganz Besonderes behandelt. Hier
gelten in vielen, selbst sonst fortge-
schrittenen Staatswesen noch die
Regeln des Absolutismus. Dem Volke
wird ein Halt geboten, wenn es auch
auf diesem Gebiete sein Aufsichtsrecht
ausliben will. Die auswartige Politik
wird als eine Art Geheimkunst be-
handelt, die wohl fremde Regierungen
angeht, woran das eigene Volk jedoch
nicht zu riihren hat.
Und doch hangt gerade von der
Fiihrung der auswartigen Politik viel
mehr das Wohl und Wehe der ge-
samten Bevolkerung ab, als von alien
innern Ressorts zusammengenommen.
Schon vor beinahe fiinfzig Jahren hat
Constantin Frantz in seinem be-
kannten Buch uber die Weltpolitik
eingehend begriindet, dafi die aus-
wartige Politik eine „auBerst innere“
Angelegenheit der Nationen ist. Wird
doch durch die auswartigen Verhalt-
nisse hauptsachlich das gesamte Mili-
tarwesen eines Staates bedingt. Die
stehenden Heere beeinflussen im
hochsten Grade das ganze Steuer-
wesen, was wiederum in alle wirt-
schaftlichen und sozialen Verhaltnisse
eines Volkes eingreift. Das durch die
auswartige Politik bedingte Militar-
wesen driickt schlieBlich der ganzcn
Staatsordnung seinen Stempel auf.
Je militarischer sich ein Staat ent-
wickelt, um so geringer werden die
politischen Freiheiten. Militarismus
driingt seiner Essenz nach auf Zen-
tralisation und Absolutismus. Aus der
auswartigen Politik entspringen die
Kriege, welche die Existenz selbst der
Volker gefahrden und jedenfalls deren
Einsatz an Blut und Gut heischen. Aus
den Kriegen stammt der groBte Teil
der Schulden des Staates, und diese
Lasten zehren oft auf Generationen
hinaus an dem Marke der Nationen.
Bei dieser ungeheuren Wichtigkeit
der auswartigen Politik fiir die Frei-
heit und Wohlfahrt der Volker ist es
mit Freuden zu begriiBen, dafi auch
in Deutschland die Volksvert retun g
sich riihrt und EinfluB auf die
Fiihrung der auswartigen Geschafte
zu gewinnen versucht. Es diirfte da-
her am Platze und niitzlich sein, die
V
172
Gloss en
Einrichtungen zu betrachten, die in
dieser Beziehung in emigen wirklich
parlamentarisch regierten Staaten be-
reits bestehen :
In Gngfand bat das Kabinett ge-
wohnheitsgemafi die friiheren Praro-
gativen der Krone bei der Fiihrung
der auswartigen Geschafte iibernom-
men mit verhaltnismafiig geringer Ein-
mischung des Parlamentes. Nur ein-
mal im Jahre wird im Unterbause die
auswartige Politik bei der Beratung
iiber das auswartige Budget einge-
hender besprochen. Dafiir haben die
Abgeordneten allerdings ein weitge-
bendes Fragerecht. Die dem Frage-
steller durch den Vertreter des Aus-
wartigen Amts erteilten Antworten
sind aber oft sehr diplomatischer Natur,
so daB man daraus nicbt viel ent-
nebmen kann.
Scbon vor dem Weltkrieg verlangte
daber ein Teil der engliscben offent-
lichen Meinung mehr Kontrolle in
auswartigen Angelegenbeiten. Jetzt ist
es besonders der friibere Diplomat
Arthur Ponsoby, Mitglied des Parla-
mentes, der in Wort und Schrift fiir
die Schaffung eines standigen Parla-
mentsausschusses zur Kontrollierung
sondern, dafi die Regie run ggeschafte
abwecbselnd von zwei groBen Parteien
gefiihrt werden. Die jeweilige Oppo-
sitionspartei iibt allein durch ihr Da-
sein eine bestandige Kontrolle dariiber
aus, daB die auswartigen Geschafte
den allgemeinen Volksinteressen ent-
sprechend gefiihrt werden. In dem
Augenblick, wo die Ansicht des Kabi-
nettes mit der Meinung der Mehrheit
nicbt mehr iibereinstimmt, hat das
Parlament zudem ja das Recht, dieses
Kabinett durch ein MiBtrauensvotum
zu beseitigen.
Wahrend des Krieges hat England
als Neuerung die Abbaltung von Ge-
heimsitzungen des Parlamentes einge-
fiihrt und dadurch ein vortreffliches
Mittel gefunden, in vertraulicher Weise
die Volksvertretung aucb iiber die
Fiihrung der auswartigen Politik zu
unterrichten.
Das Haus der Lords beschaftigt
sicb viel haufiger mit der auswartigen
Politik als das Unterbaus. Die De-
batten im Oberhaus sind wirkungs-
voller, weil hier eine viel groBere An-
zahl Manner sitzt, die im Ausland gut
Bescheid wissen. Nach der Zusammen-
setzung dieser Versammlung ist es aber
nur zu natiirlich, daB die Volksinter-
der auswartigen Politik eintritt. Seiner essen bei den Debatten iiber die aus-
Initiative verdankt England die Griin-
dung der „ Union of Democratic
Control11, welche nicht nur die Kon-
trollierung, sondern auch die Demo- In <Frankreicfi diirfte die Kontrolle
wartige Politik keine zu groBe Rolle
spielen.
kratisierung der Diplomatic erstrebt.
Wenn es scbeinen mochte, als ob
das englische Volk in der auswartigen
Politik bisher nicht viel Einflufl ge-
habt hatte, so darf nicht aufier acbt
gelassen werden, daB in diesem Lande
keine biirokratische Regierung besteht,
der auswartigen Politik heute wohl am
weitesten fortgeschritten sein. Die
franzosische Deputiertenkammer be-
bandelt die auswartige Politik, abge-
sehen von den haufigen Debatten in
den Plenarsitzungen, eingehend jedes
Jahr bei der Beratung des Haushaltes
Glosscn
173
des auswartigen Ministeriums in
der Generalbudgetkommission. Diese
Kom mission wtrd von der Kammer
alljahrlich ernannt. Sie besteht aus
44 Mitgliedern. Die Kommission er-
stattet am Ende jeden Jahres der
Kammer einen sehr wertvollen Bericht
auch iiber die auswartige Politik Frank-
reichs.
Einen weit groBeren EinfluB iibt
aber das sogenannte ..Grand Comite44
aus. Es ist dies ,,La Commission des
Affaires exterieures et coloniales44. Es
wird von der Kammer fur die ganze
Legislaturperiode von 4 Jahren ge-
wahlt und zahlt ebenfalls 44 Mit-
glieder, die von den verschiedenen
Parteien im Verhaltnis zu ihrer nu-
merisehen Starke gestellt werden. Die
Hauptaufgabe dieser Kommission ist,
sich iiber besondere auswartige Fragen
zu informieren und der Kammer dar-
liber zu berichten.
Das , .Grand Comite “ bat das Recht,
alle Personen vor sich zu laden,
deren Aussagen fiir die vorliegende
Frage von Interesse sind. Bei Vor-
ladung von Beamten des auswartigen
Dienstes ist jedoch die Genehmigung
des Ministers einzuholen, der dabei
bestimmt, in welcher Weise etwa die
Beamten Dienstverschwiegenheit zu
beobachten haben. Auch die Vorlage
von Akten und Dokumenten kann das
Komitee verlangen.
Bei Unstimmigkeiten mit dem aus-
wartigen Minister entscheidet die
Kammer. Der Minister kann von dem
Komitee um sein Erscheinen gebeten
werden. Seit dem Kriegsbeginn ge-
schieht dies sogar haufig, wenn auch
der Theorie nach der Minister zum Er-
scheinen nicht gezwungen werden kann.
Man kann ohne Obertreibung be-
haupten, daB zurzeit dieses groGe
Komitee die auswartigen Geschafte
Frankreichs vollstandig kontrolliert.
Selbst der Ministerprasident muB
sich den Wunschen oder Aufforde-
runcen dieser Versammlung fiigen,
und auch die EntschlieBungen der
alliierten Regierungen sind schon
haufig durch die Haltung dieses Ko-
mitees beeinfluBt worden.
Nachdem auch Frankreich Ge-
heimsitzungen der Kammer eingefiihrt
hat, sind die Mitglieder des aus-
wartigen Komitees in der Lage, den zu
diesen Geheimsitzungen vorgeladenen
Diplomaten in vollster Kenntnis der
diplomatischen Verhaitnisse mit Auto-
ritat gegeniiberzutreten, ein Umstand,
der fiir die ganze zukiinftige Entwick-
lung der franzosischen Diplomatic von
grofiter Bedeutung sein wird.
Endlich kann dieses Komitee in be-
sonderen Fallen von der Kammer mit
der Fiihrung einer Untersuchung be-
auftragt werden. Das Komitee besitzt
dann das Recht, Zeugen eidlich zu
vernehmen und Nachforschungen, so-
gar im Auslande, vorzunehmen.
Im Senat gibt es keine besondere
auswartige Kommission. Gegebenen-
falls iiberlaBt der Senat die Priifung
einem Spezial-
komitee oder er beauftragt damit die
Finanzkommission, die iibrigens die
gleichen Befugnisse hat wie das ..Grand
Comite14 der Kammer.
In den ^Oeremifften Staaien von
Hmerika war man sich schon bei
der Einfiihrung einer Verfassung dar-
iiber im klaren, daB der Exekutive
keine zu groBe Macht einzuraumen
auswartiger Fragen
V
74
Glossen
sei, wenn man Mifibrauche vermeiden
wolle. Anderseits trug man Bedenken,
einer gewahlten Korperschaft allein
die Fiihrung langwienger diploma-
tischer Verhandlungen anzuvertrauen.
Man stellte daher den Grundsatz auf,
daB der Exekutive, d. h. dem vom
Volke ohne Mitwirkung der gesetz-
gebenden Korperschaften zu wahlen-
den Prasidenten die Initiative in aus-
wartigen Angelegenheiten zustehen
solle, wahrend die Sanktion der Ver-
handlungen dem Senat vorbehalten
blieb. Dieser bestand allerdings da-
mals aus einer verhaltnismafiig nur
genngen Anzahl von Personen, so daB
ihm die praktische Ausiibung der
Kontrolle leicht fiel.
Mit dem Wachsen der Nation ist
der Senat dazu iibergegangen, zur
standigen Oberwachung der aus-
wartigen Geschafte des Prasidenten
ein besonderes Organ zu schaffen:
das ,,Comittee on Foreign Relations'*,
das aus 1 5 Mitgliedern besteht. Von
diesen gehoren 9 der Mehrheits-, 6
der Minderheitspartei an.
Der gesamte Senat kann auswartige
Fragen in sogenannten ,, executive
sessions" behandeln. Diese Sitzungen
sind vertraulich; das Publikum hat
keinen Zutritt.
Neben diesem, fiir die amerika-
nische auswartige Politik sehr be-
deutungsvollen Senatskomitee besteht
noch ein auswartiges Komitee des Re-
prasentantenhauses: ..Committee on
Foreign Affairs" genannt. Es hat 21
Mitglieder; 14 gehoren zur Mehr-
heit, 7 zur Minderheit. Diese Kom-
mission hat nur geringe praktische
Wirkung. Dafiir hat das Reprasen-
tantenhaus aber das Recht, jederzeit
Diskussionen liber die Fiihrung der
auswartigen Geschafte herbeizufuhren,
ein Recht, das der Senat natiirhch
ebenfalls besitzt. Beide, das Komitee
des Senats wie das der Kammer,
konnen Zeugen laden und vernehmen.
Sie haben zwar kein geschriebenes
Recht, diplomatische Dokumente ein-
zufordern. In der Praxis geschieht
dies jedoch regelmaBig und zwar in
der Weise, daB der Vorsitzende des
Komitees den Prasidenten oder dessen
Vertreter, den auswartigen Staats-
sekretar, um Vorlage der gewlinschten
Akten ersucht.
Die so erlangten Informationen
pflegen vertraulich behandelt zu
werden. Jedoch konnen die beiden ge-
setzgebenden Hauser auch beschlieBen,
bestimmtes Informationsmaterial der
Offentlichkeit zu iibergeben. Dies
geschieht aber fast nur bei Fragen von
groBem allgemeinem Interesse.
Die Beratungen beider Komitees sind
geheim. Die Komitees konnen Unter-
kommissionen bilden zur vertraulichen
Berichterstattung an die Hauptko-
mitees.
Fiir den Verkehr der Exekutive
mit dem Senatskomitee fiir die aus-
wartigen Geschafte bestehen keine
bestimmte Regeln. Im Laufe der Zeit
hat sich jedoch die Gewohnheitheraus-
gebildet, daB sowohl der President als
der auswartige , .kretar mit den
fiihrenden Mitgliedern des Senats-
komitees in standiger und enger
Fiihlung bleibt.
In Otatien hat die Regierung eine
ziemlich groBe Unabhangigkeit in
der auswartigen Geschaftsfiihrung.
Das Parlament iibt aber die Ge-
V
Glossen
175
neralkontrolle iiber die auswartige
Politik, eine Oberwachung, die es
durch Interpellationen, Fragen und
Aktenvorlagen ausiibt.
In ® efgien besitzt nur der Senat
erne standige Kommission flir die
Priifung diplomatischer Vertrage.
Endlich moge bier noch auf die
niederfandifcfie Verfassung hingewie-
sen werden, bekanntlich eine der alte-
sten Europas. Nach dieser Verfassung
kann auf Verlangen des Prasidenten des
Abgeordnetenhauses oder eines Zehn-
tels der anwesenden Abgeordneten eine
Geheimsitzung stattfinden, in der auch
Beschliisse gefafit werden konnen. Auf
Wunsch des Prasidenten oder nur eines
Abgeordneten kann der Kammer Still-
schweigen iiber die in der Geheim-
sitzung behandelten Gegenstande auf-
erlegt werden.
Das niederlandische Parlament hat
das Recht auf Aktenvorlage, auch kann
es ein Komitee wahlen zur Anstellung
einer Untersuchung iiber die Geschafts-
fiihrung des auswartigen Ministers.
Wenn diese wirklich parlamentarisch
regierten Lander trotz der Mtfglich-
keit, die Regierung jederzeit zu Falle
zu bringen, es fur notig befunden
haben, besondere Kautelen dafiir zu
schaffen, daB der Wagen der auswar-
tigen Politik nicht auf Abwege gerat,
um wieviel notiger, sollte man meinen,
waren solche SchutzmaBregeln in einem
Lande wie Deutschland, wo das Par-
lament letzten Endes nur iiber Schein-
rechte verfiigt, und wo es im Belieben
des Monarchen liegt, ein fehlendes
Biirokratenregiment beizubehalten oder
zu beseitigen. Aus diesem Grunde
sollte eine etwaige Reform auf diesem
Gebiete auch nicht, wie wir dies so-
eben in einigen Landern gesehen haben,
auf halbem Wege stehen bleiben, son-
dern man sollte, ahnlich wie die Vol-
ker, die von der Tranlampe direkt
zum elektrischen Funken sprangen,
die Erfahrungen anderer Volker sich
zunutze machen, um gleich zu einem
praktischen Ergebnis zu gelangen.
Dies liefie sich am besten erreichen,
wenn ein standiger ReichstagsausschuB
fur auswartige Angelegenheiten ge-
schaffen und dem Reichstage die Be-
fugnis verliehen wiirde, uber wichtige
auswartige Fragen in Geheimsitzung
zu beschlieBen. ..
(J/v/s diplomat jcus.
‘Drudcfefifer. In der Oktoberglosse
von Civis diplomaticus muB es auf
Seite 69, 2. Spalte, Zeile 13 von oben
statt „AusschuB“ iflusfand heiBen;
so daB die Stelle lautet : „Gerade davon,
daB im Ausland der richtige Mann
auf dem richtigen Posten steht, hangt,
wie wir alle heute wissen, das Wohl
und Wehe Tausender ab.“ —
Die „Kreuzzeitungf* zitiert aus der
„DeutschenVolkswirtschaftlichen Cor-
respondenz“ einen Artikel, der die
Oberschrift tragt: „ ^Werden Gefandt*
(cfiaftsbericfite immer beacfitet /*' In
diesem Artikel wird darauf hingewie-
sen, daB unsere Botschaften und Ge-
sandten im Auslande sich gegen den
Vorwurf der Unzulanglichkeit der
diplomatischen Vertretung Deutsch-
lands schon deshalb vor der breiten
Offentlichkeit nicht rechtfertigen kon-
nen, weil sie sich auf ihre geheimge-
haltenen Berichte nicht berufen oder
fordem konnen, daB nachgepriift wer-
den soli, „ob und inwieweit diese von
V
176
Glossen
der allein maBgebenden verantwort-
lichen Zentralstelle befolgt oder ge-
flissentlich miBachtet worden sind.“
,,Ein beachtenswerter Fall liegt vor,
der zur Vorsicht im Urteil iiber ge-
sandtschaftliche Tatigkeit mabnt. Im
ungarischen Reichstage war die Diplo-
matic Osterreich-Ungarns lebhaft be-
schuldigt worden, dafi sie iiber die
kritische Lage in Rumanien nicht
unternchtet gewesen, von der ruma-
nischen Kriegserklarung iiberrascht
worden sei und daher fiir den Einfall
der Rumanen in Siebenbiirgen vollig
ungcniigende Vorbereitungen getroffen
worden seien. Im besonderen richte-
ten sich die Anklagen gegen den Gra-
fen Czernin, den osterreichisch-unga-
rischen Gesandten in Bukarest, der
sich wie andere dortige Vertreter habe
tauschcn lassen. Das Wiener Rotbuch
iiber die Vorgeschichte des rumani-
schen Krieges bedeutet jedoch fiir den
Grafen Czernin einen vollstandigen
Freispruch von jeglichem Vorwurf.
Seine Berichte haben sich durchweg
als durchaus zutreffend erwiesen; er
hat sogar den Ausbruch des Krieges
mit Rumanien fast auf Tag und Stunde
richtig vorausgesehen. Das Auswar-
tige Amt in Wien ist also von seinem
Vertreter in Bukarest auf das beste
unternchtet und auf den rumanischen
Krieg vorbereitet worden. Offen indes
bleibt noch die Frage, ob durch das
Rotbuch ebenso wie Graf Czernin auch
die Wiener Zentralstelle als vollstandig
entlastet anzusehen sei.“
Das Blatt zitiert dann weiter einen
Wiener Artikel der ^Frankfurter Zei-
tung41, der feststellenzu konnen glaubt,
daB man in Berlin sehr empfindlich
gegen jedes aufnchtige Wort iiber die
Bukarester Machthaber gewesen sei.
An Warnungen habe es wahrhaftig
nicht gefehlt. Die ,,D. V. C.“ schliefit
ihren Artikel mit den Worten :
„Die Zeit eignet sich jetzt nicht,
die hier aufgeworfene Frage des Nahe-
ren zu erortern und den AufschluB
zu erstreben, ob etwa der Ausruf be-
griindet sei: Was niitzen die besten
Gesandt schaft sber ichte, wenn
siedort,wosie Beriicksichtigung
zubeanspruchen haben, beharr-
lich in den Wind geschlagen
werden! Vielleicht erlangen erst
unsere Enkel hieriiber Aufklarung,
falls ihnen einmal die gesamten Akten
des Auswartigen Amtes zuganglich sein
sollten. Aber dann freilich ware es
zu spat, Schuldige zur Verantwortung
zu ziehen.44
Dazu der f,Vorwarts,,:
,,Das ist zweifellos richtig, und
zwar nicht bloB in dem Spezialfall
Rumanien .
(Vom Zufcunfligen.
,,Von dem, was der Mensch sein
sollte, wissen auch die Besten nicht
viel Zuverlassiges, von dem was er ist,
kann man aus jedem etwas lernen“
(Lichtenberg, Aphonsmen) — und,
so konnte man hinzusetzen, was er
gewesen , darum kiimmern sich alle
am eifrigsten. Gewesenes, Bestehen-
des, Zukiinftiges: Noch nie sind aller
Augen mit solcher Spannung gleich-
zeitig zwischen diesen drei Richtungen
hin und her geirrt, wie gerade jetzt.
Glossen
Ml
Das neunzehnte Jahrhundert hatte gibt an etwas mdglicherweise einmal
mit einer idealiftifchen Stromung dewefenes , der diirfte, wenngleich zu-
eingesetzt, die nach dem groBen Zu- nachst noch ganz zaghaft, auch an das
sammensturz erst jenseits, dann dies- moghcherweise einmal — ^Werdende
seits des Rheins neue Krafte gewann sich hingeben, wenn irgendwelche
durch die Hingabe an Zufc&nftiges. Wandlungen in der Gegenwart ihm
Bald glaubte man dem fernen Ziele dies wieder begehrenswert machen.
nahe gekommen zu sein, und statt Ahnlich nun wie vor einem Jahr-
dieses von neuem weiter hinauszu- hundert Revolution und Krieg den
stecken, richtete sicb die ermiidende AnstoB gaben zur Neuorientierung der
seherische Kraft auf immer naher, Grundtendenzen, so erfolgt auch jetzt
aber nicht immer tiefer Liegendes. eine Ablenkung von der einseitig iiber-
So kennzeichnet die Konzentration wiegenden Beachtung und Schatzung
der Aufmerksamkeit auf das Beste - der Vergangenheit. Die Un wieder-
fiend e die folgende, die materia b ft /• bringlichkeit alles Friiheren, die Ver-
fcbe Richtung, — eine Zeit, in der ganglichkeit auch des muhsam Kon-
keine oder nur ein MindestmaB wert- servierten, die Nutzlosigkeit alles hin-
regulierender Normen anerkannt wur- ter der Gegenwartsschwelle Zurlickge-
den, die iiber die Zeit hinaus zu grei- lassenen wird erschreckend klar. Im
fen erlaubt hatten. SchlieBlich aber, Gegensatz dazu steigt alles Gegenwar-
seit dem Historismus gegen Ende des tige, selbst kleinste Quantitaten eines
Jahrhunderts, hat sich die Vorliebe irgendwie Vorhandenen und minimale
dem Gewefenen zugewandt, vielleicht Bruchteile nutzbar zu machender Krafte
um dort solche Normen wieder zu fin- auBerordentlich im Wert; aber am lei-
den, die iiber das so und nicht anders denschaftlichsten richtet sich der Blick
sein, iiber die brutale Realitat alles auf die durchaus nicht mehr mutmaB-
materiell Gegenwartigen hinwegheifen lich sichere, vielmehr fragwiirdig ge-
konnten. Dieser Cberschatzung der wordene Zukunft. Die unbegrenzten
Vergangenheit, dieser Sentimentalitat Moglichkeiten des Schlimmen, das sie
stehen wir noch nahe, ihr unterliegen birgt, sollen einigermafien aufgewogen
heute noch die meisten. Ein urspriing- werden durch neue, gleichfalls ver-
lich verstandliches Streben nach nick- starkte Moglichkeiten des Guten.
wartigerOrientierung, nachBestarkung Darauf also zielt dasWollen, spannt
im eigenen Schaffen ist hier zum Selbst- sich die Sehnsucht : Noch Kraftvolleres
zweck, ja zu einer Art von Fetischis- und doch Milderes, Hoheres, das doch
mus geworden, durch den der Blick tiefer eingebunden ist, Reineres, Un-
fur die Gegenwart und mehr noch fur verlierbares zu gewinnen. Und nicbt
alles Zukiinftige getriibt werden muB. mehr sich abzufinden mit der „Reali-
Hier aber beriihren sich die Extreme, tat“ der Dinge, auch sich nicht genii-
es schlieBt sich der Kreislauf der Mog- gen zu lassen an der bescheidenen
lichkeiten in einer unteren, machtigen, Gleichwertigkeit mit einem Friiheren.
unsichtbaren Kulmination der Ge- So ist es denn die verachtlichste
stirne. Fur den, der sich seelisch hin- Gesinnung, die da spricht: Es ist nun
V
Glossen
einmal so . . . Und am verderblichsten,
Mut lahmend und Hoffnungerstickend
das besanftigende Floten des Hirten,
der da denkt: so muB es bleiben, denn
es ist immer so gewesen.
Vergessen ist fur den, der empor-
fliegen will, was frtther da war. Not,
Tod und Verderben, die ihm bange
machen konnten. Immer kleiner wird
unter ihm das, was da ist, riesengroB
aber offnet sich vor ihm das unbe-
grenzte gestaltlose Reich, — das Meer
der Moglichkeiten.
Das sind die seligsten Gefiihle
unserer Zeit. GewiB sind Umkehr,
Abstieg und Landung — auf dem festen
Boden der Gegenwart — immer wie-
der notig. Aber so sehr auch die Zu-
riickgebliebenen, die Bedenklichen,
dann aufatmen mogen, — was ihnen
den Emporgehobenen wieder nahe
bringt, ist doch immer nur das Zuge-
standnis an die Unzulanglichkeit, an
die Unmoglichkeit der Verwirklichung
in einem Zug, von einem einzelnen.
Nein, alle miissen wollen und es immer
von neuem versuchen.
Und wer e*was weifi ,,von dem,
was der Mensch sein so!lte“, wer es
klarer sieht und eindringlicher sagen
kann, der verkunde es laut, jetzt da
alles lauscht und jeder hofft, heute,
da viele sich an die Stirne greifen und
alle kleinlichen Gedanken und engen
Bedenken wegscheuchen. — Ent-
schliefit euch heute, damit nicht mor-
gen vielleicht schon der kaum verjagte
Schwarm des Alltaglichen von euch
Besitz genommen hat, der Staub des
Gewesenen eure Seele wieder bedeckt.
after J2. buffer- ^Wuficow.
„Vom cfcfiafi wer 6 der
Gedanken* .
Der Kritiker vergesse niemals, daB
er nur die <S ntstelfungen des Voll-
kommenen vemichten kann; er be-
findet sich in jedem Fall dem Voll-
kommenen gegeniiber. Aber wie auch
die strahlende Reinheit erfahrungs-
gemaB immer bereits leise gefarbt
ist; wie der ideale Punkt sich in
seiner Verwirklichung sofort aus-
dehnt und hochstens als Zeichen den
eigenthchen Punkt bedeutet; so ist
das eigentlich Vollkommene allent-
halben zwar vorhanden, aber nur als
Gleichnis, als Bedeutung, als Ober-
setzung aus der vo’llkommenen Idee
in die sie verwirklichende Erscheinung;
und diese Interpretation, eigentlich
niemals restlos, me besser als nur
gleichsam gelingend, kann sehr fehler-
haft sein und bedarf stets des wach-
samen, priifenden, ratenden und heU
fenden Kritikers. Sogar der soge-
nannte Schund bedeutet das Voll-
kommene selber, aber er bedeutet es
miserabel.
Schleich (Carl Ludwig; S. Fischer,
Verlag, Berlin) iibersetzt weder gut
noch schlecht. Seine Sprache ist die
Prosa eines Fachmannes, eines Arztes,
welchem Philosophic und Poesie nur
zu rednerischem Schwunge verhelfen.
Wenn der Schatten des Pegasus auf
seinem Kameraden von der andem
Fakultat rastet — ein nachdenklich
stimmender Anblick!
Dieser beriihmte Physiolog ist kein
Materialist. Er ist besonnen genug.
Glossen
179
das Instrument, speziell das Gehirn,
nicht fiir den Instrumentenmacher
und -benutzer zu halten. Das Gehim
ist kein Wille; wohl aber vermittelst
einer Art Muskulatur, deren Obungs-
fahigkeit Schleich nachzuweisen sucht,
dem Willen unterstellt. Schleich ist
davon durchdrungen, dafi die Welt
nur die Manifestation der schopferi-
schen Weltseele, also der eigenen im
allerinwendigsten Erleben, im ent-
menschten, gottlichen Sinne ist; leider
findet er diese absolute SelbstgewiB-
heit nur okkult und theosophisch:
,,hier verlischt der Strahl der Wissen-
schaft." Aber im Gegenteil, ohne
diese prinzipielle Selbstvergewisserung
existiert die Wissenschaft nur im
Rohzustande, ohne alle philosophische
Kultur der innersten, iibermensch-
lichen, kosmischen Selbstbesinnung.
Das Gehirn besteht aus Halften, die
durch breite Kabel verbunden sind;
und Schleich sucht es wahrscheinlich
zu machen, dafi die linke Halfte niich-
tern wahrnimmt, die rechte phantasie-
voll dariiber reflektiert; daB sie sich
gegenseitig beobachten und regulieren ;
und endlich wieder links Begriff und
Wort sich als Fazit ergeben; das Ver-
bindungskabel ermoglicht den Wech-
selstrom. DaB Gegenseitigkeit, ver-
mittelst eines Kabels, obwalte, ist
evident. DaB aber diese Gegenseitig-
keit sich analog verhalte wie Pansa und
Quixote oder Mephistopheles und
Faust, scheint uns problematisch. Alle
Gegenseitigkeit polarisiert sich aus
dem Identischen und deutet von ihren
Polen aus darauf zuruck. Daher
ist anzunehmen, daB verborgener *
weise das rechte Him ebenso funk-
tioniere wie das linke; und umgekehrt.
In der Tat, waren Quixote und Pansa
nicht prinzipiell identisch (welche
Identitat allerdings nicht vorstellbar,
sondern eben der Vorstellende selber
ist; eben sie ist die Beobachterin beider
Gehirnhalften), wenn sie auch in der
Erscheinung extrem kontrastieren, so
konnten sie gar kein gegenseitiges Ver-
haltnis eingehen. Also beobachtet auch
nicht die eine Gehirnhalfte die andere,
sondern ihre Identitat, die Schopferin
ihrer Gegenseitigkeit beobachtet beide.
Das schopferisch Identische offenbart
sich in der Form eines Widerstreits, der
den noch seine eigene Identitat bedeutet .
Vor demTribunal dieser sind die Fausts
und Quixotes nicht edler, idealer als die
Pansas uud Mephistophelesse; sie sind
nur deren Umdrehungen, Obertreibun-
gen ins andre Extrem. Und erst ihre
Identitat ist die echte Idee, abzielend
auf das echte Ideal.
Wenn Schleich nun konstruiert :
entweder geht es von links, der sinn-
lichen Wahrnehmung, nach rechts,
zur Phantasie, und von dieser nach
links zuruck, zum Worte; oder von
rechts nach links, aber von links dann
sofort zur Tat des Willens, zur Hand-
lung ; wenn er zur Stiitzung dieser Drei-
heitskonstruktion Kant und Mauthner
zusammen aufbietet; so beginnt unser
Langmut ungeduldig zu werden. Es
handelt sich vorallem um den identisch
Handelnden, und dieser betatigt sich
evidentermafien in einem Gegensatz
der Himhalften, der Augen, Ohren,
Nase, Sinne, Arme, Beine etc. Die
Zahl drei bedeutet ohne Vorzeichen
gar nichts; ihr Vorzeichen ist aber
entweder plus oder minus. Wer nun
eine Dreiheit konstruiert, ohne darauf
zu achten, daB er eine dreifach sich
180
Glossen
wiederholende Gegenseltigkeit vor sich
habe, ist unachtsam. Auch Dimension
ist bereits in sich gegenseitig ; und Drei-
dimensionalitat ist dreierlei Gegen-
seitigkeit. Der ganze Text des Ver-
fassers (und beilaufig auch seines
Leibphilosophen Mauthner) bedarf
einer Oberpriifung an der Hand der
identischen Idee, welche sich differen-
ziert, unterschiedlich, kontrastierend,
gegenseitig widerstreitend offenbart,
sei es nun sinnlich, phantastisch oder
auf andere Weise tatkraftig wirksam.
Unterscheiden bedeutet wesentlich im-
mer: kontrastieren, gegenseitig ma-
chen, entzweien; ob man auf 3 oder
88 Weisen entzweie, ist zufallig. Der
vermeintliche Philosoph Mauthner
idenfiziert Denken mit Sprechen,
Logik mit Grammatik, welches aber
nur komisch, nicht philosophisch ist.
Zwischen Kant und Mauthner ist ein
Unterschied wie zwischen dem Kri-
tiker der Sache selbst und dem Kri-
tiker, der, das Zeichen fur die Sache
haltend, mit seiner ganzen Kritik nur
das Zeichen trifft: erne bestechende
schemphilosophische Leistung, welche
bestenfalls philologisch verdienstlich
ist. Von Kant versteht aber Schleich
noch weniger als Mauthner. Natur-
gesetze sollen nach Schleich ,,eme
Gnade der Vorsehung4* sein. Aber so
denkt kein Denker: Beten, so wunder-
voll riickstandig es sein mag, ist noch
kein Denken, nicht einmal populares.
Die Idee ist kein Gegensatz lhrer Ma-
terialisation, die Seele kein Gegensatz
des Leibes, sondern sie materialisiert
sich polar; inkarniert sich in emem
Widerstreit, — z. B. beider Gehirn-
halften. Und dieser oft so qualvolle
Widerstreit schlichtet sich restlos allein
unter dieser Bedmgung, daB die Idee,
daB die Seele selber sich rein, identisch
rein vom Widerstreite ihrer eigenen
Verwirklichung halt, — nur so wird
der Widerstreit zur Harmonie, zum
widerspiegelnden Ebenbild der see-
lischen Reinheit von aller Differenz.
Trotzdem Schleichs Buch eigentlich
dem Problem gewidmet ist, wie man
mit eigenem Willen auf die Korrektur
der Polaritat hinwirken konne, faBt
er dieselbe doch gleichsam als gottge-
geben fatal auf: ,,Und so steht wohl
am Ende das Konto von Lust und
Leid bei uns alien ganz gleich." Ei ei !
Wie harmonisch, saturiert, abgeklart!
Aber ich bitte Sie flehentlich: ohne
Dero allerhochste Willensanstrengung
steht es schief . Merken Sie denn nicht,
Vertrauensseliger, daB das Konto nur
stimmt, wenn der Kontorist stimmt?
Naturgesetze, Polaritaten, Inkarna-
tionen hangen vom eigensten Willen,
allerdings in seiner religios gottlichen,
weltprinzipiellen, nicht etwa mensch-
lich - allzumenschlichen Wirksamkeit
ab. Sie verbessern die Welt, wenn
Sie sic6 verbessern, d. h. sich inner-
lichst von aller Gebrechlichkeit aus-
heilen. Alles AuBen ist die Wirkung
des eigenen Innern. Wer dieses allzu-
menschlich kultiviert, anstatt es rein
zu vergottlichen, schreibe sich die
Gebrechen des AuBens aufs eigene
Konto. Probieren Sie sich einmal
selbst auf erhabenste Manier, mit
unmenschlich freiem Willen — und
passen Sie auf, warten Sie ab, wie dann
das Aufien Iangsam, aber sicher den
Herrn spurt und sich ihm unterordnet,
wie dem Orpheus das sonst tote Ge-
stein. Meistenteils nimmt sich das
eigene Selbst als Geburtstagsgeschenk
Glossen
181
hin. Willkiir ist aber nicKt nur, wie sind alle ein biBchen Jesuiten44; so so.
Sie vermuten, ein Einflufi, der auch Interessante Konfession! Der „Ge-
dort noch wirkt, wo er gar nicht mit- samtwille4* ist aber nicht „ein biB-
zuspielen scheint. Sondern der freie chen" Jesuit: was dieser Gott tut, ist
Wille ist der liebe Gott selber in eigener wohlgetan ; er braucht kein gewisses
Person, der Schopfer der Welt, wel- Augenzwinkern, keine „zwei Geleise.44
chem diese aber erst willfahrt, wenn Sei die Zunge doppelt; wenn aber der
er die Menschlichkeit von sich abtut, Wille, der sie sprechen laBt, kein
sie zur Welt rechnet, sie aus sich Jesuit, sondern gottlich, ,,Ge$amt-
evakuiert, expropriiert. Probieren Sie wille* 4 ist, so reimt sich die eine Zunge
diese Kultivierung des eigenen Wil- mit der andern zum Gedicht und Ein-
lensl Sie wird in fiinf Jahrzehnten klang, und kein biBchen Jesuitismus
reifer fruchten als fiinf Jahrtausende ist notig. Sie wollen I hr Ich freudig
anderer Kulturen. Sie wiirde, Kindern einer Idee unterordnen, event, sogar
in der Schule beigebracht, dergestalt, dem obersten Kriegsherrn. Wie
daB diese sich selber nicht mehr schade, daB ein sich unterordnendes
ordinar, daB sie Gott nicht aufien, ,,Ich4‘ gar kein Ich, sondern etwa nur
sondern in sich, daB sie sich gottlich ein Menschenleib ist: das Ich, das
kennen lernten, das ganze gefalschte Selbst, der Wille ist die Freiheit
Weltkonto berichtigen und die Welt selber, herrscht unfehlbar, ist gottlich,
selber zum Stimmen bringen. Es ist nicht menschlich; und irgend einen
verdriefilich, wenn so tiefe Bucher sich ihm unterordnenden Menschen
wie das Ihrige, Professor, so ahnungs- statt eines Gliederspiels fur ein ,,Ich4‘
los und dennoch mit philosophischer zu halten, ist eine wegen ihrer Ge-
Ambition geschrieben werden. Wie brauchlichkeit nicht minder grobe Ver-
erleben Sie den Willen? — ,,AIs ein wechslung.,,AusloschungdesEgoismus
Kombinationsspiel zwischen bewuBter zugunsten der Erhaltung der Nation44
und unbewuBter Aktion.44 Das be- — aber Sie denken etwas andres als Sie
weist aber, daB Sie ihn nur gebrochen sprechen: Sie meinen offenbar die Er-
erleben, daB Ihr Wille sich zum Teil setzung des allzumenschlichen, des
als gewollt empfindet, kein ganzer Pseudoegoismus durch den echten des
Wille, nicht individual ist; halb zieht ..Gesamtwillens*4, der aber dann auch
es ihn, halb sinkt er hin; halb anima- noch dem nur nationalen iibergeordnet
lisch, halb vegetativ, allzumenschlich. ware. — Genug, genug.
