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Full text of "Die weißen Blätter 3. Jg 1916"

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Die  weissen  Blatter 

Eine  Monatsschrift 


Leipzig  1916 


Reprinted  by  permission  of  the  original  publisher 

KRAUS  REPRINT 
A Division  of 

KRAUS- THOMSON  ORGANIZATION  LIMITED 

Nendo  In/  Liechtenstein 

1969 

Printed  in  Germany 


DIE  WEISSEN  BLATTER 


EINE  MONATSSCHRIPT 


DRITTER  JAHRGANG  1916 

ERSTES  QUARTAL 
JANUAR/MARZ 


VERLAG  DER  WEISSEN  BQCHER 

LEIPZIG  1916 


INHALTSVERZEICHNIS 


I. 

AUFSATZE 

Heft  Sdtc 

Eduard  Bernstein,  Volker  xu  Hause:  Erinnerungen  II  (Vor  drei  Jahr- 


zehnten  in  und  um  Lugano) II  166 

„ Volker  xu  Hause:  Erinnerungen  III  <Ein  bdser 

Winter  in  Castagnola) Ill  372 

Theodor  DSubler,  Simultanitit I 108 

Emil  Lucka,  Die  Psydiologie  Napoleons II  139 

R.  Seligmano,  Einsamkeit  und  Gemdnsamkeit II  221 


II. 

GEDICHTE 


Johannes  R.  Better,  VerbrGderung/  Neue  Gedidjte: 

Der  Entfcrnte  <Georg  Trak!) 

S5hnc  

Beilis.  Den  Juden 

Sang  den  Frauen 

Durdihellung ....... 

Melodien  a us  Utopia  . 

Gottfiricd  Benn,  Karyatide 

Albert  Ehrenstdn,  Die  Gotter 

Ferdinand  Hardekopf,  Spat 

Else  Lasker-rSdiOler,  Verinnerlidit 

Mecbtild  Lidmowsky,  AuBensteher  . . . . 

„ Der  Brautigam  . 

Berthold  Viertel,  Die  Sddadit 

„ Bauernstube 

Alfred  Wolfenstein,  Die  GleicbgQltigkeit  . 


Augenblidc 


IV 


Infiaftsvtruidttis 


in. 

DRAMATISCHES 

Heft  Sdtc 

Heinrich  Lautensack,  Das  GelQbde.  Schauspie!  in  vier  AufzOgen  HI  263 

Rend  Sdbickele,  Hans  im  Sdinakenlodi.  Schauspiel  in  vier  AufzOgen  I 1 

IV. 

EP1SCHES 


Pan!  Beyer,  M£dchengeschichte II  232 

Kasimir  Edschmid,  Der  Gott.  Novclle II  188 

Albert  Ehrenstein,  Begribnis Ill  352 

Heinrich  Mann,  Der  Bruder.  Novelle II  158 


V. 

GLOSSEN 


Paul  Adler,  Das  erste  Volk  Europas II  253 

Adolf  Behne,  Berliner  Freie  Secession .Ill  388 

Otokar  Bfezina  <Deutsdi  von  Otto  Pick)  Der  Sinn  des  Kampfes  , II  246 

Rudolf  Fudts,  Das  Gcwittcr I 132 

Annette  Kolb,  Die  drei  letzten  Briefc  an  einen  Toten I 122 

Rudolf  Leonhard,  Die  Landschaft  des  Malers  Franz  Marc  ...  II  246 

Karl  Loewenberg,  Lazarett Ill  386 

Otto  Pick.  Sichc  Otokar  Bfezina. 

Ludwig  Rubiner,  »Ihr  seid  Mens  then  « Ill  389 

R.  S.,  Bemerkungen  des  Herausgebers I 134 

Theodor  Tagger,  Brief  an  einen  Juden II  250 

Robert  Walser,  Predigt Ill  385 


VI. 

ZEICHNUNGEN 


Fritz  Huf,  PortrSt  von  Theodor  Daubler 
Moritz  Melzer,  FOnf  Zcichnungen 


....  II  137 
III  261/2,  351,  369,  371 


RENE  SCHICKELE: 


HANS  IM  SCHNAKENLOCH 

SCHAUSPIEL 
IN  VIER  AUFZQGEN 

( GescBrieBert  O&toBer  1914) 


NARZISS  IN  WAFFEN 

Willst  du  erlernen  die  Kunst  der  Kraft, 
darfst  da  me  an  dir  verzagen, 
eines  kannst  du  ganz  nur  sein, 
dieses  eine  mulit  du  wagen. 

Bist  das  Bi!d,  das  didh  erschafft, 

unter  vielen  dieses  eine, 

und  das  mufl  die  anderen  zersdilagen. 

Nodi  bist  aftes  du: 

dies  und  jenes,  der  und  du, 

alle  diese  und  ihr  Schein. 

Ganz  kannst  du  eins  nur  sein, 
der  oder  du. 

Wahle  und  greif  zu. 

Wo  der  steht,  da  willst  du  fallen 
oder  stehen,  wo  der  fallt, 
ist's  nidit  Haft,  dann  sei's  ein  Wille, 
der  die  harte  Waffe  halt. 

Was  du  willst,  das  tu. 

Sieh  didi  an  in  dieser  Stille: 

Der  oder  du? 

Blick'  hin,  hoi'  aus,  sdilag  zu. 


DIE  GESTALTEN  DES  SCHAUSPIELS: 


Mutter  Boulanger 
Hans  Boulanger,  ihr  a Itercr, 

Balthasar  Boulanges,  ihr  jtingerer  Sohn 
Kl2r,  Hansens  Frau 
Leutnant  StarkfuB 
Oberfchrer  Dlmpfel 
Abb£  Schmitt 


Cavrel  i 

Simon  > Mitglleder  der  franz6sl$chen  Abgeordnetenkam 

Mflllcr  j 

Louise  Cavrel 

Frau  MG  Her 

Grafin  Sulz 

Kaufmann,  ein  alter  franz6sischer  General 

Hop  la,  Pferdeknecht 

Hopsa,  Viehknccht 

Der  Teufel,  ein  Gensdarm 

SchambediB,  Diener  l _ „ n . 

} bei  der  Grskfin  Sulz 
No<h  ein  Diener  * 

Ein  franzosischer  Korporal 

Ein  franzosisdier  Offizier 

Eine  Amme.  Deutsche  und  franzdsische  Soldaten, 


Schaupfatz:  das  Elsafi.  Der  erste  und  zweite  Aufzug  spielen  im  FrQhjahr  1914  auf  dem 
Gut  Schnakenloch,  dann  auf  der  Vogesenhohe  und  bei  der  Grafin  Sulz  in  der  Nihe  von 
StraBburg.  Der  dritte  und  vierte  Aufzug  im  Sommer  desselbcn  )ahres  im  Schnakenloch. 


I 


DIE  WEISE  VOM  »HANS  IM  SCHNAKENLOCH « 


Sdma  - ken  - kxfc 


hat  al  ~ les  was 


^ \ c ^ i c b fr-iiii 

will,  und  was  er  will/  das  hat  er  nidit/  and 


Sdina  - ken  - loch  hat  al  - \t%,  was  er  will. 


BEMERKUNGEN  FOR  DEN  SPIELLEITER 

Mit  Anweisungen  far  den  Spiel lciter  und  die  Schauspieler  ist  der  Verfasser  sehr 
sparsam  gewesen.  Dcshalb  sei  ihm  erlaubt,  hier  einiges  vorauszusdjidcen.  Wo  n6tig, 
ist  die  Spradie  in  Satzbau  und  Redeweise  dialektisdi  gefarbt.  Dies  genflgt.  Der  Schau- 
spider  widerstehe  der  Versuchung,  seinen  eigenen  heimatlidien  Dialekt  zu  verwerten. 

Hans  und  Balthasar  sind  »keine  feindlichen  BrQder«,  wie  Hans  einmal  sagt.  Der 
Verfasser  glaubt  das  eigentQmlich  vertraute  Verhiltnis  der  beiden  Brtider  aud>  auBer- 
haib  des  Spieles  betonen  zu  mfissen,  aus  Furdit,  deren  Darsteller  modhten  vom 
ersten  Auftreten  an  allzudeutlid)  einen  »Karnpf  aufnehmenc  oder  gar  einander  bos- 
artig  begegnen.  Die  Plankeleien  zwisdien  den  beiden  haben  mit  den  Jahrcn  etwas 
von  einer  freundlidben  Gewohnheit  angenommen  — wit  Qberhaupt  die  iiebens* 
wQrdige  Lebensart  dicser  Menschen  keineswegs  unter  der  Dcutlidikeit  ihrer  Rede  leidet. 
Erboste  Gesiditer  und  rollende  Augen  sind  selbst  im  letzten  Aufzug  nicht  am  Platze. 

Die  Franzosen  im  zweiten  Akt:  keine  Zerrbilder.  Sie  lieben  nur  cine  gewisse 
losgeldste  Art  des  Ausdrucks,  selbst  zum  Schaden  ihrer  Wfirde. 

Der  letzte  Aufzug  spielt  wahrend  dnerSdilacht.  Der  Verfasser  bittet,  den  Sdiladiten- 
l3rm  hinter  der  BQhne  eher  gar  nicht,  ais  zu  !aut  mitspielen  zu  lassen. 


5 


Rene  Scfiidiefe  • Hans  im  S<£nafienfo<6 


ERSTER  AUFZUG 

Die  gute  Stube  im  Sdmakenlodr  Alte  Mobel  mit  neuen  Bildern.  Aber  auch  ein 
neuer  Sdireibtisch  und  ein  Klavier.  Vor  dem  breiten  Sofa  ein  grofter  Eichentisch 
ohne  Dedte.  »Grofivaterstuhl.€  Fruhlingsabend.  Die  Fenster  stehen  auf.  In  der  Feme 

der  blaue  Hohenzug  der  Vogesen. 

ERSTER  AUFTRITT 

Hans  auf  dem  Sofa,  eine  Decke  uber  den  Fuflen,  Balthasar  und  Klar  auf  der 
Bank  vor  dem  offenen  Klavier,  Rudten  gegen  das  Instrument.  Mutter  Boulanger 
strxekt  auf  einem  erhohten  Tritt  am  Fenster.  Hop  la  und  Hops  a.  Der  Teufel. 

Hopsa:  Ich  kann  nur  immer  wieder  sagen:  ich  weiB  nichts  von 
der  ganzen  Geschichte. 

Ho  pi  a:  Du  hast  dem  Herrn  Hans  das  Genick  bredien  wollen, 
du  Kanaill. 

Der  Teufel:  Kanaille  ist  verboten.  Das  ist  eine  Beleidigung. 

Hop  la:  Ich  mochte  wissen,  was  hierzulande  nicht  verboten  ist.  Zu 
meiner  Zeit  hieB  man  einen  Melkeimer  einen  Melkeimer  und  eine 
Kanaill  eine  Kanaill. 

Der  Teufel:  Moglidi,  daB  Kanaille  franzosisch  keine  Beleidigung 
ist.  Im  Deutsdien  ist  es  eine,  und  danach  haben  Sie  sich  zu  riditen. 
V erstanden  ? 

Hopla:  Ich  bin  nicht  taub.  Aber  schreien  kdnnen  wir  gerade  so 
gut  wie  Ihr. 

Mutter:  Genier'  dich  nicht,  Hopla.  Schrei  noch  ein  biBchen  lauter. 

Hopla:  Bitt'  um  Verzeihung,  Madam  Boulanger.  Die  Pidcelhaube 
macht  mich  zipfelsinnig.  Sie  hat  keinen  Verstand  vorn  und  keinen 
Verstand  hinten. 

Der  Teufel:  >Pickelhaube«  und  >kein  Verstand  vorn  und  kein 
Verstand  hinten«  sind  verboten. 

Hopla:  Seht  Ihr,  Madam  Boulanger,  man  kann  mit  dem  Mann 
nicht  reden.  Wo  man  hintritt,  ist  es  verboten. 

Mutter:  Gib  dem  Herrn  Gensdarm  Antwort  auf  das,  was  er 
dich  firagt,  und  behalt  das  ubrige  fur  dich.  Der  Herr  Gensdarm  steht 
nicht  da,  um  den  Narren  mit  dir  zu  machen. 

Der  Teufel:  Danke  schon.  Madam  Boulanger.  DreiBig  Jahre  bin 
ich  im  Dorf,  und  die  ganzen  dreiBig  Jahre  hat  der  Hopla  jeden  Tag 


6 Ren/  ScBic&eCe  • Hans  im  SSnatenfoS 


Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt  geGbt  — natflrlich  abgesehen  von 
den  Tagen,  wo  id)  im  Urlaub  war, 

Hopla:  Wart  Ihr  drflben  geblieben,  wo  Ihr  hergekommen  seid. 
Wir  haben  Eu<b  nidit  gerufen. 

Hans:  Hopla!  Wenn  ich  ni<bt  ein  lahmes  Bein  hatre,  wQrde  id) 
didi  Jetzt  zum  Fenster  hinausschmeiBen. 

Der  Teufel:  Wenn  der  Herr  Hans  erlauben,  so  will  idi's  ffir 
ihn  besorgen. 

Hopla:  Wer  schmeiBt  hier  hinaus?  Erst  der  Herr  Hans,  dann 
der  Herr  Balthasar,  und  dann  komm  id).  Ihr  konnt  hier  nur  hinaus* 
geschmissen  wer  den. 

Hans  <auffahr«id> : Mutter,  mad)'  Platz.  Der  Kerl  muB  ins  Blumen- 
rondell. 

Hopla:  Geh  schon.  Teufel,  wir  reden  nod)  ein  Wort  miteinander. 
Gute  Nacht,  Madam  Boulanger.  Gute  Nad)t,  Madam  Klar.  Gute 
Nacht,  die  Herren.  Und  was  der  Hopsa  sagt,  das  sind  alles  so  auf- 
gesdinappte  Redensarten  vom  Teufel.  Kaisers  Rock  und  so.  <ZuHop*a>: 
Man  kann  im  Rode  vom  Kaiser  stedeen  und  dodi  ein  Seil  uber  die 
StraBe  spannen,  damit  der  Herr  einen  wfitigen  Purzelbaum  vom 
Gaul  schlagt. 

Der  Teufel:  Nein,  das  kann  man  nicht.  Qberhaupt  ist  das  eine 
Majestatsbeleidigung. 

Mutter:  Hopla,  es  ist  eine  Sdband',  was  du  deinem  Kameraden 
alles  anhangst.  Scham'  did).  Wenn  das  der  selige  Herr  an  dir  er* 
lebt  hatte. 

Hopla:  Der  mein  Kamerad?  Eine  lebendige  Scbikane  hab  id)  mlr 
an  dem  aufgepappelt 

Mutter:  Nachher  sitzt  ihr  ja  doth  wieder  druben  im  Stall  und 
trinkt  zu  dritt  euern  Liter  WeiBen.  Nicht  wahr,  Herr  Teufel? 

Der  Teufel  <breit  ladiemi):  Das  konnt  schon  sein.  Aber  wenn  Sie 
erlauben.  Madam  Boulanger:  Id)  bin  nur  der  Teufel,  ich  heiBe  nicht  so. 

Mutter  <«r«d)rodcen> : Das  erste  Wort,  das  ich  hore!  Das  ist  ein 
Spitzname?  So  eine  Schande!  In  meinem  Haus!  Kinder,  warum  habt 
ihr  mir  das  nie  gesagt? 

Der  Teufel:  Ich  bitte  Sie,  Madam  Boulanger!  Wie  ich  vor  dreiBig 
Jahren  herkam,  haben  sie  mid)  so  getauft,  weil  ihnen  nod)  nie  ein 


Ren/  SSidmh  • Hans  bn  S<£naten6x6 


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rater  Bart  vorgekommen  war,  hah  a,  und  dann  ist  es  dabei  geblieben. 
Ich  glaube  sogar,  der  Hopia  hat's  aufgebracht 

Hopla:  Natflrlich  wieder  der  Hopia.  Wenn  die  Kobe  dnes  Tages 
anfingen,  Vive  fa  ‘France  zu  schreien,  dann  wSr's  auch  der  Hopia. 
I<h  hdb  au<b  nidit  Hopia  — hdrst? 

Der  Teufel:  Hierzulande  heiftt  keiner,  wie  er  hribt.  Und  Qber- 
haupt  haben  wir  abgemacht,  dab  nur  auberdienstlich  geduzt  wird. 

Hopia  <Jfft  ihn  ruxh):  »Das  Duzen  im  Dienst  1st  verboten . . .«  Da- 
bei hat  sein  Bauch  bd  uns  mehr  Weinstein  angesetzt,  alt  das  ilteste 
Fa6  im  Keller. 

Mutter  <die  Hlnde  hcheod):  Hopia,  was  du  alles  sagstl  Neben 
deinem  Mundwerk  ist  unsre  Dresch  mas  chine  cine  Spieluhr.  Hopsa, 
hast  du  ein  Seil  gespannt  oder  nicht? 

Hopsa:  Nie  im  Leben,  Madam.  War  auch  gar  kein  Sed  da. 
Der  Schimmel  ist  geknidtt.  Traurig,  dab  der  Pferdeknecht  seine  Gaule 
nkht  besser  kennt,  als  Venn's  Ochsen  wiren,  kann  aber  nichts  dafQr. 

Hopia:  Nein,  gelt,  um  sich  in  den  Gaulen  auszukennen,  mflfit 
man  seine  Photographic  in  des  Kaisers  Rock  an  der  Wand  hSngen 
haben  und  beim  Melken  »Heil  dir  im  Siegerkranz*  sin  gen. 

Hopsa:  Ich  sing'  beim  Melken  nicht  »Heil  dir  im  Siegerkranzc. 
Du  bist  ein  alter  Narr. 

Hans:  Macht  die  Sache  bei  einem  Krflgel  Wein  untereinander  ab. 

Hopia:  Na  gut 

Hopsa:  Ich  meine  auch,  es  ist  Zeit 

Teufel:  Sonst  kann  der  Hopia  nicht  schlafen.  Guten  Abend,  die 
Herrschafi. 

Hopia.  Hopsa:  Gute  Nacht  beisammen. 

Teufel:  Vorwsbts.  Raus,  ihr  Wadies. 

Hopia:  Seht  Ihr,  Madam  Boulanger,  der  Schwab  fangt  schon 
wieder  an  zu  kommandieren.  <Ab.) 


ZWEITER  AUFTRITT 

Matter  Boulanger.  Hans.  Balthasar.  Klflr. 

Mutter:  Ihr  wibt,  ich  hab'  nichts  gegen  die  Deutschen.  Gelt  nicht, 
Klir?  Aber  manchmal  kommt's  mir  so  vor,  ads  ob  mehr  geachriea 
wflrde,  seitdem  sie  im  Land  sind. 


Rene'  S&idiefe  • Hans  im  5<£naken(o<£ 


Klar:  Den  Rebwurm  nicht  zu  vergessen,  den  wir  euch  mit- 
gebracht  haben. 

Hans:  Und  den  Bismardthering. 

Mutter:  Gibt's  den  wirklidi,  den  Bismarckhering? 

Klar:  Ja,  aber  er  ist  nicht  so  gefahrlidi  wie  der  Rebwurm. 

Mutter:  Was  tut  er  denn? 

Klar:  Aber  Mutter,  es  ist  ein  marinierter  Bering,  zum  Essen, 
wie  alle  Heringe. 

Mutter:  Warum  hast  du  uns  nie  Bismarckhering  gemadit? 

Klar:  Weil  Hans  behauptet,  Heringe  aflen  hierzulande  nur  hohere 
Regierungsbeamte.  I<h  hab'  ihn  nicht  davon  abbringen  konnen. 

Mutter:  Unser  Schangel  hat  halt  einen  dicken  Schadel. 

Balthasar  (vom  Sdireibtisdi  her,  wo  er  in  einer  Mappe  blatlert):  I<h  glaub’, 
den  haben  wir  alle. 

Mutter:  Da  hast  du  recht.  Neuigkeiten  gehen  sdiwer  hinein... 
Euer  Vater  starb  im  Glauben,  wir  seien  eigentlich  noth  immer  franzosisch. 

Balthasar:  Und  die  Deutsdien  wollten's  nur  nidit  wahr  haben. 

Mutter:  So  ist  es,  Balthasar.  Dabei  haben  dich  die  Preufien  zum 
Leutnant  gematht.  — Ihr  versteht  so  etwas  leithter,  ihr  seid  audi 
keine  Bauern  mehr. 

Hans:  Ich  bin  ein  Bauer. 

Mutter:  Ein  Bauer,  der  in  StraRburg  und  in  Mundien  studiert 
hat,  ist  kein  rediter  Bauer  mehr. 

Hans:  Heutzutage  studieren  die  Bauern. 

Mutter:  Schangele,  sie  sind  auch  danadi. 

Hans:  Meinetwegen. 

Klar  <setzt  sich  zu  Hans) : Du  bist  ein  sehr  tudhtiger  Bauer,  Hans. 

Hans:  Du  muRt  es  wissen. 

Klar:  WeiR  ich  auch.  <Aufzahlen<l.>  Das  Gut  ist  dreimal  so  grofi 
geworden  — 

Mutter:  Aber  unsere  schonen,  sichern  Papiere  sind  fort. 

Hans:  Hatten  wir  alle  miteinander,  wie  wir  hier  sind,  unser 
Leben  lang  auf  der  elenden  dreiprozentigen  Rente  sitzen  sollen? 
Der  Boden  tragt  gerade  so  viel,  und  man  hat  wenigstens  etwas 
davon. 

Mutter:  Dein  Vater  und  ich  haben  gut  darauf  gesessen,  und  der 


Rene  5<£i<£efe  • Hans  im  S<6na6enC<x£ 


* 


9 


m 


•* 


Boden  trug  mehr  als  drei  Prozcnt.  Schangele,  du  bist  kcin  Bauer, 
aber  es  macht  ja  nichts. 

Hans:  Dann  sind  halt  die  Zeiten  schlechter  geworden. 

Klar:  So  ist  es,  mein  Hans.  Alles  ist  teucrer  und  schlechter  ge- 
worden, und  was  dein  Vater  in  den  Strumpf  stedcte,  damit  kaufst 
du  schone  Bucher,  unternimmst  interessante  kleine  Reisen,  mit  deiner 
Frau  und  ohne  sie.  Dafur  leben  wir  auch  wie  im  Himmel. 

Mutter:  Du  hast  ihm  gerade  noch  gefehlt,  dem  Stride. 

Klar:  Dachtest  du,  ich  hatte  ihn  geheiratet,  urn  ihn  bei  der  Arbeit 
zu  beaufsichtigen? 

Mutter:  Ach,  Klar,  ohne  dich  ware  er  schon  lange  nicht  mehr 
da.  Ich  danke  jeden  Tag  seinem  Schutzengel,  dafi  er  euch  in  Miinchen 
an  einer  Strafienedce  hat  zusammenstofien  lassen.  Ich  bitte  dich,  halte 
ihn  nur  fest. 

Klar:  Ich  gebe  mir  alleMuhe.  Aber  er  ist  ein  Ausreifier  vonGeburt. 

Balthasar:  Es  ist  ihm  halt  nie  recht  schlecht  gegangen. 

Hans:  Aber  dir,  mein  Junge,  wie? 

Balthasar:  Meine  Erlebnisse  sind  nicht  Gemeingut  der  Familie. 

Hans  <ohnc  Bosheit):  Du  bist  ein  guter  Maulwurf.  Du  hast  auch 
die  Weltanschauung  eines  Maulwurfs.  Du  bist  stolz,  ein  Maul- 
wurf  zu  sein. 

Mutter:  Unser  Balthasar  ist  der  bravste  Junge  der  Welt,  und 
du  sollst  ihn  in  Frieden  lassen. 

Hans:  In  England  — als  ich  in  meinem  ersten  Semester  nach 
England  fuhr,  da  habe  ich  acht  Wochen  gelebt,  wie  einer,  der  ge- 
rade aus  dem  Zuchthaus  entlassen  worden  ware.  Es  gelang  mir 
nicht  einmal,  eine  Anstellung  als  Strafienfeger  zu  bekommen.  Und 
im  Jahr  darauf  — 

Mutter:  Aber  wie  du  vom  Vater  Geld  geschickt  bekamst,  bist 
du  erster  Klasse  nach  Strafiburg  gefahren. 

Hans:  Nein,  Mutter,  in  der  letzten  Station  vor  Strafiburg  bin 
ich  in  einen  gewohnlichen  Zug  umgestiegen.  Aus  Vorsicht.  Am  Ende, 
dachte  ich,  pafit  der  Vater  im  Bahnhof  auf. 

Mutter:  Ohne  Koffer  kam  er  an.  Die  hatte  er  in  England  ver- 
setzt.  So  eine  Schande.  Und  nachher  waren  sie  verfallen.  Die  schonen 
Koffer  mit  denen  der  Vater  und  ich  die  Hochzeitsreise  gemacht  haben. 


a 


Ren/  5<6tdUfe  • Hans  bn  Sc6na£en/odl 


10 


Dafflr  nahm  er  unterwegs  anderes  sdiweres  Gepack  auf.  Ich  will 
gar  nicht  daran  denken. 

Klar:  Ich  weifl,  Mutter.  Ein  gelbhaariges  Fraulein.  Auf  die  Weise 
hat  er  in  zwei  Wochen  mehr  Englisdi  gelemt,  als  die  ganze  Zeit 
vorher  in  London.  Man  muft  auch  die  gute  Seite  sehen. 

Mutter:  Denke  nur,  hier  hat  er  sie  versteckt,  droben  in  der 
grofien  Mansarde,  bis  derVater  sie  erwischte,  wie  sie  gerade  dabei 
war  — rate  einmal!  — Aprikosen  einzumadien.  Kein  Deutsch  ver- 
stand  sie  und  kein  Franzdsisdi.  DerVater  dadite  sdion,  es  sei  eine 
Wilde.  Wenn  ich  an  das  Geschrei  denke  an  dem  Tag!  Der  Bal~ 
thasar  lief  ins  Dorf  zum  Teufel  und  brullte  auf  dem  ganzen  Weg: 
»Der  Vater  und  der  Schangele  bringen  sich  um.«  Es  war  nicht  mehr 
sdion.  Wie's  dunkel  geworden  war,  haben  der  Hopla  und  der  Teufel 
sie  in  der  Kalesche  nadi  Strafiburg  gefahren.  Und  der  Hopla  muBte 
jhr  ein  Biliett  erster  Klasse  kaufen.  Und  rat'  mal,  wohin?  Nadi  San 
Sebastian!  Das  soli  in  Spanien  sein.  Der  Sdiangete,  wie  ihm  der 
Vater  die  Sadie  mit  dem  Biliett  erster  Klasse  hinter  die  Ohren 
setzte,  sdirie:  »Da  siehst  du,  dafi  sie  eine  Dame  ist«,  und  davon 
wurde  der  Vater  so  bdse,  dafl  der  Hopla  gerannt  kam  — 

Hans:  und  mir  das  Leben  rettete. 

Balthasar:  Daran  erinnere  ich  mich.  Es  war  schreddich. 

Klar:  Ihr  seid  ein  gefahrliches  Gesdiledit 

Mutter:  Ja,  die  Boulangers  haben  das  Feuer  nah  am  Strohdach. 
Sieht  aber  arger  a us,  als  es  ist  . . Klar,  wollt  Ihr  nicht  noch  ein  bifl- 
chen  Musik  madien?  Es  lasst  sich  so  sdion  denken  dabei. 

Hans:  Ich  bitte  euch,  laBt  jetzt  die  Musik.  Sie  wirkt  auf  midi  wie 
auf  ein  Kavalleriepferd,  ich  werde  wild,  oder  sie  madit  mich  butterweich. 

Balthasar:  Ein  Beweis,  dafi  du  unmusikalisch  bist. 

Hans  <l5cheind>:  Freue  dich,  daB  du's  darin  besser  hast.  Es  mud 
eine  ungemeine  Wohltat  sein,  in  der  Musik  sein  eigenes  Gleich* 
gewidit  sdiweben  zu  fQhlen  — und  ein  grofter  Trost,  es  so  klingend 
wiederzufinden. 

Mutter  <Iegt  das  Stridueug  fort):  Euer  Vater  ging  immer  mit  den 
Huhnem  ins  Bett  und  stand  mit  den  Huhnern  auf,  und  ich  muBte 
naturlich  mithalten.  Wie  sdiwer  war's,  mich  daran  zu  gewohnen! 
Jetzt  kann  ich  es  mir  nicht  mehr  abgewohnen. 


Rene  SSicAefe  • Hans  im  S<£na6tnfo<£ 


11 


Klar:  Siehst  du  den  Jungen? 

Mutter  <ruft  zum  Fenster  hinaus):  Charles!  Da  kommt  er  mit  der 
halben  Dorfjugend  , . (Zurudt  ins  Zimmer.  Vor  einem  Bild):  Nein,  dieses 
Frauenzimmer!  Vor  lauter  Sonne  sieht  man  ja  nicht  viel  von  ihr, 
aber  was  man  sieht,  ist  gerade  das,  was  sie  iieber  nidit  zeigen  sollte. 
Wenn  eine  Frau  zu  meiner  Zeit  mit  so  einer  Taille  bestraft  war. 
Und  ich  hab  einen  Sohn,  der  so  etwas  kauft! 

Hans:  Ja,  Mutter. 

Mutter:  Darf  idi  fragen,  ob  das  Bild  auch  bezahlt  ist? 

Hans:  Lieber  ware  mir,  du  unterdrucktest  die  Frage. 

Mutter:  Armer  Junge. 

(Drauflen  Kinderchor: 

»Der  Hans  im  Schnakenloch 
hat  alles,  was  er  will, 
und  was  er  will,  das  hat  er  nicht  . . .<> 

Hans  (auffahrend,  ruft>:  Karl! 

<»und  was  er  hat,  das  will  er  nicht, 
der  Hans  im  Schnakenloch 
hat  alles,  was  er  will.c) 

Hans  (richtet  si<h  auf,  lauter):  Karl! 

Mutter  (hinauslaufend) : Jesus  Maria,  tu  dem  Jungen  nidits! 


DRITTER  AUFTRITT 

Hans.  Balthasar.  Klar. 

Klar:  Wie  kannst  du  didi  von  dem  dummen  Lied  so  aufbringen 
(assen ! 

Hans:  Im  ganzen  Land  singen  sie  den  Blddsinn,  den  der  Werner- 
jockel  zusammengesdiustert  hat. 

Klar:  Siehst  du,  das  hat  man  vom  Ehrgeiz.  Du  wolltest  Biirger- 
meister  werden.  Du  bist  Burgermeister  geworden,  du  hast  es  durdi- 
gesetzt  gegen  das  ganze  Dorf,  gegen  den  Wernerjockel,  der  mehr 
ist,  als  das  ganze  Dorf,  und  gegen  die  Regierung.  Du  bist  einen 
Monat  lang  heiser  gewesen,  und  als  du  wieder  spredien  konntest, 
hast  du  das  Amt  an  den  Nagel  gehangt.  Nur  der  Ruhm  ist  dir 
geblieben. 

Hans:  Idi  muflte  Burgermeister  werden,  um  die  Elektrizitat  ins 
Haus  zu  bekommen.  Traurig  genug.  Da  ist  nichts  zu  ladien.  Um 


2 voi,  m/i 


12  Rene  SSit&ete  • Hans  An  5<£natienfo& 


durdizusetzen,  daft  wir  die  Eisenbahn  herbekommen,  hatte  icfa  kom- 
mandierender  General  werden  mfissen. 

Klar:  Und  kommandierender  General  konntest  du  nlcbt  werden. 

Hans:  Hatte  ids  im  Getneindehaus  Fliegen  fangen  sollen? 

Klar:  Alle  grofien  Manner,  die  zu  den  Stemen  fuhren,  sind  unter- 
wegs  hangen  geblieben,  Du  hast  der  Elektrizitat  ihren  Platz  im 
Sdinakenlods  erkampft.  Das  genugt. 

Hans:  Als  Dank  erhebt  mein  Volk  die  bloden  Verse  vom  Werner- 
jockel  zur  Nationalhymne. 

Klar:  Wie  sagt  der  Teufel:  »HierzuIande  heiftt  keiner,  wie  er 
heiftt.e  Hierzulande  erkennt  man  die  gr often  Manner  daran,  daft  alle 
fiber  sie  (adien. 


VIERTER  AUFTRITT 

Diesefbcn.  Mutter. 

Mutter  <*n  der  TQr>:  Sdsangele,  dein  Sohn  lafit  dir  sagen,  er  habe 
dir  nur  ein  Standdien  bringen  wollen.  Er  glaubte,  du  wfirdest  ans 
Fenster  treten  und  eine  Rede  halten.  Darf  ids  ihm  die  Antwort 
bringen,  daft  du  nidit  bose  auf  ihn  bist? 

Hans:  Mutter,  die  Hfihner  sdslafen  schon  mindestens  eine  haibe 
Stunde. 

Klar:  Sag'  dem  Jungen:  die  Mutter  bringt  die  Antwort. 

Mutter:  Gute  Nadst  denn.  Kinder,  gelt?  es  vergifit  keines  von 
eudh  zu  beten,  bevor's  einschlaft.  Man  weift  nie,  ob  man  wieder 
aufwadst.  <Ab.> 


FQNFTER  AUFTRITT 

Dieielben  ohne  Mutter  Boulanger. 

Hans:  Balthasar,  dreh'  dodh  bitte  das  Lidst  an.  (Lid>t.>  Danke. 

<Klar  madit  das  Klavler  zu,  legt  die  Noten  fort.) 

Hans  <sd)iagt  um  sidi):  Da  sind  sie  sdson! 

Klar:  Wer? 

Hans:  Die  Sdsnaken! 

Balthasar:  Jedes  Jahr  wunderst  du  dids  aufe  neue,  daft  es  im 
Sdinakenlods  Sdinaken  gibt. 

Hans:  Wenn  du  mir  eine  tiefsinnlge  Bemerkung  erlaubst:  es  gibt 


Rene  S<£ic£efe  * Hans  im  S<6na&enfodb 


13 


Dinge,  an  die  sich  der  Mensch  trotz  aller  Vertrautheit  nidit  ge- 
wohnt . . . Darunter  ist  das  gewiditigste  der  Tod.  <Kiar  hat  das  Fenster 

geschlossen  and  setzt  si<fc  Haas  gegenflber  in  den  GroBvaterstuhl.  Pause.)  Dem 

Tod  gegenuber,  glaube  ich,  war  nodi  kemer  blasiert.  Balthasar,  was 
meinst  du?  Dem  Tod  gegenuber  muB  man  einen  Standpunkt  ein- 
nehmen.  Vom  Leben  kann  man  sich  treiben  lassen.  Man  kann 
mit  ihm  paktieren.  Der  Tod  ist  ein  StraBenrauber,  der  einem  mit 
vorgehaltener  Pistole  den  Weg  vertritt:  die  Borse  und  das  Leben! 
Daraufhin  muB  man  notwendigerweise  in  ein  drittes  flucfiten,  von 
dem  man  annimmt,  daB  es  der  Kugel  widersteht.  Nidit  wahr,  Klar? 

Klar:  Kluge  Eltern  bereiten  sdion  die  Kinder  auf  den  bosen 
Augenblick  vor,  wo  ihnen  der  Tod  zum  erstenmal  begegnet. 

Hans:  Mit  dem  schwarzen  Mann? 

Klar:  Und  dem  Vaterunser.  Und  trotzdem  ersdirickt  jeder  immer 
wieder. 

Hans:  So  einfadi  sind  diese  komplizierten  Dinge...  So,  mein 
Balthasar,  wundere  idt  mich  immer  wieder  uber  die  erste  Schnake. 

Balthasar:  Du  lebst  auf  Luftbrucken,  die  das  Sdinakenlodi  mit 
den  entferntesten  Teilen  der  Sdiopfung  verbinden. 

Hans:  Da  alles  in  derselben  Luft  steht  — 

Balthasar:  Philosophierst  du,  oder  ziehst  du  midi  auf? 

Hans:  Ich  langweile  mich. 

Balthasar:  Gute  Nacht,  Klar.  Kommen  heute  die  Burschen? 

Hans:  Idi  hoffe. 

Balthasar:  Dann,  bitte,  larmt  nidit  zuviel.  Ich  muB  um  vier  auf- 
stehn  und  mochte  jetzt  sdilafen. 

Hans:  Komm  her.  Gib  mir  die  Hand.  Schlaf  gut  Wir  werden 
still  sein. 

Balthasar:  Gute  Nadit,  Klar. 

SECHSTER  AUFTRITT 

Hans.  Klar, 

Hans:  Jetzt,  jetzt,  Klar,  kann  ich  mit  dir  reden,  Mit  dir  reden, 
das  ist  fur  midi  dasselbe,  wie  fur  dicfi  das  Musizieren.  Mir  wird 
sdion  leicht  und  sdiwer  davon.  Wenn  es  nur  schon  Sommer  ware, 
damit  ich  zu  tun  bekame. 


14 


Rene  5<6ic6efe  ♦ Hans  im  SSnaSenfoS 


****************************************** *************************************************************************************************** 

Klar:  Ich  denke,  jetzt  gabe  es  auch  genug  zu  tun. 

Hans:  Sdhon.  Aber  jetzt  habe  idb  keine  Lust.  Winter,  Fruhling, 
Herbst  — da  mu  ft  ich  immer  an  die  nordischen  Gottersagen  denken, 
an  Nebelriesen,  feuchte  Zwerge  und  melancholische  Helden,  die  ihren 
Gram  in  Meth  ersaufen  und  dabei  von  der  Sonne  schwarmen,  die 
nie  recht  zu  ihnen  kommt.  Klar,  wenn  es  nur  schon  Sommer  ware. 

Klar:  Wir  haben  ja  scbon  Fruhling. 

Hans:  Ich  weift,  den  liebst  du.  Wenn  ich  an  meine  Jugend  und 
meine  Kindheit  denke,  seh'  ich  nur  immer  Sommer.  Da  waren  auch 
die  Ferien.  Die  Ernte,  das  ist  eine  wundervolle  Zeit,  ein  Stuck  gol- 
denes  Zeitalter.  Im  Grunde  lebe  ich  nur  fur  die  Spanne  von  Juli 
bis  Oktober.  Man  steht  bis  an  die  Huften  in  Fruchtbarkeit,  ein 
Himmel  biaut,  der  viel  schoner  ist  als  in  Afrika,  hat  fast  nichts  am 
Leib  und  rafft,  in  leichtem  Schweift,  tief  atmend,  zusammen,  und 
alles  ist  von  der  Sonne  durdihellt.  Fruhling  und  Spatherbst,  die  ver» 
undeutlichen  mir  — mich  und  die  Welt.  Alles  liegt  dann  wie  hinter 
dem  Schleier  eines  Rausches,  aber  keineswegs  heiter  und  lustig,  wie 
bei  einem  wirklidien  Rausch,  sondern  in  klotziger  Unordnung,  wie 
bei  einem  Katzenjammer. 

Klar:  Du  solltest  Balthasar  besser  behandeln.  Er  nimmt  dir  alle 
unangenehme  Arbeit  ab,  ist  immer  auf  dem  Posten  . . . 

Hans:  Sei  ruhig.  Ich  werde  mich  gern,  lebendigen  Leibes,  von 
ihm  beerben  lassen.  Glaube  bitre  nicht,  daft  es  gegen  meinen  Willen 
geschieht,  wenn  ein  Stuck  meines  Lebens  nach  dem  andern  — von 
mir  an  ihn  ubergeht.  Ich  liquidiere  mich  zu  seinen  Gunsten.  Er  ist 
heute  schon  der  Herr  im  Schnakenloch.  Ich  habe  ihn  sehr  lieb. 

Klar:  Hans  — ! 

Hans:  Was  ist? 

Klar:  Nichts.  Manchmal  meine  ich,  du  seist  ein  schlechter  Mensch 
und  gabst  dir  alle  erdenkliche  Muhe,  die  andern  ebenso  schlecht  zu 
machen, 

Hans:  Ich  verstehe  den  Zusammenhang  nicht  . . 

Klar:  Du  sollst  dich  nicht  zugrunde  richten.  Ich  hab  dich  lieb. 

Hans:  Im  Gegenteil,  Klar,  ich  tue,  was  ich  kann,  um  mich  zu 
behaupten. 

Klar:  Du  lafit  alles  gehen,  . . . dich  . . . und  mich  — 


Rene’  Scbidefe  • Hans  im  St£nakenfo<£ 


15 


Hans:  Du  irrst,  Klar/  diA  niAt! 

Klar:  IA  bin  niAts  ohnc  diA.  Wenn  du  miA  verlieBest,  so  odcr 
so,  iA  wuftte  niAt,  wo  iA  hinsollte.  IA  wiiBte  niAt  einmal,  was 
iA  bis  dahin  gewesen  bin. 

Hans:  Komm. 

Klar:  Nein,  denn  sonst  muD  iA  am  Ende  weinen,  und  dann 
sagst  du  wieder,  iA  sei  sentimental,  und  die  Tranen  maAten  miA 
haftliA. 

Hans:  Du,  das  mit  den  Tranen,  das  stimmt. 

Klar:  IA  weine  auA  niAt.  IA  strenge  miA  an,  miA  zu  bessern. 
IA  habe  bereits  eingesehen,  daB  iA  dir  unter  gar  keinen  Umstanden 
zumuten  darf,  uber  mein  haBiiAes  GesiAt  hinweg  und  auf  das  Leid 
zu  sehn,  das  iA  dir  zur  Beruhigung  in  die  Hande  geben  moAte  . . . 
Ein  Geliebter  muB  manAmal  auA  Mutter  sein.  Wie  oft  hast  du 
naAts  den  Jungen  herumgesAleppt,  wenn  er  sArie.  HaflliAer,  wie 
er  war,  bin  iA  auA  niAt,  wenn  iA  weine. 

Hans:  Klar,  komm  her. 

Klar:  I A moAte  gem,  aber  es  geht  niAt. 

Hans:  Warum  geht  es  niAt? 

Klar:  SAimpf'  miA  sAnell  ein  biBAen,  damit  iA  bose  werde, 
sonst  kommen  die  elenden  Tranen.  SAnell,  so  sag'  doA  irgendeine 
Gemeinheit. 

Hans:  IA  finde  keine. 

Klar:  Sag',  i A sei  eine  Gans  mit  einem  Band  aus  veil Aenblauer Seide 

Hans:  Ja,  also  du  bist  — 

Klar:  Sag',  Madame  Cavrel  sei  im  kleinen  Finger  mehr  Frau  als  iA  — 

Hans:  So  etwas  habe  iA  nie  gesagt. 

Klar:  Du  lugst,  du  hast  es  erst  gestern  gesagt. 

Hans:  Gestern? 

Klar:  Gestern. 

Hans:  I A erinnere  miA  wirkliA  niAt. 

Klar:  Du  erinnerst  diA  nie.  Glaubst  du,  daB  iA  dir  deine  Nieder- 
traAtigkeiten  sonst  so  sAnell  verziehe? 

Hans:  Wenn  iA  das  von  Frau  Cavrel  wirkliA  gesagt  habe,  so 
war  es  eine  NiedertraAtigkeit,  erstens,  und  zweitens  eine  Luge. 

Klar:  Willst  du  no  A,  daB  iA  zu  dir  komme? 


.aa' 


Rene'  S<£i<&eft  • Hans  im  ScSnafenfoS 


Hans  (stredst  ihr  die  Hande  entgegen  und  zieht  sie  neben  sicb  aufs  Sofa): 

Hand  aufs  Herz:  der  kleine  Finger  von  Frau  Cavrel,  der  da  eben 
so  unerwartet  zum  Vorscbein  kam  — 

Klar:  Ja,  ja,  es  juckte  ihn  schon  lange. 

Hans:  Aha! 

Klar:  Ich  habe  noth  etwas  auf  dem  Herzen. 

Hans:  Nun,  da  wir  schon  dabei  sind  — 

Klar:  Heute  sind  es  zehn  Jahre,  daB  wir  geheiratet  haben- 

Hans:  <tief  erstaunt):  Zehn  Jahre?  Woher  weifit  du  das? 

Klar:  Hans,  seit  zehn  Jahren  bist  du  mit  ein  und  derselben  Frau 
verheiratet. 

Hans:  Wenn  idi  alles  redit  Qberlege,  bin  ich  nidit  sdilecht  dabei 
gefahren. 

Klar:  Nach  mir  fragst  du  nidit? 

Hans:  Du?  Unsere  Verwandten,  unsere  Bekannten,  die  Dienst- 
boten,  alle  sind  sidi  einig,  daB  ich  eine  soldie  Frau  nicht  ver» 
diene.  Ich  stimme  ihnen  vollkommen  bei.  Aber  idi  habe  die  Frau 
und  behalte  sie.  Vorlaufig  einmal  fur  die  nachsten  zehn  Jahre. 