Dabei aber setzen Sie den individua- Ich bin von Ihrem Buche so ent-
len, den „Gesamtwillen*4 zwar an, ziickt, wie von der Kopie eines wunder-
aber nicht wie ein Denker, sondern vollen Originals. Es ist keine gute,
wie ein Betender, ein Priester, ein aber auch keine schlechte Kopie; sie
Glaubiger. Oh mein Herr, warum erinnert, zugleich nachbildend und
schreiben gerade Sie Gebetbiicher? entstellend, an das Urbild. Daher
Glauben Sie, daB der ,,Gesamt- lohnt sich der Anblick, sogar fur den
wille*4 Patriot oder Kosmopolit sei? Kenner des Originals; die Vergleichung
Sie lassen es unklar — warum? „Wir emport amusant. cf. ‘Fried/dnder .
Glossen
<Ilotizen.
Die ‘ffiiiarbeHer der ‘Weifien *Bfdt •
ter zeichnen ihre Arbeiten. Wenn in
einem AufsatzWendungen vorkommen,
die diesen oderjenen Leser wundern, so
wird er sich am besten an den Ver-
fasser halten. Der Herausgeber fiihlte
sich bisher nicht veranlafit, einen Bei-
trag, der ihm irgendwie wertvoll schien,
oder dessen Verfasser vielleicht mehr
versprach, als er bisher hielt, mit dem
in unsern Zeitungen iiblichen redak-
tionellen Schnorkel zu versehn: ,,ohne
uns im einzelnen die Anschauungen
des Verfassers zu eigen zu machen** . . .
Wenn es sich iiberdies um eine Per-
sonlichkeit mit bekannter Pragung
handelt, so ware eine derartige Ver-
wahrung vor dem Leserkreis der
Weifien Blatter mehr als eine Ge-
schmacklosigkeit. Es kommt auf die
Gemeinsamkeit des Zieles an. Das
Ziel soil deutlich bleiben, eine Ge-
meinschaft sichtbar sein. Fur wel-
chen Weg er sich entscheide, mu(! der
Leser mit sich abmachen. Die Weifien
Blatter sind keine Litfafisaule, wo jeden
Monat ein und dieselbe Meinung im
einen und selben Wortlaut aufgezogen
wird. Schliefilich : begriindete Proteste
werden gern entgegengenommen und
abgedruckt. —
Das Gebet „Gelobt“ der vorigen
Nummer ist von Franz von Assisi,
nicht, wie irrtumlich angegeben, von
Augustin. —
c V/Zomas (TKann verteidigt im No-
vemberheft der „Neuen Rundschau*4
des weitern die schone Seele seines
..Friedrichs**, die so sehr seine eigene
ist, wie Eichendorffs „Taugenichts“,
— den er, der holde Schminkkiinstler,
zum Ausgangspunkt seiner morbiden
Betracbtung nimmt — mit Tonio
Kroger und Aschenbach nicht einen
Hauch gemeinsam hat. Was auch im-
mer Thomas Mann schreibe, welchen
Gegenstand er zu behandeln vorgebe,
er spricht nur dasselbe Plaidoyer fur
seine privateste Angelegenheit, deren
Name wechselt, ohne dafi ihr Inhalt
sich anderte. Er ist ein unruhiger
Sentimentaler, der zu seiner Selbst-
behauptung den Aufwand seines gan-
zen grofien bosen Intellekts nicht ent-
behren kann. Als die Literatur noch
wichtiger schien, hauste er ver-
gnugt in der impotenten Melancholie
seiner Lieblingsfiguren, typischen
Literaten, nicht als Literaten, und
sehnte sich, nicht minder genufisuch-
tig, wenn auch weniger iiberzeugend,
nach den ,,Blonden, hellaugigen44. den
..Starken*' und ,,Gesunden“, was zu-
sammen die ..tragische Ironic*4 ergab,
auf die er von wohlwollenden Kriti-
kern geeicht wurde. Als der Krieg
naher kam, wechselte er — nicht das
Thema, aber die Namen. Tonio Kro-
ger und Aschenbach erhielten Fried-
rich II. zum Bruder; und als dann die
deutschen Heere gen Paris marschier-
ten, sprach er ohne Umschweife von
der ..deutschen** Seele und fragte sie,
die Seele: „Ist nicht der Friede das
Element der zivilen Korruption, die
ihr amiisant und verachtlich scheint?'*
In seinem letzten Aufsatz dreht er
sich, wie gewohnt, um einen St&nd-
punkt, den er nicht hat. Er dreht sich
mit der gewohnten Oberlegenheit.
Anschauungen, die er bekampft. wer-
den karikiert. wohingegen seine eige-
nen Meinungen daran zu erkennen
Glosscn
183
sind, daB er sie nicht kankiert. Viel-
mehr laBt er sie genau, wie er sie in
einem Leitartikel oder einer andem
,, Philosophic des Krieges44 gefunden
hat. Thomas Mann dachte und schrieb
von jeher in Antithesen ; er hat einiges
von den Englandern und das iibrige
von den Franzosen gelernt. Jetzt, wo
er eine , Jntellektualisierung, Literari-
sierung, Radikalisierung44 Deutsch-
lands. , .seine .Vermenschlichung4 im
westlich-politischen Sinne und seine
Enthumanisierung im deutschenMko lu-
men sieht. kurz, die ..Demokratisie-
rung Deutschlands, — was alles man
wohl in das Wort Entdeutschung nicht
libel zusammenfaBt44, jetzt entwickelt
er, in soviel Antithesen, daB sie, mit
Flaubertscher Sorgfalt gruppiert, ein-
ander aufheben, Gedanken, fiir die
Oskar A. H. Schmitz nicht erst die
Hilfe des Kriegserlebnisses brauchte,
um damit sein kulturkonservatives
Programm zu machen . . . Ein artiger
Satz sei zitiert, der zeigt, daB Thomas
Mann nicht etwa mit einer Konjunk-
tur schwamm. als er aich iiber den
Frieden und den Krieg so stark und
gesund ausliefi: ,,Aber Rolland muBte
nach Genf gehn anlaBlich des be-
scheidenen MaBes von Gerechtigkeit,
das er in Au-dessus de la Mel£e be-
kundete, wahrend ich beinahe nach
Genf hatte gehn miissen wegen des
auBerordentlich bescheidenen MaBes
von Chauvinismus, das ich in .Fried-
rich und die groBe Koalition4 an den
Tag legte."
Man lese den Aufsatz. Dann, in
der gleichen Nummer, die MChronik‘*
von £Junius. Dort steht : „Das Schreck-
mittel, namlich der Vorwurf, daB man
gegen den Kreislauf der eigenen Ge-
schichte sich verwestliche und bluts-
fremde Einrichtungen ins deutsche
Leben einschleppe, ist heute schon
mehr als dumm.44 —
CJ7(armettj hat endlich den letzten
Schritt getan und eine Religion ge-
griindet. In einem Manifest, natiirlich,
seinem zwanzigsten oder hundertsten,
ich weiB es nicht. Zu dessen Ver-
offentlichung hat er auch gleich eine
neue Zeitschrift gegriindet, die ..Italia
futurists44 heiBt und in Florenz er-
scheint.
Es ist Mdie Religion der Schnellig-
keit“. Diese „neue moral! sche Reli-
gion der Schnelligkeit" hat der ..groBe
Befreier Krieg4 4 geboren. Man muB
wissen, daB Marinetti als freiwilliger
Radfahrer in der italienischen Armee
dient.
„Die christliche Moral44, erklart Ma-
rinetti, ..bewahrte die physiologische
Struktur des Menschen vor den sinn-
lichen Ausschweifungen. Sie duckte
seine Triebe und hielt sie im Gleich-
gewicht. Die futuristische Moral wird
den Menschen vor der Zersetzung
durch die Langsamkeit, die Erinnerung,
die Analyse, die Ruhe und die Ge-
wohnheit bewahren. Die durch die
Schnelligkeit verhundertfachte mensch-
liche Energie wird die Zeit und den
Raum beherrschen.44 Die eigentliche
Gottheit entdeckt er in der „geraden
Linie44. Die„Sportsleutesinddie ersten
Katechumenen dieser neuen Religion,
die bald, wie zu erwarten, die Zer-
storung der Hauser und Stddte zur
Folge haben wird, an deren Stelle
Treffpunkte fiir Automobile und Flug-
zeuge treten werden.44 Der Sitz der
Gottheit sind: ,,die Speisewagen (mit
32-Vol. IU/2
V.7.7.V
184
Gloss en
Schnelligkeit essen), die Bahnhofe des deutscher Nachschriften im selben Stil
amerikanischen Westens, wo die Ziige befurchten miiBten. Das ist aber auch
mit einer Schnelligkeit von 140 Kilo- der einzige Grund, daB sie ausbleiben.
metern in der Stunde durchfahren Die Ohren, die bei uns filr diese Art
und, ohne anzuhalten, Wasser und Zirkusmusik empfanglich sind, werden
die Postsacke aufnehmen. Die Briicken sich spitzen. Ihrem Besitzer wird nur
und Tunnels. Der Opernplatz in Paris, der Mut fehlen zu tanzen. Es sei denn,
Der Strand in London. Die Automobil- daB sich einer findet, der der Musik
platze. Die kinematographischen Films. Marinettis einen pazifistischen Text
Die Funkenstationen. Die groBen unterlegt. Mehr Erfolg hat vielleicht
Rohren, die das Alpenwasser in Saulen das zweite Manifest in der ,, Italia
hinausschleudern, um der Luft die futurista44. Es ist einer „futuristischen
elektrische Kraft zu entnehmen. Die Wissenschaft44 gewidmet, die bisher
grofien Pariser Schneider, die durch unter dem Namen Spiritismus be-
die schnelle Erfindung der Mode die kannt war. —
Leidenschaft fur das Neue und den
HaB gegen das Gekannte erzeugen. Grnie“ , eine neue literarische
Die neusten und aktiven Stadte wie Zeitschrift, die Leo Schidrowitz in
Mailand, die, wie die Amerikaner Wien herausgibt, sollte in ihrer nach-
sagen, den ,, punch44 haben (knapper sten Nummer eine Arbeit von Wede-
genauer Schlag, mit dem der Boxer kind, „Der Oberfiirchtenichts44, und
seinen Gegner knock-out setzt). Die eine Komodie von Friedr. Neubauer
Schlachtfelder. Dann : ,,Heuteherrscht veroffentlichen. Die Zensur f,auBerte
eine neue Kriegsmoral. Jede Feigheit, Bedenken44, und das Heft kann nicht
selbst die geringste, jede Toleranz ist eischeinen. —
ein verruchtes Vergehen. Jede Kritik
ist heute Verrat. Italiener! uberall, ‘Bofder Olden hat ein Jahr lang in
bei offentlichen wie privaten Zusam- Ostafrika gekampft und ist von den
menkiinften, legt alien Schweigen auf, Englandern gefangen genommen wor-
die nicht ein unbedingtes Vertrauen den. Er bittet seine Freunde und Be-
haben zu Cadorna und der italienischen kannten, ihm zu schreiben, Zeitschrif-
Kraft. Knebelt und arretiert alle Quer- ten und Bucher zu schicken (aber
treiber.44 nichts, was vom Krieg handelt!) Seine
Gliicklicherweise geht es uns zu Adresse: Prisoner of war, Ahmed-
schlecht, als daB wir das Auftauchen nagar (Indien) A camp. 4 sect.
Fritz Hoeber * Das Erlebnis der Zeii und die W illensfreiheit 1 85
Fify fflceber:
DAS ERLEBNIS DER ZEIT UND
DIE WILLENSFREIHEIT.
EIN VERSUCH OBER HENRI BERGSONS INTUITIVE
PHILOSOPHIE.
I.
DAS verflossene Jahrhundert der Naturwissenschaften und
der historischen Einzelerfahrung hat unsere Blickeabgelenkt
von den grofien schopferischen Lebensvorgangen in ihrer Ganz-
heit und prinzipiellen Unzerlegbarkeit. Die in differenziertester
Arbeitsteilung forschende Wissenschaft haufte unendliches Tat-
sachenmaterial auf, das sie kaum noch einheitlich zu beherrschen
vermag, es sei denn durch eine quantitativ riicksichtslose Sche-
matisierung, die sicb nach jeweiligen praktischen Zwecken zu
richten hat. Dafi aber solche Art der ,,GesetzesbiIdung“ eine
brutale Verflachung aller Erkenntnis des lebendig Seienden be-
deutet, war nicht nur dem tieferdenkenden Geisteshistoriker,
dem Freund der Kulturwissenschaften, klar. Auch der zur
philosophischen Kritik neigende Naturforscher muBte ohne
weiteres zugeben, jene hochgepriesenen „Gesetze“ konnten
bestenfalls VerhaltungsmaBregeln darstellen, abstrahiert aus
einem im Vergleich zu der Unermefihchkeit der Erscheinungen
hochst karglichen Tatsachenmaterial. Nur so lange freilich
diirften sie ihre sehr bedingte Geltung beanspruchen, als sie
noch durch keine unvorhergesehene Ausnahme iiberholt seien.
Wenn es vielleicht den praktischen Naturwissenschaften fiir
ihre spezifischen Zwecke trotzdem gestattet sein mag, aus dem
konkreten Organismus der ineinander verwobenen Daseins-
186 Fritz Hoeber • Das Erlebnts der Zeit und die WtUcnsfreiheit
momente bestimmte abstrakte Reihen herauszulosen und diese
ihrer irrationalen Qualitat zu entkleiden, um sie dann als kon-
stante Posten in ein voraussehbares Rechnungssystem einzu-
setzen, so ist dies fur die tiefe Erkenntnis unserer eigenen
BewuBtseinsvorgange, der Tatsachen der lebendigen mensch-
lichen Seele, vollkommen ausgeschlossen. Denn fiir diese gilt
es, unter alien Umstanden, ihre Wesenseigenschaften : der unaus-
gedehnten, raumlich nicht darstellbaren Intensitat, der unend-
lichen, gar nicht zu beschreibenden Mannigfaltigkeit und der
innigsten Durchdringung ihrer sich niemals wiederholenden
Momente untereinander, treu zu bewahren. Dennoch haben
gewisse „Narren der Natur“, wie Shakespeare einmal vorahnend
die materialistischen Rationalisten bezeichnet, auch die geheim-
nisvollen Vorgange unseres Seelenlebens durch die Abstraktion
quantifizierender Analyse zu begreifen und zu erklaren gesucht:
heute will die sogenannte experimentellePsychologiedie eigent-
liche Intensitat unserer Gefiihle durch deren meBbare auBeren
Impulse zahlenmaBig feststellen, obwohl die Voraussetzung
rationeller konstanter Beziehungen zwischen dem intensiven
Bewufitseinsvorgang als solchemund seiner extensivenAnregung
aus der Auflenwelt an sich bereits falsch ist.
Die philosophierende Menschheit von dem bosen Bann der
psychologischen Parallelitat befreit zu haben, ist das Verdienst
des franzosischen Philosophen Henri Bergson*): Er steht in
einem fundamentalen Gegensatz zu der praktisch orientierten
Naturwissenschaft des Materialismus, d^r Annahme eines bloB
ausgedehnten Seins und des Positivismus, der zahlenmaBigen
Darstellung aller Lebensvorgange. Indem Bergson die Psycho-
logic tiefer erfaBt, als das ihre fiir die Naturwissenschaft schein-
•) Die Werke Henri Bergsons sind: I. Zeit und Freiheit. Eine Abhand-
lung iiber die unmittelbaren BewuQtseinstatsachen. 2. Schopferische Ent-
wicklung. 3. Materie und Gedachtnis. Essays zur Beziehung zwischen
Korper und Geist. 4. Einfuhrung in die Metaphysik. 5. Das Lachen.
Essay liber die Definition des Komischen. — Die franzosischen Originale
sind bei Felix Alcan, Paris, erschienen; deutsche Obersetzungen bei
Eugen Diederichs in Jena.
Fritz Hoeber * Das Erlcbnis der Zeit und die Willens freiheit 187
bar rationale Oberflache ahnen lafit, dringt er zu einer ideali-
stischen Metaphysik vor. Als deren notwendige Folge erscheint
die prinzipielle Freiheit des menschlichen Willens, ja des Willens
der ganzen schopferischen Entwicklung iiberhaupt: „Wir sind
frei‘ ‘, so sagt Bergson einmal, „wenn unsere Handlungen aus
unserer ganzen Personlichkeit hervorgehen, wenn sie sie aus-
driicken, wenn sie jene undefinierbare Ahnlichkeit mit ihr haben,
wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und seinem
Schopfer findet.“ Damit aber hat Henri Bergson der durcb die
quantifizierenden Naturwissenscbaften entseelten Natur ibre
Teleologie, in religiosem Sinn ibren Gott, wiedergegeben.
AuBer der Lehre von den unzerlegbaren und darum auch
nicht vorausbestimmbaren Tatsachen des BewuBtseins hat uns
Bergson noch eine andere grundlegende Erkenntnis geschenkt,
die neue Auffassung des Begriffes der Zeit : Kants Erkenntnis-
theorie namlich hat die Zeit dem Raumbegriff einfach koordi-
niert. Nachdem seine Kritik die dreidimensionale Erschei-
nungsform des Raumes als ein „homogenes Medium", als den
in sich gleichformigen und indifferenten Bereich unserer Wahr-
nehmungen, gekennzeichnet hat, schlieBt sie schlechtweg auch
auf einen analogen Charakter der Zeit, ohne sich weiter mit der
doch ganz unvergleichlichen Individual itat dieser Zeit, die fiir
Kant nur „die eindimensionale Anschauungsform" darstellt,
abzugeben.
Mit wunderbarer philosophischer Intuition hat Bergson
hierin nun die Schwache des Kantischen Systems erkannt, es
aber zugleich in schopferischer Weise fortgebildet : Kants Auf-
fassung der Zeit als ein homogenes Medium bedeutet die hete-
ronome Ubertragung des ausgedehnten, qualitatslosen, gleich-
formigen Raums auf die Zeit oder einer ganz indifferenten
AuBenweltauf die innersten Erlebnisse. Die Zeit als lebendige
Elntwicklung aber, durchflutet von den intensiven Bewufitseins-
vorgangen der menschlichen Seele, erscheint gerade unendlich
qualitatsvoll, von absolutester Heterogenitat : nur intensiv und
dynamisch ist sie zu erfassen, der quantifizierenden Analyse
der „Wissenschaft" weit unzuganglicher als der intuitiv nach-
V.7.7.V
I 88 Fritz H other * Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreihcii
erlebenden Poesie! Somit steht die Zeit Bergsons als reine
Qualitat in exkludierendem Gegensatz zum Raume, dem Me-
dium der reinen Quantitat. Erst die mathematische Natur-
wissenschaft, die sich hierm allerdings auf Kants Vorgang be-
rufen kann.hatausder intensiven „dureeconcrete“, dererlebten
Dauer, eine quantitativ symbolisierte Zeit gemacht, ein ver-
raumlichtes Schema, das sich als solches natiirlich beliebig
messen und rationalisieren lafit. Dabei wurde freilich diePhysik
sich nicht bewufit, dafi sie den tatsachlichen Vorgang der Zeit,
das ununterbrochene und unzerlegbare Kontinuum selbst, kei-
neswegs zu messen vermag, sondern daB sie vielmehr nur will-
kiirliche, nach raumlicher Analogie herausgegriffene Einzel-
punkte in quantitative Beziehung zueinander setzt.
II.
Nachdem 1m Uberblicke die Bedeutung und die leitenden
Ideen der Bergsonschen Philosophic hervorgehoben wurden,
sei nun in eingehender Weise ihr Gedankenaufbau dargestellt.
Wie gesagt, bestimmt sich diese Erkenntnistheorie durch zwei
Brennpunkte: Sie nimmt Stellung gegen die Vermengung von
Extensivem und Intensivem durch die neuere empirische Psy-
chologic und gegen die hergebrachte Kantische Auffassung der
Zeit als homogenes Medium.
Im Gegensatze zur modernen Psychology will Bergson nicht
die ausgedehnten aufiern Wahrnehmungen mit den intensiven
Vorgangen des BewuBtseins aufbauen. Vielmehr ist er der An-
sicht, daB unsere hauptsachlichsten Bewufitseinszustande zwar
durch jene extensiven Formen der AuBenwelt ausgedriickt und
wahrgenommen werden — wie es vor allem schon in der Sym-
bolik der Sprache geschieht — dafi solche Wahrnehmungen
uns aber fiir eme wirkhche Erkenntnis des Ichs wenig helfen
konnen. Denn in ihnen stellt sich ein KompromiB zwischen der
Materie und dem Geiste dar: Die ausgedehnte Gegenstand-
lichkeit wird gewissermaBen in unser Inneres hineinprojiziert.
Derlei grobe Formen, die der Raumhchkeit der auBeren Welt
entlehnt sind. miissen aber bei emer Untersuchung der reinen
Fritz Hoeber ♦ Das Erlebnis der Zeit und die W illensjrciheit 189
Bewufitseinstatsachen sorgfaltig ausgeschieden werden. Die
autonomen Kategorien der Bewufitseinsvorgange, wie die Inten-
sitat, die konkrete Dauer und die Willensfreiheit, sind in ihrer
absoluten unraumlichen Eigenart zu erfassen, um das tiefe Wesen
der Bewufitseinstatsachen richtig zu verstehen.
I . Die Intensitat. Die psychischen Tatsachen zerfallen in
ein quantitatives Moment, in die im Raum gelegene Ursache und
in ein qualitatives, die innere Empfindungsintensitat. Letztere
bildet somit das qualitative Zeichen fur den quantitativ raum-
lichen Anstofi. Die wahrgenommene Intensitat eines einfachen
Zustandes stellt sich also in ihrem Ursprung als ein quantitativ-
qualitativer Kompromifi dar. Erforscht man nun aber die
Dinge der raumlichen Aufienwelt, so lafit man die qualitativen
Wirkungen auf unser Bewufitsein „als qualite negligeable“
einfach beiseite, um sich nur auf die mefibaren und die ausge~
dehnten Raum tatsachen zu beschranken. Logischerweise mufi
man deshalb auch bei den Bewufitseinstatsachen die raumlich-
unraumliche, extensiv-intensive Vermengung der Anschauung
aufgeben und sich vollig auf die den inneren Vorgangen eigen-
tiimlichen Formen konzentrieren. Jedoch auf dieser ungelosten
erkenntnistheoretischen Begriffsvermengung beruhen nun gerade
die Resultate der heutigen Psychophysik : diese namlich lafit in
einem andern als blofi iibertragenen Sinn Empfindungsintensi-
taten „wachsen“ und an — raumlicher — „GroBe“ zunehmen,
um allsogleich diese „Zunahmen“, als die sie die doch tatsach-
lich ganz irrationale Qualitatsveranderung betrachtet, zahlen-
mafiig zu messen.
Weiterhin unterscheiden sich die Bewufitseinstatsachen
von den dinglichen Tatsachen auch noch durch die Art
der besonderen Mannigfaltigkeit: Bergson zeigt uns, dafi
die mathematische Zahl, die rein quantitative Mannigfaltig-
keit, nur gedacht werden kann in einem qualitatslosen Me-
dium, wie es allein der indifferente, homogene, reine Raum
darsteilt. Wollen wir aber die im Raum aufgereihten,
zahlenmafiig unterschiedenen Einheiten zu einer qualitativen
Mannigfaltigkeit zusammenbeziehen, als ein intuitives Ganzes
begreifen, so wird ein ProzeB der inneren Durchdringung und
der Organisation notig. Bei der praktischen Betrachtung der
Mannigfaltigkeit der raumlichen Gegenstande abstrahieren wir
jedoch regelmaBig von dieser Quaiitat der Mannigfaltigkeit, sie
einfach numerisch aufreihend und raumlich unterscheidend.
Also ist in der qualitativ empfundenen, quantitativ aber ausge-
driickten Mannigfaltigkeit, genau ebenso wie in der physiseben
Intensitat, ein Kompromifi enthalten, der, wenn er im raumlich
Praktischen zugunsten des Praktischen aufgegeben wird, doch
erst recht bei der Erforschung der seelischen Zustande wegfallen
mufi, hier aber zugunsten des Seelischen.
Da die seelischen Zustande und ihre Elemente sich nicht
raumlich aufreihen, sondem in vollig irrationaler Konfusion
sich gegenseitigdurchdringen, lassen sie sich weder zahlen, noch
in irgend ein anderes mathematisch, d. i. abstrakt raumlich
prazisiertes Verhaltnis bringen. Diese Wesenseigenschaft wider-
spricht allerdings in starkstem MaBe den Forderungen und den
Versuchen der modemen Psychophysik.
2. Die konkrete Dauer. Die in unserem BewuBtsein erlebte
Dauer erscheint als eine qualitative Mannigfaltigkeit, die sich
in eminentem Gegensatz zu der quantitativen Mannigfaltigkeit
der raumlich unterschiedenen Zahl befindet: Daher vermag sie
sich zwar organisch zu entwickeln, „wachst“ aber nicht, wird
nicht „groBer“ in ausgedehntem Sinne. Die Elemente der
qualitativen Mannigfaltigkeit dieser erlebten Dauer konnen nicht
auBerhch auseinandergelegt werden. Denn sie verflechten und
durchdnngen sich gegenseitig in vollstandiger Heterogeneitat
und ebensowenig lassen sich ihre Qualitaten klar voneinander
unterscheiden.
Was nun von dieser inneren Dauer auBerhalb unser selbst
existiert, ist nur der gegenwartige Moment, die Simultanitat
gleichzeitig eintreffender Geschehnisse. Die Veranderungen in
dieser Aufienwelt konnen darum nur fiir das riickerinnemde
BewuBtsein lebendig sein: Unser Innenleben wird von der
Sukzession, der Dauer beherrscht. Der auBere Raum kennt
nur die Simultanitat. Die auBeren Dinge konnen somit nicht
Fritz Hoeber » Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit 191
im Sinn der Sukzession dauem. Die BewuBtseinszustande
sukzedieren einander, ohne sich unterscheiden zu lassen, wahrend
die raumlichen Simultanitaten sich zwar klar voneinander unter-
scheiden, ohne aber zu sukzedieren, d. h. ohne in einem sich
innerlich bewufiten Zusammenhang zu stehen.
Im praktischen Leben freilich projizieren wir, wiederum
vermittels eines Kompromisses, die innerliche Sukzession auch
in die aufiere Welt der Simultanitaten hinaus, die wir auf diese
Weise ebenfalls „dauern“ lassen, und umgekehrt zerlegen wir,
nach dem Vorbild der physischen Erscheinungen, die psychische
Sukzession in lauter unterschiedene Abschnitte. Auf diese
Weise erhalt die Zeit „Ausdehnung“, wird verraumlicht, und
die stets und mit Vorliebe quantifizierende Wissenschaft macht
sich das zum Nutzen: sie nimmt von der Dauer nur die ihr
urspriinglich fremde, in sie erst vom Raum aus hineingetragene
Simultanitat und von der Bewegung nur das einzelne, also
nichtbewegte Bewegungsmoment : die simultane Lage der Be-
wegten im Raum.
LaBt man hingegen die innere Dauer, die Sukzession der
psychischen Vorgange, in ihrer urspriinglichen Reinheit bestehen,
ohne sie ins Raumliche zu transponieren, so werden ihre Ele-
mente als eine vollig qualitative Mannigfaltigkeit und als erne
absolute Heterogeneitat untereinander erscheinen. Zugleich
werden sie eine stets unentwirrbare Verschmelzung miteinander
eingehen, die jede logische Determination ausschlieBt. Damit
aber postulieren fiir ihr Gebiet die BewuBtseinsvorgange der
inneren Dauer die willensfreie Personlichkeit.
3. Die Willensfreiheit. Die begriffliche Verwirrung von
„Dauer“ und „Ausdehnung“ hat die bisherige wissenschaftliche
Unsicherheit dem Freiheitsproblem gegeniiber verschuldet.
Indem man namlich die Willensfreiheit leugnet, hat man die
physikalische Anschauung raumlich sich definierender Quanti-
taten und der mechanischen, meBbaren Folgerungen ganz
inaquat auf unser Seelenleben angewandt.
Versucht man aber anderseits die Willensfreiheit logisch zu
bestimmen, so nimmt man damit an, der Bedingungskomplex,
7777777
192 Fritz Hoeber ♦ Das Erlebnis der Zeit und die WtUensfreiheit
aus dem sich die freie Handlung entwickeln soli, konnte vor-
hergesehen und in seinen Momenten definiert werden. Dadurch
wiirde aber die Dauer, die psychische Sukzession, wie eine
homogene Sache und die intensiven Seelenerlebnisse als raumlich
ausgedehnte Grofien behandelt werden. Nur durch eine Ver-
mengung der sukzessiven Dauer mit dem einzig in der Simul-
tanitat zu erkennenden Raum laBt sich die Freiheit leugnen;
sei es, daB man unter Verwendung des doppelten Sinns von
Kausahtatsbegriff behauptet, die Handlung sei bereits „in ihren
Bedmgungen“ gegeben, oder aber, daB man sich auf das phy-
sikalische Gesetz von der Erhaltung der Kraft beruft, dessen
Geltung noch kemeswegs fiir die Welt der inneren, intuitiven
Vorgange bewiesen ist oder auch nur bewiesen werden kann.
Der Grund, den die Wissenschaft besitzt, um die Scheidung
von Ausdehnung und Dauer in gleicher Weise zugunsten der
Dauer fiir die psychischen Vorgange zu vollziehen, wie sie regel-
maBig sie zugunsten des Raumes fiir die physischen vollzieht,
liegt in ihrer praktischen Aufgabe enthalten, in der iiblichen
wissenschaftlichen Methode desVorhersehens und des Messens:
Physische Erscheinungen lassen sich aber nur voraussehen unter
Elimination der heterogenen Dauer und messen unter Annahme
der raumlichen Ausdehnung. Deshalb werden die Tatsachen
unseres intensiven Innenlebens von der Psychophysik verraum-
licht und homogen verfestigt, um sie objektiv voraussehen und
quantitativ messen zu konnen. Damit werden die inneren Vor-
gange aber aus dem individuellen und personlichen Leben in
eine soziale, allgemein verstandliche Farblosigkeit iiberfiihrt.
Auf diese Weise ist Bergson zu einer zweifachen Auffassung
des Ichs gelangt, eines inneren, das uns nur in den seltenen
Momenten der sich vertiefenden Besinnung auf uns selbst zum
BewuBtsein gelangt, und eines aufieren, das sich gleicbsam als
die Projektion des innern Ichs in den Raum darstellt und sein
sozialer Reprasentant ist.
Die Freiheit ist natiirlich nur dem innern Ich eigen, dessen
BewuBtseinsvorgange sich in der heterogenen Dauer sukzedieren
und damit in einem Wesensgegensatz stehen zu jenen meB-
Fritz Hoeber * Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit 193
baren Dingen, die sich im homogenen Raum nebeneinander
aufreihen: „Agir librement, c’est rep rendre possession de soi,
c’est se replacer dans la pure duree“.
III.
Die Kantische Erkenntnislehre hat die Momente der Dauer,
die einander unlosbar sind, im Raum ausgebreitet. Sie nahm
das raumlich symbolisierte Abbild der duree fur die duree con-
crete selbst, fiir alle eigentliche Dauer und verwechselte damit
das innere, personliche Ich mit seinem in die AuBenwelt pro-
jizierten, roh verallgemeinerten Abbild. Dadurch erscheint
Kantaber als Ursache jenes philosophischen Mifiverstandnisses,
welches vermeint, die Bewufitseinstatsachen nur in der Neben-
einanderreihung begreifen zu konnen, und das somit die inten-
sive und heterogene Dauer genau so als homogenes Medium
behandeltwie den extensiven Raum: Die Einmaligkeit und Un-
wiederholbarkeit des geistigen Geschehens wird aufgegeben,
indem die psychischen wie die physischen Ereignisse derselben
quantifizierenden Kausalitat unterworfen werden. DaBtrotzdem
Kant an der Willensfreiheit festhalt, ist weniger logische Folge
seines Systems als ein Glaubenssatz seines personhchen Ideahs-
mus: Das Kantische Ich steht gleichermaBen dem Raum und
der verraumlichten Zeit fremd gegeniiber und erscheint deshalb
uberhaupt unserem Erkenntnisvermogen unzuganglich.
Kants Erkenntnistheorie nimmt auf der einen Seite „Dinge
an sich“ an, die durch die von ihr gleich behandelten Media
des Raumes und der Zeit hindurch erscheinen. Auf der anderen
Seite stehen die aufieren Dinge, einen Gegensatz bildend zu
dem phanomenalen Ich unserer Selbstbesinnung. Die Not-
wendigkeit, auBer den Dingen der Erscheinung auch „Dinge
an sich“ noch anzunehmen, liegt bei Kant nicht in der logischen
Erkenntnisfolge der reinen Vernunft, sondem erst in der sitt-
lichen Forderungder praktischen Vernunft. Darin besteht aber,
wie bereits betont, der metaphysische Gedankensprung des
Kantischen Systems.
1 94 Fritz Hocber ♦ Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit
Fiir Kant und die Kantianer ist die Erscheinungswelt, einerlei
ob sie sich im Raum oder in der Zeit auswirkt, ein homogenes
Medium: was sich in dessen raumliche Simultanitat nicht
iibersetzen lafit, ist fiir die Wissenschaft schlechthin unerkenn-
bar. Dabei wird freilich nicht beriicksichtigt, dafi eine Wirk-
lichkeit gerade mit praktischem Zweck gerade erst fiir die
wissenschaftliche, d. h. naturwissenschaftliche, Erkenntnis her-
gerichtet worden ist.
Die homogen gedachte Dauer bei Kant involviert aber auch
den Begriff der Determination, der Unfreiheit des Willens, da
dieselbe Kausalitat, die gleichmafiig fiir die extensiven wie die
intensiven Geschehnisse gilt, Wiederholungen und damit die
Voraussehbarkeit der Ereignisse ermoglicht. Die Welt der
,,Dinge an sich“ verlangt den metaphysischen Glauben. Lafit
man dagegen die Momente der reinen Dauer einander innerlich
sein, sich gegenseitig durchdringen, statt sie nebeneinander im
Raum aufzureihen und verleiht ihnen ihre autonome Hetero-
geneitat, so verliert aller Determinismus seine logische Moglich-
keit und das in der Selbstbestimmung erfafite Ich gewinnt seine
Freiheit zuriick. Selbst die physischen Momente werden durch
diese absoluten geistigen bestandig durchdrungen und sind
darum kemeswegs in ihrer ganzen Fiille begrifflich in dem
Mafie zu erfassen, wie dies das rationalistische Denken der
reinen Quantitat, der verraumlichenden mathematischen Dis-
ziplinen, tun zu konnen vermeint!
Die Auffassung der Wirklichkeit nach raumlichen Gesichts-
punkten und die quantitativ homogene Anordnung der sie er-
fiillenden Materie hat den praktischen Vorteil, die Dinge in
fest zueinander abgegrenzten „Begriffen“ zu verstehen und
verleiht diesen dadurch eine iiber das Individuelle hinaus-
gehende, soziale Verstandlichkeit. Die Verraumlichung wird
so zur interpersonal begreifbaren Schematisierung : ihr Haupt-
beispiel ist die menschliche Sprache, ein raumlich noch kon-
kreteres die menschliche Schnft. Dem ist nun aufs scharfste
entgegengesetzt das in der inneren Dauer sich organisierende
Ich. Dieses Ich aber veranlafit auch die banal raumliche Ein-
Fritz Hoeber ♦ Das Erlebnis der Zeit und die WiUensfreikeit 1 95
teilung unserer auBenweltlichen Wahrnehmungen : „wie leicht
gelangt es dann dazu, diese praktische Einteilung in das eigene
Innere der tiefen, konfusen BewuBtseinsvorgange zuriickzu-
projizieren!" Damit werden jedoch, um ein Biid Bergsons zu
wiederholen, psychische Elementarzustande mechanisch zu
psychischen Erlebnissen zusammengesetzt „wie die Buchstaben
eines Alphabets bei der Bildung von Worten“. Das Gefahrliche
hierbei ist, dafi eine solche Vorstellung nicht nur abstrakte Vor-
stellung bleibt, sondem tatsachlich, von unserer ganzen Per-
sonlichkeit Besitz ergreifen wird. Auf solche Weise verdeckt
sich aber die Freiheit durch den Automatismus : Willens-
handlungen werden durch die Verraumlichung der bewuBten
Vorstellung zu bloBen Reflexhandlungen.
Die Psychophysiker sowohl wie die Kantianer benutzen nun
diese raumlich veraufierlichten, homogen schematisierten Hand-
lungen, um daraus eine kausale Determination, analog der der
sogenannten Naturgesetze, abzuleiten. Ihre raumlich aufgefafite
Zeit kommt ihnen dabei als homogenes Medium sehr zu statten.
Die Willensfreiheit wird, zum mindesten fiir die Erkenntnis,
unlogisch. Hochstens laBt man sie, mit der bekannten katego-
rischen Forderung Kants, aus moralischen Griinden gelten,
damit der Mensch wenigstens in etwas ,,Ebenbild Gottes“
bleibt und nicht zur blofien Maschine herabsinkt.
Versetzen wir uns jedoch in die Momente bedeutsamer Er-
scheinungen unseres Lebens zuriick, so tritt uns das Gefiihl
von deren Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit mit Deut-
lichkeit ins BewuBtsein: Wir konnen sie nicht in der banalen
Symbolik der Worte reproduzieren, noch konnen wir sie aus
einfach nebeneinander gesetzten Ursachen wieder zusammen-
setzen. Allmahlich wird uns die unauflosliche Innerlichkeit
dieser rein dynamischen Einheiten klar, die als Ganzes die
heterogene Dauer unseres konkreten, unseres bewuBten Lebens
darstellen.
Die Freiheit der Handlung beruht gerade in dieser funda-
mentalen Inkommensurabilitat von Ursache und Wirkung im
Bewufitseinsgeschehen. Eine Pravision ware nur dann moglich.
196 Fritz Hoeber * Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit
wenn man alle kausalen Komponenten iiberblicken und kom-
binieren konnte. Das lieBe sich freilich nur bewerkstelligen,
indem man sich mit seinem ganzen Bewufitsem wieder in jenen
vergangenen Moment der Entscheidung zuriickversetzte. Da
aber, nach unserer Auffassung der Dauer, kein Moment als
analoger wiederzukehren vermag, die Zuriickversetzung, schon
rein zeitlich, deshalb unmoglich ist, ist auch die Voraussicht
und damit die Determination einer inneren bewufiten Handlung
schon in der Voraussetzung ausgeschlossen.