Klar:  Danke  schon.  (Pause.)  Mandimal  . . . wenn  . . . sieh,  bit re  zur 
Seite,  ich  modite  etwas  sagen  , . . Wenn  mir  mandimal  deine  Treu- 
losigkeiten  einfallen,  werde  idi  ganz  verwirrt  und  liebe  didi  nur  um 
so  mehr.  Aber  idi  glaube,  es  gibt  eine  Art  Verrat,  einen  wirklidien 
Verrat,  dessen  Sdirecken  alle  Liebe  totet. 

Hans:  Weldier  Art  ware  dieser  Verrat? 

Klar:  Das  weifi  idi  selbst  nidit.  Gib  adit  auf  midi. 

Hans:  Idi  bin  dir  nie  untreu  gewesen. 

Klar:  Du  vergifit  und  meinst  dann,  es  sei  nie  gewesen. 

Hans:  Im  Innersten  bin  ich  dir  sicher  nie  — 

Klar:  Gott,  im  Innersten!.. . Du  brauchst  dich  nidit  zu  verteidigen. 
Solang  idi  didi  liebe,  glaube  idi  dir  jedes  Wort,  bevor  du  es  aus- 
gesprodien  hast,  und  finde  zu  deinen  Grunden  nodi  hundert  andre, 
die  didi  freisprechen.  Aber  idi  muB  gestehen,  es  ist  mir  jammerlich 
zumute  dabei ...  Ich  erinnere  midi,  wie  idi  einmal  nach  einer  solchen 
traurigen  Entdedcung  allem  aus  der  Stadt  nach  Hause  fuhr.  Beim 
Festungswall,  vor  der  Stadt,  wo  die  StraBe  steil  hinaufgeht,  las  ich 
auf  einer  Tafel  die  Insdirift:  »Schonet  die  Tierec.  Idi  wurde  von 


Rene  SSidiefe  • Hans  an  SSnafenfoS 


17 


Ruhrung,  von  Dankbarkeit  uberschwemmt.  Ich  hatte  die  Inschrift  auf 
midi  bezogen. 

Hans:  Ich  bitte  didi,  hor'  auf! 

Klar:  Aber,  mein  Hans,  das  1st  eine  sdidne  Erinnerung.  Es  tut 
mandimal  so  gut,  Mitleid  mit  sidi  selbst  zu  haben.  Man  ist  schon 
halb  getrSstet  und  liebt  doppelt.  Ohne  diese  schmerzhaften  Zwischen- 
falle  ware  meine  Liebe  zu  dir,  zu  unsem  Kindem,  zu  Gott  und  der 
Welt  nie  so  stark  geworden.  Wenn  ich  dich  nur  behalte! 

Hans:  Ja,  Klar,  ja  — <Es  klopfi  an . . . sdirrit) : Was  gibt's? 


SIEBENTER  AUFTRITT 

Hans.  Kl3r.  Die  Amme. 

Amme:  Madam,  der  Charles  will  nidit  schlafen.  Er  sagt,  die  Ma- 
dam wurd'  ihm  noch  eine  Antwort  vom  Herrn  bringen, 

Klar:  Das  arme  Kerldien. 

Hans:  Idi  komme  mit.  <Erhebt  sicb.  Da  er  son  krankes  Brin  vorsicbtig  aufsetzt) : 

Klar:  Tut  weh? 

Hans:  Kaum.  (Alle  drei  ab.)  Die  Bflhne  bleibt  einen  Augenblidc  leer. 


ACHTER  AUFTRITT 


Starkfufl.  Dimpfel.  Abb£  Schmitt.  Hintcrdrrin  Hopla  mit  groBem  Weinkrug, 
den  er  auf  den  Tisdi  stellt.  Gldch  darauf  bringt  die  Amme  ein  Tablett  mit  Gflsern, 
Eigarrenkiste , Pfeifen  und  einer  brennenden  Kerze,  das  sie  auf  den  Tisdi  steilt 

und  abriumt. 


Starkfufl:  Scheint,  es  kann  wieder  losgehn. 

Schmitt:  Der  Kerl  hat  gute  Knodien. 

Starkfufl:  Setz'  didi  da  hin,  Nachteule.  Ich  modite  heute  einmai 
liegen. 

Schmitt:  Als  ob  du  nidit  immer  lagst! 

Dimpfel  <zu Hopla):  Euer  Patron  hinkt,  dafl  es  eine  Pracht  ist. 
Starkfufl:  Ich  bin  audi  der  einzige  von  eudi,  o Mensdienseele, 
der  das  Redit  hat,  abends  mude  zu  sein. 

Hopla:  Ja,  er  madit's  gut,  (Amme  ab.) 


Rene  SSidiefe  • Hans  im  SSnafenfodi 


NEUNTER  AUFTRITT 


Dieselben  ohne  die  Amine. 


Dlmpfel:  Was  ist  das  fur  eine  Mamsell,  die  kenn  ich  nidit. 
Hopia:  Die  gibt  die  Milch  fur  den  Kieinsten. 

Dimpfel:  Recht  so. 

Starkfufi:  Die  Dynastie  Sthnakenloch  festigt  si<h  zusehends. 
Hopia:  Was  meint  der  Herr  Leutnant? 

Starkfufi:  Die  Familie  gedeiht. 

Hopia:  Ho!  Daran  fehlt's  nidit  <Abgehend>  G'sundheit,  die  Herren! 
Alle:  G'sundheit 


ZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Ohne  Hopia. 

Starkfufi:  Komisdie  Franzosen  sind  hier  eingetroffen. 

Dimpfel:  Es  sind  halt  Welsdie. 

Starkfufi:  Wohnen  sie  hier? 

Schmitt:  Druben  bei  der  Grafin  Sulz. 

Starkfufi:  Pariser? 

Schmitt:  Alle  Franzosen,  die  du  im  Ausland  triffst,  sind  Pariser. 
Dimpfel:  Wichtige  Leute!  Einer  war  zweimal  Minister,  die  andern 
werden's  nodi. 


ELFTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hans. 

Hans  <ist  unterdessen  eingetreten):  Dimpfel,  dafi  ich's  nidit  vergesse, 
dort  liegt  ein  Stofi  illustrierter  Zeitschriften  far  deine  Pennaler. 

Dimpfel:  Recht  so. 

Starkfufi:  Was  madist  du  mit  den  Bilderchen? 

Dimpfel:  Ich  sdineide  sie  aus,  stecke  sie  in  einen  Wediselrahmen 
und  hange  sie  an  die  Tafel. 

Starkfufi  (begreift  nicbt). 

Dimpfel:  Ei,  du  Simpel,  ich  illustriere  halt  die  Schmoker,  in  denen 
ich  mit  den  armen  Jungens  Holzwurm  spiele.  »Es  war  ein  schoner 
Sommerabend,«  da  hang  idi  ihnen  einen  scfaonen  Sommerabend  hin. 
*Thalatta!  Thalattalc  Ein  Meerbildchen, 

Starkfufi:  Lustige  Sadie. 


Rene  SSidiefe  • Hans  im  S<£na£enfo<6  19 

ft****************************************************************************************************™************************************** 

Dimpfel:  Darauf  kommt's  an.  <Sdiweigen.> 

Hans:  Da  sitzen  wir  wieder. 

Starkfufi:  Ich  habe  es  erlebt. 

Hans:  Nein? 

Schmitt:  Gerade  wollte  ich  davon  anfangen. 

Starkfufi:  Du? 

Schmitt:  Erzahlt  nur. 

Starkfufi:  Heute  in  aller  Herrgottsfruh  kommt  eincr  von  der 
Wache  und  bringt  mir  eine  Visitenkarte  ans  Bett.  Wart  mal  <ho!t 
die  Karte  heraus)  Madame  Andree  Muller,  nee  Avril. 

Hans:  Diesseits  bekannt,  wie  unser  Kreisdirektor  schreibt.  Meine 
eigene  Tante. 

Starkfufi:  Wie  sie  aussahe,  fragte  ich.  Der  Musko:  so  grofie 
Augen!  »Scheen,  Herr  Leitnant.  Aber  sie  kann  schlecht  Deitsch.* 
Der  Herr  Leutnant  sei  dienstlich  verhindert,  was  sie  denn  wiinsche? 
Der  Musko  lauft  hin  und  her,  schliefilich  stellt  sich  heraus,  sie  sei 
die  Schwagerin  der  Madame  Boulanger,  ihr  Herr  Gemahl  sei  der 
Abgeordnete Muller,  und  sie  wolle  sich  einmal  ein  deutschesFort  ansehn. 

Dimpfel:  Gut,  gut. 

Hans:  Daran  bin  ich  schuld.  Wie  ich  neulich  mit  ihr  an  deiner 
Hohle  vorbei  kam,  schielte  sie  wie  verhext  auf  die  Kaminchen  und 
meinte:  eine  deutsche  Festungskanone  miisse  etwas  Furditbares  sein. 
Ich  gab  ihr  den  Rat,  sich  an  den  Lieutenant  Commandant  Starkfufi 
zu  wenden. 

Starkfufi:  Du  hattest  Starkfufi  sagen  k5nnen,  aber  Lieutenant 
Commandant  klingt  gut. 

Hans:  1st  auch  ein  militarisdier  Grad,  den  ich  dir  zu  Ehren  er» 
funden  habe.  Und  was  hast  du  mit  der  Dame  gemacht? 

Starkfufi:  Was  ich  mit  ihr  gemacht  habe?  Wie  der  alte  Musko 
so  hin  und  her  lief,  war  sie  ihm  immer  ein  bifichen  nachgeriidct,  ganz 
sachte  am  Posten  vorbei,  der  ihren  grofien  Federhut  bewunderte, 
und  auf  einmal  kam  der  Musko  und  sagte  grinsend:  »Herr  Leit- 
nant, sie  steht  schon  vor  der  Tiir«.  Darauf  habe  ich  die  Wache 
antreten  und  das  Seitengewehr  aufpflanzen  lassen.  Die  Madam 
wurde  in  die  Mitte  genommen  und  hier  beim  Bfirgermeister  ab- 

geliefert.  <Dimpfei  stofit  ein  Lachen  aus,  das  an  das  Krahen  eines  Hahnes  erinnert.) 


20 


Ren/  SSickefe  • Hans  im  S Snake nfcxk 


Schmitt:  Von  dort  kam  sie  zu  mir  und  kreischte,  die  Deutschen 
hatten  sie  toten  wollen. 

StarkfuB:  Ich  hoffe,  du  hast  ihr  den  geistlichen  Beistand  nicht 
versagt? 

Hans:  Das  gibt  einen  politischen  Zwischenfall. 

Dimpfel:  Was!  »Politischer  Zwischenfall.  c Krieg  gibt's! 

StarkfuB:  Im  Gegenteil.  Am  Nachmittag  bekam  ich  von  der 
Grafin  Snlz  eine  Einladung  zu  elnem  »intimen  Fest«. 

Dimpfel:  Da  gehn  wir  alle  hin. 

StarkfuB:  Der  Mann  Gottes  auch? 

Schmitt:  Als  SchioBkapIan  — ■? 

StarkfuB:  Richtig,  er  ist  SchioBkapIan.  Was  es  hier  alfes  gibt! 

Hans:  Gelt,  das  flattest  du  dir  in  deiner  pommersdien  Jugend 
nicht  traumen  (assen,  dafi  du  noch  einmal  beim  franzosischen  Uradel 
zu  Gast  warst? 

Dimpfel:  Trink,  du  Schwab.  Der  Uradel  soli  leben! 

Hans:  Dabei  will  er  immer  in  die  Kolonien,  weil  es  ihm  hier 
zu  langweilig  ist. 

StarkfuB:  Ihr  habt  gut  reden.  Ihr  habt  nicht  nur  einen  Beruf, 
ihr  fibt  ihn  auch  aus.  Was  wfirdet  ihr  sagen,  wenn,  nach  ewigen 
Vorbereitungen:  du  nie  eine  Messe  lesen,  du  nie  auf  deiner  Mah- 
maschine  sitzen,  du  nie  einem  armen  Jungen  die  unregelmaBigen 
Verben  einblauen  durftest?  Ich  hab  Kriegmachen  gelernt  und  vertrodle 
die  besten  Jahre  damit,  Rekruten  zu  drillen.  — Wenn's  hoch  geht, 
verteidige  ich  die  Festung  StraBburg  gegen  einen  verrudct  gewordenen 
Federhut.  Ist  das  ein  Leben? 

Hans:  Deine  Vergleiche  sind  falsch.  Wir  machen  alle  nicht  Ernst. 
Der  bereitet  die  Menschen  auf  den  Himmel,  der  auf  das  Examen, 
und  du  bereitest  sie  auf  den  Krieg  vor. 

StarkfuB:  Und  was  machst  du? 

Hans:  Ich  sorge  dafur,  daB  ihr  zu  essen  kriegt  und  hoffe,  daB 
ihr  mir  dafur  nicht  die  Scheune  anztindet  und  die  Felder  zertrampelL 
Der  Krieg  und  der  Bauer,  die  vertragen  sich  nicht, 

StarkfuB:  Tauscfa'  du  mal  mit  mir.  Setz'  du  dich  in  mein  Lehm» 
loch,  und  ich  lasse  mi<h  hier  nieder.  <Es  klopft.) 

Hans:  Ja.  — Wie  ist's?  Wir  reiten  also  in  die  Stadt? 


R»hJ  SS/JwCt  • Hans  im  St£naH*n(<x6 


StarkfuB:  Gott  sei  Dank.  let  wagte  nidit  zu  fragen,  wegen  deines 
kranken  Knochens. 

Hans:  Ich  hatte  dir  doch  gesagt,  Samstag  reiten  wir  wieder. 


ZWOLFTER  AUFTRITT 


Dieselben.  Hopla. 


<Hopla  ko 


Hill 


t herein,  sieht  in  den  Krug.) 


Hopla:  Idi  glaub',  die  Diskussion  ist  heute  nidit  gerade  hitzig. 

<Sd>enkt  den  Rest  ein.) 

Hans  <zu  Hopla):  Mach'  die  Gaule  fertig.  Lauft  der  Sdiimtnel 
wieder? 

Hopla:  Naturlich  lauft  er  . . . Soil  idi  jetzt  nodi  einen  bringen? 
Dimpfel:  Hopla,  Ihr  werdet  alt.  Seit  wann  fragt  Ihr,  ob  Ihr 
nodi  einen  bringen  sollt? 

Hans:  Muskateller  vom  kl einen  Fa6. 

StarkfuB:  Ah! 

Hans:  Pfeif,  wenn  du  fertig  bist. 

Hopla:  Verstanden.  <Ab.) 


DREIZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Ohnc  Hopla. 

Sdimitt:  Konnten  wir  nidit  fahren,  statt  zu  reiten? 

Hans:  Du  hast  wohl  Angst  fur  deine  Soutane?  Idi  sag'  dir  sdion 
immer,  reit'  im  Damensattel. 

StarkfuB:  Der  Mann  Gottes  gehort  uberhaupt  nidit  auf  ein 
streitbares  RoB. 

Sdimitt:  Wir  haben  auf  streitbaren  Rossen  gesessen,  als  deine 
Erzvater  noch  am  Boden  herumkroefaen  — wenn  idi  so  sagen  darf. 
Du  verwediselst  midi  leider  mit  den  sanlten  Mannem,  die  alle  Sonn* 
tage  ihre  Sdimalzruten  auslegen.  Weder  vertreibe  idi  Traktatdien, 
nodi  wende  idi  midi  mit  Volksreden  an  den  lieben  Gott,  Idi  bin 
kein  Pfaff,  sondern  ein  Gottesstreiter.  Und  wenn  nicht  im  Rekruten- 
drillen,  so  konnte  ich  es  doch  im  Kampfen  jederzeit  mit  dir  auf* 
nehmen. 

StarkfuB  <sdilagt  auf  den  Tisch):  Bum. 

Sdimitt  <ebenso) : Bum. 


22  Rent  S&i&tft  • Hans  (m  St£naienfo(£ 


Dimpfei:  Redit  so. 

Schmitt:  Wir  haben  euch  aus  dem  Dreck  gezogen  und  zu  dem 
gemacht,  was  ihr  seid.  Das  Kreuz  war  ein  Schwert,  und  wir  ver- 
standen,  das  Schwert  zu  fuhren. 

StarkfuB:  Dann,  als  der  Herr  Lehrer  zu  fell  geworden  war, 
liefen  die  unartigen  Kinder  ihm  davon.  Seitdem  ist  viel  Wasser 
den  Rhein  hinabgewirbelt,  du  Romiing. 

Dimpfei:  Was  ihr  da  treibt,  heifit  bei  uns  in  der  Schule  kon- 
fessionelle  Verhetzung. 

Hans:  Was  die  da  treiben,  Dimpfei,  ist  ein  Kampf  auf  Tod  und 
Leben. 

Dimpfei:  Vorher  haben  sie  schon  national  gekampft,  jetzt  fehlt 
noch  eine  soziale  Rempelei,  und  die  heilige  Dreifaltigkeit  des  mo* 
dernen  Kriegsgottes  ist  fertig. 

Schmitt:  Nidit  so  (aut.  Der  Olzweig  fallt  dir  aus  dem  Schnabel. 

Dimpfei:  Die  Jungens  mussen  Soldaten  spielen.  Der  eine  sdiwingt 
den  Sabel,  der  andre  den  Weihwedel  und  der  dritte  den  Arbeits* 
vertrag,  und  alle  stampfen  mit  den  FuBen  und  schreien:  »Krieg! 
Krieg ! « Zugleich  bestreitet  jeder  dem  andern  das  Redit,  mit  seiner 
Waffe  zu  kampfen. 

StarkfuB:  Wenn  aber  Ernst  gemacht  wird  — 

Hans:  scheint  es  nur  im  ersten  Augenblick,  als  ob  ihr  die  Star' 
keren  waret.  In  Wirklichkeit  behaltet  ihr  nie  das  letzte  Wort 

VIERZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hopla. 

<Hopla  ist  her cingckommcn , nachdem  cr  vergeblidi  geklopft  hat,  stcllt  den  Krug 

hin  und  geht  wieder.) 

Hopla:  Jetzt  aber  dampft's. 

FQNFZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben  ohne  Hopla. 

Dimpfei:  Kommt  mir  nidit  mit  Beispielen  aus  der  Weltgesdiidite. 
Sonst  nenne  idi  fur  jedes,  das  ihr  anfuhrt,  ein  anderes,  so  das 
Gegenteil  beweist. 

Hans:  Dimpfei,  trink  und  halt  den  Mund. 


Rene  S <£/<£* fe  * Hans  im  S<6na6enfo<6  23 


Dimpfel  <einscbenkend> : Verschont  mich  mit  euren  Problemen.  Kin- 
derballone,  die  man  mit  einem  Nadelsticb  entleeren  kann.  Und  wenn 
ihr  mir  sagt,  dafi  neunundneunzig  Prozent  der  Mensdien  damit 
durdis  Leben  spaziert,  so  antworte  icb,  daB  die  Mensdiheit  eben 
die  Kinderschuhe  nodi  nicbt  abgetreten  hat.  Idi  will  meine  Ruhe, 
damit  idi  merke,  daB  ich  auf  der  Erde  bin.  So  etwas  Schones,  wie 
die  Erde  ist,  hat  sidi  nodi  keiner  von  euch  VierfoBem  ausgedadit. 
Und  wenn's  ans  Sterben  geht,  sag'  ich  brav  »Danke  sdi5n<  und 
nehme  midi,  so  gut  es  geht,  zusammen,  bis  es  vorbei  ist.  — So, 
jetzt  konnt  ihr  weiter  reden.  Idi  sage  kein  Wort  mehr. 

Sdimitt:  Du  bist  ein  anstandiger  Heide.  Mit  deinem  »Danke 
sdionc  fahrst  du  in  den  Himmel.  (Ablehnende  Bcwegung  Dimpfels.) 

Starkfufi:  Jeder  fahrt  in  seinen  Himmel. 

Sdimitt:  Nicht  wahr,  du  Pharisaer?  Fur  didh  ist  die  Religion 
nidit  einmal  die  Angelegenheit  eines  korrekten  Kaufmannes  — wie 
bei  den  Besten  von  euch  — sondern  nur  eine  Frage  der  innem 
und  aufiern  Bequemlidikeit. 

StarkfuB:  Wir  sind  Abendlander.  Ihr  seid  orientalisdie  Kolo- 
nisten  in  Europa. 

Sdimitt:  Dieses  Europa  haben  wir  gesdiaffen,  aus  den  Trum- 
mem  des  romisdien  Reidis  aufgebaut.  Stuck  urn  Stuck,  wir  haben 
es  ein  dutzendmal  vor  dem  orientalisdien  Ansturm  gerettet/  solange 
wir  herrscbten,  gab  es  ein  Europa  und  seitdem  nidit  mehr. 

StarkfuB:  Zugegeben,  wir  haben  es  zerrissen.  Jede  Befireiung 
zerreiBt  alte  Bande.  Wir  sind  frei,  ihr  aber  wollt  nidit  aufhoren  zu 
herrsdien. 

Sdimitt:  Wir  durfen  nicht,  solange  wir  an  uns  glauben. 

StarkfuB:  Und  wir  leiden's  nicht,  solange  einer  von  uns  atmet. 

Hans:  Wann  wird  dieser  Kampf  entschieden  sein! 

StarkfuB:  Wenn  die  Welt  den  Germanen  gehort.  <Man  hort  einen 

PfifF.  Sic  brechen  auf.) 

Schmitt:  Wenn  der  Papst  wieder  auf  den  Felsen  steigt  und  zum 
Meere  spridit. 

Hans:  Los!  Geht  voran.  Aber  macht  leise. 

Dimpfel:  Ich  mochte  gern  wissen,  warum  der  Mann  Gottes  nidit 
reiten  wollte. 


24  Ren/  S<£/dteft  • Hans  im  SSnafenfoS 


SAmitt:  Weil  der  BisAof  miA  hat  fragen  lassen,  was  ich  naAts 
durA  die  Dorfer  zu  galoppieren  hatte.  Und  was  iA  in  der  Stadt 
suAte. 

StarkfuB:  Siehst  du!  Gib  aAt,  es  dauert  niAt  lange,  da  sind 
wir  eine  Teufelslegende  ge worden. 

Hans:  SAnell.  — - IA  steAe  Geld  ein  und  IdsAe  das  LiAt. 
MaAt  (eise. 

<Dimpfel,  Schmitt,  StarkfuB  ab.> 

SECHZEHNTER  AUFTRITT 

Hans.  K13r. 

(Die  BOhne  bieibt  einen  Augenblick  leer,  wahrend  Hans  die  Sdireibtiscbsdmblade 

offinet.) 

Klar  (in  dnem  weiBen  SAlafrock):  Verzeih,  Hans,  iA  habe  dir  ver- 
spreAen  mussen,  diA  heute  niAt  fortzulassen. 

Hans:  MaA',  bitte,  wenigstens  Ae  Ture  zu.  Das  Kleinste  sAreit 

wieder  wie  besessen.  (K!3r  scblieBt  die  Tar.> 

Klar:  Du  willst  niAt  mehr,  dafi  iA  diA  zuruAhalte? 

Hans:  Hast  du  noA  niAt  gesAlafen? 

Klar:  I A habe  im  Bett  aufgesessen  und  gewartet,  bis  iA  ein- 
greifen  konnte,  wie  du  sagtest. 

Hans:  I A habe  dir  niAt  gesagt,  daB  du  waAen  solltest. 

Klar:  Im  SAlaf  hatte  iA  diA  niAt  gut  aufhalten  konnen. 

Hans:  Du  hast  SAlaf  notig,  Klar,  du  muBt  viel  mehr  sAlafen. 
IA  maAe  mir  Sorgen  urn  deine  Gesundheit. 

Klar:  Sehr  fireundliA  — du  bleibst  niAt? 

Hans:  Wo? 

Klar:  Bei  mir? 

Hans:  UnmogliA,  Ae  andern  erwarten  mi  A. 

Klar:  Ware  dein  Fufl*niAt  ein  Vorwand  — 

Hans:  Klar,  du  weiBt  do  A,  daB  es  verabredet  war. 

Klar:  Du  hast  ReAt  . . . Was  maAt  ihr  in  der  Stadt? 

Hans:  Zum  zehntenmal:  Dimpfel  und  iA  gehn  ins  Theater, 
StarkfuB  in  sein  Kasino  und  der  Abb6  zu  seiner  Mama.  Das  heiBt, 
da  morgen  Sonntag  ist,  wird  er  wohl  gleiA  zuriickreiten.  Dem  kommt 
es  nur  auf  die  Bewegung  an. 


Rene  Sc6idufe  • Hans  im  SSnakenfoS 


25 

Klar:  Wei6t  du,  was  im  Theater  gespielt  wird? 

Hans:  Wenn  idi's  wufite,  ging  kh  wahrscheinlich  nicht  hin. 

Klar:  Ich  weifi  es.  Aida 
Hans:  Wie  kannst  du  das  wissen? 

Klar:  Aus  der  Zeitung. 

Hans:  Es  wird  ein  Druckfehler  sein.  Aufierdem  kommen  wir 
nidit  vor  dem  letzten  Akt  hin.  Gute  Nacht,  mein  Herz,  schlaf  gut 
und  schlaf  lang. 

Klar:  Hans,  bleih  hei  mir! 

Hans:  Sei  vemunftig.  Ich  habe  es  StarkfuB  versprodien.  (Kafit 
der  Reglosen  die  Stim.)  Ich  wurde  midi  lacherlich  machen,  wenn  ich  jetzt 

plotzlich  — (Offnet  die  Tflr.  Kindergesdirei.)  Hor  nur!  <Ab.> 

KJir  lojcht  das  Lidit  and  tritt  zum  offenen  Fenster.  Pferdegetrampel.  Vorhang. 


26  Rene  5 St  die fe  • Hans  im  SSna/tenfoS 


r r r:  /f;  r • r ; ^ ^ , p r - ; tJ  • ; ; \\  . . 4 . i ; ; . . ' . 4 / 


ZWEITER  AUFZUG 

Abhang  auf  der  VogesenhShe.  Mittags.  Nadi  einem  Picknick. 

ERSTER  AUFTRITT 

Cavrel.  Simon.  Mfilier.  Kaufmann,  ein  alter  franzdsbeber  General.  GrSfin 

Sulz.  Hans.  Louise. 

Simon  <sidi  umdrehend):  Wo  steckt  denn  unser  bester  Muller? 

(Keine  Antwort.  Endlidi  eine  Stimme) : »Er  fischt  Forellen,  Herr  Minister.* 
<Nidits  rflhrt  skh.  Pause.) 

Grafin  Sulz  <sidi  in  ihrem  Feldsessel  aufriditend,  erst  (eise,  dann  tauter): 
SdiambediB ! SdiambediB!  (Was  Jean-Baptiste  bedeutet.) 

Eine  Stimme:  Pst!  (Grafin  legt  sidi  acbselzucfcend  zuruck.) 

Hans  (vom):  Scblafen  Sie? 

Louise:  Nein. 

Hans:  Die  Grafin  hat  es  befohlen. 

Louise:  Sie  aber  wadit  daruber,  dal)  das  Program m eingehalten 
wird.  Erst  haben  wir  die  Landschaft  genossen,  dann  den  kalten 
Braten  und  die  Ganseleberpastete,  und  jetzt  haben  wir  den  ge- 
sunden  Mittagssdilaf  auf  der  Vogesenhohe.  Heute  abend  folgt  das 
Fest  im  SdiloB.  Sie  nennt  das:  *Das  ganze  ElsaB  an  einem  Tag*. 
Hans:  Die  Grafin  hat  von  Cook  gelernt. 

Louise:  Brauchte  sie  nidit.  Sie  ist  am  Hof  aufgewadisen. 

Hans:  So  daB  Cooks  Verdienst  nur  darin  bestande,  burgerlidie 
Rentner  auf  einen  furstlichen  LebensfuB  zu  stellen. 

Louise:  Audi  die  Reisebureaus  sind  eine  Folge  der  Revolution. 
Hans:  Wollen  Sie  midi  nidit  mit  Ihrer  Hand  spielen  lassen? 
Louise:  Ich  braudie  sie,  um  daruber  nadizudenken,  warum  Sie 
Ihre  Frau  nidit  mitgenommen  haben. 

Hans:  Meine  Frau  hat  ihren  eigenen  Willen. 

Louise:  Abgesehen  da  von? 

Hans:  Es  ist  ihr  zu  kalt  bei  Ihnen.  Sie  spridit  naturlidi  nidit  so 
gut  franzosisdi  wie  die  andem  Herrsdiaften. 

Louise:  Sie  spridit  ausgezeidinet  fur  eine  Auslanderin. 

Hans:  Aber  niemand  von  Ihnen  ist  taktvoll  genug,  ihr  die  »Aus* 
landerin*  abzunehmen  und  deutsdi  zu  spredien.  Idi  kann  ihr  nur 


Rene  5 <£ idle  ft  • Hans  im  5<£nakenfo<£  27 


w 


recfat  geben,  wenn  sie  unter  solchen  Umstanden  vorzieht,  zu  Hause 
zu  bleiben, 

Louise:  Wir  spredien  gar  nicbt  oder  schlecht  deutsch. 

Hans:  Aber  Sie  wissen  alle,  dafi  ein  audi  nur  fremd  gefarbtes 
Franzosisch  in  Ihren  Augen  entstellt,  wahrend  Ihr  unbeholfenes 
Deutsch  Ihren  Reiz  in  den  Augen  eines  jeden  Deutschen  erhdht. 

Louise:  Ja,  das  liegt  wohl  an  der  Sprache. 

Hans:  An  der  Sprache  und  an  der  wahrhaften  GroBmut  des 
Deutschen,  der  gern  ein  Auge  zudruckt,  wenn  er  sich  mit  dem 
andem  an  eurer  funkelnden  Eitelkeit  entziicken  kann. 

Louise:  Da  wir  nie  so  schon  sind,  wie  wenn  wir  tanzen,  spielt 
ihr  uns  moglichst  oft  mit  Kruppschen  Kanonen  auf. 

Hans:  *Ihr«? 

Louise:  Verzeihen  Sie,  Hans,  Sie  wissen,  ich  bin  alles  eher,  als 
patriotisch.  Aber  ich  kann  diese  Redensarten  vom  gutmutigen,  wohl- 
gesinnten  Baren  und  dem  Hahn  mit  dem  etwas  wackeligen,  aber 

V 

hubschen  Kamm  nicht  vertragen,  Ich  kenne  sie  bis  zum  GberdruB 
von  unsern  deutsdien  Freunden  in  Paris.  Deutsche  Liebenswurdig- 
keiten  enden  immer  mit  einer  Kanonade. 

Hans:  Der  Schein  spricht  fur  Sie. 

Louise:  Nur  der  Schein? 

Hans  <gequalt>:  Ich  weiB  nicht. 

Grafin:  Meine  Damen  und  Herrn,  da  hier  doch  gesprochen  wird, 
bitte  ich  um  die  Erlaubnis,  meinen  Diener  zu  rufen.  Schambedifi! 

General  <auffahrend> : Ja? 

Grafin:  Verzeihen  Sie  vielmals,  Herr  General,  daB  ich  Sie  ge- 
stort  habe,  einen  Augenblidc,  und  wir  kdnnen  fortfahren.  (SchambediS 
ist  ersdiienen) : Schambedifi,  fuhren  Sie  bitte  die  Pferde  auf  die  andere 
Seite.  Sie  sollten  von  selbst  merken,  woher  der  Wind  kommt. 

Schambedifi:  Jawohl,  Frau  Grafin. 

Grafin  (kokette  Verbeugung):  Mein  verehrter  Herr  General  — 

General  <versdb!afen>:  Danke,  Madame.  <Legt  sidi  hin.) 

Hans:  Sagten  Sie  nicht  soeben,  dafi  Sie  mich  liebten? 

Louise:  Nein. 

Hans:  Sind  Sie  sicher? 

Louise:  Ganz  sicher.  Denn  ich  bin  eine  Frau. 


3 voi.  m/i 


28  Rett/  S&ic&efe  • Hans  im  SdnatenfoS 


Hans:  Wenn  ich  daran  zweifelte  — 

Louise:  Eine  Frau  ist  wie  das  Echo,  das  nur  antwortet,  wenn 
gerufen  wird, 

Hans:  Dieses  Spiel  hat  mich  nie  gereizt. 

Louise:  Sie  sind  keck,  aber  ich  sage  trotzdem:  »Schade«. 

Hans:  Sie  geben  zu,  dad  Sie  sich  bei  Formalitaten  aufhalten. 
Louise:  Ich  gebe  zu,  dad  ich  seit  vierzehn  Tagen  auf  Ihre  Liebes- 

erklarung  warte. 

Hans:  Id)  warte  scfaon  etwas  1 anger  auf  die  Gelegenheit,  die  eine 
solcbe  Besudisanzeige  uberflussig  machen  wurde. 

Louise:  Habe  id)  auf  Sie  den  Elndruck  gemacht,  als  ob  id)  mid) 
fiberrumpeln  liede  — Sie  Barbar? 

Hans:  Id)  steige  nie  auf  ein  Pferd,  ohne  mich  vorher  flberzeugt 
zu  haben,  dad  das  Sattelzeug  in  Ordnung  ist. 

Louise:  Was  sind  das  fdr  Vergleiche?  Sind  Sie  Kavalierist? 
Hans:  Id)  (iebe  Sie. 

Louise:  Bitte,  nod>  einmal. 

Hans:  Id)  Hebe  Sie.  — 

Louise:  Der  Ton  gefallt  mir  nicht. 

Hans:  Louise,  Sie  sind  eine  Frau,  aber  Sie  midbrauchen  Ihren 
Vorteil.  Das  verrat  keinen  guten  Geschmack. 

Louise:  Der  Bengel  spricht  von  Geschmack! 

Hans:  Sie  machen  sich  eine  Oberlegenheit  vor,  die  Sie  nicht  oder 
nicht  mehr  besitzen. 

Louise  <raft>:  Herr  General,  Sie  schnarchen  wie  ein  Morser. 
Hans:  Sie  mussen  noth  einmal  um  Hilfe  rufen ! <Al(gemdnes  ErwaAen.) 
Louise  (wahrend  sie  aufsteht,  auf  den  Knien):  Mein  Freund,  vielleicht 

gelingt  es  Ihnen,  mid)  zu  nehmen.  Aber  wenn  Sie  mich  haben,  dann 
behalte  id)  Sie. 

Hans:  Welch  eine  Drohung! 

Louise:  Jetzt  gehn  Sie  vielleicht  einmal  dorthin.  — Id)  mochte 
namlich,  dad  mein  Mann  und  Sie  einander  ein  wenig  kennten  . . Sie 
meinen  doch  auch:  wir  wollen  mit  offenen  Karten  spielen? 

Hans:  Zu  zweit. 

Louise:  Solange  wir  beiden  allein  spielen  — <Sie  steigen  die  Bflhne 
hinauf,  der  eine  reAts,  der  andere  links,  Louise  steht  vor  Ihrem  Mann.)  Cavrel, 


29 


Rene  SdSidlefe  • Hans  im  S<£nafienfo& 

Herr  Hans  Boulanger  modite  sich  mit  dir  uber  die  letzten  Dinge 
unterhalten. 

Cavrel  (massiv,  afxr  gepflegt) : Gem,  gem,  mein  Herr.  Rucken  wir 
zusammen.  Womit  wollen  wir  beginnen? 

Graf  in:  Die  ewigen  Dinge  drehen  sidi  alle  um  das  Elsafl. 

Cavrel  (mit  natflrlidber  Beredsamkeit,  wahrer  Empfindung):  Selbstver» 

standlich.  Das  wunderbare  Land.  Ein  Garten  — bis  an  den  Rhein! 
Wie  deutlich  das  Munster  sich  vom  Himmel  abhebt! 

Grafin:  Habe  ich  Ihnen  scfaon  gesagt?  Dies  ist  die  historisdie 
Stelle,  wo  Ludwig  XIV.  ausrief:  *Der  schone  Garten !« 

Cavrel:  Ein  uberwaltigender  Anblidc:  die  tausend  und  tausend 
Ackerfurchen  nebeneinander,  die  weiten  Flachen  jungen  Griins,  wie 
treibende  Inseln  auf  dem  leicht  bewegten  Meer  — 

Simon  <s<hlank,  mit  Absidit  na<h(assig>:  Warum  sollen  die  Inseln 
treiben?  tlbrigens  ruhrt  sidi  das  Meer  aud»  nicht. 

Hans:  Der  Sumpf  unserer  lieben  Frau.  Es  geht  uns  gut. 

Grafin:  Herr  Minister,  man  sprkbt  von  Sumpf.  Damit  kann  nur 
Ihre  Republik  gemeint  sein.  Verteidigen  sie  sich ! 

Simon:  Wenn  Sie  erlauben,  Frau  Grafin,  das  nadiste  Mai. 

Cavrel:  Durfte  ich  Sie  bitten,  mein  Herr,  Ihren  interessanten 
Gedanken  auszufuhren? 

Hans:  Wir  stedten  alle  bis  an  den  Hals  in  Wohlleben.  Wir  sind 
das  komfortable  Wirtshaus  an  der  Volkerstrafie,  die  von  Italien 
zum  Nordmeer  fuhrt.  Teils  lassen  wir  drei  gerade  sein  und  den 
Teufel  in  der  Kirdie  predigen,  teils  plagen  uns  Fiebertraume, 
von  denen  wir  uns  dann  auch  in  wadien  Stunden  nidit  trennen 
wollen. 

General:  Wie  sagten  Sie,  ein  Sumpf?  Das  glorreidiste  Schladit- 
feld  der  Welt! 

Hans:  Hoffentlidi  nie  wieder.  Die  dieses  Sthlachtfeld  bewohnen, 
den  ken  anders  daruber. 

Cavrel:  Ich  habe  mir  oft  gesagt:  Wir  begehen  ein  Verbrechen, 
da8  wir  die  Elsasser  nidit  zur  Ruhe  kommen  lassen.  Nun  werden 
sie  sdion  weifl  Gott  wie  lang  hin-  und  hergezerrt  und  miissen  sich 
jeden  Tag  von  neuem  fragen,  wohin  sie  gehoren  — 

General:  Die  wahren  Elsasser  wissen,  daft  sie  ihre  Zukunft  zu 


Rene  SS/dtefe  • Hans  im  5c6na£enfoa6 


30 

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suchen  haben,  wo  ihre  Vergangenheit  war:  dort.  Wir  werden  ihnen 
helfen,  wenn  die  Stunde  schlagt. 

Hans:  Dann  bin  ich  kein  wahrer  Els§sser. 

Louise:  Herr  Genera!,  finden  Sie  nicht  seibst,  daR  die  Hilfe,  die 
Sie  Ihren  Landsleuten  brachten,  fur  sie  vielleicht  etwas  spat  kame? 

Cavrel:  Verzeihen  Sie  uns,  mein  Herr,  wir  sind  keine  eitlen 
Toren,  wenn  wir  auf  Ihre  Anhanglichkeit  so  vie!  Wert  legen.  Sie 
mussen  verstehen.  Mit  diesem  Land  hat  Frankreich  sein  Gleichge- 
widit  verloren.  Der  Suden  regiert  uns,  und  der  Suden  verdirbt  uns. 
Er  zieht  uns  zu  tief  hinunter  zwischen  Spanien  und  Italien.  Bei 
gleichen  Chancen  konnte  Italien  eines  Tages  vor  uns  durchs  Ziel 
gehn.  Ich  weiR  es.  Ich  stamme  aus  dem  Suden.  Wir  braudien  den 
Norden,  um  zu  bestehn  — 

Hans:  Spannen  Sie  einen  Menschen  mit  Armen  und  Beinen 
zwischen  zwei  Pferde,  jagen  Sie  die  Pferde  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung  davon,  und  Sie  haben  genau  das  erhabene  Schauspiei  der 
eisassischen  Treue. 

General:  Mein  Herr,  wir  Elsasser  — 

Hans:  Sagen  Sie  doch  bitte  nicht:  wir  Elsasser  . . Sie  haben  auf- 
gehort,  ein  Elsasser  zu  sein,  als  Sie  das  Land  verlieRen.  Ihre  Kinder 
wissen  vom  Elsafi  nicht  viel  mehr,  als  von  der  Schweiz.  Ihre  Lieb- 
habereien  machen  uns  das  Leben  schwer.  Horen  Sie  endlich  auf,  in 
unsem  geheimsten  Empfindungen  zu  wfihlen,  wie  ein  Sammler  in 
schonen  alten  Stoffen.  Denn  wir  lieben  Frankreich,  horen  Sie?,  wir 
lieben  Frankreich. 

Cavrel:  Ihre  Anhanglichkeit  — 

Hans:  1st  dumm  — unverzeihlich  dumm.  Aber  sie  besteht.  Seien 
Sie  zufrieden,  daR  wir  sie  Ihnen  umsonst  geben.  Denn  Sie,  Sie 
holen  uns  nie  zuruck. 

Simon:  Wenn  wir  fortfahren,  Kulissen  zu  schieben,  statt  unser 
Haus  fur  Angriff  und  Verteidigung  auszubauen.  — Wir  konnen 
uns  aber  andem. 

Cavrel:  Ich  vertraue  auf  die  Gerechtigkeit.  Deutschland  wird  uns 
eines  Tages  Elsafi-Lothringen  zurudcgeben.  Fur  den  Preis,  den  es 
wert  ist.  Unter  uns:  wir  wurden  jeden  Preis  bezahlen. 

Hans:  Deutschland  ElsaR-Lothringen  umtauschen?  Nie.  Siemufiten 


Rene  SSi<£efe  • Hans  an  S<£na6enfocb 


31 


es  schon  zurudcerobem . Kommt  aber  dieser  Krieg,  was  Gotr  ver- 
huten  moge,  so  erleben  Sie  eine  Katastrophe,  mit  der  verglichen 
Sedan  eine  unglucklidse  Manoverubung  war.  Glauben  Sie  mir  dodi, 
bitte,  ich  kenne  Deutschland,  und  ich  kenne  Frankreich:  dieses  Volk 
von  hier  bis  an  die  russische  Grenze,  Kopf  an  Kopf,  Hand  in  Hand 
ist  eine  einzige  Kriegsmaschine,  die  nur  mit  einem  Hebeldruck  in 
Gang  gesetzt  zu  werden  braucht.  Sie  ist  fertig,  nicht  ein  Schraub- 
dien,  das  da  fehlt,  vollkommen  bemannt  und  jeden  Augenblick  be- 
reit,  die  Arbeit  zu  beginnen. 

Cavrel:  Ich  bewundere  dieses  Volk!  Ja,  ich  kann  sagen,  dafl  ich 
es  liebe. 

Grafin:  Herr  Abgeordneter ! 

Cavrel:  Die  Deutschen  sind  ein  groBes  Volk,  und  ich  verehre 
die  GroBe,  wo  ich  sie  finde.  Wir  konnten  stolz  sein,  ihre  Freunde 
zu  heifien.  Und  wir  konnten  sie  braudien. 

Simon  <immer  ironisdi):  Ihre  Verehrung  fur  die  Grofie  ist  ein  Tribut, 
den  Sie  sich  selbst  zollen. 

Hans:  Die  Eigenschaften,  die  Sie  an  Napoleon  ruhmen,  die  hat 
gewifi  kein  lebender  Deutscher,  aber  Deutschland  als  Gesamtheit 
vereinigt  sie  alle  in  sich.  Das  klingt  Ihnen  vielleicht  lacherlich,  aber 
in  der  Zeit  der  Massenbewegungen  ist  auch  das  Genie  vielleicht  ein 
Kollektivbegriff  geworden  und  bedeutet  ganz  einfach  den  Gipfel  der 
Massenorganisation. 

Simon:  Mag  sein.  Aber,  nicht  wahr,  auch  Napoleon  wurde  nieder- 
gerungen. 

Hans:  Weil  er  ein  einzelner  Mensch  war.  Ware  das  ganze Frank* 
reich  ein  Napoleon  gewesen,  so  hatte  es  kein  Waterloo  erlebt  und 
hatte  erst  recht  nicht  auf  eine  einsame  Insel  geworfen  werden  konnen. 

Cavrel:  Ich  bin  vollkommen  Ihrer  Ansicht.  Aber  ich  glaube  auch 
an  das  Massengewissen.  Die  Volker  werden  sich  mit  ihren  wirt- 
schaftlichen  und  geistigen  Interessen  so  durchdringen,  werden  sich  so 
sehr  an  die  Zusammenarbeit  ihrer  verschiedenartigen  Krafte  gewohnen, 
dafi  sich  mit  der  Zeit  auch  das  Verstandnis  fur  die  gegenseitigen 
Lebensbedingungen  und  eine  Nachgiebigkeit  einstellen  muB,  wie  sie 
in  jeder  Familie  zu  finden  sind  — ■ 

Simon:  Lieber  Freund,  darf  ich  Sie  unterbrechen? 


32 


Rene  S<£idefe  • Hans  im  S<£na6enf<x£ 


Cavrel:  Bitte  schon,  lieber  Kollege. 

Louise:  Ganz  wie  in  der  Kammer! 