Die Leugnung der Willensfreiheit kann darum nur auf einer
Reihe theoretischer und praktischer Vermengungen beruhen :
zuerst wird anstatt der konkreten Dauer die raumlich symboli-
sierte Dauer supponiert. Sodann geschieht die Versenkung m
unser innerstes Bewufitsein, die Vorbedingung der Willensfreiheit
nur recht selten. Schliefilich, wenn die freie Handlung einmal
vollzogen ist und wir, nun iiber ihre Griinde reflektierend, uns
Rechenschaft zu geben suchen, so reihen wir dennoch, in be-
quemem Schematismus des praktischen Alltags, ihre Ursachen
und Bedingungen raumlich nebeneinander auf, ohne uns auf
das Eigentlichste, den Kern des festen Willensvorgangs, die
irrationale Dauer und ihre ausschliefilich intensiven und quali-
tativen Wesensmomente, zu besinnen.
IV.
Henri Bergsons Philosophic raumt ziemlich unbarmherzig
auf mit der aus der mathematisch-naturwissenschafthchen
Raumabstraktion hergeleiteten Welt der Begriffe: Vielen —
sicher aber nicht den tiefsten — Forschern wird dies das Ende
aller Wissenschaft diinken. Denn mit der Bergsonschen Meta-
physik ist jede Moglichkeit genommen, weiter das Tatsachen-
material in altgewohnter Weise zu quantifizieren, rubnzieren
und zu rationalisieren. Allein Bergsons Wissenschaft will sich ja
nicht mit dem Begreifen von Einzelkenntnissen und -tatsachen
abgeben. Ihr kommt es vielmehr darauf an, das wirkliche
Leben in seiner unzerteilbaren schopferischen Einheit, in seinem
unendlichen Entwicklungsreichtum in vertiefter Intuition zu
Fritz Hoeber * Das Erlebnis der Zeit und die Willcnsfreiheit 197
erfassen. Die Einzelwissenschaft erscheint der Bergsonschen
Philosophic gegeniiber nur als subordinate Technik, die ihren
praktischen einzelwissenschaftlichen, sicher ganz niitzlichen
Zwecken und Resultaten meinetwegen auch auf ihre Weise
nachgehen mag, selbst, falls sie dies etwa fur notig erachtet,
mit den unlautem Mitteln der Quantifikation und der Verraum-
lichung. Nur soil sich eine solche wissenschaftliche Technik
dann nicht einbilden, Wissenschaft im hoheren Sinn, Erkennt-
nis des wirklich Seienden, zu sein!
Trotzdem gewahrt Bergsons Philosophic auch einen spezial-
wissenschaftlichen Gewinn : Die Gruppe der Kulturwissen-
schaften, wie man nach Heinrich Rickerts Vorgang die so-
genannten Geisteswissenschaften jetzt richtiger bezeichnet, die
Geschichte vor allem, hatte unter dem wachsenden Einflusse
der sich allein als wissenschaftlich betrachtenden Naturwissen-
schaft nachgerade angefangen, ebenfalls raumlich zu abstrahieren
und quantitativ zu schematisieren. Wie eine Erlosung kam da
fur sie Bergsons Auffassung der Zeit, des innern Erlebnisses
der duree concrete: Die Geschichte, die Kulturwissenschaften,
die Geisteswissenschaften, erschienen nun mit ihrem Bestreben,
die intensive Erinnerung, das Kontinuum des menschlichen
Bewufitseins, die lebendigen Vorgange der Seele darzustellen,
als eine viel wirklichere und konkretere Wissenschaft wie alle
blofi abstrahierende und aufierlich zahlende Physik. Und als
deuthche Parallele zu dieser Renaissance der historischen
Wissenschaften erscheinen die neuen ,,naturrechthchen“ Be-
strebungen in der Jurisprudenz, die sich an die Namen des
Freiburger Privatdozenten Hermann Kantorowicz (Gnaeus Fla-
vius : Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1 906)
und des Karlsruher Rechtsanwalts Ernst Fuchs kniipfen: sie
wollen den individuellen Rechtsfall nicht mehr nach dem Vor-
gang des Reichsgerichts in gesetzlicher Abstraktion typisch
konstruieren, sondern ihn als ein lebendes Ganzes aus der ge-
gebenen Fulle seines menschlichen, sozialen, wirtschaftlichen
Bedingungskomplexes heraus verstehen. Aus solch konkreter
Anschauung heraus wird auch das entscheidende Urteil intui-
1 98 Fritz Hoeber ♦ Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit
tiv geschopft. In absoluter Heterogeneitat wird es als etwas
ganz Neues, durch keine Paragraphenmathematik Bedingtea
individualisiert, produktiv gestaltet.
In dieser individualisierenden Einfiihlung, dem gleichsam
kiinstlerischen, kongenialen Nacherleben der groBartigen schop-
ferischen Entwicklung des realen Seins hat die Wissenschaft
von den menschlichen BewuBtseinsvorgangen, die schildemde
Kulturwissenschaft, ihre autonome Aufgabe und zugleich deren
autonome Losungneugefunden. Es ist der zukunfts-schaffende
Impuls des Lebens, jener vorwartstreibende 4lan vital, den die
in der duree concrete wurzelnde Geschichte synthetisch mit-
zuerleben vermag, wo die Analyse der mathematischen Natur-
wissenschaft nur eine raumlich ausgedehnte Materie und das
verdorrte Schema der Zahl erblickt: Einzig die schopferische
Intuition durch keines Gedankens Blasse angekrankelt, ist im-
stande, das wirkliche Leben in seinem unermefilichen Reichtum
kongenial zu erfassen, will sagen, mitzuerleben.
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
199
Qfermann £?fesse:
EINE TRAUMFOLGE
J\ /I I R schien, ich verweile schon eine Menge von unniitzer
^ dickfliissiger Zeit in dem lauen Salon, durch dessen Nord-
fenster der falsche See mit den unechten Fjorden blickte, und wo
nichts mich Hielt und anzog als die Gegenwart der schonen, ver-
dachtigen Dame, die ich fiir eine Siinderin hielt. Ihr Gesicht
einmal richtig zu sehen, war mein unerfiilltes Verlangen. Ihr
Gesicht schwebte undeutlich zwischen dunklen, offenen Haaren
und bestand einzig aus siiBer Blasse, sonst war nichts vorhanden.
Vielleicht waren die Augen dunkelbraun, ich fiihlte Griinde in
mir, das zu erwarten, aber dann paBten die Augen nicht zu dem
Gesicht, das mein Blick aus der unbestimmten Blasse zu lesen
wiinschte und dessen Gestaltung ich bei mir in tiefen, unzugang-
lichen Erinnerungsschichten ruhen wufite.
Endlich geschah etwas. Die beiden jungen Manner traten ein.
Sie begriiBten die Dame mit sehr guten Formen und wurden mir
vorgestellt. Affen, dachte ich und ziirnte mir selber, weil des
emen rotbrauner Rock mit seinem hiibsch koketten Sitz und
Schnitt mich beschamte und neidisch machte. ScheuBliches Ge-
fiihl des Neides gegen die Tadellosen, Ungemerten, Lachelnden !
,,Beherrsche dich!“ rief ich mir leise zu. Die beiden jungen
Leute gnffen gleichgiiltig nach meiner dargereichten Hand —
warum hatte ich sie hingeboten?! — und machten spottische
Gesichter.
Da spiirte ich, daB etwas an mir nicht in Ordnung sei und
fiihlte Iastige Kalte an mir aufsteigen. Hinunterblickend sah ich
nvt Erbleichen, daB ich ohne Schuhe in blofien Striimpfen stand.
Immer wieder diese oden, klaglichen, diirftigen Hindemisse und
3 3 Yol. Ill
»
200
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
Widerstande ! Anderen passierte es nie, da8 sie nackt oder halb-
nackt in Salons vor dem Volk der Tadellosen und Unerbittlichen
standen ! Traurig suchte ich den linken FuB wenigstens mit dem
rechten zu decken, dabei fiel mein Blick durchs Fenster, und ich
sah die steilen Seeufer blau und wild in falschen diistern Tonen
drohen, sie wollten damonisch sein. Betriibt und hilfsbediirftig
blickte ich die Fremden an, voll HaB gegen diese Leute und voll
von groBerem Hafi gegen mich — es war nichts mit mir, es
gliickte mir nichts. Und warum fiihlte ich mich fiir den dummen
See verantwortlich ? Ja, wenn ich es fiihlte, dann war ich’s auch.
Flehentlich sah ich dem Rotbraunen ins Gesicht, seine Wangen
glanzten gesund und zart gepflegt, und wuBte doch so gut, dafi
ich mich unniitz preisgebe, dafi er nicht zu riihren sei.
Eben jetzt bemerkte er meine Fiifie in den groben dunkel-
griinen Striimpfen — ach, ich mufite noch froh sein, dafi sie ohne
Locher waren — und lachelte hafilich. Er stiefi seinen Kame-
raden an und zeigte auf meine Fiifie. Auch der andre grinste
voller Spott.
„Sehen Sie doch den See !“ rief ich und deutete durchs Fenster.
Der Rotbraune zuckte die Achseln, es fiel lhm mcht ein, sich
nur gegen das Fenster zu wenden, und sagte zum andem etwas,
das ich nur halb verstand, das aber auf mich gemiinzt war und
von Kerlen in Striimpfen handelte, die man in einem solchen
Salon gar nicht dulden sollte. Dabei war „Salon“ fiir mich
wieder so etwas wie in Bubenjahren, mit einem etwas schonen
und etwas falschen Klang von Vornehmheit und Welt.
Nahe am Weinen biickte ich mich zu meinen Fiifien hinab, ob
da etwas zu bessern sei, und sah jetzt, dafi ich aus weiten Haus-
schuhen geglitten war; wenigstens lag ein sehr grofier, weicher,
dunkelroter Pantoffel hinter mir am Boden. Ich nahm ihn un-
schliissig in die Hand, beim Absatz packend, noch ganz weiner-
lich. Er entglitt mir, ich erwischte ihn noch im Fallen — er war
inzwischen noch grofier geworden — und hielt ihn nun am vor-
deren Ende.
Dabei fiihlte ich plotzlich, innig erlost, den tiefen Wert des
Pantoffels, der in meiner Hand ein wenig federte, vom schweren
Hermann Hesse * Etne Traumfolge
201
Absatz hinabgezogen. Herrlich, so ein roter schlapper Schuh,
so weich und schwer! Versuchsweise schwang ich ihn ein wenig
durch die Luft, es war kostlich und durchfiofi mich mit Wonnen
bis in die Haare. Eine Keule, ein Gummischlauch war nichts
gegen meinen grofien Schuh. Calziglione nannte ich ihn auf
Italienisch.
Als ich dem Rotbraunen einen ersten spielerischen Schlag mit
dem Calziglione an den Kopf gab, sank der junge Tadellose
schon taumelnd auf den Diwan, und die andem und das Zimmer
und der schreckliche See verloren alle Macht iiber mich. Ich
war grofi und stark, ich war frei, und beim zweiten Schlag auf
den Kopf des Rotbraunen war schon nichts mehr von Kampf,
nichts mehr von schabiger Notwehr in meinem Zuhauen, son-
dern lauter Jauchzen und befreite Herrenlaune. Auch hafite ich
den erlegten Feind nicht im mindesten mehr, er war mir inter-
essant, er war mir wertvoll und lieb, ich war ja sein Herr und
sein Schopfer. Denn jeder gute Schlag mit meiner welschen
Schuhkeule formte diesen unreifen und affigen Kopf, schmiedete
ihn, baute ihn, dichtete ihn, mit jedem formenden Hieb ward er
angenehmer, wurde hiibscher, feiner, wurde mein Geschopf und
Werk, das mich befriedigte und das ich Iiebte. Mit einem letzten
zartlichen Schmiedehieb trieb ich ihm den spitzen Hinterkopf
gerade hinlanglich nach innen. Er war vollendet. Erdanktemir
und streichelte mir die Hand. „Schon gut“, winkte ich. Er
kreuzte die Hande vor der Brust und sagte schiichtern: „Ich
heifie Paul."
Wundervoll machtfrohe Gefiihle dehnten meine Brust und
dehnten den Raum von mir hinweg, das Zimmer — nichts mehr
von „Salon“ ! — wich beschamt davon und verkroch sich nich-
tig; ich stand am See. Der See war schwarzblau, Stahlwolken
driickten auf die finstern Berge, in den Fjorden kochte dunkles
Wasser schaumig auf, FohnstoBe irrten zwanghaft und angstlich
in Kreisen. Ich blickte empor und reckte die Hand aus zum
Zeichen, daB der Sturm beginnen moge. Ein Blitz knallte hell
und kalt aus der harten Blaue, senkrecht herab heulte ein warmer
Orkan, am Himmel schofi graues Formengetummel zerflieBend
7777777
202
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
in Marmoradern auseinander. Grofie runde Wogen stiegen
angstvoll aus dem gepeitschten See, von ihren Riicken riB der
Sturm Schaumbarte und klatschende Wasserfetzen und warf sie
mir ins Gesicht. Die schwarz erstarrten Berge rissen Augen voll
Entsetzen auf. IKr Aneinanderkauem und Schweigen klang
flehentlich.
In dem prachtvoll auf Gespenster-Riesenpferden jagenden
Sturm klang neben mir eine schiichterne Stimme. 0, ich hatte
dich nicht vergessen, bleiche Frau im langschwarzen Haar. Ich
neigte mich zu ihr, sie sprach kindlich — der See komme, man
konne hier nicht sein. Noch schaute ich geriihrt auf die sanfte
Siinderin, ihr Gesicht war nichts als stille Blasse in breiter Haar-
dammerung, da schlug schon klatschendes Gewoge ah meine
Knie, und schon an meine Brust, und die Siinderin schwankte
wehrlos und still auf steigenden Wellen. Ich lachte ein wenig,
legte den Arm um ihre Knie und hob sie zu mir empor. Auch
dies war schon und befreiend, die Frau war seltsam leicht und
klein, voll frischer Warme und die Augen herzlich, vertrauens-
voll und erschrocken, und ich sah, sie war gar keine Siinderin
und keine feme unklare Dame. Keine Siinden, kein Geheimnis ;
sie war einfach ein Kind.
Aus den Wellen trug ich sie iiber Felsen und durch den regen-
finstem, koniglich trauemden Park, wohin der Sturm nicht
reichte und wo aus gesenkten Kronen alter Baume lauter sanft-
menschliche Schonheit sprach, lauter Gedichte und Sympho-
nien. Welt der holden Ahnungen und lieblich gezahmten Ge-
niisse, gemalte liebenswerte Baume von Corot und landlich-holde
Holzblasermusik von Schubert, die mich mit fliichtig aufzucken-
dem Heimweh mild in ihre geliebten Tempel lockte. Doch um-
sonst, viel Stimmen hat die Welt, und fur alles hat die Seele ihre
Stunden und Augenblicke.
WeiB Gott, wie die Siinderin, die bleiche Frau, das Kind ihren
Abschied nahm und mir verloren ging. Es war eine Vortreppe
aus Stein, es war ein Haustor, Dienerschaft war da, alles schwach -
lich und milchig wie hinter triibem Glase, und anderes, noch
wesenloser, noch triiber, Gestalten windhaft hingeweht, ein Ton
Hermann Hesse « Etne Traumfolge
203
von Tadel und Vorwurf gegen mich verleidete mir das Schatten-
gestober. Nichts blieb von ihm zuriick als die Figur Paul, mein
Freund und Sohn Paul, und in seinen Ziigen zeigte und verbarg
sich ein nicht mit Namen zu nennendes, dennoch unendlich
wohlbekanntes Gesicht, ein Schulkameradengesicht, ein vorge-
schichtlich sagenhaftes Kindermagdgesicht, genahrt aus den
guten, nahrhaften Halberinnerungen fabelhafter erster Jahre.
Gutes, inniges Dunkel, warme Seelenwiege und verlome
Heimat tut sich auf, Zeit des ungestalteten Daseins, unent-
schlossene erste Wallung iiberm Quellgrund, unter dem die
Abnenvorzeit mit den Urwaldtraumen schlaft. Taste nur, Seele,
irre nur, wiihle blind im satten Bad schuldloser Dammertriebe !
Ich kenne dich, bange Seele, nichts ist dir notwendiger, nichts
ist so sehr Speise, so sehr Trank und Schlaf fur dich wie die
Heimkehr zu deinen Anfangen. Da rauscht Welle um dich, und
du bist Welle, Wald, und du bist Wald, es ist kein AuBen und
Innen mehr, du fliegst Vogel in Liiften, schwimmst Fisch im
Meer, saugst Licht und bist Licht, kostest Dunkel und bist
Dunkel. Wir wandern, Seele, wir schwimmen und fliegen, und
lacheln und kniipfen mit zarten Geistfingem die zerrissenen
Faden wieder an, tonen selig die zerstorten Schwmgungen aus.
Wir suchen Gott nicht mehr. WirsindGott. Wir sind die Welt.
Wir toten und sterben mit, wir schaffen und auferstehen mit
unseren Traumen. Unser schonster Traum, der ist der blaue
Himmel, unser schonster Traum der ist das Meer, unser schon-
ster Traum der ist die stemhelle Nacht, und ist der Fisch, und
ist der helle frohe Schall, und ist das helle frohe Licht — alles
ist unser Traum, jedes ist unser schonster Traum. Eben sind
wir gestorben und zu Erde geworden. Eben haben wir das
Lachen erfunden. Eben haben wir ein Sternbild geordnet.
Stimmen tonen, und jede ist die Stimme der Mutter. Baume
rauschen, und jeder hat iiber unsrer Wiege gerauscht. StraBen
laufen in Sternform auseinander, und jede StraBe ist der Heim-
weg.
Der, der sich Paul nannte, mein Geschopf und Freund, war
wieder da und war so alt wie ich geworden. Er glich einem
Jugendfreunde, doch wufit’ ich nicht welchem, und ich war
darum gegen ihn etwas unsicher und zeigte einige Hoflichkeit.
Daraus zog er Macht. Die Welt gehorchte nicht mehr mir, sie
gehorchte ihm, darum war alles Vorige verschwunden und in
demiitiger Unwahrscheinlichkeituntergegangen, beschamt durch
ihn, der nun regierte.
Wir waren auf einem Platz, der Ort hiefi Paris, und vor mir
stand ein eisemer Balken in die Hohe, der war eine Leiter und
hatte zu beiden Seiten schmale eiserne Sprossen.an denen konnte
man sich mit den Handen halten und mit den Fiifien auf sie
treten. Da Paul es wollte, kletterte ich hinan, und er daneben
auf emer ebensolchen Leiter. AIs wir so hoch geklettert waren
wie ein Haus und wie ein sehr hoher Baum, begann ich Bangig-
keit zu filhlen. Ich sah zu Paul hiniiber, der fiihlte keine Bangig-
keit, aber er erriet die meine und lachelte.
Einen Atemzug lang, wahrend er lachelte und ich ihn ansah,
war ich ganz nahe daran, sein Gesicht zu erkennen und seinen
Namen zu wissen, eine Kluft von Vergangenheit rifi auf und
spaltete sich bis zur Schiilerzeit hinab, zuriick bis da wo ich
zwolfjahng war, herrlichste Zeit des Lebens, alles voll Duft, alles
genial, alles mit einem eflbaren Duft von frischem Brot und mit
einem berauschenden Schimmer von Abenteuer und Heldentum
vergoldet — zwolfjahrig war Jesus, als er im Tempel die Ge-
lehrten beschamte, mit zwolf Jahren haben wir alle unsere Ge-
lehrten und Lehrer beschamt, waren kliiger als sie, genialer als
sie, tapferer als sie. Anklange und Bilder stiirmten in Knaueln
auf mich ein : vergessene Schulhefte, Arrest in der Mittagstunde,
ein mit der Schleuder getoteter Vogel, eine Rocktasche klebrig
voll gestohlener Pflaumen, wildes Bubengeplatscher im Schwimm-
bad, zerrissene Sonntagshosen und innig schlechtes Gewissen,
heifies Abendgebet um lrdische Sorgen, wunderbar heldische
Prachtgefiihle bei einem Vers von Schiller
Es war nur ein Sekundenblitz, gierig hastende Bilderfolge ohne
, im nachsten Augenblick sah Pauls Gesicht mich
wieder an, qualend halbbekannt. Ich war meines Alters nicht
mehr sicher, moglich dafi wir Knaben waren. Tiefer und tiefer
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
205
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unter unsern diinnen Leitersprossen lag die StraBenmasse,
welche Paris hiefi. Als wir hoher waren als jeder Turm, gingen
unsre Eisenstangen zu Ende und zeigten sich jede mit einem
wagrechten Brett gekront, einer winzig kleinen Plattform. Es
schien unmoglich, sie zu erklimmen. Aber Paul tat es gelassen,
und ich muBte auch.
Oben legte ich mich flach aufs Brett und sah iiber den Rand
hinunter, wie von einer kleinen hohen Wolke. Mein Blick fiel
wie ein Stein ins Leere hinab und kam an kein Ziel, da machte
mem Kamerad eine deutende Gebarde, und ich blieb an einem
wunderlichen Anblick haften, der mitten in den Liiften schwebte.
Da sah ich, iiber einer breiten Strafie in der Hohe der hochsten
Dacher, aber noch unendlich tief unter uns, eine fremdartige
Gesellschaft in der Luft, es schienen Seiltanzer zu sein, und
wirklich lief eine der Figuren auf einem Seil oder einer Stange
dahin. Dann entdeckte ich, daB es sehr viele waren und fast
lauter junge Madchen, und sie schienen mir Zigeuner oder wan-
demdes Volk zu sein. Sie gingen, lagerten, safien, bewegten sich
in Dachhohe auf einem luftigen Geriiste aus diinnsten Latten
und laubenahnlichem Gestange, sie wohnten dort und waren
heimisch in dieser Region. Unter ihnen war die StraBe zu ahnen,
ein feiner schwebender Nebel reichte von unten her bis nahe an
ihre FiiBe.
Paul sagte etwas dariiber. „Ja“, antwortete ich, ,,es ist riih-
rend, alle die Madchen."
Wohl war ich viel hoher als jene, aber ich klebte angstvoll auf
meinem Posten, sie indessen schwebten leicht und angstlos, und
ich sah, ich war zu hoch, ich war am falschen Ort. Jene hatten
die richtige Hohe, nicht am Boden und doch nicht so teufhsch
hoch und fern wie ich, nicht unter den Leuten und doch nicht
so ganz veremsamt, auBerdem waren sie viele. Ich sah wohl, daB
sie eine Seligkeit darstellten, die ich noch nicht erreicht hatte.
Aber ich wufite, daB ich irgendeinmal wieder an meiner un-
geheuren Leiter werde hinabklettern miissen, und der Gedanke
daran war so beklemmend, daB ich Ubelkeit spiirte und es keinen
Augenblick mehr hier oben aushalten konnte. VerzweiflungsvoII
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Hermann Hesse * Eine Traumfolge
und zitternd vor Schwindel tastete ich mit den Fiifien unter mir
nach den Leitersprossen — sehen konnte ich sie vom Brett aus
nicht — und hing grauenvolle Minuten, krampfhaft angeklam-
mert, in der schiimmen Hohe. Niemand half mir, Paul war fort.
In tiefer Bangigkeit tat ich gefahrliche Tritte und Griffe, und
ein Gefiihl hiillte mich wie Nebel ein, ein Gefiihl, dafi nicht die
hohe Leiter und der Schwindel es war, was ich auszukosten und
durchzumachen habe. Alsbald verlor sich denn auch die Sicht-
barkeit und Ahnlichkeit der Dinge, es war alles Nebel und un-
bestimmt. Bald hing ich noch in den Sprossen und spiirte
Schwindel, bald kroch ich klein und bang durch furchtbar enge
Erdschachte und Kellergange, bald watete ich hoffnungslos im
Sumpf und Kot und fiihlte wiisten Schlamm mir bis zum Munde
steigen. Dunkel und Hemmung iiberall. Furchtbare Aufgaben
mit ernstem, doch verhiilltem Sinn. Angst und SchweiB, Lah-
mung und Kalte. Schweres Sterben, schwereres Geboren-
werden.
Wieviel Nacht ist um uns her! Wieviel bange, arge Qualen-
wege gehen wir, geht tief im Schacht unsre verschiittete Seele,
ewiger armer Held, ewiger Odysseus! Aber wir gehen, wir
gehen, wir biicken uns und waten, wir schwimmen erstickend im
Schlamm, wir knechen die glatten bosen Wande hman. Wir
weinen und verzagen, wir jammern bang und heulen leidend auf .
Aber wir gehen weiter, wir gehen und leiden, wir gehen und
beifien uns durch.
Wieder stellte aus dem triiben Hollenqualme Bildlichkeit sich
her, wieder lag ein kleines Stuck des finstern Pfades vom ge~
staltenden Licht der Erinnerungen beschienen, und die Seele
drang aus dem Urweltlichen in den heimatlichen Bezirk der Zeit.
Wo war das ? Bekannte Dinge sahen mich an, ich atmete Luft,
die ich wiedererkannte. Ein Zimmer groB im Halbdunkel, eine
Erdollampe auf dem Tisch, meine eigene Lampe, ein groBer
runder Tisch, etwas wie ein Klavier. Meine Schwester war da
und mein Schwager, vielleicht bei mir zu Besuch, oder vielleicht
ich bei ihnen. Sie waren still und sorgenvoll, voll Sorgen um
mich. Und ich stand im groBen diistern Zimmer, ging hin und
Hermann Hesse * Eine Traumfolge
207
her und stand und ging in einer Wolke von Traurigkeit, in einer
Flut von bitterer, erstickender Traurigkeit. Und nun fing ich
an, irgend etwas zu suchen, nichts Wichtiges, ein Buch oder eine
Schere oder so etwas, und konnte es nicht finden. Ich nahm die
Lampe in die Hand, sie war schwer und ich war furchtbar miide,
ich stellte sie bald wieder ab und nahm sie doch wieder, und
wollte suchen, suchen, obwohl ich wufite, dafi es vergeblich sei.
Ich wiirde nichts finden, ich wiirde alles nur noch mehr ver-
wirren, die Lampe wiirde mir aus den Handen fallen, sie war so
schwer, so qualend schwer, und so wiirde ich weiter tasten und
suchen und durchs Zimmer irren, mein ganzes armes Leben lang.
Mein Schwager sah mich an, angstlich und etwas tadelnd. „Sie
merken, dafi ich wahnsinnig werde“, dachte ich schnell und
nahm wieder die Lampe. Meine Schwester trat zu mir, still, mit
bittenden Augen, voller Angst und Liebe, dafi mir das Herz
brechen wollte. Ich konnte nichts sagen, ich konnte nur die
Hand ausstrecken und abwinken, abwehrend winken, und ich
dachte : „Lafit mich doch ! LaBt mich doch ! Ihr konnt ja nicht
wissen, wie mir ist, wie weh mir ist, wie furchtbar weh !“ Und
wieder : „LaBt mich doch ! LaBt mich doch !“
Das rotliche Lampenlicht floB schwach durchs groBe Zimmer,
Baume stohnten draufien im Wind. Einen Augenblick glaubte
ich die Nacht drauBen innerlichst zu sehen und zu fiihlen : Wind
und Nasse, Herbst, bitterer Laubgeruch, Blattergestiebe vom
Ulmenbaum, Herbst, Herbst! Und wieder einen Augenblick
lang war ich nicht ich selber, sondern sah mich wie ein Bild : ich
war ein bleicher, hagerer Musiker mit flackemden Augen, der
hieB Hugo Wolf und war an diesem Abend im Begriff wahn-
sinnig zu werden.
Dazwischen mufite ich wieder suchen, hoffnungslos suchen
und die schwere Lampe heben, auf den runden Tisch, auf den
Sessel, auf einen BiicherstoB. Und mufite mit flehenden Ge-
barden abwehren. wenn meine Schwester mich wieder traurig
und behutsam anblickte, mich trosten wollte, mir nahesem und
helfen wollte. Die Trauer in mir wuchs und fiillte mich zum
Zerspringen, und die Bilder um mich her waren von einer er-
777777
208
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
greifend beredten Deutlichkeit, viel deutlicher, ads jede Wirk-
lichkeit sonst ist ; ein paar Herbstblumen im Wasserglas, eine
dunkelrotbraune Georgine darunter, gliihten in so schmerzlich
schoner Einsamkeit, jedes Ding und auch der blinkende Messing-
fufi der Lampe war so verzaubert schon und von so schicksals-
voller Einsamkeit umdrungen wie auf den Bildern der groBen
Maler.
Ich spiirte mein Schicksal deutlich. Noch ein Schatten mehr
in diese Traurigkeit, noch ein Blick der Schwester, nocb ein
Blick der Blumen, der schonen seelenvollen Blumen — dann floB
es liber und ich sank im Wahnsinn unter. ,,Lafit mich ! Ihr wiBt
ja nicht!“ Auf der polierten Wand des Klaviers lag ein Strahl
Lampenhcht im schwarzlichen Holz gespiegelt, so schon, so ge-
heimmsvoll, so gesattigt von Schwermut!
Jetzt erhob sich meine Schwester wieder, sie ging gegen das
Klavier hiniiber. Ich wollte bitten, wollte innig abwehren, aber
ich konnte nicht, es reichte keinerlei Macht mehr aus meiner
Vereinsamung heraus und zu ihr hiniiber. O ich wufite, was
jetzt kommen mufite. Ich kannte die Melodie, die jetzt zu Wort
kommen und alles sagen und alles zerstoren muBte! Ungeheure
Spannung zog mein Herz zusammen, und wahrend die ersten
gliihenden Tropfen mir aus den Augen sprangen, stiirzte ich
mich mit Kopf und Handen iiber den Tisch hin und horte und
empfand mit alien Sinnen und mit neuen Smnen dazu. Text und
Melodie zugleich, Wolfsche Melodie, den Vers:
Was wisset ihr, dunkle Wipfel,
Von der alten schonen Zeit?
Die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie so weit, so weit!
Damit glitt vor mir und in mir die Welt auseinander, versank
in Tranen und Tonen, nicht zu sagen wie hingegossen, wie stro-
mend, wie gut und schmerzlich ! O Weinen, o siifies Zusammen-
brechen, seliges Schmelzen. Alle Biicher der Welt voll Gedanken
und Gedichten sind nichts gegen eine Minute Schluchzen, wo
Gefiihl m Strdmen wogt, Seele tief sich selber fiihlt und findet.
»
Hermann Hesse ♦ £i«« Traumfolge
209
Tranen sind schmelzendes Seelen-Eis, dem Weinenden sind alle
Engel nah.
Ich weinte mich, alle Anlasse und Griinde vergessend, von
der Hohe unertraglicher Spannung in die milde Dammerung all-
taglicher Gefiihle hinab, ohne Gedanken, ohne Zeugen. Da-
zwischen flattemde Bilder: ein Sarg, darin lag ein mir so lieber,
so wichtiger Mensch, doch wuBte ich nicht wer. Vielleicht du
selber, dachte ich, da fiel ein anderes Bild mir ein, aus groBer
zarter Feme her. Hatte ich nicht einmal, vor Jahren oder in
einem friiheren Leben, ein wunderbares Bild gesehen: ein Volk
von jungen Madchen hoch in Liiften hausend, wolkig und
schwerelos, schon und selig, leichtschwebend wie Luft und satt
wie Streichmusik?
Jahre flogen dazwischen, drangten mich sanft und machtig von
dem Bilde weg. Ach, vielleicht hatte mein ganzes Leben nur den
Sinn gehabt, diese holden schwebenden Madchen zu sehen, zu
ihnen zu kommen, ihresgleichen zu werden! Nun sanken sie
fern dahin, unerreichbar, unverstanden, unerlost, von verzwei-
felnder Sehnsucht miid umflattert.
Jahre fielen wie Schneeflocken herab und die Welt war ver-
andert. Betriibt wanderte ich einem kleinen Hause entgegen.
Mir war recht elend zumut, und ein banges Gefvihl im Munde
hielt mich gefangen, angstlich tastete ich mit der Zunge an einen
zweifelhaften Zahn, da sank er schon schrage weg und war aus-
gefallen. Der nachste — auch er ! Ein ganz junger Arzt war da,
dem ich klagte, dem ich bittend einen Zahn mit den Fingem
entgegenhielt. Er lachte leichtherzig, winkte mit fataler Berufs-
gebarde ab und schiittelte den jungen Kopf — das mache nichts,
ganz harmlos, komme jeden Tag vor. Lieber Gott, dachte ich.
Aber er fuhr fort und deutete auf mein linkes Knie: da sitze es,
da sei hingegen nimmer zu spafien. Furchtbar schnell griff ich
ans Knie hinab — da war es ! Da war ein Loch, in das ich den
Finger legen konnte, und statt Haut und Fleisch nichts zu er-
tasten als eine gefiihllose, weiche, lockere Masse, leicht und
faserig wie welkes Pflanzengewebe. 0 mein Gott, das war der
Verfall, das war Tod und Faulnis! „Da ist nichts mehr zu
210
Hermann Hesse ♦ Eine Traumfolge
machen?“ fragte ich mit miihsamer Freundlichkeit. „Nichts
mehr“, sagte der junge Arzt, und war weg.
Ich ging erschopft dem Hauschen entgegen, nicht so ver-
zweifelt wie ich hatte sein miissen, sogar fast gleichgiiltig. Ich
muBte jetzt in das Hauschen gehen, wo meine Mutter mich er-
wartete — hatte ich nicht ihre Stimme schon gehort ? ihr Gesicht
gesehen ? Stufen fiihrten hinauf, wahnsinnige Stufen, hoch und
glatt ohne Gelander, jede ein Berg, ein Gipfel, ein Gletscher.
Es wurde gewifi zu spat — sie war vielleicht schon fort, vielleicht
schon tot ? Hatte ich sie eben nicht wieder rufen horen ? Schwei-
gend rang ich mit dem glatten Stufengebirge, fallend und ge-
quetscht, wild und schluchzend, klomm und preBte mich,
stemmte brechende Arme und Knie auf, und war oben, war am
Tor, und die Stufen waren wieder klein und hiibsch und von
Buchsbaum eingefaBt. Jeder Schritt ging zah und schwer wie
durch Schlamm und Leim, kein Vorwartskommen, das Tor
stand offen, und drinnen ging in einem grauen Kleid meine
Mutter, ein Korbchen im Arm, still und in Gedanken. O, ihr
dunkles, schwach ergrauendes Haar im kleinen Netz ! Und ihr
Gang, die kleine Gestalt! Und das Kleid, das graue Kleid —
hatte ich denn alle die vielen, vielen Jahre her ihr Bild ganz ver-
loren, gar niemals nchtig mehr an sie gedacht?! Da war sie, da
stand und gmg sie, nur von hinten zu sehen, ganz wie sie war,
ganz klar und schon, lauter Liebe, lauter Liebesgedanke !
Wiitend watete mein lahmer Schritt in der zahen Luft, Pflan-
zenranken wie diinne starke Seile umschlangen mich mehr und
mehr, feindselige Hemmnis iiberall, kein Vorwartskommen!
„Mutter !“ rief ich — aber es gab keinen Ton . . . Es klang nicht.
Els war Glas zwischen ihr und mir.
Meine Mutter ging langsam weiter, ohne zuriickzublicken,
still in schonen sorglichen Gedanken, strich mit der wohlbe-
kannten Hand einen unsichtbaren Faden vom Kleide, biickte
sich iiber ihr Korbchen zum Nahzeug. 0 das Korbchen ! Darin
hatte sie mir einmal Ostereier versteckt. Ich schrie verzweifelt
und lautlos. Ich lief und kam nicht vom Ort ! Zartlichkeit und
Wut zerrten an mir.
Hermann Hesse * Eine Traumfolge
21 I
Und sie ging langsam weiter durch das Gartenhaus, stand in
der jenseitigen offenen Tiir, schritt ins Freie hinaus. Sie senkte
den Kopf ein wenig zur Seite, sanft und horchend, ihren Ge~
danken nach, hob und senkte das Korbchen — ein Zettel fiel mir
ein, den ich als Knabe einmal in ihrem Korbchen fand, darauf
stand von ihrer Ieichten Hand aufgeschrieben, was sie fur den
Tag zu tun und zu bedenken vorhatte — ..Hermanns Hosen aus-
gefranst — Wasche einlegen — Buch von Dickens entlehnen —
Hermann hat gestem nicht gebetet.“ — Strome der Erinnerung,
Lasten von Liebe!
Umschniirt und gefesselt stand ich am T or, und driiben ging
die Frau im grauen Kleide langsam hinweg, in den Garten, und
war fort.
212
Ludwig Bdutner * Lied der Dichier
KLEINE ANTHOLOGIE
Budwig ‘Baumer:
LIED DER DICHTER
Wird ein Sommer sein, an Kreuzen aufgerichtet,
Eselinnen iiber Purpur schreiten,
Angst des Weltalls wird zum Schwamm verdichtet
Unsre stillen Lippen suchtumgleiten.
Und uns werden immer nur die Kinder ernten
Uns in ihre unermessnen Hande liefem,
DaB wir ihre wundervollen nachtbesternten
Siichte einer ungeahnten und als Himmel tiefem
Landschaft in die aufgetanen Munde reichen.
Wird einmal ein Friihling ohne gleichen
Wie ein Mord am Winter durch die StraBen ziehn,
Uber unsre Augenhohlen streichen,
Und sie miissen wieder wie ein Anfang gliihn.
Ottokar Brezina * Erloschen tausend Sterne
Otfolcar brezina:
ERLOSCHEN TAUSEND STERNE . . .
Erloschen tausend Sterne wie gliihende Weihrauchkorner,
die bei jaher Gebarde aus dem Rauchfafi im Raum sich ver-
st reu ten,
und Duft, unendlich gestiegen, hat das erblaBte Antlitz der
Engel verhiillt,
Doch horen wir’s bang im Klang ihres Hymnus :
Aus Liebe zu uns erbebten sie! Tag naht und findet uns un-
geriistet !
Aufruhr durchtobt unsre Gassen ! Sieh, Glocken tonen entsetzt
und noch kein Brand zu gewahren ! Nur Vogel weissagend
wie schwarze Konstellationen umkreisen uns oben.