Simon:  Gotl  bewahre  uns  vor  dem  grauen  Ungeheuer  eines 
Massengenies. 

Hans:  Das  mag  Ihre  Sorge  sein. 

Grafin:  Es  bekummert  sich  zwar  niemand  um  mid),  aber  id)  er» 
klare  ungefragt,  dal)  id)  aud)  nidit  an  das  Massengenie  glaube. 

Louise:  Id)  aud)  nicht.  (Der  General  zuckt  nur  verSditiidi  die  Adiseln.) 

Hans:  Und  id)  — sehr  ungern.  Aber  es  scheint  halt  doth,  als 
ob  die  Weltgeschichte  sid)  um  dies  Phanomen  bereichern  wollte. 

Simon:  Es  lohnte  sid)  nid)t  mehr  zu  leben. 

Grafin:  Nid)t  wahr,  Herr  Minister?  Wo  blieben  die  Manner, 
die  sid)  aus  Federkielen  eine  Krone  drehn? 

Cavrel:  Die  braven  Burger  verloren  einfad)  die  Ideale.  Wen 
sollten  sie  verehren,  wenn  sie  plotzlich  alle  mit  zum  Genie  gehorten? 

Simon:  Sind  Sie  fertig?  Sie  spred)en  namlidh  immer,  als  ob  Sie 
eine  Rede  anfingen  — wenn  Sie  nicht  bereits  mitten  drin  sind.  Wissen 
Sie,  was  Ihr  Massengenie  ist?  Der  Einfall  eines  Kirchenvaters. 

Grafin:  Sie  Freidenker! 

Hans:  Wie,  wenn  der  Krieg  uberhaupt  eine  ungeniale  Angelegen- 
heit  ware,  eine  Mischung  von  Transportgesthalt  und  Indianerspiel, 
und  wir  die  Bedeutung  der  wirklid)  groBen  Feldherrn,  die  wir  als 
solche  verehren,  ganz  anderswo  suchen  muBten,  als  auf  ihren 
Schlachtfeldern  ? 

Louise:  Id)  bitte  Sie,  der  Genera!  ist  einem  Schlaganfall  nahe. 

Hans:  Es  sollte  nur  eine  Anregung  sein,  Herr  General,  id)  be- 
haupte  nitht,  daB  dem  so  sei. 

Simon:  Id)  habe  es  nicht  anders  aufgefaBt. 

Cavrel:  Gibt  es  etwas,  verehrter  Herr  Minister,  was  Sie  nicht 
nur  als  eine  Anregung  auffaBten? 

Simon:  Ja,  wenn  Sie  zum  Beispiel  jetzt  vorschliigen,  mir  hierher 
ein  Landhaus  zu  bauen,  damit  id)  bis  zu  meinem  Lebensende  von 
der  ideaien  Rauberei  unseres  Berufes  ausruhte.  Mehr  verlange  id)  nicht. 

Louise:  Sie  vergessen  die  ewige  Geliebte. 

Cavrel:  Er  vergiBt  vor  allem,  daB  er  keineswegs  ein  Landhau? 
brauchte,  um  Frankreich  mit  diesem  Piratenfirieden  zu  begludcen 


Rene  SSidiefe  • Hans  im  Sc£na6enf<x£ 


Grafin:  Darf  icfi  um  eine  Photographie  der  Dame  bitten? 

Simon:  Da  Sie  mir  vielleicht  behilflich  sein  konnen,  sie  zu  finden, 
gem.  Anstandige  Frau  — 

Grafin:  Das  hatfen  Sie  aus  verschiedenen  Grunden  nicht  zu  sagen 
brauchen,  unter  andem,  weil  wir  Ihre  Verderbtheit  kennen. 

Cavrel:  Mein  Freund,  Sie  konnen  ja  keine  Frau  lieben.  Sie 
lieben  die  Politik,  vie  wir  andem  nicht  wagen  wurden,  unsere 
Frauen  zu  lieben. 

Simon:  Nein,  mein  Freund,  mehr  und  weniger. 

Grafin:  Wenn  Sie  nicht  unterwegs  das  Genidc  brechen,  werden 
Sie  weit  kommen.  Sie  verdienten's, 

Simon:  Frau  Grafin,  ich  bin  Ifinen  fur  Ihre  Vorurteilslosigkeit 
sehr  dankbar. 

Frau  Muller:  AHe  Welt  in  Frankreich  wartet  auf  den  Diktator. 

Louise:  Herr  Boulanger,  da  gerade  von  Vorurteilslosigkeit  die 
Rede  ist:  wie  fuhlen  Sie  sich  in  der  Gesellschaft? 

Hans:  Ich  varte  darauf,  dafi  wir,  die  wir  vorlaufig  noch  hier 
sitzen,  plotzlich  in  die  Luft  gehn  und  -—fit  — fort  sind,  Ich  fuhle 
mich  sehr  wohl. 

Grafin:  Richtig,  Hans  Boulanger  stammt  Ja  aus  dem  Schnaken- 
loch  und  ist  nicht  einmal  Advokat.  Sie  konnen  versichert  sein,  mein 
junger  Freund  wenn  ich  Sie  nicht  von  Kindsbeinen  gekannt  hatfe, 
so  wie  wir  Sie  unter  uns  sehen,  wurde  ich  Sie  gewifi  fur  einen 
unserer  jungen  Franzosen  halten. 

Cavrel:  Was  Sie  dem  Herm  sagen,  Grafin,  wird  er  kaum  als 
eine  Schmeichelei  empfinden.  Ich  an  seiner  Stelle  tate  es  nicht.  Unsere 
Art,  in  die  Luft  zu  gehn,  wie  der  Herr  sagte,  — 

Simon:  Die  allgemein  bekannte  Tatsache,  dafi  Sie  sehr  schwer 
hochgehn,  enthebt  Sie  jeder  weiteren  Entschuldigung. 

Cavrel:  Danke  schon.  Sie  haben  recht.  Ich  bin  keine  Seifenblase. 

Simon:  Der  Meister  findet  sich  wieder  einmal  nicht  in  seinen 
Bildem  zurecht.  Feuerwerk  ist  naturlich  keine  Seifenblase. 

Hans:  Konnen  Sie  wissen,  Herr  Minister,  ob  ich  nicht  an  das  In- 
die-Luft-Gehn  einer  Seifenblase  gedacht  habe? 


34  Ren/  Sdiditfe  • Hans  bn  Sdbna&enfod 


ZWEITER  AUFTRITT 

Dieselben.  Mailer. 

<M Oiler  tritt  auf.  Angefnetz  mit  Foreiien.) 

Simon:  Dann  hatten  Sie  sich  falsch  ausgedrftckt.  Eine  Seifenblase 
macht  nicht  »fft«. 

Cavrcl  (gut mfl tig  zu  Hans):  Aufpassen  tut  er. 

M Oiler:  Geschickt  ist  er,  unser  Minister,  so  geschickt  man  nur 
sein  kann.  (GroSend.)  Meine  Damen!  Meine  Wolfe! 

Simon:  Mein  bester  Moller,  warst  du  nidit,  ich  vergafie,  daB  es 
nodi  Muller  in  Frankreidi  gibt,  und  ich  ware  verzweifelt.  Wenn  idi 
meinen  Freund  Muller  einige  Wodien  nidit  gesehen  habe,  fuhle  ich 
midi  sdiaudernd  auf  der  sdiiefen  Ebene. 

Muller:  Das  glaube  idi  dir  aufs  Wort. 

Simon:  Was  hast  du  denn  da? 

Muller:  Foreiien,  Exzellenz. 

Simon:  Die  ersten  lebendigen  Foreiien,  die  idi  sehe.  Die  roten 
Punkte  — entzudcend.  Und  wie  sdilank  das  ist.  Wie  fangt  man  sie? 

Muller:  Mit  einer  Fliege.  So...  (Tinzelnde  Bewcgung  mit  der  Hand.) 
Darnadi  sdinappen  sie.  Sie  sdiieOen  wie  ein  Torpedo.  Dann  stehn 
sie  wieder  regungslos  gegen  die  Stromung.  Eigentlich  haben  sie 
deinen  Charakter. 

Grafin:  Ein  ausgezeidineter  Einfall!  Wir  haben  nodi  eine  halbe 
Stunde  Zeit,  gehn  wir  zusehn,  wie  man  Foreiien  fangt. 

Cavrel:  Sehr  gem. 

Muller:  Hoffentlidi  habe  idi  Gluck! 

Simon:  Du  hast  immer  Gluck! 

Louise:  Ich  weifi,  wie  man  Foreiien  fangt.  Idi  warte  hier. 

Hans:  Dann  leiste  idi  Ihnen  Gesellschaft. 

Muller:  Aber  still  sein,  wenn  ich  bitten  darf,  bilte,  still  sein.  Sie 
durfen  sich  nicht  ruhren.  Die  Foreiien 

<Alle  ab  bis  auf  Hans  und  Louise.) 

DRITTER  AUFTRITT 

Hans.  Louise. 

Hans:  Ist  Simon  wirklidi  der  Halunke,  fdr  den  er  sich  in  Qber- 
einstimmung  mit  seinen  Freunden  ausgibt?  Kommen  Sie,  setzen  wir 

uns.  <Sie  setzen  sich  nebeneinander  auf  ihren  alten  Platz.) 


35 


Rene  SSidefe  • Hans  im  Sc6nafienfo<£ 

Louise:  Ja,  aber  er  madit  keinen  Gebraudi  davon.  Er  ist  heute 
nodi  so  arm,  wie  er  vor  zwanzig  Jahren  war,  und  nur  seine  Tra- 
banten  sind  Millionaire  geworden.  Vielleicht  ist  seine  Verderbtheit 
audi  nur  die  Folge  seines  zu  weitgehenden  Verstandnisses  fur  die 
Sdiwadien  seiner  Freunde.  Dieser  Ansidit  ist  mein  Mann , . . Seine 
Freunde  lieben  ihn  leidensdiaftlidi.  Wahrsdieinlidi  ausdemselbenGrund. 

Hans:  Lind  die  Frauen  audi. 

Louise:  Natiirlidi.  Die  guten  und  die  schlediten/  die  ihn  kennen, 
und  die  ihn  nidit  kennen.  Audi  von  seinen  Gegnern  wuflte  idi 
keinen,  der  ihn  wirklidi  halite. 

Hans:  Ich  finde  es  sdion,  dafi  politisdie  Gegner  einander  bis  aufs 
Messer  bekampfen,  ohne  an  ihrem  mensdilidien  Verhaltnis  Sdiaden 
zu  nehmen. 

Louise:  Es  ist  wohl  mehr  ein  gesellsdiaftlidies  Obereinkommen. 
Und  hat  audi  den  Naditeil,  dafi  es  allerhand  Zweideutigkeiten  die 
Ture  offnet.  Keiner  hafit  Simon,  aber  alle  fiirditen  ihn.  Idi  habe  oft 
den  Eindruck,  als  warteten  sie  darauf,  dafi  er  plotzlidi  die  Maske 
fallen  liefie  und  ihnen  den  FuB  auf  den  Natken  setzte.  Dafur  halte 
idi  ihn  aber  fur  zu  bequem.  <Da  Hans  sick  umsieht)  Wir  sind  allein. 

Hans:  Danke...  Sollten  Sie  wirklidi  keinen  Ehrgeiz  haben  in 
dieser  Gesellsdiaft,  die  mit  gestreckten  Halsen  im  Rennen  liegt? 

Louise:  Oh,  idi  war  sehr  ehrgeizig.  Das  sind  wir  Madels  der 
republikanisdien  Gesellsdiaft  immer,  Die  meisten  vergessen  dann  das 
Elysee  uber  ihren  Kindern.  Idi  habe  keine  Kinder . . . Aber  Cavrel 
ist  kein  Politiker,  er  ist  ein  Prophet.  In  den  zahllosen  Arbeiterver* 
sammlungen,  in  die  idi  mit  ihm  ging,  und  als  idi  immer  wieder  die 
Tausende  von  ernsten,  offenen  Mensdiengesiditem  zu  ihm  wie  zu 
einer  milden  Sonne  gewandt  sah,  und  wie  die  Lippen  der  Manner 
und  Frauen  leise  mit  seinen  Worten  bebten/  und  wie  alle,  alle, 
immer  wieder  fortgerissen  in  die  Bahn  dieses  lebendigen  Traumes, 
ganz  einfadi,  ganz  sdion  wurden  — ja,  idi  bin  wahrhafter  geworden 

durdi  ihn,  idi  habe  eine  neue  Welt  gesehn <1eise>  in  der  idi 

midi  niemals  heimisdi  fuhlen  werde . . . <La<keind>  Sdion  die  Propheten 
des  Alten  Testaments  waren  mir  unheimlich . . . Und  als  mein  Ehr- 
geiz  fort  war  und  idi  midi  umsah,  da  merkte  idi,  dafi  idi  audi  meinen 
Mann  verloren  hatte . . . Er  weifl  heute  nodi  nidit,  dafi  idi  irgendwo 


Rtne  ■ Hans  im  ScBnaktnfoS 


weit  hinten  auf  seinem  Weg  liegcn  geblieben  bin . . . Sie  werden 
sagen,  dafl  meine  Gesdiichte  banal  sei,  aber  idi  habe  keine  andere 
Gesdiichte. 

Hans:  Auf  einmal  sprechen  Sie  vie  eine  Geige. 

Louise:  Ich  weifi,  Sie  werden  midi  gleich  kussen.  Mir  ist  so 


feierlidi  zumute  wie  einer  Sterbenden. 


Lassen  Sie  midi  mein 


Testament  beendigen . . . Idi  habe  nie  einen  Liebhaber  gehabt,  ich 

konnte  es  nidit  ertragen,  aufierhalb  der  Gesellsdiaft  zu  stehn,  idi 

bin  eine  kleine  hochmutige  Bauersfirau.  Meinetwegen  verlange  ich, 

dab  Sie  midi  heiraten.  Idi  verlange  es  audi  wegen  meines  Mannes. 

Denn  idi  habe  ihn  so  geliebt,  wie  idi  Sie  wahrsdieinlich  lieben  werde. 

Idi  muB  ihm  weh  tun,  aber  idi  will  ihn  nidit  beleidigen.  Hans,  ich 

versuche  ein  zweites  Mai  mein  Gluck.  Sagen  Sie  sidi,  bitte,  dafi  ich's 

ein  drittes  Mai  nicht  konnte.  Dazu  wtirde  es  wirklidi  mit  dem  besten 

Willen  nicht  reichen.  Und  jetzt  <gibt  ihm  die  Hande>:  idi  liebe  Sie. 

(Umanmiiig.) 

Louise:  Mein  sufier  Freund!  (Dann,  auftaumelnd.)  Wir  sind,  wir 

(Sieht  sidi  inn.) 


Hans:  Horen  Sie,  Louise.  Idi  kann  — ich  kann  Ihnen  nidits  ver- 
spredien.  Nichts.  Nidits.  — Ich  habe  Sie  so  lieb. 

Louise:  Idi  habe  Ihnen  alles  gesagt.  Nun  konnen  Sie  mit  mir 
madien,  was  Sie  wollen.  Sie  werden  nie,  nie  eine  Mahnung  oder 
einen  Vorwurf  von  mir  zu  horen  bekommen.  — Sind  wir  einig? 

Hans:  Liebe,  idi  komme  mir  sehr  hinterhaltig  vor.  AJs  ob  ich 
Sie  mit  falsdien  Versprech ungen  uberlistet  hatte.  Sagen  Sie,  daB  es 
nidit  wahr  ist? 

Louise:  Armer,  was  hat  Ihnen  ein  so  sdiledites  Gewissen  gemadit? 

Hans:  Gib  deinen  Mund! 


<Umar 


I 9 


un g,  stehend.) 


VIERTER  AUFTRITT 

Hans,  Louise.  Sdiambedifi. 


<SdiambediB 


Louise:  Da.  Nein,  lieber  gleich  den  Skandal! 
Mann  etwas. 


dem 


Ren/  Sekitkefe  • Hans  im  ScBnakenfcxk  37 


FQNFTER  AUFTRITT 

Dieselbcn.  Simon.  Cavrel,  Mailer.  Die  Grafin.  Frau  Mailer. 

Hans  <laut>:  Da  kommen  sic. 

Muller  (hoch  oben  zwisdien  Cavrel  und  Simon):  Ein  Lowe,  ein  Wolf 
und  das  Schaf, 

Louise:  Die  ganze  Politik! 

<V  orhang.) 

VERWANDLUNG 

Bel  der  Grafin  Sulz.  Gartenterrasse,  von  alten  Latemen  erleucbtet.  Recfcts  offene  FlOgel- 
tOre  in  einem  elektrisch  erleuditeten  Saal.  Manner  und  Frauen  im  Gesellsdiaftskldd. 

ERSTER  AUFTRITT 

Balthasar  Boulanger.  Louise  Cavrel. 

Louise:  War  das  nidit  Ihr  Bruder,  der  eben  an  derTur  vorbeiging? 

Balthasar:  Das  Sdilofi  wimmelt  von  Gespenstern. 

Louise:  Ihr  Bruder  wollte  heute  abend  kommen. 

Balthasar:  Vielleicht  wollte  er. 

Louise:  Er  ist  vemarrt  in  die  alte  Grafin.  Er  kann  ihr  stunden- 
lang  zuhoren,  wenn  sie  von  ihrem  alten  Paris  erzahlt  — was  mir, 
offen  gestanden,  sehr  sdiwer  fiele. 

Balthasar:  Sollten  Sie  eifersuchtig  sein? 

Louise:  Oder  Sie? 

Balthasar:  Idi  bin  immer  eifersuchtig  auf  meinen  Bruder  ge» 
wesen.  Kein  Wunder,  als  ich  nodh  in  der  Wiege  lag,  war  er  be- 
reits  ein  Held. 

Louise:  Ein  Gestandnis  ist  das  andere  wert.  Eine  Frau  ist  immer 
auf  alle  Frauen  eifersuchtig.  Mit  einer  Ausnahme. 

Balthasar:  Mit  Ausnahme  der  Frau,  auf  die  sie  wirklich  eifer- 
suditig  ist. 

Louise:  Sie  sind  viel  — 

Balthaser:  gesdieiter 

Louise:  erfahrener,  als  man  nach  Ihrem  Alter  glauben  sollte. 

Balthasar:  Ich  bin  immerhin  Hansens  Bruder. 

Louise:  Ist  es  nicht  unheimlich,  dafi  die  einzige  Eugenie  und  die 
unsterblidie  Pauline,  die  unsere  Grafin  bei  einem  Ball  in  den  Tui» 


38  Rene  S&idiefe  • Hans  im  S<6na6en(o<6 

lerien  beiseite  nahmen  und  ihr  zuflusterten:  — daB  die  tatsachlich 
nodi  leben?  Wie  sie  heute  wohl  aussehn,  die  armen  Frauen? 

Balthasar:  Sie  traumen.  Und  alle,  die  sie  damals  gekannt  haben, 
tun  sidi  und  ihnen  den  Gefallen,  mitzutraumen.  So  gQtig  1st  das 
Leben.  Selbst  die,  die  weit  uber  ihre  Zeit  hinaus  vereinsamen, 
bleiben  nie  ganz  allein.  Sie  sind  ihr  letzter  Freund,  und  der  wenigstens 
lafit  sie  nidit  im  Stidh.  Welch  ein  Trost  fur  die  Frauen! 

Louise:  Es  ist  wirklidi  ein  gespenstisdies  Haus. 

Balthasar:  Ja,  ein  Mausoleum,  mit  Offenbachsdier  Musik.  Haben 
Sie  einmal  die  Grafin  die  »Schone  Helena*  singen  horen? 

Louise:  Ja,  dann  fahrt  der  Teufel  in  sie  und  macht  sie  jung. 
AuBerdem  ist  ihr  GebiB  vorzuglidi  gearbeitet. 

Balthasar:  Vorzuglidi. 

Louise:  Und  der  alte  General  Kaufimann  sdieint  wirklidi  — 
Balthasar:  Man  kann  kaum  daran  zweifeln.  Ist  denn  nun  sein 
rediter  Arm  wirklich  und  wahrhaftig  aus  Gold? 

Louise:  Idi  behaupte,  aus  dem  Erz  eroberter  Kanonen. 
Balthasar:  Gab  es  1870  eroberte  Kanonen? 

Louise:  Kann  idi  Ihnen  nidit  sagen.  Aber  es  werden  wohl  nodi 
einige  aus  der  Zeit  des  ersten  Napoleon  vorhanden  gewesen  sein. 
Balthasar:  Sie  sind  nidit  sehr  patriotisch. 

Louise:  Unser  Patriotismus  vergnugt  sich  in  der  Rumpelkammer. 
Idi  kann  altes  Zeug  nidit  ausstehn,  Es  liegt  vielleicht  daran,  daB 
mein  Vater  begeisterter  Sammler  war. 

ZWEITER  AUFTRITT 

Louise.  Balthasar.  Hans. 

Hans:  <kommt  von  links  die  Treppe  heraufgestQrmt.  Vor  Louise  stchen  bleibend): 

Uff! 

Louise:  Uff! 

Balthasar:  Guten  Abend. 

Hans:  Guten  Abend,  Madame!  Hatte  idi  nidit  gewuBt,  daB  man 
hier  nie  zu  spat  kommt  — 

Lo  uise:  So  wiren  Sie  vermutlidi  punktlich  gewesen. 

Balthasar:  Deine  Frau  findest  du  im  Wintergarten, 

Hans:  Danke  dir. 


Ren/  S&i&efe  * Hans  im  ScBnakenfoS 


39 


Balthasar:  Sie  hat  mich  fortgeschidct,  veil  ich  ihr  auf  die  Nerven 
ging,  und  ich  ging  ihr  auf  die  Nerven,  weil  ich  mir  alle  Miihe  gab, 
sie  zu  storen. 

Louise:  Sie  sehen,  es  gelingt  doth  nicht  immer, 

Balthasar:  Sie  in  der  verzweifelt  tiefsinnigen  Betrachtung  des 
Turausschnitts  zu  storen,  in  dem  du  ersdieinen  solltest. 

Hans:  Danke.  <Nach  dner  Weile.)  Bist  du  fertig? 

Louise:  Werden  Sie  nie  aufhoren,  Ihren  Bruder  wie  einen  Schul- 
buben  zu  behandeln? 

Hans:  Sobald  er  nicht  mehr  in  mir  den  Lehrer  sieht,  der  um 
jeden  Preis  geargert  werden  muB. 

Louise:  DaB  Sie  einander  nodi  nicht  totgeschlagen  haben! 

Hans  <IaAcnd>:  Friiher  liebte  er  es,  mich  anzufallen,  mit  der 
Schleuder,  mit  dem  KnQppel,  mit  dem  Messer.  Ich  habe  ihn  nie  an- 
geruhrt,  es  sei  denn  gewesen,  um  ihm  sein  Mordwerkzeug  abzu- 
nehmen,  Ich  weiB  nicht,  warum  Sie  jede  Gelegenheit  benutzen,  uns 
in  hochnotpeinficher  Weise  zu  konfrontieren. 

Louise:  Weil  Sie  beide  gut  aufeinander  eingespielt  sind. 

Hans:  Das  kleine  Madcfaen  kann  nie  genug  bekommen  mit  Spielen — 
gelt?  Wir  sind  keine  feindlichen  Bruder,  Balthasar? 

Balthasar:  Nein.  Trotzdem  gehe  ich  jetzt  nicht,  bevor  du  midi  bittest. 

Hans:  Wer  sagt  dir  denn,  daB  du  gehn  sollst? 

Balthasar  <zu  Louise):  Sie  nicht? 

Louise  <greift  ihm  in  die  Haare):  Kindskopf. 

Balthasar  <verwirrt>:  Dann  bleibe  ich. 

Hans:  Ja,  also,  dann  will  ich  der  Grafin  meine  Aufwartung  machen 

Louise:  DiegutePauline.  Als  bei  einem  landlidien  Fest  in  St.  Cloud 
ein  Feuerwerk  abgebrannt  wurde,  sagte  sie  seufzend:  »Woran 
einen  dieses  Puff,  Puff  alles  erinnertU 

Hans:  Ich  werde  der  Grafin  dieses  unveroffentlichte  Bonmot  in 
Ihrem  Auftrag  schenken. 

Louise:  Sie  wollen  wohl  vor  die  Tur  gesetzt  werden? 

Hans:  Nein,  denn,  um  wieder  herein  zu  kommen,  muBte  ich  ent- 
weder  durch  ihr  Schlafzimmer  oder  durch  die  Kapelle,  und  beides 
ware  mir  zu  beschwerlich.  Also  — <summt  abgehend)  »Ich  bin  der  Konig 
Menelausc. 


40  Rene  SSidte/e  • Hans  im  SdnahnfoS 


DRITTER  AUFTRITT 

Louise.  Balthasar. 

Balthasar:  Mein  Bruder  und  Sie  uberbieten  einander  an  Ver- 

leumdungen. 

Louise:  Ich  bitre  Sie!  Wir  wissen  doth  alle,  dab  die  Grafin  sich 
zwar  gern  mit  Ninon  vergleichen  labt,  aber,  von  der  Aussiditslosig- 
keit  des  Unternehmens  durcbdrungen,  niemals  zu  bewegen  ware, 
eine  Ninon  zu  sein.  Sie  liebt  den  Abb£  Sdhmitt  viel  zu  sehr,  als 
dab  sie  sich  das  Gluck  verscherzte,  ihn  im  Himmel  wiederzusehn. 

Balthasar:  Sie  fahren  hurtig  fort. 

Louise:  Balthasar,  Sie  sind  bose. 

Balthasar:  Vielleidit. 

Louise:  Deshalb  konnen  Sie  keinen  Spott  vertragen,  weder  uber 
sidh,  nodi  fiber  andere  ...  War  das  nidit  Hans? 

Balthasar:  Ja.  — Haben  Sie  midi  nie  spotten  horen? 

Louise:  Sie  spotten  nicht.  Sie  klagen  an  und  verurteilen.  Sie  sind 
ein  Scharfrichter . . . Klar  und  Sie  waren  ein  gutes  Paar.  Sie  passen 
zueinander. 

Balthasar:  Haben  Sie  das  auch  schon  bemerkt?  (Pause.  Balthasar 
hebt  den  Kopf,  ihr  ins  Gesicht.)  Nein! 

Louise:  (streitbar  aufgeriditet,  nadi  einem  Sdiweigen):  Glauben  Sie? 

Balthasar:  Sie  bekommen  ihn  nidit.  Er  gehort  Klar.  Sie  braudit  ihn. 

Louise:  Und  wenn  — 

Balthasar:  Idi  werde  Klar  verteidigen,  bis  zum  letzten. 

Louise:  Und  wenn  — ? 

VIERTER  AUFTRITT 

Louise.  Balthasar.  Simon.  General  Kaufmann. 

Louise:  Hierher,  meine  Herren!  Herr  Boulanger  ist  gerade  im 
BegrifF,  midi  zu  verlassen,  und  ich  modite  nicht  gem  auf  dieser 
groben  Terrasse  verloren  gehn. 

Simon:  Bitte,  Madame,  halten  Sie  sich  an  mir  fest. 

Louise:  Ich  weib  nicht?  <Vorstellend>  Herr  Balthasar  Boulanger, 
Ihr  berfihmter  Landsmann,  der  General  Kaufmann,  Herr  Abgeord- 
neter  Simon,  der  zukfinftige  Prasident  der  Republik. 

Simon:  Nath  Ihrem  Gatten,  Madame,  vielleidit.  Nadi  dem  zweiten 


Rene  Sdbidiefe  * Hans  sm  5<6na£enfo<6 


41 


Septennat  Ihres  Gatten  — vielleicht,  wenn  ich  dann  noch  lebe  . . . 
und  niemand  anders  da  ist. 

General:  Was  fur  prachtige  Menschen,  was  fur  brave,  prachtige 
Menschen ! 

Simon:  Mein  Herr,  Sie  sollen  so  gludrfich  sein  — 

Louise:  Wen  meinen  Sie? 

General:  Die  Strafiburger  Feuerwehrleute. 

Simon:  Eine  entzudcende  Frau  — eine  Deutsche. 

Louise:  Schwagerin. 

Simon:  Verzeihen  Sie:  Schwagerin.  Durfte  ich  Sie  bitten,  mich 
der  Dame  vorzustellen  ? 

Balthasar:  Bitte,  gern.  <Ab.) 


FQNFTER  AUFTRITT 

Louise.  General. 

General:  Sie  bereiten  sich  auf  den  Facfcelzug  vor.  Nein,  was 
fur  prachtige  Mensdien. 

Louise:  Sie  sprechen  nodi  immer  von  der  StraBburger  Feuer- 
wehr? 

General:  Krieger,  richtige  Krieger.  Vom  alten  Schrot  und  Korn. 
Wie  Frankreich  leider  keine  mehr  hervorbringt. 

Louise:  Wie  war's.  General,  wenn  Sie  sich  setzten,  um  mir  von 
diesen  Kriegern  zu  erzahlen. 

General:  Sie  werden  sie  gleidi  sehen. 


SECHSTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Scbambedifi  und  ein  anderer  Diener  bringen  einen  Sessel  herein, 

erblidcen  den  General,  setzen  den  Sessel  ab,  grQften  mifitarisch,  — 


General:  Danke,  mein  Sohn,  danke  — 

und  stellen  den  Sessel  an  die  Rampe  der  Terrasse.  Bleiben  dahinter  stehn. 


SIEBENTER  AUFTRITT 

Dieselben. 

Louise:  Der  Fackelzug? 

General:  Sofort,  Madame.  Denken  Sie,  ich  ging  hinunter,  um 
die  tapfern  Leute  zu  begruflen,  und  als  sie  mich  erblickten,  da  standen 
sie  stramm,  ihr  Kapitan  trat  vor  und  sagte:  Herr  General,  ich  habe 


42 


Rene  SSidiefe  • Hans  im  ScBnakenfoS 


w**********************************************************************—***************—**** 

die  Ehre,  Sie  im  Namen  der  StraBburger  Feuerwehr  zu  begruBen. 
Wie  er  das  sagte!  Sie  konnen  sich  keinen  Begriff  macben,  wie  er 
das  sagte. 

Louise:  Doch,  doth! 

General:  Als  ob  er  mir,  dem  Vertreter  Frankreichs,  das  ElsaB 
zuruckgabe. 

Louise:  Genau  so. 

General:  Durch  meine  Tranen  hindurch  sah  ich,  wie  den  tapfern 
Leuten  die  Augen  naB  wurden.  Ich  mufite  scbnell  Kehrt  macben, 
um  die  Fassung  nicht  zu  verlieren. 

Louise:  Wenn  die  Leute  Sie  aber  erst  in  Ihrer  Uniform  ge- 
seben  hatten! 

General:  Es  ist  nicht  abzusehn,  was  da  geschehn  ware. 

Louise:  Freuen  Sie  sich,  daB  Sie  die  Leute  nicht  ins  Ungludc 
gestiirzt  haben.  Sie  wissen,  die  Deutschen  verstehn  darin  keinen  SpaB. 

General:  Um  so  mehr,  als  wir  eine  deutsche  Dame  unter  uns 
haben. 

Louise:  Ich  bitte  Sie,  das  ist  die  Frau  meines  Freundes  Bou- 
langer. 

General:  Und  einen  preuBischen  Leutnant. 

Louise:  Ich  bitte  Sie,  das  ist  der  Freund  meines  Freundes  Bou- 
langer. 

General:  In  preufiischer  Uniform. 

Louise:  Die  Uniform  ist  sein  Gesellschaftskleid. 

General:  Mit  einem  preuBischen  Orden! 

Louise:  Schreddich.  Hier  mitten  in  Frankreich. 

General:  Nun,  wenn  die  da  gleich  vorbeimarschieren,  werden 
Sie  glauben,  die  alte  Garde  sei  auferstanden. 

Louise:  Und  ginge  einen  Kaminbrand  loschen. 

General:  Zum  Gluck  weiB  ich,  daB  ich  mit  einer  Pariserin  spreche, 
die  den  Ernst  immer  von  der  heiteren  Seite  nimmt. 

Louise:  Sagen  Sie,  General,  die  Leute  werden  doch  nicht  die 
Marseillaise  spielen? 

General:  Um  Gottes  willen!  Die  Marseillaise  spielen,  das  kommt 
hier  gleich  nach  dem  Totschlag.  Sie  spielen  die  Sambre-et-Meuse, 
die  heimliche  Marseillaise  der  Elsasser.  Obrigens  ist  dieser  Revo- 


43 


Rene  SSidefe  * Hans  im  SSnatenfodi 


lutionsmarsA  eine  Konzession  der  Grafin  an  die  elsassisAen  Ge- 
fuhle. 

Louise:  RiAtig,  die  Grafin  ist  eine  Anhangerin  des  Konigtums. 
Obwohl  — Grafin  Sulz,  das  klingt  sehr  naA  napoleonisAem  Adel, 
und  da  Sulz  meines  Wissens  kein  SAlaAtort  ist,  durfte  man  auf 
den  dritten  Napoleon  sAlieBen.  Dann  hatte  sie  allerdings  Grand, 
Royalist  zu  sein. 

General:  Napoleon  ILL  ist  einer  der  verkanntesten  Manner  der 
WeltgesAiAte. 

Louise:  Er  teilt  das  Schick  sal  mit  seinen  Generalen. 

General:  IA  weiB,  ich  weifi  . . . Besiegte  Volker  haben  immer 
die  Rancune  von  Sklaven. 

Louise:  Wie  emsthaft!  Verzeihung,  Kommen  Sie,  General, 
kussen  Sie  FrankreiA  die  Hand. 

General:  Oh,  Madame.  <K08t  tfir  <lie  Hand.) 

ACHTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Klar.  Mailer.  Cavrel.  Simon.  Frau  Mailer. 

Klar:  Die  Herren  sind  wirkliA  alle  Aei  Abgeordnete? 

Muller:  Liebe  NiAte,  iA  bin  es  nur  zum  SpaB.  Um  einen  guten 
Platz  zu  haben,  wenn  die  Menagerie  musiziert  und  Ae  Herren 
Tierbandiger  auftreten.  IA  selbst  reAne  miA  zu  den  Amphibien, 
die  man  in  Paris  mit  einer  MisAung  von  Bedauern  und  Bewunde- 
rang  den  » unverbesserli Aen  Provinzlere  nennt. 

Klar:  Sie  haben  mir  nie  verraten,  zu  welAer  Partei  Sie  gehoren. 

Muller:  Zur  gemaBigten,  mein  Kind,  zu  den  FortsArittlem.  IA 
habe  miA  im  Leben  immer  in  der  Mitte  gehalten, 

Klar:  Die  ja  wohl  auA  niAt  umsonst  die  goldne  heiBt. 

Cavrel:  Was  das  Gold  anlangt,  so  befindet  es  siA  bei  uns  eher 
etwas  links  von  der  Mitte,  bei  den  wohlgenahrten  Herren,  die  siA 
sAredchafter  Weise  die  Radikalen  nennen.  Unsere  Regierungspartei ! 
Muller,  so  wie  Sie  ihn  vor  siA  sehen,  ist  ein  Mann  der  Opposition. 

Klar:  I A verstehe.  Wenn  die  Radikalen  regieren,  mussen  die 
FortsArittler  naturliA  in  der  Opposition  sein. 

Cavrel:  Sie  nennen  siA  mit  ebensoviel  Grund  fortsArittliA, 
wie  Ae  andem  siA  radikal  nennen. 


4 voi.  mA 


t 4 


44  Rene  S<£idiefe  • Hans  im  S&na6enfoc6 

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Klar:  Einen  Augenblick.  Mir  geht  es  wie  Ihren  Fortsdirittlem. 
Idi  komme  nidit  mit.  Idi  mufi  Ihnen  gestehn,  dafi  die  Politik  fiir  mich 
immer  ein  grofies  Geheimnis  war. 

Simon:  Madame,  die  Sadie  ist  sehr  einfadi.  Unser  bester  Muller 
ist  Fortsdirittler,  weil  er  findet,  dafi  die  Mitglieder  dieser  Partei  das 
beste  Familienleben  fiihren. 

Klar:  Und  Sie,  Herr  Minister,  gehoren  naturlidi  2ur  Regierungs- 
partei. 

Muller:  Das  ist  das  Einzigartige  an  diesem  Mann:  er,  er  gehort 
zu  keiner  Partei.  Er  ist  ein  Albino. 

Cavrel:  Wir  haben  eine  Anzahl  frQherer  Sozialisten,  die  aus  der 
Partei  ausgetreten  sind,  wie  eine  hubsdie,  aber  wenig  tugendhafte 
Frau,  die  auf  Irrwege  gerat,  ihrem  Mann  davonlauft  und  sidh  eine- 
eigene  Wohnung  einrichtet. 

Simon:  Bitte,  lieber  Freund,  fuhren  Sie  Ihren  Vergleidi  nidit 
welter  aus. 

Cavrel:  Die  braven  Kerle  sind  dann  zu  schlau,  um  sidi  etwa 
neue  Ehefesseln  anzulegen,  und  wie  die  erwahnte  Dame  dann  wohl 
einen  Salon  eroffnet,  wo  Leute  aller  moglidien  Gesellsdiaftskreise 
verkehren,  so  operieren  unsere  Sozialisten  mit  alien  moglidien  Par- 
teien,  ohne  sidi  auf  eine  festzulegen. 

Muller:  Was  Sie  sagen,  spridit  nidit  gegen  die  alte  Erfahrung, 
dafi  die  fruheren  Wilddiebe  die  besten  Jagdhiiter  abgeben,  Aber 
unser  Simon  iiberragt  die  Bruder  — alles  was  redit  ist.  Nennen 
wir  ihn  den  Konig  der  Wilddiebe. 

Klar:  Sie  lieben  ja  den  Herm  Minister. 

Muller:  Lieben?  Idi  verehre  ihn.  Ein  tolles  Studt  Mensdi,  an 
dem  idi  mich  nie  sail  sehe. 

Frau  Muller  <leise>:  Allerdings  bezahlen  Sie  auch  das  Vergnugen. 

Muller:  Meine  liebe  Frau!  Bezahlen?  Madame,  wie  oft  habe 
ich  Ihnen  sdion  vorgeredinet,  dafi  Simon  unser  Vermdgen  verdrei* 
fadit  hat.  Ich  bin  Kaufmann  und  verdiene  gut.  Einen  Teil  lege  ich 
zurudc,  damit  idi  midi  heut  oder  morgen,  wenn  es  mir  gefallt,  von 
den  Gesdiaften  zuriidcziehen  kann.  Warum  soil  idi  mir  nicht  fur 
das  Oberfltissige  das  Riesenvergniigen  gonnen,  einen  Mann  wie 
Simon  fiir  mich  arbeiten  zu  lassen? 


45 


Rene  SSidtefe  • Hans  im  SSnatenfoS 


Frau  Muller:  Herr  Muller  wirft  sein  Geld  lacbelnd  fort  und 
sieht  mlt  offenem  Munde  zu,  ob  es  unterwegs  anschwiilt  oder  ab- 
nimmt. 

Muller:  Eigentlich  erwarte  ich  immer,  daB  sich  piotzlich  <mit  einem 
Blkk  auf  Simon)  — eine  Hand  vorstreckt  und  alles  wegzaubert.  (ladit) 

Klar:  Die  Katze  spielt  mit  der  Maus,  und  es  ist  die  Maus,  die 
das  Vergnugen  hat. 

Muller  <no<h  immer  ladiend):  Genau  wie  Sie  sagen,  meine  Liebe. 
Genau  so. 

Cavrel:  An  diesem  braven  Mann,  Madame,  konnen  Sie  sehen, 
welche  Verheerungen  die  Atmosphare  eines  Spielers  anrichtet. 

Klar:  Idi  mul)  gestehn,  wenn  ich  Franzosin  ware,  fande  ich  das 
alles  recht  ungemutlich. 

Simon:  Fruher  regierte  ein  Staatsmann  mit  dem  Herrsdier  und 
einem  kleinen  Hofklungel.  Heute  regiert  er  mit  300  Wahlmannern, 
1000  Abgeordneten  und  ebenso  vielen  Joumalisten.  Die  Frauen 
lasse  ich  dabei  ganz  beiseite.  Dazu  gehort  eine  Spannkraft,  ein 
HeiBhunger,  eine  so  vielfaltige  Klugheit,  ein  so  sidierer  Instinkt, 
daB  ein  Talleyrand  erschrake,  wenn  er  sich  piotzlich  mitten  in  die 
losgelassene  Meute  versetzt  sahe.  Und  von  all  dieser  Energie,  die 
einen  Helden  ausmacht  — 

Cavrel:  Verzeihung,  einen  Abenteurer  — 

Simon:  Ein  Held  ist  ein  Abenteurer,  der  sidi  der  Gesellschaft 
aufgedrangt  hat  — von  all  dieser  Energie,  sage  idi,  geben  wir  in 
einem  Jahr  mehr  aus,  als  gewaltige  Staatsmanner  der  Vergangen- 
heit  in  ihrem  ganzen  Leben  verbrauchen  konnten. 

Muller:  Um  wirklich  GroBes  zu  leisten,  fehlt  Euch  doch  wohl 
die  sittliche  Personlichkeit. 

Simon:  Du  willst  sagen:  die  Gelegenheit. 

Cavrel:  Armes  Frankreich!  Nicht  wahr,  Madame? 

Klar:  Wer  von  den  beiden  Herren  wird  nun  Frankreich  retten? 

Muller:  Wenn  man  es  einmal  retten  soil,  dann  wird  es  wohl 
einer  von  den  beiden  hier  versuchen  mussen. 

Cavrel  <Simon  ansehend):  Einer  von  uns  beiden  . . . 

Muller:  Simon  kann  einen  Aufstand  unterdrucken,  aber  idi  glaube 
nicht,  daB  er  einem  Volk  den  Glauben  an  die  Sterne  einblasen 


46  Rene  S Sidle fe  • Hans  im  SSnaienfoS 


r . . . . . / . . . . . . . . ' / . . . .V  " . y 


konnte,  der  es,  in  einer  ungeheuren  Anstrengung,  uber  siA  selbst 
hinaushobe.  Cavrel  ist  der  einzige,  der  einen  Krieg  noA  im  (etzten 
Augenblidt  verhindern,  aber  auA  der  einzige,  der  aus  einem  ange> 
griffenen  und  vielleiAt  bereits  gesAlagenen  FrankreiA  das  fetzte  an 
Kraft,  Begeisterung  und  Opferwilligkeit  herausholen  konnte. 

Cavrel:  Glauben  Sie  wirkliA,  MQlIer,  dafi  jemand  Casar  sein 
konnte,  naAdetn  er  alles  aufgeboten  hatte,  um  Brutus  zu  sein? 

Muller:  Wenn  der  Feind  im  Land  stande?  Sind  Sie  Franzose 
oder  sind  Sie  es  niAt?  Was  sagst  du  dazu,  Simon? 

Simon:  Dann  wurden  Cavrel  und  iA  ja  wohl  unsern  letzten 
Gang  auszufeAten  haben. 

Klar:  Vor  dem  Feind? 

Simon:  Mit  dem  Feind,  Madame,  hatte  si  A in  erster  Linie  unser 
Generalstab  zu  befassen. 

Cavrel:  Madame,  es  ist  eine  unserer  sAlimmsten  EigensAaften, 
dafi  wir  am  liebsten  uberelnander  herfallen,  wenn  der  Feind  vor 
den  Toren  steht. 

Simon  <*<finell>:  Wir  mQssen  uns  fur  unsere  Niederlagen  raAen, 
und  w3re  es  an  uns  selbst,  das  zeigt,  dafi  wir  keine  Sklaven  sind, 

Klar  <zu  Louise):  Sagen  Sie,  Madame,  sind  Ae  Herren  wirkliA 
Wilde,  oder  haben  sie  si  A nur  fQr  den  heutigen  Abend  verkleidet, 
um  mi  A mit  ihrem  KriegssAmuA  zu  blenden? 

Louise:  IA  weifi  niAt,  Madame. 

<Pl&tzlidi  bridit  die  Sambre*et»Meusc  los,  erst  femer,  dann  niher.) 

NEUNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Die  GrSfin.  Hans  und  Balthasar.  Dimpfel.  StarbfuB. 
<Starkfu0  und  Dimpfel  setzen  sich  vom  hin,  RQcken  zu  den  andern,  die  vor 

der  Rampe  der  Terrasse  stehn.) 

Grafin  (die  sith  in  ihrem  Sessel  niederlifit):  Ein  mar Aenhafter  A nbli A, 

niAt  wahr,  meine  Herren? 

General  (zu  den  Parisern):  Die  Alten  in  den  ersten  Reihen  haben 

bei  Solferino  und  Magenta  mitgekampfit,  es  ist  sogar  noA  einer  da 

mit  der  Mexikomedaille.  Die  Mitkampfer  von  1870  reiAen  bis  ins 
zehnte  Glied. 

Simon:  SAdne  Barte! 