Von Millionen Nahenden sehn unsre Stadt wir belagert.
Stets Neue drangen heran aus den Zeiten. Was weint ihr?
Und laBt Furcht der Liebenden Handen
die Rosen entsinken? Sind nicht die Sieger unsere Briider
und der Spender des Sieges nicht unser Vater?
Es sinke, was aus schwarzem Vulkanblock der Gehenna wir
bauten,
zu Schutthaufen nieder ! Schonere Stadte als die unsre
sah der Blick der Propheten. Und doch kam im Rauch ihrer
kiinftigen Feuer
Blutweinen in die Augen, weit auf in Ekstase!
Fur Graber zahlloser Korper reicht die Tiefe der Erde,
doch dem Fluge der Seelen geniigt nicht das All, nicht die
bliihenden Welten.
;v/'v>
2 1 4 Ottokar Brezina ♦ Erloschen tausend Sterne . .
Mit weifien Sonnen wie mit Marmor streben sie zu bauen und
die Sekunde ihrer Freude
fur ewig dariiber zu wolben als Himmel !
Offnet die Tore! Bekranzte Jungfrauen lafit smgen! Und zu
den Entfemtsten
entsendet die Botschaft der Liebe gleicb Tauben! Sie ruhen
aus auf den Herzen der Briider
und finden zur mystischen Heimat den Weg durchs Unendliche,
wo gelesen wird ihre verborgene Schrift.
Mogen vor uns in den verbrannten Gassen tanzen die Flammen
wie Gefangene im Triumph! Wir fesseln bose Krafte mit
magischer Kette.
Und zwingen die Erde zu bliihn, wie nie sie gebliiht,
und schreiten durch Rosen der Unsterblichkeit zu.
(‘Deutscfi von Olto Vickj
Rudolf Fuchs ♦ Dcr Fluchtling
215
n{udoff (Fuchs :
DER FLUCHTLING
Das Haus war starr von Nacht und scharfen Waffen,
und Brandgeruch belagerte den Zaun,
als er, das Schicksal sich vom Hals zu schaffen,
sich unter blasse Sterne konnte traun.
Und als die Schritte langsamer sich fanden
und boser Aufruhr wie ein Traum verblich,
erblickte er sich bange auferstanden,
und seine wehen Worte sangen sich:
„Wie vieles nannt ich Du vor diesen Tagen!
Und wieder harrt die Pforte angelweit,
nichts wehrt mir, mich mit Kranzen umzutragen
fiir Madchen, Himmel, Baum und Abendzeit,
fur bunte Fahnen, die im Taumel wehen
und fiir die Schatten, welche immerzu
den Feiertagen sich entgegendrehen —
Ich aber zu mir selber sage : Du !“
Und also ausgestoBen aus der Mitte
beriihrte er den steilen Kiistenstrich,
GeroIIe taumelte um seine Schritte,
und unten schrie die Brandung.
Dem Sturme iiberliefi er seine Schwelle
(die arme Wohnung atemlos und leer)
und miindete im Augenblick der Welle
aus seiner Wunde in das groBe Meer.
34 Vol. IH/2
\-l.
216 Max Herrmann ♦ Ihr im Sommer leeren Dacher, Dielen . .
HT(ax 3ferrmann:
IHR IM SOMMER LEEREN DACHER, DIELEN
Ihr im Sommer leeren Dacher, Dielen,
Hofe, und ihr weiBen Villen, deren
Schone Fraun und Herrn an fernen Seen
Mit der Lassigkeit des Freiseins gehen,
Biihnenhauser, ausgebrannt wie Gruben,
Und ihr grtin verstummten Vorstadtstuben,
Wo jetzt Stieglitze Verstecken spielen,
Schulen, die in Ferien verwildern,
Staub auf Banken, Tafeln, Kaiserbildern,
O wie lehnt ihr arm in eurer Leere,
Jede stohnt: ,,Wie ich Getrieb entbehre!
Wo sind meiner flinken Schwarme Fiillen,
DaB sie mich in lauter Warme hiillen,
Dafi sie mich mit ihrem immer wachen
Atemwmd zu einer Harfe machen ?“
Ach, den Glocken auf den Korridoren
1st die strenge Stimme wie erfroren,
Und die Geige hat Gefiihl und Jung-Sein
Und die Uhr ihr Augenlicht verloren,
Und der Treppen friihes auf dem Sprung sein
Hangt wie umgebracht und ungeboren !
0 wie fiihl ich eure arme Leere
Tief im Herzen mit und dieser bangen
Langen Weile laue Sonntagsschwere !
Und der Barren und die Kletterstangen
Und der lustige Rundlauf sind Gespenster
Max Herrmann ♦ I hr im Sommer leeren Dacher, Dtelen ... 2)7
Wie die Furcht der lautlos starren Fenster,
Die zuvor wie Morgenwalder sangen,
Wenn das Lineal verstohlen Takt schlug
Und das Pfeifen auf dem Federkasten
Einen Traumer zur beglanzten Schlacht trug . . .
Wie vergeh ich im erzwungnen Fasten
Der Biifetts und ungedeckten Tische,
Wo die hellen Frauen rastend safien
Und mit schmalen Gesten tastend afien
Und im Garten sterben eure Fische,
Denen Fremde gutzutun vergaBen!
Wie vergeh ich mit den leeren Stiihlen
Der Parkette und der Logen-Lucken,
Und im Staub, wie eingestiirzte Briicken,
Triimmern so geblieben von Kulissen
Und Maschinen jah gehemmt wie Miihlen,
Deren Rad mit Eins auf Halt gerissen!
Wie vergeh ich mit den Sofakissen
Und den Vasen und dem Aschenbecher
Hinter den geschloBnen Jalousien —
Wann wird wieder heimlich an gewissen
Sonntagnachmittagen Schal und Facher
Bei euch sein und jemand auf euch knien,
Wann Beschworung immer schwtiler, wilder
Und verwirrter Zartlichkeit Geraun
Rinnen iiber Spiegel, Buch und Bilder
Und euch wieder in das Leben baun!
Wie vergeh ich grau in eurem Graun !
Aber ihr seid nur fiir kurze Zeit
Leichthin weggelegt und fast vergessen,
Nur fur Wochen sachte eingeschneit.
218 Max Herrmann * I hr im Sommer leeren Dicker, Dielen . . .
Ihr habt Pflicht und Werk besessen
Und es wird euch immer wieder werden,
Wenn mit weichen Wiederkehr-Gebarden
Sich Willkommenkranze wehend winden
Und die ausgeruhten, muntern Fiifie
Euren Fliesen flinkre Tanze finden,
Und die alten guten MorgengriiBe
Und die alten guten SchluB- Chorale
Wieder Glied an Glied zur Kette binden.
Wie beneid* ich eure lauten Sale!
Denn ich bin ein ganzes banges Leben
Hilflos leergelassen und verschiittet,
Keiner Seele darf ich Antwort geben,
Keinem Lied im gleichen Echo schweben,
Keine miide Schwester betten, keiner
Diirstenden den Krug zum Munde heben ;
Niemand, war’ er noch so wiist zerriittet,
Der vor meinem Haus um Obdach bittet,
Niemand, der mich „Iieben Lehrer“ nennt!
Ungeniitzt verkiimmern meine Gaben,
Weder Sommer darf, noch Herbst ich haben,
Und wie junges, grimes Gras verbrennt,
Geh’ ich ungeemtet aus als Einer,
Der die eignen Kinder nicht erkennt.
Gerhart Husserl ♦ Abend
2 19
Gerhart SJfusserf:
ABEND
Die Strafie sticht den Abend in die Seite
Und golden tranend beugt er seinen Leib
Raffend mit Hasten seine blaue weite
Fallende Tracht, in der die unbereite
Hand sich verbricht in Formenfellvertreib.
Die Waffe fiel mehr, denn ein Arm sie ziickte.
Die Stadt verlieB die Riistung vor dem Bad
Und nun, da alles mit den Wellen riickte.
In deren Ketten tiefe Bindung gliickte,
Rollte das Pflaster wie ein schnelles Rad,
Von Hauch und Nebel siegend angeblasen —
Da kam der ungenaue Gegenstand:
In Stein und Abhang splitterte der Rasen,
Die Steme standen auf in schlanken Vasen
Und klirrend schlug und brach des Rades Rand.
220
Bernhard Guttmann ♦ Huber und Cox
ernfiard Quiimann:
HUBER UND COX
EIN zeitcenOssisches gesprAch
fTlus einer ‘BrofcfiHre, einem kfeinen fKunftwerfe, das Gugen
‘Diederichs in (Jena verfegt fiat. Vie psychologize JCraft der
1 Varfleffung ift von reiffler Oronie umfloffen und tuweilen wie hin*
Zmef*end in ihr, wenn dii Grkenntnis in afle fflnarchien zu
mOnden dr o fit.
IE waren beide kraftige Manner, von gutem Wuchse und
aufrechter Haltung. Sie stutzten bei der Begegnung ; sogleicb
spiirte einer im andern den ebenbiirtigen Ringer. Weil aber
beides Menschen von groBem personlichem Mute waren, so
liefien sie sicb mit zum AuBersten entschlossener Miene auf
die Enden der Bank nieder, zwischen sich zwei Ellen Holz und
einen Ozean des Widerwillens. Miirrisch geradeaus blickend,
schwiegen die zwei nebeneinander her. Da ereignete sich etwas
Merkwvirdiges, das die Situation griindlich verandem sollte.
Der eine Mann namlich, der am rechten Ende der Bank saB
und Cox hiefi, weil sein Vater so geheiBen hatte, empfand in-
folge eines aufgehenden Seewindes einen Niesreiz, zog ein vio-
lettseidenes Tuch aus der Tasche und wollte es auseinander-
falten, als die namliche Brise seinen unachtsamen Fingem den
leichten Gegenstand entfiihrte. Der Fluchtling kam nicht weit ;
er flatterte seitwarts und strandete am felsigen Kap einer Nase.
Diese gehorte dem andern Herm, einem gewissen Huber, und
der faBte, wahrend ein unwillkiirliches Lacheln beider Gesichter
iiberflog, den Deserteur mit festem Griffe und gab ihn dem
rechtmaBigen Eigentumer mit einer schwachen Verbeugung
zuriick. Rasch und mit mehr Hoflichkeit, als er vor seinem Vater-
Bernhard Gutimann * Huber und Cox 22 1
lande eigentlich verantworten konnte, sagte Cox : „Thank you.
Sir !“, was auf der Gegenseite eine neue Verbeugung und ein
unbestimmtes, aber nicht geradezu feindseliges Gerausch zur
Folge hatte. Damit hatte der Zwischenfall beendet sein sollen,
aber der Strudel einmal ins Wallen geratener Empfindungen
rib Cox fort. Halblaut, zogernd, aber doch vemehmlich sagte
er, dab der Tag schon sei. Nun weib jedermann, dab eine der-
artige Wetternachricht von keinem Englander umsonst gemacht
wird, sondem immer einen Beweis keimenden Vertrauens lie-
fert. Sie kann zu einem Heiratsantrag flihren oder zu dem Ver-
sucb, hundert Pfund Sterling zu borgen, aber stets bekundet
sie den Willen, tiefere menschliche Beziehungen einzuleiten.
Huber war iiberrascht, beunruhigt. Er kannte die Arglist des
Feindes und fiirchtete sie. Dennoch hielt er es fur unpolitisch,
seinen Gegenpart geradeaus zuriickzustoben, sondem antwortete
mit einer vorsichtigen Bejahung. Cox fiihlte sich ermutigt und
strengte eben seinen Geist an, um etwas geradeso Gliickliches
zu sagen wie vorhin, als sich plotzlich vier neue Ankommlinge
in dem Raume zwischen beiden auf der Bank niederlieben.
Els ist eine Tatsache des Lebens, die von der Wissenschaft
noch nicht entdeckt worden ist, dab ein Mensch und ein anderer
Mensch nur so lange zwei sind, als sie stumm nebeneinander
sitzen, aber mehr als zwei, wenn sie zu reden anfangen. Eins
und ems machen blob in der Algebra ein Paar. Sind ein Apfel
und eine Nub zwei? Und ist der Mensch von seinesgleichen
nicht verschiedener als Apfel von Nub? Jemand hat die These
aufgestellt, dab an jeder Unterhaltung zwischen A und B nicht
zwei Personen beteiligt sind, sondem sechs. Erstens Herr A
selber in Fleisch und Blut, vom Stehkragen bis zu den Lack-
schuhen. Dann sitzt einer dabei, der fiir gewohnliche Augen
unsichtbar bleibt. Dieser A2, der auf Beschauer den allervor-
teilhaftesten Eindruck machen wiirde, wenn man ihn erblicken
konnte, verkorpert die Vorstellung A’s von sich selber. A*
dann ist das Wesen, das B in A sieht. Eine ebensolche Reihe
geht auch von Herm B aus. Beginnt nun die [Conversation, so
entsteht Wirrwar. A2 macht zu B eine Bemerkung, die B2
7777777
222
Bernhard Guttmann * Huber und Cox
falsch deutet, worauf B* so antwortet, dafi nach mehreren un-
ergiebigen Zwischenreden aller Anwesenden A verstimmt von
dannen geht und B seine friihere ungiinstige Ansicht von die-
sem Patron bestatigt findet. Diese Erfahrung machen wir tag-
Iich, wiewohl festzustellen ist, dafi mit unserm eigenen Altem
A* und A 8 sich stiller und kleinlauter zeigen; denn sie
schrumpfen zusammen, je gleicKgiiltiger wir uns selbst und
anderen allmahlich werden. Nach zwanzig Jahren einer in
jedem Sinne gliicklichen Ehe kennen Sie das Innenleben Ihrer
Gattin noch nicht vollig, immer horen Sie gelegentlich wieder
ein Wort, das Sie besturzt macht, ja krankt, einer Dame, der
Sie so lange Ihr Vertrauen geschenkt, nicht ganz wiirdig zu sein
scheint. Friiher war es schlimmer, Sie glaubten manchmal in
einem tiirkischen Serail zu hausen und erwachten jeden Morgen
mit einer andem Frau. Ahnliches hat aber auch Ihre Gemahlin
erfahren .
Nachdem wir also, ohne dafi es uns etwas kostete, zwischen
Huber und Cox vier neue Leute aus der Erde gestampft haben,
fiihren wir diese beim Publikum ein. Der eine, der Huber zu-
nachst Platz nahm, war ein schoner, sogar ein wunderschoner
Mann. Er war sechs Fufi hoch, besafi voiles blondes Haar.
mehrere Schlagerschmarren auf der Backe und tiefe, strahlende
blaue Augen, die im Gewiihl der Schlacht den Feind wie sen-
gender Stahl anblitzten und doch so unendlich mild und giitig
blicken konnten, wenn Edelhuber — so hiefi er und war wissen-
schaftlicher Hilfslehrer an der Oberrealschule zu Kaltenleba —
in trautem Kreise in ein treues Antlitz schaute. Ihm vollig un-
ahnlich war ein anderer, ziemlich klemer und schlecht gewach-
sener Mensch, mit zu kurzem dickem Halse, krummen Beinen,
abstehenden Ohren und Platschnase, auf der eine hafiliche
Brille safi. Seine Kleidung war schabig und unsauber, am
Rocke fehlten ihm mehrere Knopf e, die Hosen waren durch-
gestofien. Duckmauski war der Name des Individuums.
Weiter ! Zunachst Cox setzte sich, den Seidenhut in vomehm
nachlassiger Weise zum Grufie beruhrend, jemand hin, in dem
man beim ersten Anblick den vollendeten Gentleman erkannte.
Bernhard Guttmann * Huber uni Cox 223
Sir Ralph Supercox verriet in jeder Bewegung den geborenen
Aristokraten ; in der Tat hatte er, obwohl sein Vater das Geld
in einem Herrenschneidergeschaft in der Nahe von Piccadilly
gemacht hatte, noch niemals im Leben etwas gearbeitet, und
seine Gemahlin, Lady Supercox, war im vierten oder fiinften
Grade mit einem irischen Lord verwandt. Endlich zwangte sich
auf die nun stark gefiillte Bank noch ein sechster, der wie ein
Olgotze dreinsah. Er hatte wasserblaue Augen, die gleichzeitig
auBersten Stumpfsinn und eine gewisse niedrige Schlauheit ver-
kiindeten. Eine arrogant vorspringende Nase war das einzige
Auffallende in dem geistlosen und glattrasierten Gesichte ; diinne
Uppen bedeckten die zwei Reihen stark entwickelter Zahne
nicht ganzlich. Dies war Mister Jamnose; unnotig seine Natio-
nalist noch eigens anzusagen.
Als nun alle saBen, rief
Edelhuber: Heil, Heilo, Heil! Sieg dem Heerbann, Sieg
dem Wehrbann ! Hei, Wunschmaid, hei, Windsbraut ! Unsere
Gotter in Liiften, hui! Tyr, der Totende, Rotende! Donar,
der Wetterer, Schmetterer! Wodan, der Wolkische, Volkischel
Hei! Dem ReuBen Schmach! Dem Walen Zorn! Dem Briten
HaB! Hojo, hojo, hei!
Sir Ralph Supercox: Was sagt der verdammte Hunne ?
Ich will Wilhelm heiBen und Knackwiirste essen, wenn ich nur
fiir einen verdammten Penny verstehe.
Duckmauski: Er redet altgermanisch, Sir. Es ist die
Mundart, die Ihre Vorfahren Hengist und Horsa sprachen, als
sie aus unserer bettelarmen Heimat nach dem reichen und freien
England aus wanderten , umden hohen Lebensmittelpreisen und
der Arroganz einer engen bureaukratischen Kaste zu entgehen,
wie es seitdem so viele deutsche Hungerleider gemacht haben.
Edelhuber: Hengist, Horsa, hei! Germanenhelden, hei!
Reisige RoBrecken ! RoBopfer flammten euren Siegen ! Mah-
renfleisch schmausten beim Mete die Manner! Hei!
Duckmauski: Ja, Pferdefleisch essen wir bis auf diesenTag.
Edelhuber: Du Iugst, Erbarmlicher ! Wer bist du, mit
britischen Silberlingen gekaufter Judas?
v.v.v.v
224
J
' ernhard Guttmann * Huber und Cox
Sir Ralph: Beleidigen Sie meinen Freund Duckmauski
nlcht! Dleser Deutsche Jst mir ans Herz gewachsen, obwohl
er so unappetitlich aussieht und bestandig nach Wurst und
Halfpenny-Zigarren rlecht. Guter, kleiner Duckmauski! Um
ihn von dem seelentotenden Joche des preufiischen Militarismus
zu erlosen, zog ich ja in diesen Krieg.
Edelhuber: O, ihr angelsachsisches Heuchelgeziicht ! Eure
ganze Geschichte ist, wie unser Professor Tranfisch mitZitaten
aus euren eigenen Historikern schlagend gezeigt hat (hierbei
zog Edelhuber eine Anzahl Eine-Mark-Biicher aus der Tasche),
nichts als Blutdurst, Geldgier und Luge. Euer Geschichtschrei-
ber Seeley selbst bemerkt, wie der tiefgelehrte Tranfisch in
seinen unermiidlichen Forschungen aufgedeckt hat, daB bei euch
Krieg und Handel unlosbar miteinander verflochten gewesen
seien. Mit einem Worte, eure Machthaber fiihrten Krieg aus
Gewinnsucht! Pfui!
Duckmauski: Unsere Machthaber hingegen begannen
Krieg aus vornehm altruistischer Gesinnung, wie mein Neffe,
der Obertertianer, sich ausdiiickt. So nahm Friedrich der GroBe
der schonen, aber unerfahrenen Maria Theresia, als sie mit ihrer
ganzen iibngen Erbschaft gerade 1m allergroBten Schlamassel
war, Schlesien weg, um ihr die Verwaltung der Konkursmasse ein
biBchen zu erleichtern. Er wiirde recht gern mehr iibernommen
haben, wenn’s seine gedriickten Verhaltnisse erlaubt hatten.
Huber: Ich mochte wohl wissen, was Mr. Jamnose zu alle-
dem sagt. Warum sitzt er immer schweigend da?
Edelhuber: Weil er ein Automat ist und gar nicht redet,
wenn man ihm nicht ein Geldsttick in die Offnung am Hals-
kragen hineinwirft. Haben Sie schon einmal einen Englander
gesehen, der etwas umsonst tut? Geben Sie mir einen Nickel,
Huber; ich selbst besitze kein Vermogen. (Nachdem man eine
Miinze in Jamnose hineingesteckt hatte, hielt dieser den rechten
Arm steif vor sich, sperrte die Kinnbacken auseinander und
liefi aus seiner Kehle ein ratterndes Gerausch vemehmen.)
Jamnose: Ratt — ratt — Fifty Percent ! Damned Germans !
Whisky and Soda! Football! Roastbeef! Ratt — ratt —
ernhard Guttmann ♦ Huber und Cox
Huber: 1st das alles, was er sagen kann?
Edelhuber: Erwarteten Sie mehr? Es ist der Inhalt des
englischen Seelenlebens. . .
Edelhuber: Heldentum, Brite, ist Pathos des Seins. Neh-
men Sie das in sich auf! Wie andere Menschen ifit und trinkt
auch der Held, ja, er sauft leicht etwas. Doch was er tue, er
tut es rein und naiv, gleichsam vor sich hin, instinktsicher,
ohne schwachende Reflexion, ohne das Schielen auf die anderen,
auf Bezahlen oder Pumpen. Sei er reich oder arm, fremd ist
ihm das kapitalistisch niedrige Vergleichen, die Gier des Er-
werbens kennt er nicht. Vielleicht tnnken wohlhabende Helden,
wie mein Freund Pelargonienstock ist, eine oder zwei Flaschen
Champagner des Abends. Was liegt ihnen daran? Sie verachten
die Goldstiicke, mit denen sie diese Dinge bezahlen, und ihre
Gedanken sind derweilen in Himalajahohe. Die heroische Welt-
anschauung ist die letzte Verfeinerung des Reichtums. Der un-
bemittelte Held hingegen ifit mit Siegfriedslachen eine trockene
Kruste, ohne iippige Handlerschmause zu neiden, denn er ist
stark, einfach, primitiv.
Sir Ralph: Sagt’ ich’s nicht, dafi euer Heroismus auf Fis-
kalismus hinauskommen wird? Es ist eine wunderbare Erfin-
dung, die wir nachmachen miissen. Sie lost die widerwartige
soziale Frage spielend. Unser Arbeiter, der bei Rindsbraten
und griinen Erbsen iiber sein Schicksal knurrte, wird kiinftig
Brot mit Sirup bestrichen essen; anstatt Bier zu schlemmen,
wird er seinen Kindem das „Rule, Britannia** auf dem Fami-
lienkamm vorblasen und sich hierauf einfach, stark und primi-
tiv mit der Frau ins Bett legen.
Duckmauski: Ohne schwachende Reflexion! Vergessen
Sie das nicht!
Edelhuber: Der Brite ist infolge seiner Rasseneigenschaf-
ten nicht zum Heldentum fahig, selbst beim besten Willen.
AuBer uns haben nur die Tiirken das Zeug dazu, die ich nach-
stens durch eine Reihe von Vortragen mit Lichtbildern in die
heroische Denkweise einfiihren werde.
Sir Ralph: Sie reisen also nach dem Orient?
226
Bernhard Guttmann * Huber und Cox
Edelhuber: Ja, ich bin als Professor des Mittelhochdeut-
schen an die Universitat Biledschik berufen worden. Die ge-
bildete Jugend Anatoliens lechzt danach, das Nibelungenlied
in der Ursprache zu lesen. Ich habe den Beweis erbracht, daB
Hagen von Tronje ein Tiirke war.
Sir Ralph: Wie wollt Ihr aber den Osten behaupten, so-
lange wir das Meer haben ?
Edelhuber: Wir pfeifen auf das salzige Wasser.
Sir Ralph: Warum bautet ihr dann die groBe Schlacht-
flotte?
Edelhuber: Um den Briten den Sonntagnachmittagschlaf
zu verderben. Leugnen Sie etwa, daB wir unsem Zweck er-
reicht haben?
Sir Ralph: O nein, ich weifi, daB ihr Unruhstifter, Bar-
baren und Piraten seid.
Edelhuber: IhraberseidBanditen, Rauberund Intriganten.
Sir Ralph: Die deutsche Geschichte ist voller Bluttaten
und gebrochener Schwiire.
Edelhuber: Die englische wimmelt von falschen Ver-
sprechungen und meuchlerischen Uberfallen.
Duckmauski: Ja, es ist ewig schade, daB bei dieser Bluts-
und Wahlverwandtschaft ein solcher Streit herrscht. Konnten
sie nicht beisammen wohnen als Briider und in Eintracht alien
anderen die Gurgel abmachen, wo ein jeder das schone Talent
mitbringt?
(<7lun fetjt in Bernhard Quttmanns feraphifchem OCafperf-
theater ein dufierft heftiger hiftorifcfier Bisicurs ein, in deffen
*Ver fauf die cJchandtaten der beider/eitigen (Furfiengef<£fe<£ter
in fruheren und fruhejien Oahrhunderten gebuhrend gekennm
zeichnet werden. Gin befonders heftiges ‘Werturteif, das Sir
ftafph ausfpricht, bringt Gdeihuber endfich aas der cFaffung:)
Mit drohender Miene streckte er den Arm gegen Sir Ralph
Supercox aus. Die zwei erhoben sich, kamen sich naher und
schienen zu Gewaltsamkeiten iiberzugehen, als ein furchtbarer
Knall die Luft erschiitterte. Edelhuber und Supercox waren
mit den Kopfen aneinandergerannt und unter Feuerschein ex-
Bernhard Guttmann * Huber und Cox
227
plodiert; es erwies sich jetzt namlich, daB beide Personen vollig
mit Gas gefiillt waren. Im Nu wurde Duckmauski von der
Flamme ergriffen, er war ebenfalls gasiger Natur, docb enthielt
sein Inneres auch einige fliissige Saure, die beim Aufschwellen
einen auBerst ilbeln Geruch verbreitete. Zuletzt kam der teil-
nahmlos dasitzende Jamnose an die Reihe. Dieser stieB, wah-
rend er vorher geschwiegen hatte, im Tode einen Schwanen-
gesang aus, denn das Feuer brachte seine Sprechmechanik zum
Arbeiten; mehrmals horte man ihn, wahrend er schon von dich-
tem Dampf eingehlillt war, verzweiflungsvoll sagen: ..Fifty
Percent
Whisky and Soda
Fifty Percent
4t
Zuletzt verstummte er, und die Flamme erlosch. Alles, was von
den Vieren ubrigblieb, waren ein paar kleine Haufchen grauer
Asche, die nicht anders aussah, als ob sie Cox aus seiner kur-
zen Pfeife herausgeklopft hatte — ein trauriges Ende fur so viel
Geist und Kenntnisse.
Huber und Cox schwiegen etliche Minuten, als ihre Bank
wieder leer geworden war. Hierauf sprach
Cox: Nachdem wir von diesen Gasten nun befreit sind,
lassen Sie uns, damit viberhaupt etwas gerettet werde, auf die
Grundlage jeder kultivierten Gesprachsbeziehung zuriickgehen .
Ich konstatiere: Es ist ein schemer Tag, mem Herr!
Huber: Der Tag ist in der Tat sehr schon.
Cox: Waren Sie schon friiher in dieser Gegend?
Huber: Einige Male, und immer mit Vergniigen.
Cox: Ja, es ist em schones und friedliches Land, und seine
Bewohner sind weise genug, anderer Leute Handeln fernzu-
bleiben.
Huber: Aha! Ihnen ist Friedfertigkeit ein Symptom der
Weisheit ! Warum lassen die Schafe davon nicht etwas merken ?
In der Natur, die eine ganz ertragliche Lehrmeisterin des Realen
ist, sind die reifienden Tiere kltiger als die sanften. Nie war
Pallas Athene die Gottin der Pazifisten.
Cox: Wie alle klugen Leute, bekannte sie sich nicht offen
zum Pazifismus. Sie ist die Schutzpatronin der bewaffneten Neu-
tralitat: Schlage dich nur, wenn du es durchaus nicht vermeiden
ernhard Guttmann * Ruber und Cox
kannst! Und fordert es nicht Klugheit und Kraft, sein Schiff
an diesem fiirchterlichen Malstrom des Krieges hmzusteuern ?
Huber: Dieses Kompliment hatte man sich, wie mir scheint,
auch bei Ihnen verdienen konnen, wenn man sonst wollte.
Cox: Ich glaube nicht. Wir sind nicht mehr, was wir waren.
darum blieb uns nichts iibrig, als mit der ubrigen Herde zu
laufen und uns aus Korpsgeist totschlagen zu lassen. In unserer
guten Zeit, als wir die starkherzigen Kramer wirklich waren,
die Sie uns mit Unrecht noch immer scheiten, wiirden wir es
fertig gekriegt haben, neutral zu bleiben und an alle Kriegs-
parteien zu horrenden Preisen Kanonen und Baumwolle zu ver-
kaufen. Doch wo blieb die alte Kraft?
Huber: Wem ist es zweifelhaft, dafi England diesen Krieg
aus Neid und Eifersucht auf uns angerichtet hat ? Es ist Bruder-
mord, ist die Tat des Kam.
Cox: Ich wiirde lacheln, wenn die Vergleichung des aus
zwanzigtausend Schliinden Verderben speienden Deutschland
mit dem sanften Lammerhirten Abel nicht beinahe tragisch
ware. Das Merkwiirdige ist, dafi Sie uns in einem Atem hand-
lerische Profitsucht und hochst ritterlichen Blutdurst zuschrei-
ben, wie wenn Kramer ihrem besten Kunden lm Schlafe die
Kehle abzuschneiden pflegten, um den Umsatz nicht zu grofi
werden zu lassen. War Kain ein Kohlenexporteur und Abel
der Piasident ernes Chemikahentrustes?
Huber: Justitia fundamentum regnorum, wahrhaftig!
Spriiche aus Albions Schulfibel fiir halberwachsene Kontinen-
talvolker !
Cox: Sollten Sie wirklich meinen, ich wolle Ihnen weis-
machen, John Bull hatte wie ein artiges Baby fremde Rechte
niemals angeriihrt? Er hatte etwa nicht hart, riicksichtslos, ja
oft barbarisch seine Macht gebraucht? Wenn es Ihnen gefallig
ist, nehmen wir die historischen Schandlichkeiten unserer respek-
tiven Vorvater als bewiesen an und lassen den Herren Tranfisch
und Ditchwater den tristen Spafi, sich die Folianten mit den
Greueltaten gegenseitig an die Kopfe zu werfen. Dies aber ist
der Unterschied, dafi Sie die Gewalt an sich verehren und wir
Bernhard Guttmann * Huber und Cox
229
die Gewalt an sich verabscheuen. Auf die Gefahr hin, Ihre
Heiterkeit hervorzurufen, versichere ich, daB wir selbst in unse-
ren schwarzesten Zeiten nur ungern anderen Leuten die Kehle
zuschniirten. Ich weifi, daB Sie das erstens nicht glauben, zwei-
tens aber, gerade wenn es wahr sein sollte, fiir eine besonders
schmackhafte Kostprobe tief im Herzen sitzender britischer
Heuchelei ansehen. Aber just, was einer heuchelt, ist so lehr-
reich! Heuchelei lafit den Teppich der Menschenseele auf der
Riickseite sehen ; die Farben sind grotesk vertauscht, das Grund-
gewebe ist das alte. Unser Cant ist: Nicht Macht, sondem
Recht ! Euer Cant ist : Die Macht, weil sie das Recht ist ! Oder
ist Deutschland etwa nicht der Meinung, daB die Macht das
Recht erzeuge, dafi also Macht und Recht im Grunde eines
seien, so zusammengehoren wie Kopfseite und Schriftseite einer
Miinze? Und wenn sie nur verschiedene Ansichten einer und
derselben Sache sind, waren es dann nicht Recht und Unrecht
am Ende auch? Man konnte das Unrecht vielleicht anfangen
Recht zu nennen, sobald es lange genug gezeigt hat, es besitze
Zahne, um zu beiBen. Wie lange diese Probezeit dauern soil,
fiinfzig Jahre oder fiinf, das mogen die Inhaber der historischen
Lehrstiihle auf einem der so beliebten wissenschaftlichen Kon-
gresse festsetzen. Man verweise die Frage ein fiir allemal aus
dem Gebiete der Moral in das der vergleichenden Sittenge-
schichte! Was Canning von Belgien gedacht hatte? Ich wiifite
lieber, was der deutsche Bauer, wenn noch einer hinter dem
Pfluge geht, davon denkt. Zehntausend geschaftige Federn be-
weisen uns unaufhorlich, daB die Staatsethik ganz verschieden
von der Einzelethik sei. Mag dies richtig sein oder nicht, soil
es etwa heiBen, dafi die Privatethik ein stummer Hund zu sein
habe? In Ihrem Lande jedenfalls scheint nur noch Staatsethik
zu gedeihen; jeder einzelne hat sein Gewissen zu dem eines
ganzen Reiches ausgeweitet, jeder Flickschneider, der auf dem
Tische hockend seines Nachbarn Hose ausbessert, zeigt ein be-
klagenswertes Verstandnis fiir die Gedankenwelt von Premier-
ministern. Jawohl, ein Konig wird selten mit der Moral eines
Flickschneiders auskommen. Aber ich meine, Herr, der Flick-
ernhard Guttmann ♦ Huber und Cox
schneider selber sollte Flickschneidermoral haben, nicht Konigs-
moral, oder wer ist seines Lebens sicher? Wegs chaff en kann
niemand die furchtbare Kluft zwischen dem rechten Wollen
und bosen Miissen, und uns hinter euch und der Zeit Zuriick-
gebliebene schaudert’s beim Anblick des durch keine Ingenieur-
kunst der Logik zu uberbriickenden Felsenschlundes zwischen
Schicksal und Gewissen oder Staatsethik und Menschenethik;
dieser Schauder ist das Tragische. Hier eine kulturhistorische
Einschaltung : Einige unter den Nationen, die das Schicksal
iiber das Gewimmel der Volker emporzuragen bestimmt hat,
sind mit einer geheimen Bangigkeit zur GroBe hinangeschritten.
In ihren Tragodien findet sich eine trauervolle Siegesahnung
aufgefangen, wie in einem Feenspiegel, der die Erscheinungen
der Seele bannt. Jenen Augenblick zuriickbebender Selbstbe-
sinnung erfuhren die Griechen, Spanier, Englander; ja vielleicht
auch die Franzosen. Von anderer Pragung war Rom ; nur Eisen
lebte in seinem Gemiite, nur herrische Bilder, Legionentritt,
richtende Pratoren, der Erdkreis in Ketten, kein Zweifel an sich
selbst, kein tragisches Gesicht; Gottes Schmiedehammer, der
auf die Welt niederfahrt, sie zu schweiBen, zu ordnen, zu or-
ganisieren,
Huber: Nein, es ist nicht wahr, daBMacht und Recht eines
waren, und es ist nicht wahr, daB wir Deutschen solches ver-
kiindigten. Nur sind wir nicht willens, den Leuten in Paris und
London, die unsere Ohnmacht jahrhundertelang schmunzelnd
,,Recht“ genannt hatten, aufs Wort zu glauben, daB unsere
Macht „Unrecht“ sei. Wir sagen, daB Macht und Recht zuein-
ander gehoren, aber nicht wie Kopf und Schrift einer Miinze.
Sondern wie Leib und Seele den Menschen ausmachen, so bil-
den jene nur zusammen den wahren Staat. Was Macht ist, fiihlt
einer wohl, aber was Recht sei, dariiber wird man streiten diir-
fen. Ihr bringt euch allerdings in dringenden Verdacht der
Heuchelei, wenn ihr die blinde Anbetung der zuletzt geltenden
Rechtsnormen verlanget, als waren diese mit alien Gebresten
der Verganglichkeit behafteten Geschopfchen ewig bliihende
Gotterbilder. Kein Schiedsgericht wird diese Zufallsrechte
Bernhard Guttmann ♦ Huber und Cox
231
lebendig erhalten, so wenig wie eine Wagenladung von beriihm-
ten Doktoren dem Individuum, und ware es der Kaiser, sein
zufalliges Dasein lange retten kann. Niemals wird die Formel-
knechtschaft, m die uns die Juristen schlagen und die schon
das innere Leben mit Erstickung bedroht, in der auBeren Staa-
tenwelt ertragen werden, weil das Volk sich allenfalls in seiner
eigenen Sprache von seinen Baronen, Grundlords, Steuerraten
und reitenden Landgendarmen kujonieren lafit, aber nicht auch
noch von fremden Gewalthabern im riistigen freien Ausschrei-
ten gehindert zu werden ertragt. Einer wie alle sind echte
Staaten durch Willkiir und scheinbares Unrecht entstanden,
Zwingburgen waren sie erst, und Schadel in Masse sind in ihre
Walle vermauert. Alles dies und warum es sein muB, habt ihr
Westvolker vergessen, ihr fiihlet nichts mehr von den schauer-
lichen Zuckungen eures eigenen Volksleibes ; was ihr davon in
den Chroniken leset, ist euch Verleumdem eurer Ahnen nicht
der zornige und gewalttatige Drang nach Vollendung, sondem
die Roheit der unkultivierten Zeitalter. Weil wir aber mit
unserm Staate spater fertig wurden, so meint westeuropaisch-
amerikanische Plattheit, er sei etwas Erzwungenes, Lebloses,
eine blofie Sache, die einem stumpf zuschauenden Teutonen-
volk wider seinen Instinkt aufgeschmiedet wurde. Wir jedoch
wissen vom deutschen Gemeinwesen, daB es aus derselben
Natur und Sitte gequollen ist, aus der unsere Weisheit und
Dichtung stammen ; nicht zufalliger, sondern wesenhafter Art ;
gezeugtvon hartenEltem, Zwang und Not; freigeworden durch
die Arbeit, geadelt durch das Recht; gekront und heimgefiihrt
von der echten Konigin des Landes, der Seele der Nation.
Denn was einmal stiitzendes Sollen war, wurde mannliches
Wollen, und die Gewalt reifte zum Recht. Das ist etwas sehr
anderes als die zynische Aussage, daB das Recht zu Jahren ge~
kommenes Unrecht sei. Vorbei ist es mit jener eigenttimlichen
Freiheit, auf die ihr stolz waret, mit der moralischen Oberhoheit
der Person, mit der siiBen Gewohnheit jedermanns, zuerst an
sein Befinden zu denken und nur, was iibrigbleibt, die Bro-
samen von der abgegessenen Tafel des souveranen Ich, jenem
35 Vol. m/2
7777777
232 Bernhard. Gultmann • Huber und Cox
verarmten Tischgehcr auflesen zu lassen, den man den Staat
oder das Vaterland nennt.
Cox: Ihr jedenfalls habt aus dem Vaterlande eincn feuer-
speienden Drachen gemacht, der herumfahrt, wen er verschlinge.
Huber: Freilich wird es ein Ende haben milder liberalen
Zeit, es wird aber auch einen Anfang haben mit einer neuen
Sittlichkeit. Diese wird unserm gequalten Geschlechte endlich
den Frieden wiedergeben, den euer Atomismus lhm geraubt
hat und den keine Sonntagsschule lehrt. Denn als ein Glied,
nicht als ein Ganzes kommt der Mensch zur Welt, gehorchen
mufi er alle seine Tage, und seine entwendete Wiirde, den Stolz
des Dienens, erhalt er nun zuriick.
Cox: Ja, die Stunde des Liberahsmus ist gekommen. Zwar
werden noch lange ailerhand Pfuschmakler unter diesem und
ahnlichen Namen den Markt unsicher machen, aber das groBe
alte Haus selbst muB liquidieren; es kann den entsetzlichen
Bankerott der Firma ..gesunder Menschenverstand“ nicht iiber-
leben, auf die es alle seine Wechsel zog. Die Welt ist reif, sich
robusteren Gehirnen anzuvertrauen. Dennoch kann ich am
Lager dieses Sterbenden nicht frohlocken. Ich mochte sagen
wie Konig Richard: „Lasset uns niedersitzen auf der Erde und
traunge Geschichten erzahlen vom Tode der Konige.“ Denn
war es nicht ein koniglicher Irrtum, Vertrauen zu setzen in die
Einsicht des befreiten Volkes? Nicht eine grofiartige Naivitat,
auf den opferbereiten freien Willen des Patrioten, den schweren
Bau des Staates zu tiirmen? Und erwies sich derTraum denn
als gar so lappisch ? Vielleicht war nicht einmal der Satz falsch,
daB die Gesamtheit wohlbestellt sei, wenn jeder seinen eigenen
Interessen nachgehe. Hatte man nur erst Menschen, die sich
auf ihr Interesse im geringsten verstiinden! Der Liberalismus
stirbt an seiner guten Meinung von den Leuten; denn die Erde
gehortden Mifitrauischen, den Unbegeisterten, dem intelligenten
Phlegma des Napoleon trois. Der von euren Kathederwikingem
so hart geschmahte englische Niitzlichkeitsapostel, der seineTage
beim Baumwollhandel in triiben Kontoren zubrachte, wie tau-
sendfaltig verbarg er demiitige Nachstenliebe hinter seiner
Bernhard Guttmann * Huber und Cox 233
Pennyzwackerei und ein kindliches Herz wie das eines Berliner
Professors.
Huber: Lieblose Bemerkungen iiber unsern Gelehrtenstand
sind zum mindesten undankbar, denn wer kennt die riihrende
Bescheidenheit nicht, mit der England an den Lippen der deut-
schen Wissenschaft hing? Ubrigens, mein Bester, ist der deut-
sche Professor keineswegs mehr die leicht komische Figur von
ehedem. Er plaudert mit Gewandtheit, ist so wenig zerstreut
wie ein Bankdirektor und beschaftigt den besten Schneider,
den er bekommen kann. What more do you want?
Cox: Seine Verdienste sind unbestritten, aber was haben sie
mit jenem Sublimsten des Lebens zu tun, das Sie Kultur nen-
nen? Unaufhorlich triumphieren Ihre Zeitungsschreiber : „Wir
haben mehr Darmkrankheiten entdeckt als ihr — unsere Aus-
gaben der Romer und Griechen beherrschen den Markt —
unsere Nahrungsmittelchemie ist die beste!“ Indessen, was geht
mich die Anatomie der Verdauungsorgane an, solange ich keine
Leibschmerzen habe? Alle diese Dinge sind vortrefflich, aber
man laBt sie im Kasten liegen, bis sie gebraucht werden. Die
Lotleine mufi andere Tiefen zeigen, wenn man euch die ab-
griindige Natur des germanischen Geistes glauben soil. Wie es
scheint, erblicken die Deutschen eine vom Himmel erteilte Be-
scheinigung ihres Idealismus darin, dafi sie aus der Luft Sal-
peter fur ihre Bomben machen konnen. Ich erinnere mich eines
Gedichtes von Schiller iiber den Archimedes und einen streb-
samen Junghng, der die gottliche Kunst der Mathematik lemen
wollte, well sie die Stadtmauem vor der Sambuca beschiitzt
habe, worauf der alte Herr etwas knurrig bemerkte, seine Wis-
senschaft sei schon gottlich gewesen, ehe sie dem Staate diente,
und wer sich mit Gottinnen einlasse, moge es gefalligst nicht
auf behordliche Anerkennung absehen. Die Erzpriester und
Kardinale dieser sapientia militans sind es vor alien, die in
unsern Krieg den schauerlichen Hafi eines Albigenserkreuzzugs
hineintrugen. Diese Leute gaben hiiben und driiben dem Rin-
gen der Macht auch noch die pfaffische Sanktion eines vor
andern Vaterlandern alleinseligmachenden Vaterlandes, damit
v.v.v.v
234
Bernhard Guttmann * Huber utid Cox
die Streiter nur ja nicht mit Menschen, sondem mit Teufeln
zu kampfen glauben mogen. Wenn wir aber kampfen miissen,
so lasset uns fechten und sterben wie Manner, nicht schmahen
wie bucklige Sklaven. Wem graut es etwa nicht vor dieser
Kriegstheologie, die das „Liebet eure Feinde“ fiir einen archai-
schen Schnorkel im Christentum erklart ? Vor dieser Geschichts-
forschung, die auf den Pfiff der Gewalt die Historic ohne jeden
Zeitverlust umzuschreiben vermag? Vor dieser Philosophic, die
dem Weltgeiste eben das ablauscht, was die Staatskanzlei ohne-
hin schon wufite? Wir sehen zwar dieses Phanomen bei uns
und den anderen so gut wie in Deutschland; michdiinkt jedoch,
als ob die gelehrte Gelehrigkeit nirgends so zu Hause sei wie
bei euch. Hegel war es, glaube ich, der der Macht den diabo-
lisch schlauen Gedanken einblies, der Vemunft eine feste An-
stellung anzubieten, damit sie sich das Garen und regelwidrige
Moussieren aus dem Kopfe schlage. Ihr habt den Staat vergei-
stigt und den Geist verstaatlicht. ,,Wem Gott ein Amt gibt,
dem gibt er auch Verstand.“ Kennen Sie unter alien deutschen
Sprichwortern ein deutscheres als dieses?
Huber: Aus alien Ihren Worten klingt hervor die wohlbe-
kannte Furcht vor dem starken und seines Willens bewuBten
Staate, der eigentlich das ist, was Sie an uns verabscheuen.
Das englische Gemeinwesen stammt aus einer Revolution, es
kann trotz seiner schwarzberockten Respektabilitat die geheime
Zartlichkeit fiir das Rebellieren nicht aus dem Blute loswerden.
Zumal da dieses Blut infolge des Aufsteigens einst knechtischer
Massen heut viel mehr keltisch als germanisch und des Ver-
standnisses fiir das Geschlossene, Massive je liinger, je weniger
fahig ist. Auf den Schlachtfeldern konnt ihr sterben so gut wie
wir, aber auch da noch scheint euch der Tod fiir das Vater-
land oder den Staat zu banal, und ihr tragt im Busen irgend~
einen absurden Talisman, den euch eure Rhetoren mitgaben,
einen Fetisch zum Kiissefi, wie die ,,Freiheit Europas44, oder
einen zum Anspeien, den „preufiischen Mihtarisinus44. Euer
Leben lang kniet ihr vor Personen und Zauberformeln, weil
ihr entwohnt davon seid, euch dem in Wahrheit Ehrfurcht
Bernhard Guttmann * Huber und Cox 235
Heischenden, dem Objektiven, hinzugeben. Wie die Weiber
seid ihr dressiert zu lieben und zu hassen, wo ihr urteilen
solltet, und unter dem Getreibe der schaien Emotionen ver-
dampft euch die Ehrlichkeit des Denkens. Auch wir achten
das Herz des Volkes, aber mit seinem Kopf ist es nicht weit
her. Seine Leiden sind uns ehrwiirdig, aber heilen soil sie ein
studierter Arzt, nicht der Schafer oder das Krauterweib. Wann
hatte die Herde je gewuBt, was ihr frommt? Viel zu nachsichtig
war die Zeit gegen den schabigen Subjektivismus des bloBen
Meinens, viel zu eifrig wurde jede billige Ketzerei verhatschelt ;
man lerne wieder die Scheu vor unantastbaren Werten. Vor
allem sind wir gegen das inspirierte Gebaren in politicis hochst
argwohnisch und bauen allerdings lieber auf Methode und
Wissenschaft. Im strikten Vertrauen glaube ich, daB keine
andere Nation mit so wenig Schaden wie die unsere mittel-
maBige Kopfe in hohen Amtern zu ertragen vermag. Einst
schrien Volker in der Not zum Himmel um einen Helden und
Seher. Auf solche erratischen Heifer zahlen wir nicht, sondem
auf den tiichtigen Generalstabler und technischen Fachmann,
die wir fur den Ernstfall immer bereit haben. Darum durch-
dringen wir unser Staatsleben immer mehr mit dem wissen-
schaftlichen Geiste. Friiher geschah der techmsche Fortschritt
so, daB alle hundert Jahre ein gescheiter Mann zufallig eine
Verbesserung fand. Dann vermochte hier und da wohl ein
Erfindergenie durch kluge Problemstellung die Entwicklung zu
beeilen. Heute aber ist das Erfinden selber eine Technik ge-
worden. Man setzt sechs Dutzend Leute nebeneinander vor
dieselbe Aufgabe, verandert jedesmal die Elemente um ein
weniges, und der Fund ist so sicher, wie ein feines Netz die
kleinsten Seemuscheln heraufbringt. So wollen wir auch den
Staat immer objektiver machen, damit der Mensch — wohl-
gemerkt als Kollektivum — mehr und mehr Herr seines Schick-
sals werde. Die einzelnen hingegen haben in diesem Zeitalter
nur die Digmtat von kleinsten Teilen. Sie sind Glieder und
mtissen Glied halten. Sittlichkeit ist es heute, sich einzuordnen,
den als Erbteil von der Natur iiberkommenen Selbstbehaup-
7777777
236
Bernhard Gutimann * Huber und Cox
tungsdrang zu projizieren in das ungeheure Ideelle des Staates.
Dies ist die wahrhafte deutsche Ethik und der Punkt, in dem
sich der altpreufiische Autoritatsgedanke und der sozialdemo-
kratische Massengedanke schneiden.
Cox: Wenn dies so ist, dann begreifet auch den Schrecken,
den die Volker vor der deutschen Herrschaft empfinden. Denn
es geht vor euch her ein geistiges Grauen, ais horte die Welt
noch einmal vom Sterben des groBen Pan. Einen Menschheits-
winter kiinden uns diese Millionen grauer Schatten an, die
unerbittlich liber die Erde vorriicken. Ihr solltet zu eurem
Wappenbilde den Leviathan nehmen. Uns wurde er schon vor
zweihundertundfiinfzig Jahren von dem Thomas Hobbes em-
pfohlen, aber wir verwarfen ihn und schneben auf unsere Fahne
..Freiheit der Person". War die Idee wertlos, weil wir sie un-
vollkommen zur Wirklichkeit machten ? Ja, ware sie auch bloBe
Illusion, dieses Haschisch der Freiheit macht den Menschen
starker, nicht schwacher. So gut wie ihr hatten wir gewufit,
daB eine rohe Menge noch kein Volk ist, allein wir dachten
uns, es stehe desto besser darum, Je mehr treffliche einzelne
sich landen, um den knolligen Teig zu sauern. Die Person-
lichkeit trachteten wir auf alle Weise hervorzutreiben. Euer
Weg ist kiirzer. Ihr sprecht zum Menschen: „Erde bist du,
also lasse dich formen wie Erde, sowie hohere Einsicht es dir
ansagt. Keineswegs zwar sollst du verschwendet, ohne Nutz-
effekt auf den Schuttplatz geworfen werden, im Gegenteil, wir
verbiirgen dir die wirtschaftlichste Verwendung deiner Lebens-
energie; nur kneten, horst du, mufit du dich lassen." Unser
Ideal war es, aus dem zweifiifiigen Kloben einen Mann zu
machen; euer Ideal ist es, aus tausend solcher Kloben ein
Bataillon zu machen — eins zum Schiefien oder eins zum Ar-
beiten. Aber jenes durchstromende Gliicksgefiihl des aus sich
selbst lebenden Ich, jenes Auffahren des armen, torichten Ika-
rus zur Sonne der Freiheit, ihr kanntet’s nie und habt das Ver-
langen nicht in den Adern; und dennoch ist wohl dieses
wiitend-selige Loswollen vom Massigen, Gebundenen eigent-
lich das Europaischste gewesen am Europaer, mehr soalsFausti
Bernhard Guttmann ♦ Huber und Cox
237
Forscherdrang. Mit groBer Weisheit hat iibrigens die deutsche
Volkssage erkannt, daB ein Professor von Rechts wegen dem
Teufel zugehort. Aber leider ist auch euer Teufel bloB eine
literarische Personage, und ihr fiirchtet ihn gerade so wenig
wie Gott. Und wie solltet ihr an Gott glauben, da ihr nicht
an den Menschen glaubet ? Bei Goethe selber ist die heimliche
Gegnerschaft zum Personlichen zu spiiren. Einen Freudensang
in Distichen schrieb er auf den Philologen Wolf, der den Homer
in ein Syndikat von Homeriden verwandelt hatte. Ein grofier
Dichter in Jubel, weil ein anderer grofier Dichter als societe
anonyme erkannt ist ! Denken Sie sich Michelangelo, ein Sonett
schmiedend auf die Kunde, daB ein Pedant die Sonne endlich
als einen Nebel heifier Gase entlarvt habe!
Huber: Ja, wirklich, in gewissem Sinne ist dies ein Krieg
zwischen dem alten europaischen Individuum und dem neuen
Staatsmenschen deutschen Geprages. Jenes wehrt sich hollisch,
um sich das zu retten, was es seine Personlichkeit und Frei-
heit zu nennen beliebt. Aber es wird alles nichts helfen, viel-
mehr werdet ihr, so viele von euch und euren Genossen iibrig-
bleiben, in die deutsche Schule gehen, um Staatenbaukunst
als Abc-Schiitzen zu lernen. Welchem Volke waren denn grofiere
Personlichkeiten geboren worden als unserem, in den Zeiten,
wo eben das zeitgemaB war ? Heute aber ist dieses Personliche
nur noch ein Irrlicht in der Seele, das von der Pflicht gegen
die Nation abfiihren mochte. Das Kommando des Weltgeistes
an die Menschheit hieB einst: Avancieren in aufgelosten Glie-
dern! Er hat seitdem eine neue Taktik erdacht, der Befehl ist
nun: Vorwarts in geschlossener Kolonne! Es gibt ein gutes
englisches Wort: Clear your mind of cant! Weg denn von dem
Cant des geschwollenen Personlichkeitsgefiihls ! Die Sieger,
mein Verehrter, das sind der hohere Durchschnitt, die peinliche
Statistik, die Volksschule, die Sozialpolitik, die stadtische Hy-
giene, die obligatorische Turnstunde, der namenlose Kampfer
im nassen Graben. Sollten Sie finden, unser Staatsei schliefilich
die Organisation der Mittelmafiigkeit, so habe ich auch dagegen
vorlaufig nichts. Jawohl, der Staatsmann hat keine groBere
7777777
238
Bernhard Guttmann » Huber uni Cox
Aufgabe denn die, das Alltagliche ein wenig besser zu machen,
als er es antraf, Personlichkeit? Es gibt nur eine: Die ‘Ration.
Cox: Die Nation bliiht im unverkiimmerten, sonnenfrohen
Flor der Einzelpersonlichkeiten. Das Volk lebt durch Visionen
— ist es doch selbst nur eine — , und die Prophetie kann man
nicht organisieren. Der echte Vater, der Visionar, dessen Mund
die Worte des Lebens redet, wird nicht in einem Lande ge-
boren, wo das Ich schon im Mutterleibe sein Eigendasein ver-
achten lemt ; er entspriefit keiner vom klaftertief wiihlenden
Staatspfluge zerbrochenen, gezahmten, ermiideten Erde. Weder
GroBmacht noch Weltpolitik konnen ein Volk vor dem Er-
starren schiitzen. Griechenland ging eben damals zugrunde,
als es durch die Mazedonier geeinigt war, als sein militarisches
System den Zaren von Susa niederwarf und alle Volker grie-
chische Ingenieure und Professoren kommen lieBen ; denn der
griechische Staat war ein Fremdherrscher geworden im eigenen
Hause. Wird also von euren Gartnern das Genie zur Person-
lichkeit wie bisher als Unkraut verdammt und mit der Wurzel
ausgejatet, dann: Vae victoribus!
Huber: Unser groBer Konig Friedrich riet den Seinen:
„Macht es wie ich, der ich meiner Seele Stockschlage gebe,
auf daB sie geduldig und stille werde/'
Cox: Despotenmoral ! Stockschlage fiir seine Seele, Stock-
schlage fiir den Riicken des Untertanen. So erzieht man stoische
Menschen. Aber die Lehre der Stoa kam erst im sterbenden
Griechenland zur Welt und wurde der Glaube nicht des freien,
sondern des geknechteten Rom. Sie ist die Religion der Re-
signierten : Ohne Hoffnung leben, ohne Klage fallen. „Im Er-
starren such’ ich nicht mein Heil,” schrie Faust, „das Schaudern
ist der Menschheit bestes Teil.“ Der Sieg des preuBischen
Stoizismus bedeutet die Vereisung der europaischen Seele.
Huber: Wie! Seid ihr nicht einmal fahig, unseren Mannem
Ruhm zu zollen, wie sie jung und alt, Schar nach Schar, hinaus-
treten in die Ode des Todes? Wenn ihr fiir eine emiichterte
Welt Propheten und Martyrer braucht, wo waren ihrer denn
Bernhard Guttmann * Huber und Cox
239
jemals mehr beisammen als in diesen endlosen Phalangen, die
Blutzeugen fiir den heiligen Namen Vaterland zu sein begehren?
Cox: Wir waren nach diesem Wunder nicht liistem. Um
das Leben ertraglich zu finden, brauchten wir keine neue An-
regung, wie gewisse geistreiche Personen in Berlin, die alles in
der Kultur durchgeschmeckt und mit der Zunge beschnalzt
haben und nun Heroismus scbnauben, weil sie sich einbilden,
die urns Brot ringende Welt hatte einen ebenso verdorbenen
Magen wie sie selber. Mich diinkt, man diirfe von jedem, und
das ganz schlicht und ohne grofimaulige Heldenpbrasen ver-
langen, daB er das Leben gebe fiir das Vaterland, die Freiheit
oder den Glauben. Doch nach Blut zu scbreien, um in ein fade
gewordenes Dasein Wechsel zu bringen, ist der Geschmack
von Dirnen. Ubrigens habt ihr mit diesem Sterbenkonnen
nichts voraus. Sterben nicht die Serben und Russen, Myriaden
auf einem Felde? Rennen die Franzosen nicht in den Hollen-
rachen, als seien die Granaten lachende Liebchen? Legen sich
die Briten nicht willig genug auf den Leichenplan? Kopfiiber
jagt, stiirzt die Menschheit in den Hades hinunter. Wer will
prahlen, er konne es besser als die anderen ? Europa will sterben ;
unsere Rasse erwiirgt sich mit lhren eigenen Handen.
Huber: Sie steht euch gut, die Trauer um Europa! Das
Europa, von dem Sie sprechen, ist eine Phrase, ein tonerner
Gotze, ja bloB noch die Scherben dieses zerschlagenen Gotzen.
Die Emheit der Kulturwelt war langst zur Fabel geworden.
Eine neue wird es nicht geben, aufier durch uns.
Cox: Ich fiirchte sehr, weder ihr werdet sie schaffen noch
andere. Womit bauen, wenn die Bausteine zerbrochen liegen?
Augenscheinlich wird eine gleichsam buddhistisch gestimmte,
in sich selbst gebettete Welt heraufkommen, eine Art West-
china, oder mehrere solche Chinas, die alle das vom eigenen
Typus Abweichende mifitrauisch ausstofien werden. Vielleicht
wird das Dasein der Volker dann wie das von Kasemattenge-
fangenen sein, die nebeneinander, aber durch dicke Mauern
getrennt wohnen, ohne sich zu sehen und zu horen. Europa
wurde von der Fiille starker Nationalgeister zersprengt, die es
ernhard Guttmann » Huber und Cox
beherbergte; es war zu klein fur seine GroBe. Die Sehnsucht
des Orientalen ist das Gleichgewicht der Seele; in ihren Span-
nungen fiihlte sich der Europaer gottverwandt. Aber die Mifi-
klange wurden schrill und fiirchterlich qualend, und der Welt-
geist fand den mystischen Akkord nicht mehr, der die Disso-
nanz aufgelost hatte. Da warf er ergrimmt das Instrument hin
und zerbrach es in Stiicke.
Huber: Sentimental bis ans Ende!
Cox: Ich gestehe, wenn es fiir den Zeugen dieses kos-
mischen Gegeneinanderrennens, das die erstarrte Erdrinde
noch einmal in Feuer verwandelt, nicht so entsetzlich abge-
schmackt ware, Privatgefiihle zu hegen, ich wiirde weinen urn
diese Leiche: Europa.
Huber: Nichts bleibt uns tibrig als zu kampfen. In dem
unermefilichen Schiffbruche der Zeit heiBt es nach dem Himmel
blicken, ob er noch Sterne trage. Am oden und schwarzen
Firmament strahlt ein einziges starkes Licht. Es ist das Gestim
des Vaterlandes, dem milssen wir folgen, ihm nachziehend uns
retten, oder scheitern. Uns wiirde der Untergang unseres
Reiches das Ende von allem bedeuten. Wer nachher noch da
ware, fande sich zwischen Abend und Morgen vom Manne zum
Zwerge verschrumpft.
Cox: Was hilft es euch, wenn ihr Sieger seid und Europa
um euch einstvirzt? Die Verkiimmerung ist nur aufgeschoben.
Die verliehene Gestalt bleibt euch, aber Zwerge werdet ihr
zeugen. Eure und unsere Enkel miissen scheu in den Seiten'
talern der Welt hausen, die ihr Erbteil hatte sein sollen. Die
Art der gottergleichen Menschen schwindet hin, die Art, die
das GroBte auf der Erde schuf, die Rasse der Stadtegriinder
und Tempelbauer, der Helden und Gesetzgeber, Tragiker und
Philosophen, der Seefahrer und Forscher — sie geht.
Huber: Sie gehe oder bleibe, das ist jetzt mitnichten das
Wichtigste. Mir ist, als kame ein verschwiegenes Brausen her
von fernen Schlachten und als sei ein Feuerschein in der Luft-
Cox: Gotterdammerung!
Huber: Volkerfriihrot!
Gottfried Benn * Die I ns el
24f
t*
Qottfried £Benn:
DIE INSEL
NOVELLE
I JaB dies das Leben sei, war eine Annahme, zu der Ronne,
•*-^einen Arzt, das von leitender Stelle aus Geregelte seiner
Tage, das staatliche Genehmigte, ja Vorgeschriebene seiner
Bestimmung wohl berechtigte.
Tat es etwas, dafi die Insel klein war, iibersehbar von einem
Hiigel, ein Streifen Stein zwischen Mowen und Meer, — es gab
das Gefangnis da mit den Straflingen, daran Arzt zu sein er
ausersehen, und dann gab es Strand, eine grofie Straucb wiese
voll Gezwitscher, ein Vogelhort, und weiter unten ein elendes
Dorf mit Fischem, das allerdings gait es noch naher zu be-
leuchten.
Ein Rachen war bepinselt, einer Meineidigen das Knie mas-
siert, da erhob sich Ronne und verliefi das ummauerte Gehoft.
Davor lag weifier Strand ; darauf bliihte Hafer und Distel ; denn
der Sommer war iiber das Meer gekommen wie ein Gewitter:
der Himmel donnerte von Blaue und es goB Warme und Licht.
Unter Gedanken, wie die freie Zeit, die ibm nach Erledigung
seiner Dienstpflichten zur Verfiigung stand, zweckmafiig zu
verwenden sei, welches ihr Sinn sei in Hinsicht des Staates und
der Person, schritt er aus. Er atmete tief die reineSeeluftein,die
schmachtige Brust ihr entgegen spiilend, dem Gesundheitlichen,
das sie bekanntermaBen dem Wanderer bot, willig hingegeben.
Elins fiihlte er sich mit dem Geiste, der ihn hier herberufen und
gestellt, der sich ohne Zaudem zur Sicherstellung der vorwarts-
zielenden biirgerlichen Verrichtung entschloB ; der dem Schutze
gait, die die Uffentlichkeit dem strebenden Bemiihen schuldete,
242
Gottfried Benn * Die Insel
mit einem Wort : der die Ausmerzung des Schadlings anstrebte,
ohne jedoch selbst hier auBer acht zu lassen das allgemein
Menschliche noch des Gefallenen und in einer Art stummer
Anerkenntnis des grofien allumschliessenden Bandes des See-
lischen schlechthin nicht die Vemichtung wollte, sondem den
Arzt beigab,
Und nun, die karge Schindel der ersten Hiitte war sie nicht
Hut gegen Sturm und Regen, der Unbill Abwehr, Traute und
Behaglichkeit bedachend? Das Netz, das vom Fang kommend
der Gatte ausbreitete, sorgsam iiber Pfahl und Stein, war es nicht
umwittert vom Geruch der Diele, wo es sich vollzog, das Na-
tiirliche, das Urgesunde ? Und nun wehte gar ein WindstoB an
eine Olkappe, und ein Arm griff an die Krempe — : jawohl, auf
Reize antwortete hier Organisches ,* betrieben wurden seine
Symptome : der Stoffwechsel und die Vermehrung ; der Reflex-
bogen herrschte, hier war gut ruhn.
Vor einer Kneipe sassen Manner. Ihr Sinn? Sie sassen! Sie
gingen nicht, sie schonten Kraft. Sie tranken aus Kriigenf
Reine Lust? Niemals! Nahrwert war nicht zu leugnen. Und
wenn ? Erholung von Mann zu Mann ! Erfahrungsaustausch ? !
Bestatigungen ! ! ! ?
Und der Diistere abseits ? Der Griibeler, der sich ernster nahm ?
Flammte nicht auch auf seiner Stirn nochdurch das Damonische,
selbst gegen Gotter gerichtet, der geschlossenere Akt, der
starkere Aufbau, das Lichtbringerische in eventuellen Abgrund?
Kurz und gut: lauter Wahrnehmungen, die wohl befriedigen
durften. Nirgends eine Storung, iiberal! Sonne und heller
Ablauf.
Ronne setzte sich. Ich habe etwas freie Zeit, sagte er sich,
jetzt will ich etwas denken. Also, eine Insel und etwas siidliches
Meer. Es sind nicht da, aber es konnten da sein : Zimtwalder.
Jetzt ist Jum, und es begonne die Entborkung. Es beganne die
Entborkung, und ein Zweiglein brache dabei wohl ab. Ein
iiberaus lieblicher Geruch wiirde sich verbreiten, auch beim
Abreifien eines Blattes ein aromatisches Geschehen.
Denn alles in allem : vier bis sechs FuB hohe Stauden, weiche
Gottfried Bcnn ♦ Die Inset
243
griine lorbeerahnliche Blatter, indes der Bliitenstempel gelb
getont ist. 1st der SchoBling daumenstark, tritt die Einsamm-
lung beran und es erfordert viele Hande. Bilndel, krumme
Messer, Rinde und Bast ; mit diesen Worten ist manches schon
erwiesen ,* aber erst in der Hiitte wird das Hautchen abgeschalt.
Ja, das war eine Insel, die in einem Meer vor Indien lag. Es
nahte sicb ein Schiff, plotzlich trat es in den Wind, der das Land
umfafit hatte, und nun stand es im Atem des braunlichen Walds.
Der Zimtwald, dachte der Reisende, und der Zimtwald, dachte
Ronne. SchneeweiB war der Boden, und die Staude saftig. Und
durch die Insel scbritt er, zwischen Roggen und Wein, abge-
schlossen und still umgrenzt. Sein Urteil ist Begehren, der
Satzbau Stellung nehmend. Er griibelt, doch iiber die Polle
einer Pflanze, denn er ist gewillt, sie einzusaen. Feme ist die
Zeit der Trauer, da er in der Bahn hierher fuhr nut den Damen :
das ist sehr hiibsch hier, sagte die Mutter zu den Tochtem, seht
doch mal! und nun verarbeiteten sie aus den Coupefenstern
heraus die Hiigelkette, matt in blauem Dunst, davor das Tal und
eine Stadt, die hinter Waldern und Klee versank; denn wenn
die Mutter es nicht gesagt hatte, mufite Ronne immer denken,
ware der Aufstieg nicht erfolgt.
Hier aber herrschten keine solchen vagen Ausrufe. Hier wurde
hingenommen, was ins Auge traf. Sachliche Verarbeitung trat
ein in Bezug auf ein Netz, im Hinblick auf eine Reuse. Und
auch wenn er, wie eben, etwas dachte, lag andersartiges vor, keine
Bereicherung, mehr ein Traum.
Hell saB er am Strand. Er fiihlte sich leicht und durchsichtig
und schien sich nicht mehr unsauberer zu sein als ein bewegter
Stein, als ein abgerundeter Block, gehalten von einer leichten
Organisation.
Und wenn er auf die Insel aus dem Gefiihl einer Aufgabe
heraus gekommen war, an Gegenstanden, die er moglichst iso-
iiert unter wenig veranderlichen Bedingungen beobachten
konnte, den Begriff nachzupriifen, so spiirte er jetzt schon etwas
wie Erfiillung: Die Begriffe, schien ihm, sanken herab. Wie
hatte zum Beispiel Meer auf ihm gelegen, ein sprachlicher
244
Gottfried Benn * Die I ns el
Bestand, abgeschniirt von alien hellen Wassern, beweglich, aber
doch hochstens als Systemwiesel, das Ergebnis eines Denk-
prozesses, ein allgemeinster Ausdruck. Jetzt aber, schien es ihm,
wanderte er dahin zuriick, wo es unabsehbare Wasser gab lm
Siiden und im Norden brackige Flut, und Wellen eine Lippe
unerwartet salzten. Leise schwand der Drang, es scharfer auf-
zurichten, es unantastbarer zu umreifien gegeniiber Diinen und
elnem See. Leise fiihlte er ihn vergessen, ihn zuriickerstatten an
seine Wesenheiten, an die Move und den Tang, den Sturmge-
ruch und alles Ruhelose.
Ronne lebte einsam seiner Entwicldung hingegeben und
arbeitete viel. Seine Studien galten der Schaffung der neuen
Syntax. Die Weltanschauung, die die Arbeit des vergangenen
Jahrhunderts erschaffen hatte, sie gait es zu vollenden. Den Du-
Charakter des Grammatischen auszuschalten, schien ihm ehr-
licherweise notwendig, denn die Anrede war mythisch geworden.
Er fiihlte sich seiner Entwicklung verpflichtet und die ging
auf Jahrtausende zuriick.
Die Umgestaltung der Bewegung zu einer Handlung unter
Vorwegnahme des Zieles lag im Unentschleierbaren, wo der
Mensch begann. Das war gegeben. Auch daB er hin und her
die Augen aufschlug : in helle Himmel, iiber Wiisten, am Nil, und
an den Myrthenlagunen die Geigenvolker
aber hier im
Norden drangte es zur Entscheidung : zwischen Hunger und
Liebe war der dritte Trieb getreten. Aus dem schlechten Atem
der Asketen, aus ermatteten Geschlechtlichkeiten, unter den
verdickten Liiften der Nebellander wuchs sie hervor, die Er-
kenntnis, Hekatomben rochelnd nach der Einheit des Denkens,
und die Stunde der Erfiillung schien gekommen.
Hatte Kartesius noch die Zirbeldriise fur den Sitz der Seeie
angenommen, da ihr AuBeres dem Finger Gottes: gelblich,
langgestreckt, milde und doch drohend, gleichen mochte, so
hatten die Hirnphysiologen festgestellt, wann beim Einstich in
die Hirnmasse Zucker im Harn, wann Indigo auftrat, ja wann
korrelativ der Speichel floB ; die Psychologie hatte den Begleit-
Gottfried Benn ♦ Die I ns el
245
charakter des Gefiihls zu den Empfindungen erkannt, den ihnen
zustehenden generellen Wert der Abwehr des Schadlichen in
genauen Kurven festgelegt, die Ablesbarkeit der individuellen
Differenzen war vollendet. Die Erkenntnistheorie schloB ab,
mit der Erneuerung Berkeleyischer Ideen einem Panpsychismus
zum Durchbruch zu verhelfen, der dem Wirklichen den Rang
kondensierter Begriffe in der Bedeutung geschlechtlich beson-
ders betonter Umwelt zum Zwecke bequemer Arterhaltung
zuwies.
Dies alles gilt als ausgemacht, sagte sich Ronne. Dies wird
seit Jabrfiinften gelehrt und hingenommen. Wo aber blieb die
Auseinandersetzung innerhalb seiner selbst, wo fand die statt?
Ihr Ausdruck, das Sprachliche, wo vollzog sich das?
Unter Griibeln trat er vor ein Feld mit einem Mann, den er
aus der Anstalt mitgenommen hatte :
„Mohn, pralle Form des Sommers", rief er, ..Nabelhafter :
Gruppierend Bauchiges, Dynamit des Dualismus: Hier steht
der Farbenblinde, die Rote-Nacht. Ha, wie Du hinklirrst ! Ins
Feld gestiirzt, Du Ausgezackter, Reiz-Felsen, ins Kraut ge-
schwemmt, — und alle siissen Mittage, da mein Auge auf Dir
schlief — letzte stille Schlafe, treuer Stunden — An Deme
Narbe Blauschatten, an Deine Flatterglut gelehnt, gewarmt,
getrostet, hmgesunken an Deme Feuer: angebliiht!: nun dieser
Mann — : auch Du ! Auch Du ! — An meinen Randen spielend,
in Sommersweite, all mein Gegengliick und nun : wo bin ich
nicht?"
Wo bin ich nicht, dachte er und wandte sich in der Richtung
nach der Anstalt, und wo tritt das Ereignis nicht in das Gege-
bene? Da unten sind Zimmer. An Tischen sitzen Manner,
Direktoren und Beamte, zwischen DenkanstoBen geht der
Zahnstocher hin und her.
Aus Ereignissen des taglichen Daseins und Rennberichten
spielt der psychische Komplex sich ab. Es tritt auf das Be-
fremdende, das Abweichende, ja bis zum Widersprechenden
stellt es sich em. Wachgerufen wird in den BewuBtseinsablaufen
das Bestreben, das Ungeklarte zu entwirren, das Zweifelhafte
v.v.v.v
246
Gottfried Benn * Die Insel
sicherzustellen, der Uberbriickung des Zwiespalts gilt das Wort.
Es tritt die Erfahrung hervor, Beweis und Abwehr gibt sie an
die Hand; und die Beobachtung, hier und da gemacht, wenn
auch nicht eindeutig, soil sie vollig wertlos sein? Schon weicht
das Dunkle. Schon glattet sich das Krause, und daB kein
Widerspruch mehr bestebt, nun blaut es herab.
Immer blaut bald etwas herab, zum Beispiel der Kalbsbraten,
den doch jeder kennt. Jah tritt er an einem Stammtisch auf, und
es ranken sich um lhn die Individualitaten. Geographische
Besonderheiten, Eigentiimlichkeiten des Gescbmacklichen wer-
den hervortreten, der Drang zur Nuance um ihn sein. Es wird
branden der Streit und das Erschlaffen, der Angriff und die Ver-
sohnung um den Kalbsbraten, den Entfesseler des Psychischen.
Und das Morgendliche, wem begegnet es? Einer Frau, die
sich auBergewohnlich in der Friihe erhebt; alle Kiihle und sein
Tau rinnen in das Wesen, das schreitet. Weiterleitung tritt ein,
ein Ausruf wird erfolgen, Bestande von Erzahlungen iiber friihe
Gange werden gebildet — Uberall stehen die Verarbeitungs-
behalter und was war und wird, ist langst geschehen.
Wann gab es Umstromte? Ich muB alles denken, ich muB
alles zusammenfassen, nichts entgeht der logischen Verkniipfung ;
Anfang und Ende — aber ich geschehe. Ich lebe auf dieser Insel
und denke Zimtwalder; in mir durchwachst sich Wirkliches und
Traum. Was bliiht der Mohn, wenn er sich entrotet; der Knabe
spricht, aber der psychische Komplex ist vorhanden, auch ohne
ihn. —
Die Konkurrenz zwischen den Associationen, das ist das
letzte Ich — dachte er und schritt zuriick zur Anstalt, die auf
einem Hiigel am Meere lag. Hangt aus meiner Tasche eine
Zeitung, ein buchhandlerisches Phanomen, bietet es Ankniipfun-
gen zu Bewegungsvorgangen an Mitmenschen, sozusagen zu
einem Geschehnis zwischen Individualitaten. Sagt der Kollege,
Sie gestatten das Journal, liegt ein Reiz vor, der wirkt, ein Wille,
der sich auf etwas richtet, motorische Konkurrenzen, aber
jedenfalls immer das Schema der Seele, die Vitalreihe ist es, die
die Fallen stellt.
Gottfried Benn * Die Insel
247
i .