47 


Rene'  Sc6icfiefe  • Hans  im  Sc6na£enfo<£ 

Louise:  Und  wo  die  Barte  aufhoren,  beginnen  die  Reihen  — 
General:  wurdiger  Sohne  — 

Louise:  und  preufiisdier  Rcservisten. 

General  (ruft):  Ehre  den  Helden!  Hodi!  <Sic  rufen.  Die  Musik 

nahert  sitb.) 

Cavrel  <zu  Simon):  Mir  ist  zumut,  als  ob  unser  schledites  Ge» 
wissen  mit  Fackeln  und  Trompeten  voruberzoge. 

Simon:  Vielleicfat  haben  wir  einmal  Gluck  . . . 

Cavrel:  *Vielleidit  haben  wir  einmal  Gliick*  — das  ist  seit 
dreifiig  Jahren  unsere  beste  Politik. 

Grafin  <mit  dem  Tasdientudi  winkend):  Das  ElsaB  soil  leben,  hodi! 

<AIIe  rufen.  Die  Musik  ist  ganz  nahe.  Fackeisdiein  failt  herauf.  Zieht  vorbei.) 
Grafin  <erhebt  sidi.  Die  Diener  nehmen  den  Sessel  und  tragen  ihn  links  die 

Treppe  hinab):  Die  guten  Elsasser!  Ein  Fest  ohne  diesen  Fackelzug 
schiene  mir  mifigluckt  Jetzt  kommt  ein  besonders  ruhrender  Moment: 
Die  Bedankung  und  Bewirtung  der  wadtem  Feuerwehr.  Sie  sollen 

sehn,  wie  sie  uns  lieben.  <AlIe  hinter  der  Grafin  langsam  nadi  links  ab. 
W ahrenddessen :) 

Simon:  Naturlidi  mussen  die  Elsasser  Frankreidi  lieben,  wer 
denn  sonst? 

Cavrel:  Denn  wir,  nicht  wahr?,  wir  haben  Besseres  zu  tun. 
StarkfuB  <vorn);  Weifit  du,  ich  bin  ein  gutmiitiges  Stuck  Vieh. 
Dimpfel  <nidct.) 

StarkfuB:  Sonst  hatte  ich  midi  nicht  hierher  sdileppen  lassen. 
Dimpfel  <nickt.) 

StarkfuB  (ungeduldig) : Was? 

Dimpfel:  Idi  sag:  Ja. 

StarkfuB:  Warum  bist  du  denn  hergekommen? 

Dimpfel:  Ei,  idi  wollte  mir  einmal  die  Bagasdi  betraditen. 
Frau  Muller  <am  Arme  Cavrels):  Ich  muB  gestehn,  dieser  Fadtel- 
zug  hat  midi  aufgeregt.  Er  war  schoner  als  die  Parade  des  H-  Juli 
in  Longchamps.  Der  Marsdi,  die  Barte,  die  funkelnden  Blicke  der 
Jungen  — 

Cavrel:  Die  Haltung. 

Frau  Muller:  Ach  ja.  Die  Haltung!  Wenn  idi  an  unsere  armen 
Pioupious  denke.  (Ab.) 


Rene  SSidefe  • Hans  im  S<£na6enfo<£ 


48 

ZEHNTER  AUFTRITT 

StarkfuB.  Dimpfel.  Hans. 

Hans  <hinzutretend> : Was  maAt  ihr  denn  da? 

Dimpfel:  Wir  trotzen. 

Hans:  Mit  wem  trotzt  ihr? 

Dimpfel:  Mit  den  WelsAen  dahinten. 

Hans:  Haben  sie  euA  was  getan? 

Dimpfel:  Sie  sAwatzen,  daB  einem  vom  Zuhoren  die  Zunge 
aus  dem  Hals  hangt. 

StarkfuB:  Lauter  Gespenster.  Komiker  mit  alten  BlutfleAen. 

Hans:  Vorhin  hat  mir  jemand  ungefahr  dasselbe  gesagt.  Eine 
Franzosin. 

StarkfuB:  Es  mufi  auA  gesunde  Leute  unter  ihnen  geben. 

Hans:  Sie  sind  erhaben  und  dumm  wie  die  gestimte  NaAt.  Aber 
die  Feuerwerke,  die  sie  abbrennen,  finde  iA  entziiAend.  Und  die 
Frauen  darin  — 

StarkfuB:  Also,  was  die  Frauen  anlangt,  so  kam  die  Madame 
Muller  auf  miA  losgewatsAelt,  befuhlte  mit  einem  ehrfurAtigen 
SAauder  meine  Uniform,  und  als  das  Ergebnis  der  UntersuAung 
sie  befriedigt  zu  haben  sAien,  fragte  sie,  ob  sie  mir  niAt  nutzen 
konnte.  (Dimpfe!  kraht  sein  Ladien.)  Die  GesellsAaft  ist  wahnsinnig. 

Hans:  Sie  halten  diA  fur  einen  Elsasser. Da,  der  General  ist 
bereits  bis  zu  seiner  AnspraAe  vorgedrungen.  Damit  geht  das  Fest 
zu  Ende. 

Dimpfel:  Was  kollert  er  denn,  der  alte  Hahn? 

Hans:  I A weiB  es  auswendig.  »So!daten  des  ElsaB!  FranzosisAe 
Gaste  der  groBmiitigen  Grafin  und  heldenhaften  Elsasserin  haben  die 
Ehre  gehabt,  EuA  waAere  Sohne  des  heiligen  Landes  . . .«  NamliA, 
die  Mutter  der  Grafin  war  eine  OsterreiAerin  und  ihr  Vater  ein 
Englander,  und  die  kriegerisAe  Gesinnung  der  Familie  ruhrt  daher,  daB 
sie  vom  Burgerkonig  Louis=Philippe,  der  bekanntliA  statt  eines  Degens 
einen  RegensAirm  trug,  in  den  Adelstand  erhoben  wurde.  (Dimpfel  kraht. 
StarkfuB  hebt  langsam  die  Athseln.)  Gelt,  nun  fiihlst  du  bis  ins  KnoAen* 

mark  die  Notwendigkeit,  daB  diese  Lugenbrut  ausgerottet  werde? 

StarkfuB:  Die  geht  von  selbst  ein. 

Hans:  I A weiB,  du  gehorst  zu  den  liberalen  Mitgliedem  des 


Ren/  5 St  die  ft  • Hans  im  SSnafenfoS  49 


deutschen  Weltgericfats.  Einigen  wir  uns:  cin  Volk,  gezeugt  von  einem 
katholischen  Teufel  mit  Pallas  Athene. 

Dimpfel  (bolt  Notizbudi  heraus  and  schreibt) : Nicht  schlecht.  Da 
werden  meine  Primaner  was  zu  lachen  haben. 

ELFTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Louise. 

Louise  <von  red»ts> : Wollen  wir  jetzt  unsem  Spaziergang  durch 
den  Park  madien? 

Hans:  Gern. 

Louise:  Nicht  wahr,  meine  Herren,  eine  wunderbare  Frfihlings- 
nacht! 

Dimpfel  <zum  Himmel):  Sogar  Vollmond. 

Louise:  Sogar  das.  Sogar  Nachtigallen. 

Hans:  Dort  druben,  am  Rhein,  toben  sie.  Der  Park  reicht  bis 
an  den  Flub,  und  wenn  man  in  solchen  Nachten  dort  auf  der  kleinen 
weiBen  Terrasse  sitzt,  muff  man  gewaltsam  an  sich  halten,  um  nicht 
mit  ihr  wie  ein  Luftballon  aufzusteigen  oder  sonstwie  den  Verstand 
zu  verlieren. 

Louise:  Also  dorthin  wollen  wir. 

Hans  <gleich  zurflckkehrend) : Dimpfel,  zeige  bitte  der  Madam  einige 
Sterne.  Ich  komme  nach,  (Zu  StarkfuB.)  Du,  durfte  ich  dich  um  einen 
groBen  Gefallen  bitten? 

ZWOLFTER  AUFTRITT 

otarkfuB.  Ha*ns. 

StarkfuB:  Darfet. 

Hans:  Bringe  bitte  meine  Frau  nach  Hause.  Mir  war,  als  ob 
Balthasar  sich  drucken  wollte. 

StarkfuB:  Soli  geschehen.  Noch  was? 

Hans:  Ja  (setzt  sicfa  did»t  neben  ihn,  ohne  ihn  aazusehen)  ich  bin  los,  — 

verstehst  du?  ich  spur's,  daB  ich  in  die  Strdmung  geraten  bin  und  — 

(Brregung.) 

StarkfuB:  Wieder  einmal . . . Wie  lange,  glaubst  du,  wird  deine 
Frau  den  Neufundlander  spielen? 

Hans:  Du  verstehst  nicht. 


50 


Rene  Sdbidiefc  * Hans  im  SSnafenfoS 


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Starkfufi:  Dodi,  ich  begreife  sdion:  du  meinst,  du  kamst  nidit 
wieder,  und  ich  flrage  did),  wie  oft  du  dieses  Spiel,  wozu  die  Kinder 
Kuckuck  rufen,  zu  wiederholen  gedenkst  — vielmehr,  ob  du  glaubst, 
daft  deine  Frau  . . , 

Hans:  Willst  du  zu  mir  halten,  ja  oder  nein? 

Starkfufi:  Du  kennst  deine  Frau  sdiledit,  wenn  du  annimmst, 
dafi  sie  jemand  braucbt,  der  zu  ihr  halt,  aufier  dir. 

Hans:  Hs  wurde  midi  aber  beruhigen 


DREIZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Dimpfcl. 

Dimpfel:  Die  Madam  will  keine  Sterne,  sie  will  didi  sehn. 
Hans:  Himmlisdier  Vater! 

Starkfufi:  »Der  Hans  im  Schnakenloch 

hat  alles,  was  er  will, 
und  was  er  hat,  das  will  er  nicht  . . .« 
Hans:  Bin  Herz  von  einem  Freund! 

Dimpfel:  »Und  was  er  will,  das  hat  er  nidit  . . .*  (Hans  ab> 


VIERZEHNTER  AUFTRITT 

StarkfuB.  Dimpfel. 
Dimpfel  (sdireit  zum  Haus):  He! 

Starkfufi:  Weiflt  du,  wo  Balthasar  steckt? 
Dimpfel  (lauter):  He! 


FQNFZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  SchambediB. 

Dimpfel:  Wir  mochten  zu  trinken  haben,  wenn's  gefallig  ist. 

(SdiambediB  ab.) 


SECHZEHNTER  AUFTRITT 

StarkfuB.  Dimpfel. 

Dimpfel  (setzt  sidi):  Jetzt  kriegt  man  endlich  Ruh.  Die  Feuerwehr 
ist  weg,  und  nun  machen  die  andem  audi,  dafi  sie  nach  Haus  kommen. 
Man  hort  wieder  sein  eigen  Wort.  <Vertrau!id>.>  Es  ist  namlidi  wirk» 
lich  eine  wundervolle  Nadit.  (Sie  haben  Zigarren  angesteckt.  Man  hort 


Rene  S&ic&cfe  • Hans  im  Sc6na6enfo<6 


51 


betlen/  uadi  ciner  Wdk>:  Schone  Hunde  hat  die  Alte.  (Pause.)  Neulich 
habe  ich  gelesen,  der  Metsdhnikoff  in  Paris  hat  ein  Mittel  entdeckt, 
das  Leben  kunstlich  zu  verlangem.  (Pause.)  Auf  einmal  stirbt  uber- 
haupt  kein  Mensch  mehr.  (Pause.)  Dann  wirst  du  nie  Hauptmann. 
(Pause.)  Wer  ist  denn  eigentiich  zuerst  auf  den  Gedanken  gekommen 
ZU  rauchen?  (Da  StarkfuB  die  A duel  zuckt,  nadj  einer  Pause):  Sdilaukopf! 
(Pause.)  O je,  da  kommt  schon  wieder  eine  Madam. 

SIEBZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Kl3r. 

Klar:  Verzeihen  Sie,  Starkfufi,  haben  Sie  Hans  gesehn? 
Dimpfel:  Dodi,  er  ist  im  Park. 

Klar:  Danke  s<hdn. 

StarkfuB  (si<t  erhebend) : Das  heiBt  . . . 

Klar:  Nein,  danke,  idi  gehe  lieber  allein.  (Ab.) 


ACHTZEHNTER  AUFTRITT 


Dieselben.  SAambedib  (mit  Tablett). 


Dimpfel:  Aha! 

StarkfuB:  Dich  kann  man  brauchen! 

Dimpfel  (ahnungslos) : Naturlidi  kann  man  midi  brauchen. 
StarkfuB:  Schrei  nicht  so. 

Dimpfel:  Schrei  ich? 

StarkfuB:  Flusterst  du  vielleicht? 

Dimpfel  (auf  Scbambedi8  zeigend):  Ich  red'  mit  dem. 

StarkfuB  (zu  SdiambediB):  Die  Frau  Grafin  hat  sich  wohl  schon 


zurudcgezogen?  (SAambediB  sieht  Dimpfel  fragend  an.) 

Dimpfel:  Er  firagt,  ob  die  Alte  schon  ins  Nest  ist? 
SdiambediB:  Ja,  ja. 

Dimpfel:  Der  Schwab  kann  nicht  deutsch  reden,  gelt? 
SdiambediB:  Man  versteht  die  Herren  nicht  immer.  Sie  spredien 
halt  hochdeutsch. 

StarkfuB:  Ist  das  schwerer  als  franzosisdi? 

SdiambediB:  Man  hat's  halt  nicht  gelernt. 

StarkfuB:  Es  wird  aber  jetzt  im  ganzen  Land  hochdeutsch  ge» 
sprodien. 


52  Rent  J '<£idwf*  • Hans  im  SSnaftnfoS 


SchambediB  (ablehnend):  Ich  hab's  gehdrt. 

StarkfuB:  Selt  40  Jahren. 

SchambediB:  Kann  sdion  sein. 

Dimpfel:  Na,  G'sundheit!  (Wihrend  sie  die  Glaser  heben.> 

NEUNZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Klar. 

Klar:  Wo  ist  Balthasar?  Ich  will  nacb  Hause  . . . I<b  kann  nidit 
auf  meinen  Mann  warten.  I<b  finde  ihn  nidit.  Ich  fuhle  midi  auch 
nidit  wohl. 

StarkfuB:  Frau  Klar,  wenn  ich  Sie  begleiten  darf?  Ich  wollte 
sowieso  gerade  aufbredien. 

Klar:  Ich  bioe  Sie  darum. 

StarkfuB:  Gute  Nadit,  Dimpfel. 

Klar:  Gute  Nadit,  Herr  Doktor. 

ZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Dimpfel.  SdiambediR. 

Dimpfel:  Ja  da!  Jetzt  soil  ich  allein  hier  sitzen?  Kommt  her,  setzt 
Eudi  zu  mir. 

SchambediB  (ers dirodcen) : Jesses  Maria! 

Dimpfel:  LaBt  die  Heiligen  beiseite  und  setzt  Eudi  her,  sag'  idi. 
Die  Alte  sdinarcht  sdion. 

SchambediB:  Dann  modit  ich  aber  audi  den  andern  holen. 
Dimpfel:  Holt  den  andern.  Aber  schnell.  Es  ist  eine  wunder- 
bare  Nadit.  <Sdhambedi8  ab.> 

EINUNDZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Dimpfel.  SchambediB.  Diener. 

(SchambediB  kommt  gteich  mit  dem  andern  Diener  zurQdc.  Sie  screen  sich.  Dimpfel 

schenkt  ein.) 

Dimpfel:  Vollmond.  — G'sundheit. 

ZWBIUNDZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Balthasar. 

Dimpfel:  Hierher,  Mann.  <Zu  den  Dienem.)  Das  ist  einer  von  den 
Unsern. 


53 


Rene  Sdickefa  • Hans  im  5c£na6ert(oc£ 


Balthasar:  Herzensdimpfel.  Wie  sdion,  dafl  idi  didi  heute  noch 
treffe.  Wo  hast  du  denn  gesteckt? 

Dimpfel:  Unter  einem  Wasserfall  von  Welschen.  Aher  jetzt  sind 
wir  unter  uns.  G'sundheit. 

Balthasar:  G'sundheit,  Dimpfel, 

Dimpfel:  Woruber  hast  du  denn  mit  der  Grafin  gesdiwatzt? 

Balthasar:  Ich  habe  gehort,  wie  unser  Abb£  ihr  auseinander 
setzte,  dafi  du  keineswegs  ein  Barbar,  sondern  ein  Kulturtrager  seist. 

Dimpfel:  Sdiad'  um  den  Bursch,  dafi  er  PfafiF  geworden  ist, 

Balthasar:  Was  hatte  er  denn  werden  sollen? 

Dimpfel:  Hi,  zum  Beispiel  Oberlehrer,  <Man  hort  unterdrOckt 

»Scbambedifi«  rufen.) 

Diener:  Pierre  ruft.  <Sdianil>edi6  versAwindet.) 

DREIUNDZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Ohne  SchambediB. 

Dimpfel:  Was  madit  der  Pierre? 

Diener:  Der  Pierre  macht  den  Portier. 

Dimpfel:  Wie  seid  ihr  denn  auf  die  alte  Kommode  gekommen? 

Diener:  Wir  haben  sdion  immer  darauf  gestanden. 

Dimpfel:  Aha. 

VIERUNDZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Dieselben,  Sdiambedifk 

SdiambediB  (zxirflck):  Der  Pierre  sagt,  es  seien  sdion  alle  Leute 
fort.  Die  Fremdenzimmer  seien  fertig,  Ob  er  das  Tor  zumachen  durfte. 

Dimpfel:  Fremdenzimmer?  Wir  wollen  nidit  hier  schlafen.  Ich 
muli  morgen  um  8 in  der  Sdiule  sein.  Setzt  eudi,  setzt  euch.  Der 
Pierre  soil's  Tor  zumachen  oder  ofifen  lassen,  wir  kommen  schon 
hinaus. 

Balthasar:  Wieso  sind  alle  Leute  fort? 

Dimpfel  <mit  den  Dienem  anstoBend):  G'sundheit. 

*Der  Hans  im  Sdinakenloch 
hat  alles,  was  er  will  . . .« 

(Die  Diener  wiederholen  mit  Dimpfel  zusammen.) 


Rent?  St£id*f*  • Hans  im  5<6rtaktH(cx£ 


54 


Balthasar:  I<h  habe  noch  eben  Klar  gctroffen , wie  sie  ihren 
Mann  suchte. 

Diener:  Der  Herr  Hans  ist  schon  fort,  idh  hab's  der  Madam 
Boulanger  gesagt. 

Dimpfel:  Ja,  ja.  Unser  Soldat  hat  sie  nach  Haus  gebracht.  (Da 
der  andere  stutrt)  Ei,  der  Starkfufl.  »Und  was er  will,  das  hat  er  nidit...« 
Balthasar  (bridit  in  Sddudizen  ant). 

Dimpfel:  Was  ist  denn?!  — (Sdienkt  ein.)  Gebt  dem  Mann  zu 


Dimpfel:  Was  ist  denn?! 
trinken! 


Vorhang. 


Rene  S<6i<£efe  • Hans  im  Sc6na£enfo<£  55 

M*M*Mmm**m*****0**********jm*************************^*********************^*******^***^***********0**********^*^^****^M****m*********m*** 

DRITTER  AUFZUG 

Zimmer  wie  im  ersten  Aufzug. 

Nachmittags  im  Hodisommer. 

ERSTER  AUFTRITT 

Klar.  Balthasar. 

<Sie  sitzen  vieder  nebeneinander  auf  der  Klavierbank,  RGcfcen  zum  Instrument.) 

Balthasar:  Du  spielst  nidht  mehr  so  gut. 

Klar:  Ich  will  lieber  nicht  so  gut  spielen  und  dafiir  meinen  Mann 
im  Haus  haben. 

Balthasar:  Bist  du  bose,  wenn  i<h  dir  sage,  daft  die  drei  Monate, 
die  fur  dich  so  traurig  waren,  fur  midh  eine  schone  Zeit  — 

Klar:  Ja,  mein  Junge,  du  warst  sehr  gut  zu  mir. 

Balthasar:  Davon  spreche  ich  nicht. 

Klar:  Unser  Musizieren  hat  mir  viel  geholfen . . , Dodi  manch- 
mal,  wenn  wir  so  recht  im  Zug  waren,  bekam  ich  plotzlich  Angst, 
ich  wurde  wahnsinnig.  Ich  bekam  Angst  vor  mir  selbst. 

Balthasar:  So  wild  wurde  die  sanfte  blonde  Frau, 

Klar:  So  verzweifelt.  Und  dazu  in  einer  Art,  die  mich  irgendwie 
bosartig  entzudete. 

Balthasar:  Ich  fuhlte  es  wohl.  Ich  muB  dir  gestehn,  daB  es  mir, 
wenn  ich  so  neben  dir  sail,  kalt  den  Rudten  hinunterlief. 

Klar:  Weifit  du  was,  Junge?  Ich  glaube,  daB  ich  in  solchen 
Augenblidcen  dem  Wesen  meines  Mannes  nahe  kam,  wie  nie  zuvor. 

Balthasar  <lachelnd>:  Weil  du  bose  warst? 

Klar:  Leidenschaftlich  bose  — und  mich  dabei  irgendwie  schon 
fuhlte.  Ich  kann  mir  denken,  daB  man  so,  wie  auf  einer  Rutschbahn, 
in  den  Tod  fahrt,  ohne  jede  andere  Ergriffenheit,  als  einen  won* 
nigen  Schwindel. 

Balthasar:  Aus  der  Gegend  kam  schon  viel  starke  Musik. 

Klar:  Wo  die  Seele  durch  den  sthmalen  Streifen  gleitet  zwischen 
Tag  und  Nacht.  Wo  wir  aufwachen  und  sterben.  Sicher  wachsen 
dort  die  starksten  Gefuhle.  Wenn  ich  denke,  wieviel  Musik  ich  schon 
gehort  und  selbst  tapfer  mitgemacht  habe,  und  daB  ich  dabei,  bis 
vor  einigen  Wochen,  von  ihrer  eigentlichen  Kraft  vollkommen  un* 
beruhrt  geblieben  war  — 


Pen/  Sc6iditf*  * Hans  im  Sc6nafenf<x£ 


56 

MWM— — <WWWP«MMW»#* 

Balthasar:  Was  1st  dann? 

Klar:  Was  dann  ist?  Dafi  idi  Hans  viel  abbitren  muB. 

Balthasar:  Du  — ihm? 