-4
i
♦4
mm 4
I’,
r
t
Wir sind am Ende, fiihlte er, wir iiberwanden unser letztes
Organ. Ich werde den Korridor entlang gehen, und mein
Schritt wird hallen. Denn muB im Korridor der Schritt nicht
hallen? Jawohl, das ist das Leben, und im Vorbeigehen ein
Scherzwort an die Beamtin ? Jawohl, auch dies ! —
Da landete das Schiff, das alle Woche an die Insel kam, und
mit den Gasten stieg eine Frau ans Land, die eine Weile hier
wohnen wollte.
Ronne lemte sie kennen, warum sollte er sie nicht kennen
lernen : einen Haufen sekundarer Geschlechtsmerkmale, anthro-
poid gruppiert.
Aber bald fragte er sich beunruhigt, ich suche ihren Umgang,
doch das Denkerische ist es nicht, was aber ist es ? Sie ist mittel-
grofi, blond, mit Wasserstoff gebleicht und grau an den Schlafen.
Ihre Augen liegen in der Feme, unverriickbar, grau von Nebel
die Pupille — aber ich spiire es wie Flucht, ich muB sie beformeln :
Ihr Wesen : sie liebt weiBe Blumen, Katzen und Kristalle, und
sie kann des Nachts allein nicht schlafen, denn sie liebt es so, ein
Herz zu horen, wo aber soil das Prinzip ansetzen und die Zu-
sammenfassung erfolgen ? Nie begehrt sie eine Zartlichkeit, aber
wenn man sich ihr nahert, tritt man unter das Dach der Liebe.
Und plotzlich steht sie liber mir in einer Stellung, die ihr
Schmerzen machen mufi, unbeweglich und lange — — welch
erschiittemde Verwimmg!
Wittemd Gefahr, horend aus der Feme einen Strom, der
herangurgelte, ihn aufzulosen, schlug er um sich die sozio-
logischen Bestande:
Wie, auf der Nachbarinsel war die Hirse stockig? War es gut
gehandelt an dem kleinen Mann? Wo blieb Redlichkeit und
Bruderkufi? Wenn dies verging, was blieb? — Oder : wirklich
hingegeben an die iibliche Menge gemahlenen Tees, in einer
Flasche geschiittelt, gefiillt, gekorkt und nochmals geschiittelt,
und die iibermittelt dem Bekannten, dem Nachbar oder dem
WiBbegierigen, redlichen Sinnes und helfender Gesinnung, was
blieb dann noch der Verfiihrung zuganglich: er, der schlichte
m VoL m/i
248
Gottfried Benn » Die Insel
Schamtrager in seiner staatlichen Verquickung, — nun durfte
wohl Friede sein, endlich, ja?
Aber schon wieder war die Lockung da, die Frau, das Stro-
mende, und befreit atmete er der Warterin entgegen, diekam:
ein krankes Knie! Wie verdichtet es sich zur Wirklichkeit.
Welch starke Formel ! Amtlich verpflichtet zur Anerkennung
meinerseits! Kniekrankheiten, Schwellungen, Entziindungs-
vorgange. — fester Boden — Mannlichkeiten !
Dann wieder: Jede Erscheinung hat ihr oberstes Prinzip, und
er schritt getrostet an den Strand; es gilt nur festzulegen, wel-
ches das Ihre ist; das System ist allgiitig, es enthalt auch sie.
Es enthalt auch sie, die keine Treue und keinen Wortbruch
kennt, die zur Stunde nicht kommen kann, weil die Fischerin
eine Angel trug, und die Salpen glanzten — Erfahrung sammeln,
Deduktionen, sein stiller Himmel auch iiber ihr! Aber dann:
Ihre Hiifte, wenn sie neben ihm ging, rauschte wie das Smnlose
und ihre Schulter war behaart vom Chaos.
Tiefer warf er sich liber seine Bucher, hammernd seine Welt.
Aber wie? In den angesehensten naturwissenschaftlichen
Journalen konnten neuerdings Raum finden, ja anerkennend
besprochen werden Arbeiten dieses eigentiimlichen Inhalts?
Das Werk ernes unbekannten jiidischen Arztes aus Danzig,
der wortlich iiber die Gefiihle aussagte, dafi sie tiefer reichten
als die geistige Funktion ? Dafi das Gefiihl das grofie Geheimnis
unseres Lebens sei und die Frage seiner Entstehung unbeant-
wortbar?? Um es vollends zu Ende zu denken: das Gefiihl
gehore nicht mehr zu den Empfindungen ? ?
Wufite er denn, was es bedeutete, wenn die Gefiihle nicht mehr
vom Reiz abhingen, wie er Ronne gelernt; wenn er sie den
dunklen Strom nannte, der aus dem Leibe brach? Das Unbe-
rechenbare ?
Wufite der Verfasser wohl, vor welche Fragen die Konse-
quenzen seiner neuen Lehre fiihrten, wufite dieser vollig un-
bekannte Mann wohl die ganze Schwere seiner Behauptung, die
er ohne jede Ankiindigung, ohne Sichtbarmachung auf dem
Titelblatt, einfach in einem Buch mit farblosem grauen Deckel
Gottfried Benn ♦ Die Insel
«
f*
i
pp
iu
*•
f!*»
249
in die Welt schickte, wufite er vielleicht, daB er die Frage be-
antwortete, ob es Neues gabe?
Ronne atmete tief. War dies etwa schon eine Wissenschaft,
die nach ihm kam ? Jede Befruchtung enthielte den Keim eines
unerhort Neuen, der Zusammentritt von Einheiten war in der
Generationsfolge fortgesetzt in der Gestalt der Zweigeschlecht-
lichkeit, und in ihr gait es, die gewaltige schopferische Macht
anzuerkennen, die das Leben zur Hohe erhoben hatte?
Ronne bebte. Er sah nochmals auf das Journal, das die Be-
sprechung gebracht hatte, auf den Namen des Referenten, der
die Kritik gezeichnet hatte : er war sein Lehrer gewesen.
Schopferischer Mensch ! Neuformung des Entwickelungsge-
dankens aus dem Mathematischen ins Intuitive — : was aber
wurde aus ihm, dem Arzt, gebannt in das Quantitative, dem
beruflichen Bejaher der Erfahrung?
Trat er vor einen Rachen, und die Schwellung war bedroh-
lich — : war sie intuitiv kupierbar? mufite er sich nicht zu-
sammenraffen zu analytischen Phanomenen, Empirien, ziel-
strebigen Gesten, dem ganzen Grauen bejahter Wirklichkeiten,
zu einer Hypothese von Realitat, die er erkenntnistheoretisch
nicht mehr halten konnte, um des Kindes willen, das schon blau
war, des Rachens halber, der erstickte, und der Geld abwarf und
von Amts wegen?
Plotzlich fiihlte er sich tief ermiidet und ein Gift in semen
Gliedern. Er trat an ein Fenster, das in den Garten ging. In
dem stand schattenlos die Bliite weiB, und voll Spiel die Hecke;
an alien Grasern hing etwas, das zitterte, in den Abend losten
sich Diifte aus Strauchern, die leuchteten, grenzenlos und fur
immer.
Einen Augenblick streifte es ihn am Haupt : eine Lockerung,
ein leises Klirren der Zersprengung, und in sein Auge fuhr ein
Bild: klares Land, schwingend in Blaue und Glut und zerkliiftet
von den Rosen, in der Feme eine Saule, umwuchert am Fufi;
darin er und die Frau, tierisch und verloren, still vergieBend
Safte und Hauch.
Aber schon war es vergangen. Er fuhr sich liber die Augen.
v.v.y.v
>/w'
250
Gottfried Benn * Die Inset
Schon sprang der Reifen wieder um seine Stim und eine KiiKIe
an die Schlafen : was lag denn hier vor ? Er hatte mit einer Frau
zusammengelebt und hatte einmal gesehen, dafi sie Rosenblatter.
die welkten, von einer Kante zusammengeiesen hatte, zusammen
zu einem kleinen Haufen auf einen gesteinten bunten Tiscb ;
dann setzte sie sich wieder, verloren an einen hellen Strauck
Das war alles, was er wirklich von ihr wuBte; der Rest war, dafi
er sich genommen war, es rauschte und er blutete aber wo
fiihrte das hin?
Hart wurde sein Blick. Gestahlt drang er in den Garten.
Starr standen die Biische. Jetzt kam es liber ihn : er stand am
Ausgang eines Jahrtausends, aber die Frau war stets. Er
schuldete seine Entwicklung einer Epoche, die das System
erschaffen hatte, und was auch kommen mochte, dies war er!
Fordemd jagte er seinen Biick in den Abend und siehe, es
blaute das Hyazinthenwesen unten Duftkurven reiner Formeln,
einheitliche Geschlossenheiten, in den Gartenraum; und eine
versickemde Streichholzvettel rann teigig iiber die Stufen eines
Anstaltgebaudes unter Glutwerk berechenbarer Lichtstrahlen
einer untergehenden Sonne senkrecht in die Erde. —
Joh. R. Becker ♦ Bruchstiicke aus dem Gedicht < Der Sozialist > 25 1
!f
flofiannes Q{. ^Beefier:
BRUCHSTUCKE AUS DEM GEDICHT
„DER SOZIALIST44
Du schiire uns ! Dein Haupt kann nicht versinken !
Kadavertiirmen wehend aufgehifit.
Wir treffen uns. Signale winken.
Mein Sozialist . . .!
CEI unbarmherzig, ich rate es dir sehr, gegen dich selbst,
^iiberbiete ! (. . . notiere es dir, hatte ich beinahe in meinem
fiirsorglichen Ubereifer dir ernsthaft vorgeschlagen, jeden Tag
am Rande deines Kalenders. . . gestatt es, bitte, dafi ich mich
miitterlichst schier deiner annehme, dafi ich, der Dichter, dich
riiste, aus dir dein Werkzeug bereite, knete deinen Geist, dein
Wort zuspitze, nicht wahr, du mein wirklicher Mensch-
Bruder . . .) — iiberbiete in betreff deiner eigenen Person
den PeitscHer an Holle und Grausamkeit! Nichts wird man
dir dann anhaben konnen. Darin und dariiber wirst du zugleich
stehen. Wahrhaft Gekronter du ! Mein Sozialist!
Striemen zu Strahlbriicken verflochten. Fiirchte dich nicht,
sei sicher dessen 1 mein Lieber, mein Bruder : der Henker wirkt
am Ende doch auch nur als das Werkzeug, ein bitterstes aller-
dings, jener himmlischen Idee, jener harmonischen Verfiigimg,
die auch du mit deinem Leben anbetest, besiegelst. Sozialist!
Bruder! Fur die du dich restlos hingibst, der du dich jubelnd
opferst : dem von Menschen erbauten gottlichen Staat : singend
und glorios. Ruhmstreifen nur schlagt dir dieser Henker. ja,
so befreunde dich mit ihm, wenn du auf dem Schafott stehest,
der letzten und der erhabensten der irdischen Tribiinen . . .
und nicht gram den prasselnden Trommlern: denn siehe.
252 Joh. R. Becker • Bruchstiickc aus dem Gedicht «Der Socialist *
binnen kurzem : nur um eine kleine Distanz weggeriickt, ver-
mogen jener Schlage nur mehr wie eine Begleitung in Moll
deinem erwachsenen englischen Posaunenwort zu klingen: fern,
dumpf, paukend. Ah, und du triumphierst, wie seid ihr zer-
staubt, ihr grimmen Gewitter, ihr hollischen Schlachter, ihr
schlimmen Hallunken, ihr Larmteufel (dabei lachelst du gut)
— o aber, getrost, nur in der Nahe konntet ihr die Gestirne
meiner Satze mit eueren kataraktischen Klopflauten liber-
schwemmen . . . (feme, kleine, schiichteme Gewitter jetzt . . .)
— befreunde dich also mit deinem Henker, diesem wahr-
scheinlich rotbartigen, robustesten Athletenklotz da; driick
ihm, wie man sie seinem besten Bruder driickt, fest beide
Hande, Auge in Auge geheftet, tauch ein in ihn bis auf den
Grund azurener Kindheit . . . letzte Hande ihr vorm Abschied,
Vasen der Beile, GefaBe von Palmen dereinst,
Und wiB es, bedenk es heftig, daB aller Welt Blick jetzt starr
auf dich gerichtet ist (spiirst du es nicht wie Nadelsticbe iiber
den ganzen Korper hin ! ?), in diesem deinem schonsten Moment,
deiner Freunde und deiner Feinde Blick, wie halten sie
sich fest an dich, teils beobachtend, teils unbesorgt verankert
als 1m Treuesten in dir . . . von hier aus ist es dir noch einmal
vergonnt, zu werben, Bekehrer, wahrhaftiger Held zu sein.
Sonne an dich zu reiBen, den Mond als Silbertrikolore xiber
dich zu setzen, Taler mit Fliissen um deine Knochel zu fabel-
haftesten Opanken zu binden, demiitigst gekniet vor dich die
gelbe Magd der Komfelder . . . ambrosischer Olwaldungen
du dichtest umschirmt. *
Ob alien Landern muBt enorm du schreiten.
Du saugest sie aus fernsten Kellern her.
Wachst, Bruder, auf zu euerem letzten Hiigel!
Setzt ein, Attacken! Schmelzt, Phalangen, jah!
Mein Sozialist! Voll muB die Welt dir tonen!
Tal hell dich feiern, tiefster Stadt vereint.
Wirr schwemmt dahin verrosteter Staaten Brei.
Es schleiert auf von neuem Horizont.
Joh. R. Becher » Bruehstiicke a us dem Gedickt * Der Sozialist » 253
Terrassen Brudervolker steigen psalmend.
Posaunenchore ob verworfener Zeit.
Mai schwillt. Der Armsten Viertel ziingelnd brennend.
Mein Sozialist, von Feuem rings girlandet.
Du schiire sie. Dein Haupt kann nicht versinken !
Kadavertiirmen wehend aufgehiBt.
Wir treffen uns. Signale winken.
Mein Sozialist!
*
Zum SchluB, zum SchluB, mein Sozialist! SchluB muB ich
machen mit meiner Hymne an dich, Sozialist: aufsingen will
ich, ja die Welt, die Landschaft begeistern fur dich. Tausend
Briider will ich dir heute noch werben.
Mein Sozialist, steck auf die Arme weit als Fanal!
Saule du, unumkehrbare, umgerissene nicht im Chaosschutt.
Bleibgestirn, erzeugend Myriaden Glanzer.
Vertriebene Herden weidend in solcher Achseln Bucht.
Oase dein Nabel, drin versammelt der Evakuierten zerknitterter
Hauf.
Honigwmd entstromt deinen Poren.
Manna schneit aus Wolkenhiiften . . .
Heiliger Mann, und auffliigeln mochtest die Krummen du.
Schielaugen sie, mit Wiihltatzen und Speimund.
Hangender Kleider die, Schlotterstrolche —
Bajonetthalunken.Kanonenrohrkanaillen: jetztsiiBestklingend-
Und den leichten Schaum bunt verastelter Frauen . . .
So dich zerklafften, einstampften, bewiirgten dich . . .
(— Mitten als triebst du Turminsel im Volksgeroll
GroB sich Hereingestiilpter —
Miinder Sieb Flammen schleudert nach der Residenz — )
Heiliger Mann, uniibersehbar bricht auf dein Volk,
Leicht in Spiralen um die Getiirme der alten Stadte sich
windend.
254 Joh. R. Bechet * Bruchstiicke aus dem Gedichi *Der Socialists
Zinnoberen Kiisten der Ather entlangschweifend . . .
Aller Haare flattern wie FaKnen.
Der du einst zogest voraus, Einziger . . . und keiner mu6 arm
scin!
Fischgriinde in die Wangen gedriickt —
Korn liber Haupter gescheitelt —
Weinernte im Lippental —
Weizenacker betraufelnd der Stirne Hang —
— Spiegelnd Oliven im Augsee — .
(GeschlifTener Morgen. Anscheinen der Utopialandschaft.
Marschgestampf. Ein unendliches Blenden. SchluBvers, deut-
lich herausquillend aus heilverschlungenen, illuminierten
Choren) — : — :
. . . du schiire uns ! Dein Haupt kann nicht versinken !
Kadavertiirmen wehend aufgehiBt.
Wir treffen uns. Signale winken.
Mein Sozialist . .1
Giossen
255
GLOSSEN
C Vipfomatie und (Ooffcsideafe.
Der Verlauf der Debatten liber die
auswartige Politik im Reichstage hat
jedem Vaterlandsfreunde eine schwere
Enttauschung bereitet. Anstatt mit
Verstandnis den berechtigten Wiin-
schen der Volksvertretung, mehr Ein-
fluB auf die Fiihrung der auswartigen
Geschafte zu erlangen, entgegenzu-
kommen, hat die Regierung sich an
„verfassungsrechtliche Bedenken" ge-
klammert. Als ob wir in den Schlender-
tagen tiefsten Friedens lebten undnicht
hochemste Zeiten auch auBerordent-
liche Mittel erheischten. Ein kurzes
Gesetz geniigte, um alle Wiinsche des
Reichstages zu befriedigen, ein Gesetz,
das einfach bestimmte, daB der die
Kontrolle der auswartigen Politik aus~
iibende ReichstagsausschuB wahrend
der ganzen Legislaturperiode tagen und
auch liber diese Periode hinaus provi-
so risch so lange die Geschafte fort-
fiihren solle, bis ein neuer Reichstag
einen neuen AusschuB gewahlt habe.
Denn nur auf dauerndes Mitarbeiten
kommt es an. Zu jeder Zeit, an jedem
Tage mufi die Volksvertretung die
Mdglichkeit haben, mit den Leitem
unserer auswartigen Geschafte sich zu
beraten . Alles andere ist Stiickwerk
und Selbsttauschung. Die Behandlung
des Reichstages anlaBlich der Selb-
stindigkeitserldarung Russisch-Polens
sollte doch dem Blindesten die Augen
geoffnet haben. In dem Augen blicke,
wo der Reichstag nach erregten Ver-
handlungen endlich den Zutritt zur
diplomatischen Geheimkammer, we-
nigstens wahrend des Krieges, durch-
gesetzt zu haben wahnte, wurde ihm
bei einem Ereignis allerersten Ranges,
bestimmt, die innere und auswartige
Politik Deutschlands von Grund auf
umzustiirzen, von der Regierung die
Tiire vor der Nase zugeschlagen.
Vielleicht wird dieser Vorfall dem
Reichstage ein fiir allemal als Lehre
dienen. Warum hat er sich auch so
leichten Sinnes gerade in einem Augen-
blicke nach Hause schicken lassen, wo,
wie er wuBte, ein so bedeutendes poli-
tisches Problem vor der Losung stand?
Diese energielose Haltung steht aller-
dings im volligen Einklang mit der Art
und Weise, wie bisher im Reichstage
auswartige Fragen behandelt worden
sind. Die Teilnahmlosigkeit und Ober-
flachlichkeit, mit der der Reichstag
auswartige Probleme zu besprechen
pflegte, haben ja gerade unserer Diplo-
matic das Spiel so leicht gemacht. Sie
hatte das Feld f rei zu schalten und zu
walten, wie ihr einseitiger Sinn es ihr
eingab.
Wenn ein wirklicher Wandel hier
eintreten soil, ist es heiligste Pflicht des
Reichstages, *ich selbst und das deut-
sche Volk zum Verstandnis der aus-
wartigen Politik zu erziehen. Dazu
muB er sich aber ein Organ schatfen,
256
Glossen
vertretern durchdringen und
konnte.
daB
Gerade der Umstand,
diese Manner aus dem vollen Leben
das geeignet ist, einen dauernden nin-
fluB auf die Fiihrung unserer auswarti-
gen Geschafte auszuiiben. Denn nur
in bestandiger Mitbetatigung wird es kommen und nicht nur zur „Karriere“
den deutschen Volks vertretern ge- gehoren, wlirde die bisher iiblicfie
lingen, sich diejenigen Kenntnisse liber diplomatische Denkweise nur aufs
auswartige Dmge und Menschen zu
verschaffen, ohne welche eine wirk-
same Volkskontrolle der Diplomatic
einfach ausgeschlossen ist.
Daher diirfte auch der groBe Haus-
haltsausschuB kein geeignetes Kon-
trollinstrument sein. Er ist viel zu sehr
uberlastet. Die auswartigen Fragen
wurden hier wieder viel zu kurz kom-
gliicklichste erganzen konnen. Voraus-
gesetzt natiirlich, daB man ihnen ihrr:
Aufgabe nicht kiinstlich erschwert,
sondem, im Gegenteil, ihnen beim Er-
werb von Kenntnissen iiber diplo-
matische Vorgange in weithenriger
Weise entgegenkommt.
SchlieBlich hatte die Regierung von
einem solchen si dn digen Zusammen-
men. Sonst gilt im Reichstag das Prin- arbeiten von Diplomatenbureaukratie
zip strenger Arbeitsteilung bei der Bil- und Volks vertretung den gTdBten
dung von Kommissionen. Warum soli Nutzen. Vielen Storungen und Rei-
gerade bei einer so wichtigen Aufgabe
wie der Beaufsichtigung der auswarti-
gen Politik dieser Grundsatz umge-
stoBen werden?
Fiir die auswartigen Angelegenheiten
ist ein besonderer Ausschufi erforder-
lich, der sich dauernd nur mit aus-
landischen Problemen befaBt und der
nur solche Manner als Beisitzer zahlt,
welche die auswartige Politik nicht nur
als Steckenpferd reiten, sondem die
von der Natur zur Losung derartiger
Probleme gestempelt sind, indem sie
das dazu unumganglich notwendige
Kunstvermogen besitzen.
Gegen die Mitwirkung eines derart
ausgestatteten Ausschusses diirfte un-
sere Diplomatic auch nicht einwenden
konnen, daB er die Fruchtbarkeit ihrer
Gedankenarbeit store. Im Gegenteil.
Eine verniinftige, gewissenhafte Diplo- auch ein Faktor in die Diplomatic ein-
bungen mit dem Reichstage wurden da-
durch die Wurzeln abgeschnitten . Das
ganze diplomatische Handwerk be-
kame einen volkstiimlicheren Zug.
Was wissen die meisten unserer heu-
tigen Diplomaten vom Volk und seinen
Idealen (wenn sie auch gem, in kriti-
tischen Augenblicken, davon reden)?
Werden doch die Kopfe dieser, im
Elfenbeinturm hofischer Denkungsart
eingeschlossenen Herren fast nur wie-
der aus diplomatischen Quellen ge-
speist. Die Berichte unserer auswarti-
gen Vertreter spiegeln in Auffassung
und Stimmung genau das Bild der
Zentrale. Der Eimer schopft so immer
aus gleichem Brunnen.
Durch aktive Teilnahme von Volk
und Volks vertretern an den auswarti-
gen Geschehnissen wlirde allmahlich
inatie miifite es als segensreich emp-
finden, wenn sie die schwiengen aus-
wartigen Probleme in vert rauens vollen
dringen, der bisher eine vollig unter-
geordnete, wenn iiberhaupt eine Rolle
gespielt hat: das Volksideal.
Erorterungen mit urteilsfahigen Volks- Das Volk ist seit langem iiberdriissig.
Glossen
257
nur als Objckt militarise her oder wirt-
schaftlicher Machtplane angesehen zu
werden. Oberall diirstet die Volks-
seele nach dem Ideal der Volkerver-
standigung, nach Freiheit und Ge-
rechtigkeit. Das Volk ist in seiner
groBen Mehrheit in alien Landern
friedliebend. Es weiB, daB es bei einem
Kriege nichts zu gewinnen, aber sehr
viel zu verlieren hat, und daB der Ein-
satz stets sein Blut und Gut ist.
Im Gegensatz hierzu sind die Kopfe
der Diplomaten noch vollgepfropft von
den aus einer absolutistischen Zeit
stammenden Gewalt- und Prestige-
ideen. Wie konnte dies auch anders
sein? Rekrutieren sich doch unsere
Diplomaten nur aus Standen, denen
das Kriegshandwerk eine zweite Natur
geworden ist, oder die in engem Zu-
sammenhang stehen mit den modernen
Industriebaronen. Fur den Geist, der
bei der Auswahl unserer Diplomaten
vorherrscht, nur ein Beispiel von vielen.
Keiner, der gedient hat, kann zuge-
lassen werden, wenn er nicht in der
Reserve mindestens die Leutnants-
staffel erklommen hat. Der Fall, daB
ein untauglicher Militar ein vortreff-
licher Diplomat sein konnte, scheint
undenkbar. Kein Wunder, daB der-
artig gewahlte Elemente mit Vorliebe
auf die Macht des Deutschen Reiches
pochen, statt ihren Geist anzustrengen,
um mit friedlicheren Argumenten zu
iiberzeugen. Wenn man wiiBte, wie oft
unsere Diplomatic Augenblickserfolge
nur erzielte, weil sie mit der Faust auf
den Tisch schlug und hierdurch ner-
vosen Staatsmannern imponierte! DaB
eine solche Methode die politische
Atmosphare Europas mit Ziindstoff
schwangere und das Herein brechen des
Unwetters beschleunige, kam ihr nicht
in den Sinn.
Aber noch eine andere Gefahr ergibt
sich aus einem solchen in Friedens-
zeiten geiibten Kriegsspiele. Die bei
der Behandlung auswartiger Probleme
mit Vorliebe auf die Mach* sich stiit-
zende Diplomatic ist in Krisenzeiten
zu friihzeitig bereit, sich vor dem Mili-
tar von der politischen Schaubiihne zu-
riickzuziehen und dem Soldaten zuzu-
rufen : Ich habe das meinige getan, tun
Sie das Ihrige. Der Militar, an den
Gedanken gewohnt, daB der Nachbar
nur auf der Lauer liegt, um uber ihn
herzufallen, wird in der Sorge, seinem
Lande feindliche Einfalle zu ersparen,
alles daran setzen, um dem Gegner
schleunigst zuvorzukommen. Wer
wollte ihn deswegen tadeln ? Bei dieser
militarischen Auffassung der Dinge
ware es selbst erklarlich, wenn der
Soldat manchmal einen Praventivkrieg
fur das kleinere Obel ansahe.
Els ist daher von kapitaler Bedeutung,
daB die Diplomatic nicht eher das
Steuerruder des Staatsschiffes aus der
Hand gibt, bis nicht alle, wirklich alle
anderen Mittel erschopft sind, um den
Frieden zu erhalten. Der idealste
Diplomat ware der, welcher mit frem-
den Regierungen so verhandelte, als ob
keine Militarmacht hinter ihm stande.
Zum Oberzeugen mit Worten gehort
allerdings ein nicht gerade gewohn-
liches MaB von Menschenkenntnis,
Takt und Verstand.
Eine vielversprechende Tatigkeit
konnte ein Volks vert reterausschuB
schon allein dadurch ausiiben, daB er
versuchte, auch auf die militarischen
Be rater und deren Denkweise EinfluB
zu gewinnen, daB er besonders die
Glossen
Chefs des General- und Marinestabes
iiber die wahren Absichten und Stim-
mungen fremder Volker auf dem Lau-
fenden hielte, damit diese Herren nicht,
wie bisher, ihre auswartigen Kennt-
nisse nur aus diplomatischen Quellen
beziehen. In den militarischen Bureaus
wlirde allmahlich ein ganz anderer
Geist plat zgrei fen. Die verstandigen
und wahrhaft patriotischen Elemente,
welche das Kriegshandwerk nicht nur
ergriffen haben, um kriegerische Lor-
beeren zu emten, sondem um ihr Land
zu schutzen, wurden die Oberhand ge-
winnen und zur allgemeinen Beruhi-
gung beitragen.
Wann werden unsere Machthaber
endlich einsehen, da8 die „Einkrei-
sung“ ihren Anfang nahm, als unsere
Diplomatic in Verkennung des neuen
europaischen Zeitgeistes den im Haag
aufkommenden Bestrebungen inter-
nationaler Verstandigung mit harter
Ironie den Weg verlegte ? Es wird jetzt
sehr schwer sein, der Menschheit den
Glauben beizubringen, daG wir in Auf-
richtigkeit eine europaische Rechts-
ordnung anstreben, welche wir im
Frieden so hartnackig bekampft ha ben.
Wird man nicht sagen, daG eine solche
Meinungsanderung nur eine augen-
blickliche Kriegsmiidigkeit zur Ur-
sache hat? Um dem Auslande Ver-
trauen einzufloGen, miiGte sich in
Deutschland erst manches andem.
Neue Manner muGten hervortreten,
deren Vergangenheit fur die Wahr-
haftigkeit der Umkehr Burge ware, das
deutsche Volk vor allem muQte bei den
auswartigen Geschehnissen ein aus-
schlaggebender Faktor werden.
Bei einem innigen Zusammenarbeiten
von Diplomatic und Volksvertretung
hatte die Diplomatic wohl auch ge-
merkt, daG die AuGenwelt sich anderte
und daG ein neues demokratisches
Zeitalter mit neuen volkervereinigen-
den Idealen am politischen Horizont
erschienen war, die sich auf Frieden,
Freiheit und Gluck aller Volker rich-
teten. Aber die Diplomaten, die nur
von ,,Realpolitik“ traumten, iibersahen
diese ttyirklichkeH. Sie ahnten nicht,
daG in unserer Zeit nur eine Realpolitik
der 0 deale der Welt dauemden Frieden
bringen kann.
Und welches Land ware geeigneter
zu einer Volkerverstandigung gewesen
als gerade Deutschland, das durch seine
im Herzen Europas gelegene Stellung
zu einem universalen Berufe vorher-
bestimmt zu sein scheint und diesen
Beruf auch Jahrhunderte hindurch
zum Besten der zivilisierten Welt, der
damaligen Christenheit, ausgelibt hat.
Das Kaisertum des Mittelalters war ein
universales Institut. Auf deutschem
Boden sind alle groGen Volkerver-
sammlungen abgehalten worden, wie
die beriihmten Konzilien der Kirche
und die Kongresse, die Weltkriege be-
endigten. In Deutschland stand die
Wiege des Volkerrechtes. Kein anderes
Land hat eine so mannigfaltige Nach-
barschaft und ist durch seine Grenz-
lander und deren Bevolkerung mit so-
viel fremden Staaten verwachsen. Jede
politische Handlung Deutschlands be-
riihrt daher unmittelbar fast ganz
Europa. Wenn in Deutschland das
Militar die Oberhand hat, wird in alien
anderen europaischen Staaten geriistet
werden; erst, wenn dort die Demo-
kratie herrscht, wird das iibrige Europa
es wagen, sich friedlicheren Beschafti-
gungen hinzugeben.
Gtossen
25V
In Zeiten politischer Zerrissenheit
and Schwache stand es allerdings dem
deutschen Reiche nicht an, eine euro-
paische Ordnung herbeizufiihren. Ein
solches Begin nen hatte das Reich
schwerer Fahmis ausgesetzt. Nach-
dem Deutschland aber zur starksten
Macht Europas sich emporgearbeitet
hatte, w&re es die Pflicht seiner Staats-
manner gewesen, sich auf den alten
universalen Charakter Deutschlands zu
besinnen und die Fiihrung zu iiber-
nehmen, um Europa ein Internationales
Rechtssystem zu schenken, aufgebaut
auf dem Grundsatze, daB eignes Recht
vor fremdem Recht Halt zu machen
ha be. Eine solche auswartige Politik
hatte dem deutschen Volke wieder zu
einem Ideal verholfen, ohne welches
schlechterdings ein hochstehendesVolk
auf die Dauer nicht leben kann. Statt
dessen gab man dem deutschen Volke
ein Scheinideal, die Weltmachtpolitik,
ein Ideal, das im Lichte der politischen
Vemunft zerflieBen muss wie der
Schnee in der Friihlingssonne. Denn
es war aufgebaut nicht auf dem gegen-
seitigen Gewahren, sondern auf dem
Ausspielen der Macht Schwacheren
gegeniiber.
Diese Gedankenrichtung konnte nur
aufkommen aus der einseitigen preufii-
schen Auffassung der Staatsidee, wie
sie Hegel und Treitschke lehrten. Weit
entfemt steht diese politische Idee von
der vdlkerbegliickenden Idee des alten
deutschen Kaiserreiches, in dessen
Schatten Vdlkerschaften verschieden-
i TRorgenrote ?
Neues Rededuell zwischen den ver-
antwortlichen Staatsmannem Deutsch-
ster Nationalitaten Ruhe und Frieden
fanden. In dieser Beziehung hat viel-
leicht der preuBische Historiker und
Politiker Constantin Frantz richtig in
die Zukunft geschaut, der schon 1871
in seinen Briefen an einen preuBischen
Staatsmann es bedauerte, wenn die
tausendjahrige Entwickelung des heili-
gen romischen Reiches deutscher Na-
tion ihren AbschluB finden sollte in
dem einfachen Ausbreiten des preuBi-
schen Militarsystems iiber den deut-
schen Zollverein, wie es bei der Neu-
aufrichtung des Deutschen Reiches ge-
schah. Mogen zum Schlusse hier seine
eigenen Worte folgen:
„Es mochte ja die unbestreitbarste
Tatsache sein, daB die deutsche Mili-
tarmacht dadurch gewonnen hatte, wie
desgleichen Posten.T elegraphen, Eisen-
bahnen und dgl., die Frage ist nur: ob
diese Angelegenheiten jemals den ent-
scheidenden MaBstab der National -
entwicklung bilden diirfen, und zwar
fiir eine Nation von so universaler An-
lage und so idealer Richtung, als woftir
bisher die deutsche gegolten hat. Jetzt
steht diese Nation in alle dem gerade,
was sonst ihre eigentiimliche Ehre und
GroBe ausmachte, auf einem niedri-
geren Standpunkt als andere. Denn wo
ware es sonst noch erlebt, daB ein
nationales Gemeinwesen kurzweg auf
militarische und kommerzielle Ein-
richtungen begriindet wurde, wie wenn
das 9 deale im Volkerleben fur nichts
geltef*
Chis dfplomaficus .
lands und Englands. Hauptthema:
Schuldfrage. Die Neuheit besteht
in der Erklarung Bethmann-Hollwegs,
daB Deutschland keine Abneigung
260
Glosscn
gegen Internationale Tribunale habe.
Damit scfieint der bis in die diistem
Tage des Kriegsausbruchs eingenom-
mene Standpunkt endlicb verlassen,
da6 man keiner GroBmacht zumuten
diirfe, M Fragen ihrer Ehre und ihrer Exi-
stenz“ einem intemationalen Schieds-
gericht zur Entscheidung vorzulegen.
Der Krieg wird vielleicht doch damit
aufhoren, wodurch er hatte vermieden
werden konnen.
Am Morgen des Tages, an dem der
Reichskanzler im HauptausschuB des
Reichstags sein Einverstandnis mit
dem Greyschen Vorschlag der inter-
nationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu
erkennen gab, veroffentlichte der
Staatssekretar a. D. 0 emburg im
Berliner Tageblatt einen Artikel „Di-
plomatie**, worin es hieB: „.... das
spreche ich mit voller Oberzeugung
aus, auch das deutsche Volk will, daB
in Zukunft solche furchtbaren Ge-
schehnisse wie der gegenwartige Welt-
krieg nach Kraften vermieden werden,
und es will alle Mittel angewendet
haben, die dazu dienen konnen. Ja,
selbst wenn man glaubt, dafl manche,
besonders die, die man die ,,pazi~
fistischen** nennt, doch schlieBIich
keinen Erfolg haben, so darf man sich
schon aus Achtung vor den anderen,
die daran glauben, diesen Mitteln
nicht hochmiitig und ablehnend ver-
schlieBen. Wir haben auf den Haager
Konferenzen nicht gut abgeschnitten,
nicht vielleicht, weil wir letzten Endes
nicht recht hatten, sondern weil
wir unsere Ansicht iiber die dor-
tigen Vorschlage mit einer so brutalen
Sachlichkeit herausgeprustet haben,
daB die andere Seite, die doch aus
fuhrenden Mannem des Restes der
Welt bestand, tief verletzt war. Das
war sicher keine Kunst, und es war
sicher keine Diplomatic/*
Ahnlich driickte sich Professor
Qelbriicfz in den PreuBischen Jahr-
biichern aus. Wir haben, sagte er etwa,
keinen rechten Glauben an die Wirk-
samkeit zwischenstaatlicher Organisa-
tionen ; wahrscheinlich mit Recht ; aber
es hat den Anschein, als ob wir neuer-
dings um das Experiment nicht herum-
kamen; versuchen wir’s also damit;
es hatte namlich seine Bedenken, wenn
wir uns von dem allseitig gewiinschten
Untemehmen ausschlossen.
*
Der deutsche Reichskanzler hat des
weiteren erklart, daB er nie die Ab-
sicht bekundet habe, Belgien zu annek-
tieren. Nun schreibt C/raffJfcensbrcech
im ,, Berliner Kurier“:
„Am 24. Juli d. J. hatte ich eine
zweistiindige Unterredung mit Herm
Wahnschaffe (Unterstaatssekretar in
der Reichskanzlei) im Reichskanzler-
haus. Aus der Niederschrift, die ich
unmittelbar nachher machte, ist fob
gender Teil fiir die belgische Frage
von Belang.
Ich ; Das im Jahre 1815 gesprochene
Wort Bluchers scheint auch heute
wieder lautere Wahrheit werden zu
wollen : Die Diplomatic verdirbt, was
das Schwert und das Blut der Soldaten
errungen haben. Das zeigte sich ins-
besondere in bezug auf Belgien. Der
Reichskanzler habe in seiner Reichs-
tagsrede die Einverleibung Belgiens
abgelehnt. Ohne den Besitz von Bel-
gien (Antwerpen und Flandern) sei es
uns aber weder mdglich, England in
Schranken zu halten noch diejenigen
Glossen
261
, weltwirtschaftlichen Vorteile zu erlan- Der Reichskanzler habe die Einver-
l gen, auf die wir nach so furchtbaren leibung Belgiens nicht abgelehnt, son-
Opfern an Gut und Blut ein Recht dem seine Ausdrucksweise sei so, daB
batten. die Einverleibung noch moglich sei.
Wahnschaffe machte in bezug auf Ich: Diese Erlauterung der Kanzler-
Belgien die interessante Eroffnung: rede sei sehr wertvoll/4
Das sei eine miBverstandene Auffas- GewiB. Aber sie ist durch die
! sung der Rede des Reichskanzlers. Ereignisse iiberholt.
}■
,tOto(£ ijt GZofen .
Was man die Verleihung der Auto-
nomie an ^Pofen nennt oder gar die
Neuschopfung Polens, hat niemand
ehrliche Freude bereitet. Die Fran-
zosen erklaren den Coup fiir einen
Bluff, dessen einzig realer Hintergrund
der Wunsch sei, eine Million polnischer
Soldaten an die deutsche Front zu
bringen. Ober die Ansicht der deut-
schen Presse mogen einige Ausziige
aus den verschiedenen Parteiorganen
AufschluB geben. Alle protestieren
gegen die Verhinderung einer freien
Aussprache iiber die wichtigsten An-
gelegenheiten der Nation und finden,
das Versprechen, daB das Verbot
der Aussprache iiber die Kriegsziele
rechtzeitig aufgehoben werden solle,
sei nicht gehalten worden. Fiir die
JConservathen sagt die ..Kreuzzei-
tung“: ..Anderen Mogiichkeiten der
Losung vorgreifend, nimmt sie einen
wesentlichen Teil der Kriegsergeb-
nisse vorweg und schiebt unsere auBere
und innere Politik in Fragen ersten
Ranges dauemd auf feste Gleise/4
Die , , Deutsche Tageszeitung" : „Wir
stehen der Errichtung eines selbstan-
digen polnischen Staatswesens nach
den Umwalzungen, die dieser Welt-
krieg gebracht hat, nicht grundsatzlich
ablehnend gegeniiber. Aber ein sol-
cher Schritt rollt nicht nur polnische,
sondem auch deutsche Lebensfragen
auf, ob und wie dem Rechnung ge-
tragen wird, IaBt sich erst ubersehen,
wenn die Gesamtwirkungen des Krie-
ges auf die europaische Landkarte und
die deutsche Macht, und wenn die
Sicherheiten bekannt sein werden, die
hier im deutschen Interesse notwendig
sind/4
Die „Post“ nennt die Losung der
Polenfrage ,,ein Produkt autokratischer
Regierungsweise*4 und ist sehr unzu-
frieden: „Die ganze Frage ist noch
nicht geniigend in der Offentlichkeit
geklart, ja, sie war zu sehr unter offen-
barer MiSachtung des Rechts der
Offentlichkeit betrieben worden, als
daB sich breite Schichten des Volkes
ohne weiteres bereit erklaren konnten,
freudig und unbedenklich mit Hand
ans Werk zu legen. Wo es kein Mit-
raten und Mitsorgen gab, da gibt es
auch kein Mithaften/4
Aus denselben Grilnden, warum
das Zentrum Belgien — in irgend einer
Form — annektieren mochte, freut es
sich iiber das Gluck, das dem katho-
lischen Polen widerfiihrt, besser gesagt :
dem russischen Teil Polens. Die
..Germania*' schreibt: „Es lag und
liegt in dem Interesse des polnischen
262
Glosscn
Volkes so sehr wie in unserem eigen en,
daB schon jetzt die Entwicklung ein-
setzen kann, die nach dem Friedens-
schluB die notwendigen Garantien
filr ein heilsames Zusammenwirken
der gesamten Mittelmachte einschlieB-
lich Polens in sich birgt.“
Von den Qiberaien driickt sich am
staatsmannischsten die „Vossische Zei-
tung“ Georg Bernhards aus. Auch er
findet nicht in der Ordnung, daB das
deutsche Volk nicht gefragt worden
sei, und fahrt fort: „Die Tatsachen
selbst stehen fertig geformt vor uns.
Wir miissen sie als unabanderlich hin-
nehmen, und wir konnen jetzt nicht
einmal mehr in Erorterungen eintreten,
die in diesem Augenblick mehr Ver-
stimmung hervorrufen als niitzen wiir-
den. Wir konnen nur annehmen, daB
die vollige Tragweite der augenblick-
lich gewahlten Losung von der verant-
wortlichen Stelle uberlegt ist, und wir
miissen an diese Annahme die Hoff-
nung anschlieBen, daB die Verwicke-
Iungen und Verschiebungen, die theo-
retisch durch die gewahlte Losung der
Polenfrage moglich sind, praktisch
nicht cintreten werden. Wir gonnen
dem Polenvolke die Erfiillung seiner
Wiinsche. Und wir hoffen, daB wir es
nie bereuen werden, seine Wiinsche
erfiillt zu haben.“
Das „BerL Tageblatt“ schreibt:
„Sowenig wir die Politik der All-
deutschen und der von ihnen geistig
befruchteten Kreise mitmachen, die
auch fur die Zeit nach dem Kriege die
Feindschaft zwischen Deutschland und
England unter alien Umstanden auf-
rechterhalten wollen, ebenso wenig
konnen wir wiinschen, eine dauemde,
uniiberbruckbare Kluft zwischen
Deutschland und Rufiland entstehen
zu sehen. Die Wiederherstellung des
polnischen Staates wird uns unter der
Voraussetzung willkommen sein, daB
es beim Friedensschlusse und in den
Verhandlungen gelingen wird, die
dauemde Gefahr russischer Revanche-
stimmungen zu vermeiden. Auch nach
der Neugriindung des K5nigreichs
Polen sind verschiedene Moglichkeiten
denkbar, die zu einer spatem Ver-
standigung fiihren konnen/*
Dasselbe Blatt veroffentlicht eine
Reihe von Unterredungen mit be-
kannten Politikem, wo von die in-
teressanteste die des Elsassers %)r.
*Ridcfin ist, des Prasidenten des elsaB-
lothringischen Landtags, der mit Neid
auf das entstehende selbstandige Polen
blickt. Interessante Parallelen, die ihm
gelaufig sein sollten, beriihrt er aller-
dings nicht. Er zieht es, realpolitisch
wie er sein mochte, vor, den Wunsch
auszusprechen, daB ElsaB-Lothringen
im Rahmen des Reiches dieselbe Selb-
standigkeit zugestanden werden moge.
Von den tJozialdemofcraien auBert
sich Scheidemann: „Ich wiinsche ein
vollkommen freies Polen, und ich
wunsche, daB dieses Polen Deutsch-
lands Freund sei. Aber zu Liebe kann
man keinen zwingen. Brauchen wir
Polens Freundschaft, so miissen wir
eine entsprechende Politik treiben-
Bindungen, die nicht aus beiderseiti-
gem freien Willen erfolgen, sind schad-
lich. Wir wollen keine Revanche-
stimmung des Ostens. Das ideale Zid
ist die Errichtung eines freien Polens
nach den Wiinschen des polnischen
Volkes selbst und mit Zusti miming
aller an den Friedensverhandlungen
beteiligten Machte. Ob dieses Zid
Glossen
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erreicht wird, hangt nicht von uns
allein ab. Wir wollen nach dem Kriege
mit alien Volkem in Frieden und
Freundschaft leben, ganz besonders
auch mit einemfreienpolnischenVolk.“
Eduard Bernstein laCt mehr erraten,
als er ausspricht: „Die Herstellung
Polens, das heifit, die Sicherung der
Selbstbestimmung und Selbstregierung
des polnischen Volkes, ist eine alte
Forderung der Demokratie, fur die die
deutsche Sozialdemokratie niemals un~
terlassen hat, ihre Stimme zu erheben.
Sie ist das Erbe unserer groBen Vor-
kampfer Marx und Engels, Lassalle Unklarheit, eine Halbheit, und der-
Westens und des Ostens kann Polen
in unserer Epoche wahrhaft frei sein
und gedeihen."
Die soz. Parteikorrespondenz Stamp-
fer laBt drucken: „Ein Tanzen auf
der „mittleren Linie" zwischen der
konservativen Machtpolitik und der
sozialdemokratischen Freiheitspolitik
ist unmoglich. Der Konservative sagt :
ihr miiBt tun, was ich will ! Der Sozial-
demokrat: Ihr seid frei! — Die Re-
gierung aber, ganz gescheit wie sie
nun einmal ist, sagt: Ihr seid frei, wenn
Ihr tut, was ich will! — Das ist eine
und Liebknecht, das wir hochgehalten
haben, als alles um uns herum den Ge-
danken als unmoglich und Schlim-
meres verspottete. Wir haben stets in
der Herstellung eines freien, iiber sein
eigenes Geschick bestimmenden Polens
eine der unerlaBlichen Bedingungen
eines wahrhaft freien Europas erblickt,
und was dieser Krieg offenbart hat,
konnte nach meiner uberzeugung die
Sozialdemokratie nur in dieser Auf-
gleichen racht sich immer. Die miB-
lichen Folgen treten zunachst nur in
der Haltung der Presse hervor, die sich,
bei aller Meinungsverschiedenheit, ihre
Pflicht doch von niemand anderem
vorschreiben lassen will, als von ihrem
Gewissen. Wir fiirchten, daB es bei
diesen miBlichen Folgen nicht bleiben
wird. Die Polenpolitik der Regierung
hatte, wenn sie wirklich Gafin und grofi
gewesen ware, wie die „Nordd. Allgem.
fassung bestarken. Wir wiirden es Zeitung“ ihrattestiert hat, leidenschaft-
daher freudig begriiBen, wenn aus liche Gegner, aber auch begeisterte An-
diesem Krieg ein solches freies Polen
hervorginge, und werden es als unsere
Aufgabe zu betrachten haben, nach
unseren Moglichkeiten dafiir einzu-
treten, daB der Gedanke in der vollen Seiten."
Tragweite der Grundsatze der Demo-
kratie zur Verwirklichune kommt.
hanger gefunden. Weil sie in Wirklich-
keit zaudemd und vieldeutig ist, findet
sie nur laues Lob in der Mitte, ent-
schiedenen Tadel aber auf beiden
zur Verwirklichung
Jedes Abweichen von diesen Grund-
satzen, jeder Versuch, Polen eine
andere Gestalt zu geben, als sie diesen
Grundsatzen entspricht, wiirde sich,
das hat die Geschichte gezeigt, in den
Wirkungen als ein Ungliick fiir Europa
und fiir Polen erweisen. Nur als ein
Bindeglied zwischen den Nationen des
Unter dem Titel BeGeGrie *Revofa*
ttontire erinnert der „Vorwarts*‘ an
die ,,Augusttage 1914, als die Kosaken
iiber die Grenze ritten und viele ost-
preuBische Gutsbesitzer Hals iiber
Kopf nach Berlin fliichteten. Damals,
als die Gefahr blutrot am Himmel
stand, erinnerte man sich auch in jenen
Kreisen der rettenden Kraft freiheit-
37 voi. m/2
264
Glossen
iicher Gedanken. Und die hilfe-
suchenden Blicke wandten sich dort
hiniiber, wo ein freiheitliebendes
Volk unter den Hieben der ZarengeiBel
ein Jahrhundert lang gestohnt hatte.
AJle Hoffnungen ricbteten sich auf die
erwartete polnische Insurrektion.
Noch war Polen in russischer Hand.
Noch drohte jedem Polen, jedem Ju-
den, der in das Getriebe der grofien
Dampfwalze storend eingriff, der Wiir-
getod in der eingeseiften Schlinge.
Revolution machen ist immer ein
lebensgefahrliches Untemehmen, am
lebensgefahrlichsten dann, wenn ein
Staat um seine Existenz kampft und
die militarische Gewalt schrankenlos
regiert. Da wird nicht viel Federlesens
gemacht, am allerwenigsten in RuB-
land.
In den Kreisen, in denen man jetzt
von Polens Freiheit nichts wissen will,
hoffte man damals, daB Polen Ost-
preuBen retten wiirde. Hindenburg
safi noch in Hannover, Tannenberg
war noch nicht geschlagen. Aber in der
Erinnerung lebte der Heldenmut der
polnischen Revolutionise, die, das
„Lied von der roten Fahne“ singend,
aufrecht zum Galgen schritten. — Das
,,Lied von der roten Fahne" war da-
mals in deutsch-konservativen Kreisen
sehr popular.
Indes bei bloBen Sympathien und
Sympathieerklarungen blieb es nicht.
Die Zeit forderte Taten, rasches
Handeln war notwendig. Man konnte
aus jenen Tagen manches erzahlen,
was recht merkwiirdig klingt und doch
Tatsacheist. Das Merkwlirdigste daran
ist, daB die Herren das alies heute so
gut wie ganz vergessen haben. Viel-
leicht geniigt eine kleine Andeutung,
um ihr Gedachtnis wieder etwas auf-
zufrischen. Vielleicht — das ist aber
freilich ein kuhner Gedanke — geniigt
diese vorlaufige Erinnerung, um sie zu
einer gewissen Zuriickhaltung zu ver-
anlassen. Man wiirde sonst zu dem
politischen Erfahrungssatze kommen,
daB sich die Begeisterung mancher
Leute fiir die Freiheit Polens ver-
ringert im quadratischen Verhaltnii
zum Zwischenraum, der zwischen der
russischen Front und der deutschen
Grenze liegt. Und die Haltung der
Konservativen in der Polenfrage wiirde
dann nur beweisen, wie giinstig man
in konservativen Kreisen — im Gegen-
satz zu einer friiheren Zeit, in der man
noch die Polen zu brauchen glaubte —
die tKriegslage beurteilt.“
*
Das war die Zeit — mochten die
WeiBen Blatter hinzufugen — als einer
lhrer Redakteure, der einem bekannten
polnischen Abgeordneten auf dem
Konigsplatz begegnete, auf die Frage,
was der da zu suchen habe, die Ant-
wort erhielt: „Wir machen Revolu-
tion
*
Da Cfemenceaus „Homme libre
nicht in den Chor der franzosischen
Presse einzustimmen pflegt, sei seine
Stimme hier hervorgehoben. Er
schreibt : „In Wahrheit ist eine Wieder-
herstellung des Konigreichs Polen nur
unter der Agide RuBlands moglich.
Russen und Polen sind allzulang
feindliche Briider gewesen. Dennoch
aber Blutsbriider. Und die Ahnlich-
keit der ethnischen Impulse, die *ie
oft miteinander in Konflikt brachte,
muB sie vereinigen, um sie gemeinsam
Glossen
265
der Umschlingung des deutschen Ein-
dringlings zu entziehen. Stets, wenn
man in den letzten zwei Jahren die
Erorterung der polnischen Frage von
mir verlangte, mufite ich erwidem,
daB ich jederzeit bereit sei und bereit
bleibe, meine Feder der polnischen
Sache zu widmen, daB es aber fiir
Frankreich nicht weniger als fiir jedes
andere Land sich in fruchtlosen Dis~
kussionen verlieren hieBe, wenn man
achon jetzt, vor dem Sieg, die Frie-
densbedingungen erortem wollte/*
t&aily (Celegrapfi** : „Die Her-
at ell ung der polnischen Souveranitat
durch Deutschland bringt eine wirk-
liche Oberraschung, obwohl seit lan-
gem das Geriicht ging, daB eine der-
artige MaBnahme von der kaiserlichen
Regierung ins Auge gefaBt sei. Es
ist ldar, daB kein verniinftiger Mensch
in einem der alliierten Lander die
deutsche ,Geste‘ den Polen gegeniiber
emst nimmt/4
Die tfCimetf* : „Die Zukunft Polens
ist eine europaische Frage von auBer-
ster Wichtigkeit. Mit ihrer Losung
sind tiefe Interessen aller Alliierten
verknupft/*
Der,, Corn ere delta cferct': „DerMi-
nister des Auswartigen Burian selbst
hielt es fur angebracht, einem pol-
nischen AusschuB zu erklaren, daB
die angekiindigten MaBnahmen erst
n*ch dem Kriege verwirklicht werden
sollen. Was Deutschland wahrend des
Krieges allein interessiert, ist die Auf-
stellung einer polnischen Armee, um
sich mit Blut bezahlt zu machen fur
sein falsches Spiel/*
Das Qiornale Otalia {*: „Der pol-
nische Staat, den Deutschland ge-
schaffen hat, ist eine Absurditat, die
im Widerspruch steht mit den Tradi-
tionen der deutschen Politik und den
Gefuhlen der polnischen Nation. Was
man da geschaffen hat, tragt den
Todeskeiminsich. Man glaubt wohl in
Deutschland selbst nicht dran/*
Der H&vanti1*: „Die Proklamation
der Unabhangigkeit Polens ist weder
eine Generositat noch ein Akt der
Gerechtigkeit: vielmehr ein diplo-
matischer, politischer und militarischer
Notbehelf.44
Yyiei/BaslerVlationalzeHung": „Ein
Beweis dafiir, dafi zwischen Deutsch-
land und Osterreich-Ungam bezliglich
Polens noch Meinungsverschiedenhei-
ten bestehen, liegt darin, daB Osterreich
Galizien die Autonomie zugesteht, wah-
rend Deutschland es nicht ebenso mit
PreuBisch-Polen halt. Man wird klug
daran tun, aus der Proklamation nicht
allzuviel Konsequenzen zu ziehen,
denn Deutschland selbst zeigt diese
Zuriickhaltung, indem es sich iiber die
Frage der Dynastic nicht naher er-
klarte/*
♦
Die russisc/ie *Presse variiert allge-
mein die Worte der „Rjetsch/4 daB
der tatsachliche Zweck dieses hastigen
deutsch-osterreichischen Aktes in der
Erklarung iiber die Rekrutierung ent-
halten sei. Jedermann wisse indessen,
dafi allein die wenig einfluBreichen und
wenig zahlreichen Parteien wie die
„Vereinigung der Anhanger eines pol-
nischen Staatswesens44 dem hatten zu-
stimmen konnen. Die von den Oster-
reichem und Deutschen proklamierte
Rekrutierung stelle einen Akt der Ver-
gewaltigung und die Erklarung der Un-
abhangigkeit Polens eine Heuchelei dar.
Was schliefilich die preuBischen
S7aVol. LH/2
266
Glossen
Polen denken, laBt sich leicht vermu-
ten, wenn man best, was der in Po-
sen erscheinende ,,Kuryer Posnanski“
schreibt. Das Manifest der Zentral-
machte, heifit es da, sei unzweifelhaft
einer der wichtigsten politischen Akte
wahrend des Krieges. Die Politik in
Europa, die seit Teilung Polens be-
trieben wurde, werde dadurch fiir
bankrott erklart. Die deutsch-russische
Freundscbaft sei das Fundament der
europaischen Lage gewesen, die sich
auf die Streichung Polens aus dem
Reiche der selbstandigen Staaten ge-
stiltzt habe. Es habe des Zusammen-
bruchs dieser Freundschaft bedurft,
urn das Verstandnis fiir die Notwendig-
keit einer Wiedererrichtung Polens
aufkommen zu lassen. Eine uner-
freuliche Seite des Vorgehens der
Zentralmachte bilde die Tatsache,
dafi hierbei nur die Halfte der pol-
nischen Nation beriicksichtigt werde.
Durch das Manifest werde demnach
die polnische Frage endgiiltig noch
nicht gelost. Es sei damit jedoch der
erste Schritt zu diesem Zwecke getan
worden, und dieser Schritt diirfe nicht
mehr riickgangig gemacht werden,
ohne Riicksicht darauf, welche Wen-
dung die kiinftigen Ereignisse nehmen
wiirden.
Dem entsprechend haben die *Po[en»
frahtionen des Reichstags und des
preufiischen Abgeordnetenhauses be-
schlossen, eine abwartende Haltung
angenommen.
ImmerhJn gab im preufiischen fflb*
geordneienhaus der Pole Styczinski
am 20. November im Namen seiner
Fraktion folgende Erklarung ab:
t,Wir sind uns der geschichtlichen
Bedeutung der Zeit voll bewufit und
empfinden die Verantwortung in volletn
Umfange. Wir hatten gewiinscht, da
BewuBtsein dieser Verantwortung auf
alien Sei ten zu finden. Es ware dann
wohl ein Antrag wie der vorliegende
nicht eingebracht worden. Wir lehnen
jedenfalls die Verantwortung fiir die
Folgen der Erorterung des Antrags
ab. Das polnische Volk hat das Gc-
fiihl der nationalenZusammengehorig'
keit niemals verloren. Die fortgesetzte
Verletzung dieses seines Rechtes auf
nationale Einigupg war nach unserer
Oberzeugung eine der Grundursachen
des jetzigen Weltkrieges. Wir geben
uns aber der Hoffnung hin, daB das
viele Blut in diesem Kriege nicht urn*
sonst geflossen sein wird, wenn die
Nationen Europas sich allseitig zu
der Oberzeugung durchringen werden,
daB die Freiheit anderer Volker den
Lebensinteressen des ejgenen Volkes
nicht widerspricht. Die Anerkennung
der nationalen Bedeutung der pol-
nischen Frage ist ein Schritt vorwarts
auf dem Wege zu ihrer endgiiltigen
Losung. Das Kaiser-Manifest erfiillt
uns mit Genugtuung, weil es aus
dem BewuBtsein dieser Notwendigkeit
entstanden ist und das Recht des pol-
nischen Volkes auf Griindung eines
selbstandigen Staates im Prinzip an-
erkennt. Indes sind die vielfach ge-
auBerten Befiirchtungen, daB noch
ein Teil des polnischen Volkes in der
Zugehorigkeit zu anderen Staaten
bleibt und das bei diesem Teil die
Freiheit nur eine nominelle sein wurde,
durch den vorliegenden Antrag vollauf
bestatigt. Nach dem Willen der An-
tragsteller, also der Mehrheit dieses
Hauses, sollen dem in Bildung be-
findlichen Staat solche Fesseln au/
Glossen
267
politischem, militarischem und wirt-
schaftlichem Gebiet auferlegt werden,
dafi seine Freiheit und Selbstandigkeit
nur noch eine scheinbare sein wiirde.
Der Antrag beweist auch, dafi die An-
tragsteller eineVerstandigung zwischen
dem deutscben und polnischen Volk
direkt ablehnen. Wenn die Antrag-
steller von t,polnisch sprechenden
PreuBen" statt von den polnischen
PreuBen reden, so sprechen sie uns
die Nationalist ab, und das muB von
uns als Provokation aufgefaBt werden.
Mit der Notwendigkeit, den angeblich
deutschen Charakter unserer Heimat
zu wahren, wurde die ganze Polen-
politik, die Verbannung der polnischen
Sprache aus Amt, Schule und dem
oflfentlichen Leben begriindet, wurden
mehr als eine Million Mark aus Staats-
mitteln zur dauernden Verdrangung
der Polen verwandt. Angesichts dieser
Tendenz legen wir gegen den Antrag
feierlichen Protest ein. Im ubrigen
beantragen wir namentliche Ab-
stimmung und bitten, diesen unseren
Antrag zu unterstiitzen."
NachdemAntragderKonservativen,
Freikonservativen und Nationallibe-
ralen, der dem Abgeordnetenhaus vor-
lag, „sprach das Haus die Erwartung
aus, daB bei der endgiiltigen Ausge-
staltung der Verhaltnisse des seine
kulturellen und nationalen Verhalt-
nisse frei regelnden neuen Staats-
wesens dauernd wirksame militarische,
wirtschaftliche undallgemein politische
Sicherungen Deutschlands im Konig-
reich Polen geschaffen werden.
Das Haus der Abgeordneten behalt
sich seine Stellungnahme zu etwaigen
politischen Schritten, welche die In-
teressen der polnisch sprechenden
Deutschen beriihren, nach MaBgabe
der weiteren Entwicklung der Ver-
haltnisse vollig vor. Es erklart aber
schon heute keine Regelung der inner-
politischen Verhaltnisse in der deut-
schen Ostmark fur moglich, die geeignet
ware, den deutschen Charakter der mit
dem preuBischen St8at unlosbar ver-
bundenen und fiir das Dasein sowie die
Machtstellung PreuBens und Deutsch-
lands unentbehrlichen ostlichen Pro-
vinzen irgendwie zu gefahrden.“
Dieser Antrag wurde mit 1 80 gegen
104 Stimmen (bei 3 Stimmenthal-
tungen) angenommen.
*
{Jfenryfc Sienfaewics ist in der
welschen Schweiz geflorben. An der
Trauerfeier in Vevey nahmen teil: als
Vertreter der deutschen Botschaft in
Bern Dr. von Schubert, der oster-
reichisch - ungarischen Botschaft in
Bern die Legationsrate de Vaux und
Skrzynsky, von der russischen Bot-
schaft Makrejew, femer waren die
Konsuln Frankreichs und Englands
anwesend. Die franzosische, englische,
deutsche, osterreichisch - ungarische
und russische Botschaft lieBen an dem
Sarge Blumenkranze niederlegen . . .
Gntwurf e/ner neuen Sfstfietifc aufs neue fesselnde Tonmeister ‘Ter-
ruccio \ Busoni (dem auch als Kompo-
Der gegenwartig wiederum durch nisten, Dichter und Dirigenten ver-
seine grofizugige und geistige Kunst diente Ehre gebiihrt) hat soeben in der
der ^Con/cunsf.
268
Glossen
schon aufierlich durch die entziicken-
den altitalienischen Buntpapierein-
bande rasch beliebt gewordenen reich-
haltigen „Insel-Bucherei“ ein Band-
chen erscheinen lassen, das in zwang-
Ioser Folge des Autors Gedanken iiber
kiinstlerische Gesetze und Irrtiimer
enthalt und in seinem letzten Ab-
ac hnitteAusbli eke gewahrt in eine „Zu-
kunftsmusik“, nach deren Landfindung
ja mancher Musiker von heute sich
unterwegs befindet. — Nun wissen wir
aus der geistigen Anschauung und
ihrem Erlebnis, daB alle Kiinste in
einer hoheren Einheit miteinander ver-
bunden sind, einen unzertrennbaren
geistigen Korper bilden, so wie Fleisch,
Blut und Bein den Leib des Menschen
formen, der zum Gefafl des Geistes und
der Seele dient. Ein gottgesegneter
Tempel sollte dieser Leib werden, —
und ist zur wiitenden Kampfmaschine
geworden rings um uns her, wo Leib
gegen Leib, Geist gegen Geist rast und
ringt. Aber einmal muB wieder Friede
sein und muB sich C. F. Meyers
Dichterwort erfiillen:
Doch das Gespann erlahmt, die Pfade
dunkeln,
Die ew’gen Lichter fangen an zu fun-
keln,
Die heiligen Gesetze werden sichtbar.
Das Kampfgeschrei verstummt. Der
Tag ist richtbar.
Die heiligen Gesetze werden sichtbar,
die ewigen, die sich in steter Wandlung
ewig jung und schon im Menschen
offenbaren. Dieses ^Werdende, „das
ewig wirkt und lebt“, das entsteht,
besteht und vergeht, es findet hier —
wie in Werk und Lehre Richard Wag-
ners — unmittelbaren Ausdruck. —
Hans Sachs, der auf Walther Stolzings
Frage: „Wie fang ich nach der Regel
an?“ zur Antwort gibt: „Ihr stellt sie
selbst und folgt ihr dannf\ diese
Meister gestalt scheint in busonischero
Gewande neu hervorzutreten, wenn
wir den folgenden Passus Jesen:
„Der Schaffende sollte kein iiber-
liefertes Gesetz auf Treu und Glauben
hinnehmen und sein eigenes Schaffen
jenem gegen iiber von vomeherein als
Ausnahme betrachten. Er miiBte far
seinen eigenen Fall ein entsprechendes
eigenes Gesetz suchen, formen und es
nach der ersten vollkommenen An-
wendung wieder zerstoren, um nicht
selbst bei einem nachsten Werke in
Wiederholungen zu verfallen.
Die Aufgabe des Schaffenden be-
steht darin, Gesetze aufzustellen und
nicht, Gesetzen zu folgen. Wer ge-
gebenen Gesetzen folgt, hort auf, ein
Schaffender zu sein.
Die Schaffenskraft ist um so erkenn-
barer, je unabhangiger sie von Ober-
lieferungen sich zu machen vermag.
Aber die Absichtlichkeit im Umgehen
der Gesetze kann nicht Schaffenskraft
vortauschen, noch weniger erzeugen.
Der echte Schaffende erstrebt im
Grunde nur die Vollendung. Und in-
dem er diese mit seiner Individualitai
in Einklang bringt, entsteht absichtslos
ein neues Gesetz/*
Und weiter:
„Routine wird sehr geschatzt und oft
verlangt ; im Musik„amte“ wird sie be-
ansprucht. DaB Routine in der Musik
iiberhaupt existieren und daB sie iiber-
dies zu einer vom Musiker geforderteo
Bedingung gemacht werden kann, be-
weist aber wiederum die engen Gren-
zen unserer Tonkunst. Routine be-
deutet : Erlangung und An wendung
Gloss en
wcniger Erfahrungen und Kunstgriffe
auf alle vorkommenden Falle. — Die
Routine wandelt den Tempel der
Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstort
das Schaffen. Denn Schaffen heifit:
aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
gedeiht im Nachbilden. Sie ist die
„Poesie, die sich kommandieren laBt“.
Weil sie der Allgemeinheit entspricht,
herrscht sie. Im Theater, im Orchester,
im Virtuosen, im Unterricht. Man
mochte rufen : meidet die Routine, be-
ginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen
hattet, wisset nichts, sondem denkt
und fiihlet!
Nehmen wir es uns doch vor, die
Musik ihrem Urwesen zuruckzufiihren ;
befreien wir sie von architektonischen,
akustischen und asthetischen Dogmen ;
lassen wir sie reine Er fin dung und
Empfindung sein, in Harmonien, in
Formen und Klangfarben (denn Er-
findung und Empfindung sind nicht
allein ein Vorrecht der Melodie); lassen
wir sie der Linie des Regenbogens
folgen und mit den Wolken um die
Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei
nichts anderes als die Natur in der
menschlichen Seele abgespiegelt und
von ihr zuriickgestrahlt ; ist sie doch
tdnende Luft und iiber die Luft hin-
ausreichend ; im Menschen selbst eben-
so universell und vollstandig wie im
Weltenraum. Denn seht, die Millionen
Weisen, die einst ertonen werden, sie
sind seit Anfang vorhanden, bereit,
schweben im Ather und mit ihnen
andere Millionen, die niemals gehort
werden. Ihr braucht nur zu greifen
und ihr haltet eine Bliite, einen Hauch
des Meeratems, einen Sonnenstrahl in
der Hand. Meidet die Routine, denn
sie greift nur nach dem, das eure Stube
erfullt und immer wieder nach dem
namlichen : so bequem werdet ihr, daB
ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl er-
hebt und nur mehr nach dem Aller-
nachsten greift. Und Millionen Weisen
sind seit Anfang vorhanden und warten
darauf, sich zu offenbarenf4
So bietet uns Busonis „Entwurf einer
neuen Asthetik" mancherlei Anregung
und mag — nach dem Ermessen der
Heutigen — des Kiinstlers Geisteshand
auch manchmal etwas reichlich hoch
und femhin greifen, das Meer der Tone
neu zu teilen und zu gliedem suchen,
so wird man sich dieser Personlichkeit,
deren Wert doch weit iiber den des
bloBen Blenders und Virtuosen hinaus-
geht, nicht leicht entziehen, dem
,,machtigen Zauberer4' nicht entfliehen
konnen, der zu Beginn der Schrift —
im Motto — diese Worte spricht:
„Was sucht Ihr? Sagt! Und was er-
wartet Ihr?44
„Ich weiB es nicht; ich will das Un-
bekannte I
Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich
will
dariiber noch. Mir fehlt das letzte
Wort.'4
Ins Unbekannte will uns Busoni fiihren,
ins Reich „Jenseits von Gut und Bose*4,
wo Nietzsche zu uns redet : „Ich konnte
mir eine Musik denken, deren selten-
ster Zauber darin bestande, daB sie von
Gut und Bose nichts mehr wiiBte, nur
daB vielleicht irgend ein Schifferheim-
weh, irgend welche goldene Schatten
und zartliche Schwachen hier und da
iiber sie hinwegliefen : eine Kunst,
welche von groBer Feme her die Farben
einer untergehenden , fast unverstand-
lich gewordenen moralischen Welt zu
sich fliichten sahe und die gastfreund-
Gloss en
lich und tief genug zum Empfang sol-
cher spaten Fliichtlinge ware . . .
„Wird diese Musik je erreicht?“ so
tont des Fiihrers Frage, dumpf und
last end — wie das star re C der Basse
am SchluB der Zarathustra-Symphonie
von Richard StrauB. Vielleicht. Im
Reich „Jenseits von Gut und Bose *.
„Ist Nirwana das Reich Jenseits von
Gut und Bose* — schlieBt Busoni seine
Abhandlung — „so ist hier ein Weg
dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis
an das Gitter, das Menschen und Ewig-
keit trennt — oder das sich auftut, das
zeitlich Gewesene einzulassen. Jen-
seits der Pforte ertont Musik. Keine
Tonkunst. — Vielleicht daB wir erst
selbst die Erde verlassen miissen, um
sie zu vemehmen. Doch nur dem Wan-
derer, der der irdischen Fesseln unter-
wegs sich zu entkleiden gewufit, offnet
sich das Gitter/4 tff. *R.
Onieffektueffe tfpofogeten.
Aus einem Aufsatz *Rene 5 i Mourns
im ,,Mercure de France44 (erstes No-
vemberheft) seien folgende Seiten
iibersetzt, die besonders interessieren
in einem Augenblick, wo Max Scheler
ein neues „katholisches44 Kriegsbuch
herausgibt und andere ahnliche „radikal-
konservative44 Versuche angestellt
werden .
I.
Ich will auf den folgenden Seiten
einfach, biindig und klar untersuchen,
wie drei der ausgezeichnetsten Ver-
treter des Katholizismus, Charles
Maurras, Jules Lemaitre und Maurice
Barres, in Wirklichkeit zum Katholizis-
mus stehen. Wenn ich drei Namen
gruppiere, die so verschieden in ihrer
intellektuellen Haltung sind, bestimmt
mich dazu zunachst, daB diese drei
Apologeten von auBen gesehen be-
trachtlichen EinfluB haben oder hatten,
und zwar alle drei zusammen in dem-
selben Sinne EinfluB auf gerade jenen
nicht zu unterschatzenden Teil der
franzosischen Jugend, der, ohne katho-
lisch zu sein, ja sogar bestreitend, dafi
er es sei, sich doch, wenn man mir die
Neologie erlaubt, gerne als ,,prokatho-
lisch44 bekennt ; drei Namen also, hinter
denen man wohl gewichtige Reprasen-
tanten vermuten darf. Sodann aber,
daB mir das Apologetentum aller drei
an demselben intimen Widerspruch,
derselben heimlichen Schwache zu
leiden scheint.
2.
Vom historischen und kritischenGe-
sichtspunkt aus betrachtet, ist das ka-
tholische System ein halb pragmati-
scher, halb poetischer oder mythologi-
scher Synkretismus, dessen Elemente
zum Teil der christlichen, zum Teil der
griechisch-lateinischen Tradition ent-
nommen sind. Nachdem das Ur-
christentum seine anfangliche Er-
habenheit kurze Zeit inmitten einer
ihm feindlich gesinnten Zivilisation be-
hauptet hatte, nahm eine Politik der
Kompromisse iiberhand, und das Chri-
stentum, das in der zeithchen Ordnung
den Purpurmantel des Casars anlegte,
griff in der spirituellen Ordnung zu der
Sprache des romischen Rechts und der
griechischen Metaphysik.
Das katholische System, soweit es
System ist, war bestimmt, sich nach
und nach wieder aufzulosen. Zwischen
Elementen, die nach Herkunft und
Glossen
271
Tendenz so verschieden waren wie das
Christentum und die griechisch-latei-
nische Kultur, war eine Synthese nicht
moglich und eine Einheit nur aufrecht
zu erhalten durch gegenseitige Kon-
zessionen. Der Vereinheitlichung des
Systems zuliebe wurde es notig, die
hohen Begriffe von Glaube, Vernunft
und Poesie auf den niedersten Wert
herabzudriicken. In dem MaBe, in dem
diese drei ,,Ordnungen“, um einen
Ausdruck Pascals zu gebrauchen, einen
ihrem Wesen, ihrer Entwicklungs-
fahigkeit gemaBeren BewuBtseinsinhalt
annahmen, verlangten sie auch eine
nach der andern Unabhangigkeit, und
das schone Gesicht der Einheit ent-
schwand, ohne etwas von seiner An-
ziehungskraft zu verlieren, in einen
entlegeneren Himmel.
3.
Die Reformation bezeichnet die erste
Etappe in der Auflosung des katholi-
schen Systems. Ober den Sinn und die
Tragweite dieser groBen Bewegung
sind die seltsamsten und bisweilen
albernsten Ideen in der Polemik ge-
laufig. Real gesehen stehen wir, wenn
wir uns mit der Seele der Reformation
selbst befassen und vom Zeithinter-
grund und von Irrtiimern absehen, vor
einem heftigen Protest gegen alle die
Dinge, in denen der Katholizismus des
XVI. Jahrhunderts zu menschlich, zu
heidnisch dachte und zu wenig christ-
lich. I hr gebt zuviel auf den Menschen,
auf die Natur, ihr vemachlassigt Gott,
so konnte man den Vorwurf formu-
lieren, den Luther und Calvin in Rom
erheben. Der Mensch ist nur Schmutz
und Kot, die Natur nur Gelegenheit
zur Siinde oder Versuchung. Ohne
Gott kein Heil: von ihm kommt der
Glaube und sogar die Sehnsucht da-
nach. Aber, hat man genugsam be-
achtet, daB die Folgen der Reformation
sehr verschieden gewesen sind, je nach-
dem man sie in zeitlicher oder spiri-
tueller Hinsicht betrachtet? GewiB
fiihrt die Reformation das christliche
Leben zu seinem Quell zuriick, reinigt
es von Alfanzerei, starkt es und macht
es intensiver; aber andrerseits, und das
ist eine Folge, die die Reformatoren
weder voraussehen noch sich wiinschen
konnten, trennte die Reformation den
Geist von der Zeit. Der katholischen
Konzeption einer sichtbaren Kirche,
die gleicherweise Glaubige und Un-
glaubige in ihrem SchoBe vereinigt,
setzt die Reformation die Konzeption
einer unsichtbaren Kirche entgegen,
die allein den Auserwahlten vorbe-
halten ist ; sie gesteht dem natiirlichen
Menschen mit einer Art stillschweigen-
den Einverstandnisses die negative
Freiheit zu, die ihm gestattet, sich als
Privatperson nach Lust und Neigung
zu entfalten.
4.
Die Revolution bezeichnet die zweite
Etappe der Auflosung des Katholizis-
mus. Nichts ist verkehrter, als aus der
Revolution eine Tochter der Reforma-
tion zu machen. Reformation und Re-
volution sind zwei einander vollig ent-
gegengesetzte Bewegungen ; beide sind,
das ist richtig, wesentlich antikatho-
lisch, aber ihr Antikatholizismus ist im
Sinn entgegengesetzt. Die Reforma-
tion tadelt am Katholizismus, daB er
Gott, die Revolution, daB er den Men-
schen iibersieht. Wenn die Reforma-
tion die Autoritat der Kirche bricht,
272
Glosscn
stellt sic dafiir nicht die Willensfreiheit
oder die individueile Phantasie auf,
sondem die Autoritat des „Wort Got-
tes“, und die Freiheit, die sie ver-
kiindet, ist nur eine vollstandigere
Knechtung. Wahrend die Revolution
auf den Triimmem der Konigsautori-
tat die burgerliche und politische Frei-
heit aufrichtet, das individueile und
soziale Menschenrecht, die Selbstver-
waltung, die Souveranitat der natiir-
lichen Vemunft. In Wahrheit ist dies
Programm konfus und voll Wider-
spriichen. Die Vemunft zielt auf Ord-
nung, die Freiheit als absolutes Prinzip
aufgestellt, zielt auf Unordnung ab.
Aber der Liberalismus der Revolution
ist meiner Ansicht nach durch die Urn-
stande bedingt und bedeutet nur eine
legitime Reaktion gegen den MiB-
brauch der Autoritat. Die Seele der
Revolution ist die Verkiindung der
Souveranitat der natiirlichen Vemunft
in der Philosophic, den Wissenschaften,
der Kunst, in der Organisation der
biirgerlichen und politischen Gesell-
schaft: ebensoviele Thesen, zu denen
Charles Maurras sich gemeinsam mit
der Revolution und im Gegen satz zur
Kirche bekennt. Als Sohn der Revo-
lution will Charles Maurras alle diese
Dinge einsetzen, nicht wie Pius X. es
wollte, im Christen, sondem o6ne
den Christen. Und wenn die Resultate,
zu denen ihn identische Prinzipien
fiihren, von denen der Revolution bis
zum vollendeten Widerspruch ver-
schieden sind, so kommt das daher, daB
seine Konzeption direkt und rein vom
Hellenismus ausgeht, und damit gerat
Charles Maurras, zu seinem eigenen
VerdruB, nur noch tiefer in wirkliche
Feindschaft mit der Kirche.
5.
Man hat Charles Maurras oft und
bitter zum Vorwurf gemacht, er sei ein
Heide. Ich mochte mich diesem Tadei
nicht anschlieBen. Es ist eine Tatsache,
daB das Heidentum, soweit es Starke
und ewige Werte hat, heute allgemeia
wieder auflebt, und Charles Maurras,
der sich ohne Umschweife, ohne
Furcht vor Worten und Dingen einen
Heiden nannte, trat damit nur unmiB-
verstandlich fiir die vielleicht tiefste
Bewegung unserer Epoche ein. Heide
sein, heifit in die Metaphysik iiber-
setzt, die Welt akzeptieren wie sie ist,
mit Dunkel und Licht, ihrer unent-
wirrbaren Mischung von Gut und
Bose, von Krieg und Frieden, von HaB
und Liebe; heiBt in der Moral, den
Menschen nehmen wie er ist, nicht von
Grund aus gut, wie Jean -Jacques ihn
will, nicht von Grund aus bose, wie
Calvin ihn sieht, sondem fahig zu
Tugend und GroBe, wenn die Ver-
nunft ihn leitet, fahig zur Niedrigkeit,
wenn die Vemunft ihn verlaBt; heiBt
in der Gesellschaft, von der Sozietat
zum Individuum gehen und nicht, wie
das Christentum und die Revolution
es wollen (die Revolution ist in dieser
Hinsicht eine Tochter, aber ein Bastard
des Christentums), vom Individuum
zur Gesellschaft; heiBt endlich in der
Religion, die Natur vergottem und
zwar gesiebt, gereinigt, sublimiert
durch das menschliche Genie, und so
kommt man, indem man es intuitiv im
Innersten packt, zum griechischen
Heidentum und zum Geheimnis seiner
schopferischen Kraft, und so kommt
man zum kcltischen oder german ischen
Heidentum.
Glosscn
273
6.
Der gestalt haben wir alle am Heiden-
turn teil, mehr oder weniger, aber die
meisten von unst und insonderheit
unsere Geselischaft, verbinden ihr
Heidentum recht und schlecht, und
fitters schlecht als recht, mit dem, was
vom Christentum iibrig blieb. Mit
anderen Worten : wir haben die beiden
Wertsysteme aufgelost, die beiden
Gottesbegriffe, die die Kirche ver-
einigte, mit deren Vereinigung sie ihre
Dogmen verdunlcelte, aufgelost, und
da wir weder den Gott der Natur, noch
den Gott des Geistes, noch den Gott
der Metaphysik, noch den Gott der
Moral abschworen wollen und konnen,
schleppen wir alle diese Gotter mit uns
und fiberlassen es ihnen, gegenseitig,
wenn ich es auszusprechen wage, in
Ordnung zu kommen. „Ich weiB sehr
wohl", schrieb vor einigen Jahren ein
deutscher Pastor der nationalliberalen
Fraktion des Reichstages, „wenn ich
fiir die Flottenvermehrung stimme,
handle ich nicht im Sinne des Evange-
liums. Aber was soil man machen?
Ich bin Christ und bin deutscher
Burger "
Die Originalitat des Charles Maurras
besteht darin, daB er mit vielleicht ein-
zigartiger Entschiedenheit das alte
Ideal wiederaufleben lafit, indem er den
christlichen Gott aus seinem System
ausmerzt, um ausschlieBlich dem heid-
nischen Gott, der Natur, oder richtiger
der Vemunft, die, wie ich bereits sagte,
nichts anderes ist als die sublimierte
Natur, die Ehre zu geben. Es ist blu-
tiger Ernst, wenn er anrat, Frankreich
als Gottin zu ehren, oder von den
Saulen der Propylaen schreibt, sie seien
buchstablich das, was man heute unter
Gott verstehe. Auf die einfachste For-
mel gebracht, bedeutet das ein Front-
machen gegen den hebraischen Chri-
stus, den er beschuldigt, den Sklaven
losgelassen und fiber die Welt die
Landpiage der Chariti entfesselt zu
haben .
So haBt und verachtet Maurras als
wirklicher Grieche, der er ist, das
Christentum. In den namlichen HaB,
in die namliche Verachtung schliefit er
die jfidischen Propheten ein, die die
Ankunft Christi vorbereiteten und die
, ,Auserwahlte Gottes waren ohne Prie-
ster zu sein", ,,Anstifterder Unordnung
und der Agitation"; Christus selbst,
der „den Triumph des Absurden"
brachte; die Reformatoren des XVI.
Jahrhunderts und ihre Nachfolger,
„entsetzliche Menschen", „eine Partei
der schlimmsten Feinde des schonen
Scheins". Was lobt Charles Maurras
am Katholizismus? Das Christentum
arrangicrt zu haben, die Idee Gottes
organisiert und so dem Christentum
sein Gift genommen zu haben. An
Hand der protestantischen Exegeten
und Renans konstatiert er, daB der
Katholizismus die Lehre des Evange-
liums tief verunstaltet hat, and er be*
g itidcwQn&cfit ihn daza .
Hatte ich unrecht, wenn ich be-
hauptete, dieser Verfechter des unver-
kfirzten Katholizismus arbeite heftig
mit an der Auflosung des Katholizis-
mus?
7.
Ich habe mich so lange beim Fall
Charles Maurras aufgehalten, weil er
der unzweideutigste und frappanteste
ist. Aber man lese jetzt im Licht dieser
274
Glosscn
Analyse die Worte, die Jules Lemaitre
in der „Enquete sur la Monarchic* *
diesem seinem ausgezeichneten Freund
verleiht, der ihm wie ein Bruder er-
scheint :
„Ich habe groBe Achtung vor den
Protestanten, aber siehst du, der Ka-
tholizismus ware heute eine kostliche
Sache ohne diese triibselige Reforma-
tion. Cherbuliez, zwar ein Protestant,
aber ein wahrhaft freier Geist, hat es
ausgesprochen in einem seiner Bucher.
Die Kirche war fur die Volker eine
gastliche und bequeme Zufluchtstatte
geworden. Die Weisen und Philo-
sophen begannen sich einzurichten
darin. Das Dogma selbst verlor an
Starrheit, wenigstens dachte man sich
nicht mehr viel dabei. Die Versohn-
lichkeit und der Ausgleich hatten noch
Fortschritte gemacht. Ohne Zweifel
gab es MiBbrauche in der Kirche: die
Simonie, den AblaBverkauf (das gibt es
aber in der Laienregierung auch:
Panamaskandale, Ordensschacher. Ein
tiichtiger Papst hatte geniigt, diese
bedauerlichen Inkorrektheiten abzu-
schaffen. Luther und Calvin, ein
Monch und ein Pfarrer, entsetzliche
Menschen, haben mit ihrem Protest
nicht gegen die MiBbrauche, sondem
gegen die Kirche selbst, die Refor-
mation gebracht, und das bedeutete:
die Jesuiten, eine Verscharfung des
Dogmas und fiir lange Zeit eine katho-
lische Intoleranz, die derjenigen der
Reformierten nichts nachgab. Sehr
bedauerlich. Es gabe heute noch eine
,,Christenheit“ ; ganz Europa hatte
heute eine und dieselbe Religion, ein-
fach in Tradition und Ritus, die deli-
zios sein konnte-**
8.
Der Traum Jules Lemaitres, eine
Religion, einfach in Tradition und
Ritus, dieser Traum wurde von der
Geschichte dreimal verworfen : erst-
mals, als das Urchristentum das
Heidentum zerstorte, das jenes Ideal
der Einfachheit in Tradition und Ritus
erreicht hatte; ein zweites Mai, als die
Reformation in Zeiten des drohenden
Verfalls das Neuheidentum, zu dem
der Katholizismus der Renaissance tat-
sachlich gekommen war, zwang, sein
Profil wieder herzustellen, das heifit
sich auf sein Christentum zu besinnen;
und ein drittes Mai, als die Revolution
den hofischen Abbes und den Liber-
tinage-Bischofen bedeutete, daB die
Vemunft, von nun an erstes Prinzip,
sich nicht mehr geniigen las se mit einer
tatsachlichen Toleranz, noch mit einem
Autoritatsregime, wie nachsichtig und
umganglich es sich immer erwies, und
als ihr gutes Recht die Freiheit ver-
langte.
Der neue Geist, herzhaft plebejisch
wie er ist, findet die aristokratische
Libertmage und Frivolitat der italiem-
schen Renaissance und des franzosi-
schen XVIII. Jahrhunderts, nach denen
Jules Lemaitre seufzt, verachtlich und
lehnt sie ab. Fiir Lemaitre sind Ver-
nunft, Glaube, Wissen, Menschen-
rechte und gottliche Rechte Dinge, fiir
die er gleicherweise den letzten Ernst
verlangt. Rationalist, denkt er doch
niemals antichristlich, im Gegenteil,
das Christentum ist ihm gleichzeitig
Quell aller privaten Tugenden und ein,
wenn nicht unentbehrliches, so doch
sehr wertvolles Element im Leben
eines Staates. Aber Leklagen mit Jules
Gloss en
275
Lemaitre, daB die Kirche durch die
Institution der Jesuiten und die Schar-
fung des Dogmas aufgehort hat, fiir die
Volker eine „gastliche und bequeme
Zufluchtsstatte", eine exquisite, ver-
gniigliche Religion zu sein, heiBt sich
sowohl dem Katholizismus wie der
modemen Vernunft gegeniiber in eine
Position begeben, die exzentrisch und
inaktuell, in der Formel reaktionar ist,
heiBt ganz und gar sich ,,prokathoIisch“
bekennen, dem Katholizismus jegliche
Spitze nehmen, ihn verkennen und
schmahen.
9.
Hat Charles Maurras seine Vater in
der griechischen Antike, Jules Lemaitre
die seinen in der Renaissance und im
XVIII. Jahrhundert, so ist Maurice
Barres in vielerlei Hinsicht ein authen-
tischer Sohn der Revolution. Und zu-
nachst war er in seiner Jugend ein aus-
gemachter Individualist und blieb es
trotz seines Traditionalismus. Notieren
wir im Voriibergehen : das katholische
System schlieBt weit eher das System
des Charles Maurras als den Individual
lismus aus. Denn schlieBlich und end-
giiltig ist allein das Individuum und
nicht die Familie oder die Gesellschaft
gnadenfahig und geeignet, Heilsobjekt
zu werden, und also ist das Individuum
in einem gewissen Sinne und auf einem
bestimmten Hintergrund fiir die Kirche
eine Art Absolutum, wahrend fiir
Charles Maurras, der ganz sozial denkt,
der Individualismus in keinam Sinne
und in keinerlei Bedeutung in Betracht
kommt. In dieser Frage des Individua-
lismus aber befindet sich Maurice
Barres ebenso entschieden zur Linken
des Syllabus, wie Charles Maurras sich
auf der Rechten befindet. Im allge-
meinen ware Maurice Barres, der heute
die Kirche verteidigt, weil sie unter-
driickt ist, sofort dabei, sie zu bekamp-
fen, wenn sich das Blatt drehen wiirde,
wenn die Qfmstdnde idr erlaubten,
idr System anzuwenden . Er ver-
teidigt von der Kirche, was sie an
reiner und kostbarer Spiritualitat re-
prasentiert, ihre Ideologic aber lehnt er
ausdriicklich ab, sowohl die politische
wie die metaphysische. Und so be-
findet auch er sich in der schiefen
Position, den Triumph einer Sache be-
fiirchten zu miissen, die er begunstigt.
Das ist aber nicht alles, und das MiB-
verhaltnis zwischen Maurice Barres
und der Kirche beschrankt sich nicht
auf das politische oder philosophische,
es erstreckt sich auch auf das religiose
Gebiet selbst. Maurice Barres ist mit
Charles Maurras einer der Wortfiihrer
dieser fiir unsere Zeit charakteristischen
Wiedergeburt des Heidentums; wah-
rend indessen Charles Maurras das
hellenische Heidentum meint, findet
Maurice Barres das keltische. Man
lese daraufhin das wundervolle Kapitel
der „Grande Pitie des Eglises de
France**, das ein wenig fatal „La Mo-
bilisation du Divin*4 betitelt ist.
„Les pensees de nos lointains exer-
cent toujours de mysterieuses et fortes
poussees dans notre vie*4 etc.
Aber schlieBlich ist dieses Heiden-
tum, in dem der barresianische Kult
der Erde und der Toten, wenn man
ihn seiner positivistischen Tiraden ent-
kleidet, besteht und beschlossen ist, der
kirchlichen Lehre nicht nur fremd, er
ist ihr ausdriicklich zuwider. Ich ver-
stehe wohl, daB Maurice Barres sich
darauf beschrankt, eine „Verbindung
des katholischen Religionsgefiihls mit
276
Glossen
dem Sinn der Erde" zu verlangen.
Abcr wclchen emstlichen Bestand,
welche wirkliche Kraft kann ein Biind-
nis haben, dessen Kontrahenten sich
untcreinander ebenso wenig oder sogar
noch weniger verstehen, als mit der
Mehrzahl ihrer Gegner?
10.
Denn will man, um den Gegenbe-
weis anzutreten, ohne in der Haupt-
sache viel zu andem, von irgendeiner
der drei analysierten ,fprokatholischen*‘
Positionen iibergehen zumkategorisch-
sten Antikatholizismus ? So nehme
man nur zum Beispiel das Heidentum
des Charles Maurras, lege einen leich-
ten Akzent dabei auf die Worte Ver-
nunft und Ordnung, statt auf ftSchon-
heit<4 und ..Lust*4, halte dazu etwai
Charitat, dunkel im Ton und auf ver-
andertem Hintergrund, etwas Mitleid
basiert auf Sinnlichkeit, kurz Humani-
tatsphilosophie, und wen findet man?
Anatole France.
(Obers. fflugo i TSafL )
<Der DCnabe fflerbsi.
Alle blassen Wiesen stehen im Ge-
sang und durch den Abend reiten
schnelle dunkle Dinge.
Ein feierlicher Knabe ist der Herbst,
wie er metallisch, braunlich, herrisch
so im Abend steht. —
Und die Natur feiert Schwermut;
denn reif ist alles und erfiillt ist alles.
Sie traumt von einem weiGen Tod
und leer von Emten sind nun ihre
Hande. Ihr Lieblingsknabe aber ist
der Herbst. Fiir ihn hat tiefer sie ge-
gliiht als jeden andem. Und Sturm
und Sonne hat er wie ein Rasender ge-
trunken. Er ganz allein weiC Rausch
und Torheit aller Friihlinge und Som-
mer und tragt den Tod in sich wie
eine Freude.
Und seltne Feste weiG er, die kein
Mensch ersinnt. Man ist ein Kind bei
ihm im Raschelgold, ein Tor, auch ein
CZJ/e 71a <£t
des Sflngescfiossenen.
Rauschdunkles Geschehen flackert
griinlich im Abend aus dem Kamin.
Vagant bei seinem losen Abendmahl.
Er kennt die Tanze, die das Feuer
lehrte und hat Gebarden, die von
Schonheit weinend sind. Ein sehr ver-
wegner Geist ist er, er flicht die unbe-
denklich bunten Kranze, ist ein Ver-
schwender, dem sein Gold im Sand
verrinnt.
Er ist das Fest, das die Natur in ihrer
Schwermut feiert.
Er ist ihr Lieblingsknabe, der gol-
dene Zelte um die weinende Mutter
spannt .
Die Eichen bluten.
Der Wald empfangt ihn stumm wie
seinen Konig. E$ geht ein schauer-
licher Takt durch diese Nachte, da er
Abschied nimmt.
Der groGe Tod erregt nun langsam
Klage und ihr Geschmeide werfen alle
Baume ab und hin.
Der Herbst ist tot.
Bu ffll&rten.
Halt! — nein — nur das eigene Auge,
das durch den Rauch aus dem
Spiegel schien.
Immer den Kopf so halten . . . Arm
auf den Diwan gereckt.
Glossen
277
Germaine kommt bald .... Kein
Opium! . . . Alles ist grau verdeckt.
Gleich holland’schen Ewem (o Tage
von Nebel und Kiihen, denen ich
mich verrauschend gab.
Delft, Vermeer, die Glocken . . .),
gleich Ewern stampfen die Hauser
zur Seine hinab des Boulevard, der
aufbricht von Lichtern, von blitzen-
den Tramways zerschniirt.
Das Wundfieber mufi nun bald enden,
das die Knochen mit Fiebern schiirt.
Famos wie den Alphonse sie warfen
ins Auto, von Stichen und Schreien
bunt.
Schaum umdampfte den schmalen, wie
mit einem Dolchschnitt aufgehaue-
nen Mund . . .
Gott, nun die Seine durchschneiden
Dampfer, gellend die Ventile, Herz-
pochen im dunklen Rohr.
Fressendes Schwarz der Briicken wirft
sich ihnen entgegen, drohnt iiber sie
empor.
Lichter nun drunten . . . Ein Auto
zittert im Hof wie ein Mann vor
erstem Weib.
Ah . . . Frau des kleinen Capitaine! —
Wie wird sie fahren, blumenhaft und
ohne Neid wie ein lachelnder Stern
durch StraBen vom Leuchten der
Laden beschneit, in den Riicksitz
des Wagens gelagert, die Pleureuse
wie Schaumstreif vom Wind liber
ihr Lacheln gekrauselt . . . Ver-
dammt, daB die Abende so zehrend
und endlos langsam sind.
Nun rasen wie Ziindschniire flammend
die StraBen zum Etoile.
Mahlich nur rauscht aus dem Garten
der groBen Fontane Fall.
Die Faculty de droit demonstriert um
acht Uhr prazis am Procope.
Wie aus dem Schrei des Royalisten
neulich ein Ziinden stob, alle Pu-
pillen und Glaserkanten im Saal er-
blitzten wie Degengeglanz.
Germaine wird wieder nicht kom-
men . . . Sacr6 ... im Builler
brennt’s!
Flammende8 Aufgehn von Wellen, das
das Graue vom Himmel abfrifit.
Gut nur, daB Germaine richer in der
Olympia ist.
Heute gleich einem briinstigen Strudel
saugt die Revue tausend Manner in
ihr Licht.
Der ganze Saal ist ein brennender
Strom, der aufgliihend in dies helle
Gelachter bricht.
Germaine wird mit einem Hirtenstab
tanzelnd durch die einzelnen Bilder
hingehn.
Wiinsche aufdampfen im Parkett, wenn
ihre Knie leicht wie Kusse angstlich
an das Enge der Robe angelehnt
stehn.
Germaines Knie sind zart wie junge
Feigen und von seeligem Arom.
Ihre silbemen Briiste stehn zartlich iiber
des Leibes schmalhiiftigem Dom.
Nun steigt zur letzten Ekstase in alien
Bars der Zigeuner und Weiber Ge-
kreisch.
In der Source und dem d’Harcourt
verrasen dieTanzerinnen unter dem
Puder ihr blendendes Fleisch.
Nun speien alle Lokale in einem bei-
spiellos auffunkelndem Zug auf-
zuckendes Leben, Strome, Lieder
und Madchen auf des Boulmichs
nachtlichen Geruch.
278
Gloss cn
Schliefien die Laden wie Lider . . .
Zwei Uhr . . . Dunkel . . . Ger-
maine kam nicht. Diese Nacht ist
nicht Ieicht.
O bald aus seinem Cabaret steigt
Dunajec herauf (Maestro hongrois)
der mich schweigend in den neuen
prunkvollen Genesungsmorgen urv
endlich hinlibergeigt.
i 7(asimrr Gds cfimid.
nXpiizen .
In Rouen ist Gmife fyerfiaeren unter
die Rader eines Eisenbahnzuges ge-
kommen und getotet worden. Seit
Strindbergs Tod war er der grofite
von denen, in deren Licht unsere
Generation aufgewachsen ist. Und er
war einer der vollkommensten Men-
schen, die gelebt haben, so sehr
Mensch, dafi das unermediche Un-
gliick seines Vaterlandes ihm zwar
allerhand Zeitungsartikel abnotigte,
dafi aber der Hafi ihn nicht den groBen,
hohen, den weitgespannten Tonfall
seiner Dichtung wiederfinden lieB.
Er, der so stark war im Leid und in
der Liebe, wurde schwach im HaB.
Nach den verstreuten Proben seiner
Kriegsstrophen scheint es, als ob er
darin nicht einmal an Victor Hugo
herangereicht hatte. Seine letzten Ge-
dichte sind wenige Tage vor seinem Tod
gesammelt erschienen ; ich habe sie mir
hier noch nicht verschaffen konnen.
Sicher hatte Verhaeren eines Tages
dennoch die versohnenden Worte
gesprochen, wie sie nur jemand findet,
der furchtbar geliebt und gehaBt, will
sagen, der in aktiver Weise mitgelitten
hat. Wenn ein Heil aus diesem Kriege
kommt, dann aus dem namenlosen
Leid, das die matenellen und seeh-
lischen Konventionen vieler Jahr-
hunderte gesprengt hat. —
Annette OCofbs fir/efe an einen
*Coten, die zum groBten Teil in den
,,Weissen Blattem“ erschienen sind,
hat jetzt der Verlag Erich ReiB in
Berlin unter dem Titel ,,Briefe einer
Deutsch-Franzosin4' herausgegeben.
Leider hat die Zensur viele Stellen
gestrichen, die geradezeitgemaB waren.
tyaultyiealer lafit im Verlag der
WeiBen Bucher, Leipzig, einen Band
,,Figuren“ erscheinen. Inhalt: Cha-
teaubriand in Prag — Walpole — Der
Jesuit — Die Jungfrauen — Lorenzac-
cio — Koche — Die Spotter — Cassa-
neus — Benjowski — Der Grofikophta
— Bader — Dichter — Die Umstiirz-
ler — Der Opiumesser — Sankt He-
lena — Die Somnambule — Die Ra-
chel — Disraeli — Der Witz — Frau
von Kalergis — Propheten — Eugenie
— Renan — Der Herzog von Portland
— Taine — Der Deutsche — Reklamc
— Die Hollenmaschine — Der Blaubart
— Rimbaud — Die Beredsamkeit —
Lutetia — Die Nabobs — Gide —
Claudel — Novotny . . .
Ein groBer Pompadour voll Belesen-
heit. Blague und ernsthafteren Spiele-
reien . . .
Der Autor, schreibt Paul Wiegler im
Vorwort, „denkt jetzt an den Jugend-
drang und die Jugendabstraktion eines
Fiinfundzwanzigjahrigen mit dem Ge-
fiihl der Fremdheit. Der erbebende
Mensch nur, die Landschaft, das un-
Glossen
279
bewuBte Leben, nicht ein hoffartiger
Wahn des Intellekts hat ihm seitdem
Freude gebracht oder hat ihn zur
Trauer gestimmt : eines Kindes Atmen,
ein Morgen in Opcina, am Lido, auf
dem Laurenziberg. Von der Ideologic
mochte er ganz der Erzahlung sich zu-
wenden, dem dichterischen Gleichnis,
und einen Roman .Schandera* hatte er
in den letzten Monaten fertig geschrie-
ben, wenn nicht bei uns alien ein ge-
waltigeres Schicksal anklopfte.
So bittet das Ruch, das in den Tagen
des Weltkriegs erscheint, als ein Ober-
gang aufgefafit zu werden. Es gibt Be-
trachtungen, Portrats, Novellen und
wiederum Portrats ; und es hofft, dafi in
ihm mancherlei Bilder und Worte sich
finden, die durch Klarheit und Heiter-
keit ihres Gegenstandes beruhigen
konnen. Denn was auch jedem von uns
zuteil wird, das Beste unsrer Ober-
lieferungen diirfen wir nicht vergessen.
,LaBt,‘ so mahnt in der Erschiitterung
der grofien Revolution Goethes weise
Baronesse von C., ,alle diese Unter-
haltungen, die sich sonst freiwillig dar-
boten, durch eine Verabredung, durch
Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei
uns eintreten, bietet alle eure Krafte
auf, lehrreich, niitzlich und besonders
gesellig zu sein; und das alles werden
wir — und noch weit mehr als jetzt —
benotigt sein, wenn auch alles vollig
drunter oder driiber gehen sollte. Kin-
der, versprecht mir das!* **
Wir, die die meisten Kapitel dieses
Buches seit Jahren kennen, freuen uns,
all die lustigen und klug erinnernden
losen Blatter in einem Band beisammen
zu haben. Bisher war es Wieglers
Starke, wie seine Unzulanglichkeit, daB
er glossierte, was andere geschaffen
hatten, ja daB er selbst ihrem Lacheln
liber ihr Tun nachzulacheln liebte. Wie
alle, die an der Begeisterungam meisten
den Aufschrei, am Geist die Blague
lieben, das Extrem nicht der Sache,
sondern der Geste, schien er haltlos;
welchen Eindruck sein groBes Talent
eher verscharfte, als milderte. Man sah
die Emporungen, an denen er teilhatte,
man sah die Ausschweifungen, die er
streichelte, man sah vor allem : er
peitschte seinen Stil und seine Ge-
stalten, bis sie ihr Grellstes hergaben;
und mehr sah man nicht von ihm. Ich
glaube nicht, daB es gerade der „hof-
fartige Wahn des Intellekts** war, der
ihm blendend im Wege gestanden
hatte. Er war von fremden Giften
durchsetzt. Es brauchte Zeit, bis die
nur scheinbar erhitzenden, um so mehr
ermattenden Fremdkorper aus seinem
Blut schieden. Wenn er sich zu sich
befreit, dann sicher nur im ,jlic6te"
riscfien Gleichnis**.
Darum sind die vielen Jugend-
slinden, die „Figuren‘\ doch schon,
zumal flir uns, die wir entziickt mitge-
siindigt haben, damals. Ich schriebe
anders dariiber, wenn ich mich nicht
nach dem Vorwort richtete, das den
Vorhang einer Biihne zuzieht und die
Fenster im Saal weit offnet.
♦
Fiir die ffllysiiker des (Kriegs fand
ich an einem Abend, wo ich gegen
Trauer und Zorn ihn zu Hilfe rief, in
„Yoricks empfindsamer Reise“ vor-
treffliche Satze:
„Mir zwar wenigstens wlirde es in
manchen Fallen viel angenehmer sein,
wenn die Welt sagte, ,ich hatte einen
Handel mit dem Monde gehabt, wobci
Glossen
weder Siinde noch Schande statt-
findet/ als daB sie etwas, worin so
vieles von beidem war, ganz allein auf
meine Rechnung stellte.“
„Wenn der Mensch mit den Men-
schen Frieden hat, wieviel leichter als
cine Feder ist alsdann das schwerste
von alien Metallen in seiner Hand/*
„Ich hatte, ich weiB nicht was, fiir
einen Advokaten gegeben/*
„Wir leben in einem Jahrhundert so
voller Licht, daB schwerlich ein Land
oder Winkel in Europa sein wird,
dessen Strahien nicht mit andem ver-
mischt sind." —
Ich rufe es seit zwei Jahren : halten
wir zusammen, um Gottes willen halten
wir zusammen. Alle Teufel sind iiber
uns, auch die Philosophen.
*
Demzuriickgetretenen cftaatsse/cre-
idr des ffluswdriigen, v. Jagow, sagt
man in Deutschland nach, daB er ein
„Diplomat der alten Schule41 gewesen
sei und daB er wenig Verstandnis fiir die
Forderungen einer demokratischeren
Zeit gehabt habe. Dafilr liebte er den
lapidaren Stil — eine Eigentiimlichkeit
der Jagows. Es ist ungefahr ein Jahr
her, da erwiderte er im Reichstag auf
eine An f rage, ob die Regierung gewillt
sei, die Geheimdiplomatie durch eine
unter der Kontrolle der Offentlichkeit
stehende Politik des Auswartigen zu
ersetzen und die Entscheidung iiber
Krieg und Frieden einer Volks ver-
tretung zu iibertragen: „Die Regierung
ist nicht bereit, die hierfiirerforderliche
Verfassungsanderung vorzuschlagen."
Er antwortete auf eine zweite Anfrage,
ob die Regierung gewillt sei, das amt-
liche Material iiber die Entstehung des
Weltkrieges vorzulegen und eine par-
lamentarische Untersuchungskommis-
sion einzusetzen: „Die Regierung ist
nicht gewillt, fiir eine Einsetzung einer
parlamentarischen Untersuchungskom-
mission einzutreten. Die Verantwor*-
tung und Siihne treffen nur unsere
Gegner.4* — Kurz bevor Jagow zuriick-
trat, starb in Wien der deutsche Bot-
schafter Tschirschky.
*
Es gibt in Berlin (N. 24, Monbijou-
platz 3 I) eine tflu&kun fts” und Qilfs*
steffe ftir Deutsche im flusfand und
Sflus/dnder in cDeutsc6iand, der die
Leser der WeiBen Blatter werktatige
Aufmerksamkeit schenken sollten. Auf
einem kleinen Blatt, das Dr. Elisabeth
Rotten unterzeichnet hat, liest man
iiber Ursprung und 21iel der Hilfs-
stelle:
„Seit weit iiber einem Jahr steht die
hiesige Auskunft- und Hilfsstelle fiir
Deutsche im Ausland und Auslan-
der in Deutschland in standiger A r-
beitsgemeinschaft mit dem gleich
nach Kriegsausbnich gegriindeten eng-
lischen Hilfskomitee fiir Deutsche,
Osterreicher und Ungam. Neutrale
Stellen vermitteln den Verkehr, und
von beiden Seiten haben alle Bitten um
Rat und Hilfe immer williges Gehor
gefunden. Das Londoner Komitee
nimmt sich aller Ratsuchenden an,
unterstiitzt die Bediirftigen der in Elng-
land verbliebenen deutschen Familien
mit Leben s mitt ein, Kleidem, Kohlen
und Geld. Im ersten Kriegsjahr sind
iiber 2000 solche Familien auf Bitten
ihrer intemierten Emahrer besucht
und in Fiirsorge genommen worden.
Zwei Heimstatten auf dem Lande ge-
Glossen
wahren kranklichen Kindern Unter-
kunft und Pflege. Ein besondercr Aus-
schuB besucht die Gefangenenl&ger,
verschafft den Intemierten Unterhal-
tung und Beschaftigung, verkauft ihre
Erzeugnisse zu ihrem Besten und ver-
mittelt Nachrichten,.so oft Klagen liber
den Postverkehr zwischen den Ge-
fangenen und ihren Angehorigen zu
ihnen gelangen oder die Getrennten
sich besondere Sorge um einander
machen. Im Sommer sind in fast alle
Lager wochentlich Schnittblumen fur
verwundete oder kranke Gefangene ge-
sandt worden. Zu Weihnachten wur-
den durch das Komitee in etwa zwolf
verschiedenen Gegenden von London
und in andem Teilen des Landes Weih~
nachtsfeiem fur ungefahr tausend
deutsche Familien veranstaltet und
denen, die man nicht einladen konnte,
etwa 800 Pakete mit Lebensmitteln,
Schokolade, Spielsachen und einer
kleinen Geldsumme fiir das Weih-
nachtsessen gebracht oder geschickt.
Zur Aufrechterhaltung dieser Arbeit
werden aus englischen Mitteln fortge-
setzt ca. 20 000 Mark monatlich auf-
gebracht, und es wird immer wieder
versichert, eines der besten Werbe-
mittel fiir diese Gebefreudigkeit sei die
Berufung auf die ahnlich gerichtete
Liebestatigkeit, die die Berliner Aus-
kunft- und Hilfsstelle an den „feind-
lichen Auslandem" in Deutschland
auslibt. Die Leistungen der Hilfsstelle
sind kleiner, insofem die Zahl der in
Deutschland verbliebenen Auslander
viel geringer ist, als die der Deutschen
in England; aber ihre Aufgaben sind
mannigfaltiger, weil zu ihren Schiitz-
lingen Angehorige aller mit uns krieg-
flihrenden Lander gehoren, die hier ge-
blieben sind, weil sie sich bei uns ein-
gewurzelter fiihlen als in der einstigen
Heimat, und denen liber die Note des
Krieges hinwegzuhelfen uns eine
Ehrenpflicht erscheint. Wir wenden
uns mit unserm Aufruf zu tatkraftiger
Mitwirkung an alle, die schon jetzt er-
kennen, daB der innigere Zusammen-
schluB der Eignen aneinander und ein
heiBerer, tiefer als zuvor verpflichten-
der Glaube an die Bruderschaft der
Menschheit wie Ein- und Ausatmen
zusammengehoren .
Mit Freude konnen wir feststellen,
daB in immer weiteren Kreiaen das
Verstandnis fiir unsere Arbeit im
Wachsen ist. Wahrend sie zu Beginn
des Krieges manchen Angriffen ausge-
aetzt war, gilt sie jetzt vielfach als eine
Erscheinung, die daheim und vom
Felde mit Zustimmung begriiBt wird
als ein Vorbote besserer Zeiten. Doch
fehlt noch viel daran, daB diese Sym-
pathie sich geniigend in tatkraftige
Forderung umsetzt. Mochten sich uns,
damit unser Wollen und Tun sich sinn-
gemaB erfiille, von vielen neuen Seiten
Herzen und Hande offnen!
Wer uns mit einmaligen Gaben oder
nach dem Vorgang einiger unter unsem
Freunden mit Monatsbeitragen unter-
stiitzen will, wird gebeten, sie an die
obengenannte Geschaftsstelle oder an
die Depositenkasse B der Commerz-
und Diskontobank, Berlin C 54, Rosen-
thaler StraBe 40/41 zu richten, in bei-
den Fallen zu Handen von Dr. Elisa-
beth Rotten/*
282
Glossen
Cj(eue ^Bucher.
Im Verlag Georg Muller, Miinchen:
‘Walt der {Hermann : Das Tempel-
wunder und andere Novellen.
FUndreas clcdreiber : Das ewige
Bankett. Novellen.
Im Verlag Rascher &Cie., Zurich:
QZrof. Or. F. Zschokke : Aus gol-
denenTagen. Wanderungen in Oster-
reich.
SConrad Falke: San Salvatore.
Erzahlung.
Robert c Walter : Prosastiicke.
Soitfried FCeller: Der Landvogt
von Greifensee.
3 a (cob Oo ft dart: Ein Erbteil.
Chariot Sir after: In Volker zer-
rissen.
(Diese vier i. d. Sammlung „Schrif-
ten fur Schweizer Art und Kunst.)
Flans San*: Der Morgen. Eine
Tragodie.
Im Verlag Kurt Wolff, Leipzig:
‘JKax Fulver : Selbstbegegnung.
Gedichte.
Qustav ‘ffleyrmk : Fledermause.
Novellen.
C/u stave ‘Flaubert; November.
Roman .
Seibert Gdrenstem : Nicht da, nicht
dort. (Sammlung „Der Jungte Tag41.)
i TJlgnona : Schwarz - Weifi - Rot.
(Sammlung „Der Jungste Tag44.)
QoitfrjedOenn:de\\\xnt. Novellen.
(Sammlung „Der Jungste Tag41.)
‘Flax Orod: Die erste Stunde nach
dem Tode. (Sammlung „Der Jungste
Tag44.)
Fran* Fiafka: Das Urteil. (Samm-
lung „Der Jungste Tag44.)
Im Verlag Der Sturm, Berlin:
CEeter Baum : Schiitzengraben-
versc. Aus dem Nachlafi.
CEeter ‘Baum : Kyland (Sturm-
biicher XIII). Aus dem NachlaO.
*
Flans Franck: Mein Kriegsbuch
(Verl. Oesterheld & Co., Berlin).
fffans Franck: Glockenfranzl I u.
II. (Verlag: Reufi & Itta, Konstanz.
Zeitbucher 52, 53.)
Qlaul Ziegler : Figuren (Verb der
WeiBen Bucher, Leipzig.)
C/eorg Raiser : Von Morgens bis
Mittemacht. Stuck in 2 Teilen. (Ver-
lag S. Fischer, Berlin.)
Oas dreiftigste a dr 1916. (Ver-
lagskatalog S. Fischer, Berlin.)