Klar:  I<h  ihm.  Ich  wuBte  nidit,  was  Menschen  sind.  Wie  sie  maB» 
los  leiden,  und  wie  maBios  sic  begchren  konnen.  Ich  dachte  immer, 
idi  sel  in  einen  Taugenidits  verliebt,  in  einen  »TrompetenstoB  in 
einer  Laternec,  wie  ihr  hierzulande  sagt,  der  zwisdien  den  Glas* 
wanden  herumfahrt  und  bei  allem  UngestGm  nidit  heraus  kann  — 
eben:  in  den  »Hans  im  Sdinakenlodic.  Glaube  mir,  der  hatte  es 
beim  Durdibrennen  schwerer,  als  idi  beim  Sitzenbleiben, 

Balthasar:  Du  deutsdie  Frau. 

Kl§r:  Fangst  du  jetzt  auch  an?  Was  hat  das  mit  deutsch  zu  tun? 

Balthasar:  Mancherlei,  Klar.  Einmal,  daB  du  deinen  Weg  lang» 
sam  machst,  aber  dafur  mit  sdiwerstem  Herzen  • — um  nidit  zu  sagen 
grfindlidier.  Dann  — ja,  das  kann  idi  nidit  sagen. 

Klar:  Warum  nidit? 

Balthasar:  Es  ist  wie  mit  der  deutsdien  Musik.  Die  wildesten 
Studce  haben  die  bravsten  Mensdien  gesdirieben.  Dieses  zweite  Ge- 
sidit  eines  deutsdien  Kleinburgers  ist  geradezu  unheimlidi.  Einer  hat 
das  Wort  dafur  gefunden:  Innerlidikeit.  Es  ist  eine  damonisdie 
Eigensdiaft. 

Klar:  Und  was  habe  idi  damit  zu  schaffen? 

Balthasar:  Von  dieser  Art  ist  deine  Treue. 

Klar:  Was  weiflt  du  von  meiner  Treue? 

Balthasar:  Mehr,  als  du  vielleicht  ahnst. 

Klar:  Warum  funkelst  du  midi  dabei  so  an?...  Junge,  du  muflt 
mir  die  Wahrheit  sagen:  liebst  du  midi? 

Balthasar:  Das  fragst  du  midi  jetzt,  wo  — 

Klar:  Wo? 

Balthasar:  Wo  Hans  wieder  im  Hause  ist. 

Klar:  Ich  habe  vorher  nie  daran  gedacht. 

Balthasar:  Bist  du  sicher? 

Klar  (stodct,  dann  sdiOttelt  sie  den  Kopf):  Ja,  denn  sonst  — 

Balthasar:  Was,  Klar? 

Klar:  Sonst,  Balthasar,  hatte  idi  didi  nidit  zu  meinem  Ver- 
trauten  gemadit. 


Rent  SSicftf*  • Hans  im  SSnaHtnfocB 


57 


Balthasar:  Zu  deinem  Vertrauten?  Du  hast  die  ganze  Zeit,  wo 
Hans  fort  war,  mit  mir  nidit  einmal  fiber  ihn  gesprothen,  noth  mir 
sonst  etwas  anvertraut . . . Um  so  mehr,  seitdem  er  zurudt  1st. 

Klar:  Ich  weifi  nicht,  Balthasar,  willst  du  midi  kranken?  Willst 
du  midi  beschamen?  Habe  ich  dir  Unrecht  getan?  Ich  tiebe  Hans,  das 
weifit  du  dodi,  Ich  liebe  ihn  und  nur  ihn  und  will  und  kann  keinen 
andern  lieben,  ich  liebe  Hans,  das  weifit  du  dodi.  Ich  habe  gem  mit 
dir  musiziert,  wie  frfiher  audi,  wie  schon  immer. 

Balthasar:  Ware  ich  Hauslehrer  oder  ein  gemieteter  Klavier- 
spieler  gewesen,  ich  hatte  nicht  besser  behandelt  werden  konnen. 
Das  ist  wahr. 

Klar:  Balthasar,  warum  tust  du  das?  Warum  fiberfallst  du  midi, 
wenn  ich  gerade  Hand  in  Hand  mit  dir  sitze?  Wie  kannst  du  meine 
Vertraulichkeit  annehmen,  wenn  du  — 

Balthasar:  Blidc'  dodi  einmal,  nur  eine  Sekunde,  von  Hans  auf 
midi.  Die  Welt  ist  doch  nicht  nur  ein  Abglanz  von  ihm.  Ich  habe 
mich  von  kleinauf  gewohnt,  midi  ihm  unterzuordnen,  an  ihm  zu  ver- 
sdiwinden,  wie  die  Uhr,  die  er  gelegentlidi  aus  der  Tasdie  zieht. 
Zum  Teil  bin  ich  ein  Geschopf  von  ihm.  Er  ist  in  vielem  und  sdieint 
in  allem  starker,  als  ich.  Ich  gonne  es  ihm,  wenn  ich  audi  manchmal 
ungeduldig,  sogar  neidisdi  bin,  ich  gonne  ihm  didi.  Obwohl  ich  weifi, 
wie  es  endet.  Aber  ich  mochte  dodi  einen  Menschen  haben,  der  in 
mir  nicht  nur  den  kleinen,  braven  Bruder  des  grofien,  tollen  Hans 
sieht  — vielleicht  ist  meine  Bravheit  eine  Starke  und  meine  Klein- 
heit  grofi  durdi  das  viele,  was  ich  unterlasse,  um  eine  Sadie  ganz 
zu  madien. 

Klar:  Wie  was  endet? 

Balthasar:  Das  ist  das  einzige,  was  du  aus  meiner  ganzen 
langen  Rede  herausgehort  hast. 

Klar:  Balthasar,  wie  was  endet? 

Balthasar:  So  wie  er  in  seiner  ruhigen  Zeit  mit  seinen  Adju- 
tanten  zwischen  hier  und  der  Stadt  hin  und  her  hetzen  mufi,  um 
bei  seiner  Arbeit  aushalten  zu  konnen,  so  rast  er  mit  seiner  ganzen 
Existenz  dem  Abgrund  zu,  um  fiberhaupt  leben  zu  konnen.  Er  wirt- 
sdiaftet  das  Gut  herunter,  indem  er  es  zu  sthnell  in  die  Hohe 
bringen  will.  Er  ladt  sich  eine  Riesenarbeit  auf,  die  er  schledit  macht. 


Rtnt  SeBiditfe  • Hans  im  5c£na6tnfo<£ 


weil  sie  viel  zu  grofi  ist,  als  daB  er  sie  gut  madhen  konnte,  — aber 
was  cr  tut,  genugt,  urn  seine  Gesundheit  zu  ruinieren.  Statt  das 
Gut  rentieren  zu  lassen,  zwingt  er  es,  Sdiuiden  zu  madien,  immer 
mehr,  je  mehr  es  herausgibt. 

Klar:  MuBt  du  alles  Hans  sagen.  Was  geht  es  midi  an? 

Balthasar:  Es  geht  did)  an,  und  es  geht  deine  Kinder  an. 

Klar:  Meine  Kinder  werden  ni<ht  hungern. 

Balthasar:  Dieser  Boden  ist  auch  mein  Boden!  Dieses  Haus  ist 
auch  mein  Haus.  Das  alles  ist  mein  Leben.  Wenn  er  nicht  weiB, 
was  er  von  seinem  Vater  bekommen  hat,  damit  er  es  erhalt  und  an 
seine  Kinder  weiter  gibt,  so  soil  er  es  doth  um  Gottes  willen  stehn 
und  liegen  lassen.  Id)  habe  ihm  vorgeschlagen , die  Mutter  hat  ihm 
vorgeschlagen,  er  solle  alles  Geld  nehmen  und  davon  leben  oder 
irgend  etwas  anderes  anfangen,  ich  wollte  ihm  auBerdem  die  Halfte 
des  jahrlichen  Ertrags  abgeben,  du  bist  vermogend  — er  kdnnte  der 
glucklichste,  sorgenloseste  Mensch  sein,  aber  nein,  er  mufi  uns  zu- 
grunde  richten.  Eher  gibt  er  keine  Ruhe. 

Klar:  Warum  erzahlst  du  mir  das? 

Balthasar:  Oft  meine  Id),  er  ist  der  leibhaftige  Satan.  Er  kann 
nicht  ertragen,  daB  etwas  gedeiht.  Eines  Nachts,  wenn  er  aus  der 
Stadt  kommt  und  nicht  gleich  einschlafen  kann,  geht  er  auf  den  Boden 
und  stedet  sein  eigenes  Haus  an. 

Klar:  Hor'  auf! 

Balthasar:  Ich  sag'  dir,  er  tut's.  Und  wenn  du  ihn  nach  dem 
Grund  fragst,  antwortet  er  dir:  die  Budike  sei  sowieso  baufallig  ge- 
wesen,  und  uber  den  Erker  mit  den  von  GroBvater  geschnitzten 
Herzen  habe  er  sid)  schon  immer  geargert. 

Klar:  Sprich  did)  mit  ihm  aus.  Ich  weiB,  er  hat  did)  lieb.  Mich 
muBt  du  damit  verschonen. 

Balthasar:  Er  hat  alle  Welt  lieb,  wenn  er  nicht  zufollig  gerade 
alle  Welt  hafit.  Ich  war  schon  oft  im  Begriff,  mit  ihm  uber  die  Dinge 
zu  sprechen.  Auf  das  erste,  was  ich  ihm  sage,  gibt  er  mir  eine  so 
verblGflend  torichte  Antwort,  daB  idi  unmoglidi  fortfahren  kann.  So 
geht  es  mir,  so  geht  es  der  Mutter,  so  geht  es  dir.  Gegen  soviel 
Unschuld  kommt  keine  Predigt  an.  Die  Mutter  hat  den  Abb£  Schmitt 
auf  ihn  losgelassen,  den  er  doch  ganz  besonders  lieb  hat  Der  Abb£ 


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Rene  SSiSefe  • Hans  im  Sc6nakenfo<6  59 

t*******"******************************************************************************************************************* 

war  verzweifelt,  als  die  Mutter  ihm  unsere  Lage  sdiilderte.  Richtig 
hat  auth  der  Abbe  eine  ganze  Nacht  aufgesessen  und  mit  Hans  ge» 
sprodien.  Als  idi  einmal  zu  ihnen  hineinging,  weil  idi  dadite,  nun 
set  die  Bresthe  geschlagen,  hielt  Hans  dem  Abbe  einen  Vortrag,  in- 
wiefem  Mohammed  als  der  Luther  des  Orients  zu  gelten  habe,  und 
der  Abbe  war  siditlidi  hingerissen.  Andern  Tags  versidierte  er  der 
Mutter,  sie  musse  sidi  geirrt  haben,  Hans  sei,  davon  habe  ihn  die 
stattgefundene,  sehr  ernste  Unterredung  iiberzeugt,  ein  hervorragender 
Landwirt. 

Klar:  Wenn  du  wuBtest,  wie  du  jetzt  an  Hans  erinnerst. 

Balthasar:  Ich  weiB  es  ja.  Idi  hab  es  ja  von  ihm  gelernt.  Leider 
bin  ich  nicht  nur  in  der  Ausdrucksweise  eine  wandelnde  Hypothek 
von  ihm.  Es  genugt  mir  sdion,  daB  idi  der  einzige  1 :er  bin,  der  sidi 
nidit  einfadi  von  ihm  hat  sdiludcen  lassen. 

Klar:  Was  mich  anlangt,  Balthasar,  so  fiihle  idi  midi  sehr  wohl 
dabei. 


ZWEITER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hans. 

Balthasar:  Da  kommt  er.  Da  steht  er.  Und  nun  hat  sidi  die 
Welt  hier  um  ihn  zu  drehn. 

Hans:  Aber  sie  tut's  nidit,  mein  Junge.  Im  Gegenteil.  Ich  habe 
midi  soeben  vergeblich  um  einen  auskneifenden  Planeten  bemiiht. 
Der  Hopla  hat  gekiindigt  und  packt  sein  Bundel. 

Klar:  Was  ist  denn  Schreckliches  gesdhehn? 

Hans:  Idi  habe  ihm  eine  heruntergehauen.  An  seiner  Stelle  bliebe 
idi  audi  keine  Stunde  langer  im  Haus.  Eine  Gemeinheit,  den  alten 
Knedit  seines  Vaters  zu  schlagen,  der  nur  nodi  fiinf  wackelige  Zahne 
im  Mund  hat,  von  denen  jeder  eine  Sehenswiirdigkeit  ist.  Wir 
werden  ihm  eine  anstandige  Rente  aussetzen  mussen. 

Balthasar:  Er  war  wohl  rabiat? 

Hans:  Ja,  er  iibte  wieder  in  hervorragendem  MaBe  Widerstand 
gegen  die  Staatsgewalt.  Der  Teufel  sdiidcte  nadh  mir:  wenn  idi  nidit 
gleidi  kame,  gabe  es  ein  Ungludt.  Den  Teufel  sollten  sie  zum  Statt- 
halter  madien.  Das  ist  ein  ausgezeichneter  Politiker. 

Balthasar:  Du  muBt  didi  halt  entsdiuldigen. 


5 vol  myi 


60  Ren/  SSidlef*  - Hans  im  ScBnafttnfoS 


y r rr  r r r 


Hans:  Hatte  ich's  nur  nidit  getan ! Die  Ohrfeige  steckte  er  ganz 
brav  ein.  Als  ich  midi  aber  nachher  entschuldigte,  da  wurde  er  so 
geriihrt,  dal)  er  sdinell  auf  sein  Zimmer  ging  und  sein  Bundel  padcte. 
Eben  ist  er  zum  Tor  hinaus. 

Balthasar:  Ich  hoi'  ihn  zurudk. 

Hans:  Der  ganze  Hof  ist  hinter  ihm  her.  Je  dicker  die  Tranen 
werden , die  ihm  die  Backen  hinunterlaufen,  desto  grofiere  Schritte 
macht  er.  Du  mufit  dich  eilen.  Ich  warte  nur  darauf,  dal)  sie  driiben 
im  Dorf  die  Sturmglodce  lauten.  Der  Hopla  geht  fort.  Da  droht  ein 
Volksaufstand. 

Balthasar:  Ach  was.  Weiter  wie  bis  zum  »Goldenen  Ldwen* 
kommt  er  nicht. 

Hans:  Du  verstehst  dich  nicht  auf  die  wunderbaren  Gefuhle  eines 
Martyrers.  Aufierdem  sind  sie  fur  Hopla  neu.  Er  wird  sie  aus- 
kosten  wollen.  Aufierdem  ist  er  vollkommen  betrunken. 

Balthasar  <an  der  Tflr>:  Also. 

Hans:  Sei  nett  mit  ihm,  horst  du?  Er  hat  sidi  heute  geplagt  fur 
vier,  und  es  war  ein  heifier  Tag.  Wenn  du  schon  bis  zum  Dorf 
gehst,  so  bringe  bitte  unsre  Gottesgeifiel  mit.  Audi  ein  Packchen 
Zigaretten  kannst  du  unterwegs  mitnehmen. 

Balthasar:  Halt.  Genug.  Auf  Wiedersehn,  Klar.  Bis  nachher. 

DRITTER  AUFTRITT 

Hans.  Klar. 

Hans  <der  ihm  nachsieht) : Wenn  er  so  aus  dem  Zimmer  geht,  habeich 
das  GefOhl,  als  sei  soeben  bei  mir  eine  Haussuchung  abgehalten  worden, 

Klar:  Sollte  das  nicht  dein  schlechtes  Gewissen  sein? 

Hans:  Ich  bitte  dich,  sdiicke  mir  nicht  das  schledite  Gewissen  auf 
den  Hals.  Dank  meinem  Jugendaufenthalt  in  Beichtstuhlen  lasse  ich 
mir  so  etwas  nur  zu  leicht  einreden. 

Klar:  Mir  kannst  du's  sagen,  Hans,  denn  es  tate  mir  nicht  sonder* 
lich  weh:  haben  wir  Schulden? 

Hans:  Ja,  warum  sollten  wir  denn  keine  Schulden  haben?  Jeder 
tuchtige  Mann  hat  Schulden.  Je  mehr  einer  verdient,  desto  mehr 
Schulden  macht  er.  Genau  wie  deine  Kinder  mehr  essen,  je  starker 
sie  werden. 


Rene  Sdidefe  • Hans  im  S&na6enfo<£  61 

Klar:  Verstehe  nidit. 

Hans:  Stell'  dir  vor,  du  willst  morgen  ein  Geschaft  eroffnen,  sagen 
wir  eine  Musikalienhandlung.  Da  braudist  du  Geld.  Du  nimmst  also 
erst  dein  eigenes,  wenn  du  weldies  hast.  Das  Gesdiaft  geht.  Die 
Kundsdiaft  sturmt  dir  den  Laden,  und  du  bemerkst,  daft  sogar  die 
Leute  im  Dorf,  obwohl  dort  sdion  eine  Musikbude  besteht,  lieber 
bei  dir  kaufen,  als  bei  der  vertrottelten  Mamsell  dort  Du  entsdiliefit 
diet,  um  es  den  Leuten  bequemer  zu  machen  — die  Kauflust  steigt 
naturlidi  mit  der  Leiditigkeit  zu  kaufen,  uberall  — du  entsdilieflt 
dich  also,  druben  im  Dorf  eine  Filiale  zu  erdffnen.  Da  braudist  du 
wieder  Geld.  Dein  eigenes  ist  aber  bereits  hier  im  Mutterhaus  angelegt. 
Was  tust  du?  Du  pumpst  dir  das  Geld.  Da  es  sicb  mit  5 Prozent 
verzinst,  dein  Gesdiaft  aber  mit  10  Prozent  Verdienst  arbeitet,  so 
bringt  dir  das  fremde  Geld  noch  immer  5 Prozent  ein.  Und  so  weiter! 

Klar:  Ist  es  denn  aber  sidier,  dafi  die  Filiale  im  Dorf  10  Prozent 
abwirft? 

Hans:  Sonst  bist  du  halt  hineingefallen. 

Klar:  Hans,  verzeih  die  Frage:  Haben  wir  Filialen? 

Hans:  Unser  Fall  liegt  anders.  Wir  sind  in  der  Lage  des  Mannes, 
der  von  seinem  Vater  ein  solides  Unternehmen  geerbt  hat,  das  aber 
den  heutigen  Anforderungen  nidit  mehr  entspridu,  weil  sich  heute 
nur  der  Grofibetrieb  halten  kann/  so  geht  es  zahllosen  Industriellen. 
Dafur  gibt  es  einen  guten  Ausweg:  die  Aktiengesellsdiaft.  Idi  habe 
sozusagen  aus  dem  Sdhnakenloch  eine  Aktiengesellsdiaft  gemadit. 
Idi  behalte  die  meisten  Akticn  und  bleibe  der  Herr  im  Haus.  So  ver- 
binde  idi  den  Vorzug  des  alten  Systems  mit  dem  der  modernen 
Kreditwirtsdiaft . . . Natiirlidi  bringt  diese  Grofizugigkeit  auch  Nadi- 
teile  mit  sidi.  Man  weifi  nidit  immer  genau,  was  man  besitzt. 

Klar:  Wenn  du's  nur  weiftt! 

Hans:  Irre  idi  midi,  Klar?  Mir  kommt  es  so  vor,  als  ob  wir  seit 
einigen  Tagen  leise  melandiolisch  wiirden. 

Klar:  Da  hatte  unser  neuer  Honigmond  nur  drei  Wodien  ge» 
dauert?  Schade. 

Hans:  Meine  Ansiditen  uber  die  Ehe  haben  sidi  vollkommen 
geandert.  Darf  idi  sie  dir  mitteilen? 

Klar:  Seit  wann? 


62 


Pen/  S&tcHfCr  • Hans  im  SdnakenfoS 


Hans:  Scit  einigen  Tagen,  das  heifit,  in  diesen  Tagen  1st  mir 
die  Veran  derung  zum  BewuBtsein  gekommen. 

Klar:  Id)  soil  nidit  mehr  im  Herrensattel  mit  dir  reiten?  Du  warst 
so  entzuckt  von  meiner  Reitkunst  — als  ob  du  sie  jetzt  erst  ent- 
deckt  hattest 

Hans:  War  id)  nid)t  von  allem  an  dir  entzfidit,  als  ob  id)  es 
jetzt  erst  entdeckt  hatte?  Ginen  goldigeren  Jungen,  als  did)  in  den 
Reithosen  hat  es  nie  gegeben,  — und  nie  war  eine  Frau  von  so 


sfl] 


II -f 


Reife. 


Klar:  Vorbei? 

Hans:  Nidit  so,  wie  du  meinst.  Nur,  wenn  kb  daran  denke,  was 
wir  in  den  drei  Wodhen  angestellt  haben  — ja,  dann  sdieint  mir, 
daB  man  von  Redits  wegen  mit  seiner  Frau  nidit  so  leben  darf. 
Audi  war  alle  Welt  fiber  unser  Betragen  entsetzt.  Der  Abbd  auBerte, 
es  ginge  nidit,  daB  id)  im  eigenen  Hause  eine  Geliebte  aushielte, 
selbst  nidit,  wenn  es  die  eigene  Frau  sei.  Im  Dorf  fande  man  did) 
bereits  extravagant 

Klar:  Erstaunlidie  Freunde  hast  du!  Mischen  sicfa  sogar  in 
deine  Ehe. 

Hans:  Das  kommt  daher,  daB  id)  mid)  in  alle  ihre  Angelegen- 
heiten  einmische.  Lauter  Folgen  der  Langeweile  hier.  Du  muBt  dem 
Mann  zugute  halten,  daB  er  seit  Jahren  mit  viel  Mfihe  und  erfolg- 
reidi  ffir  das  Ansehn  des  Hauses  Boulanger  kampft.  Ohne  ihn  wSre 
es  langst  ein  beliebtes  Sonntagsvergnugen  der  Witzbolde  geworden, 
mir  die  Reben  durdizuschneiden  und  die  Hunde  durdi  meine  Spargel- 


felder 


zu  jagen 


Klar:  Es  kfimmert  mich  auch  nidit,  ob  seine  Gemeinde  midi  ex- 
travagant findet  oder  nidit.  Wenn  du  ofter  mit  mir  durdibrenntcst, 
so  brauditest  du  keine  andre  Dame  zu  bemfihen  — was  immer 
Unheil  anrichten  kann.  Vor  allem  brenne  idi  audi  gem  durdi. 

Hans:  Als  ob  id)  jedes  Jahr  durdibrennte,  wie  andre  ihre  Kur 
in  Vidiy  oder  Baden-Baden  machen.  Seit  wir  verheiratet  sind,  habe 
idi  ein  einziges  Mai  den  Kopf  verloren 
Klar:  Abgemadit.  Idi  bin  audi  fur  alle  andem  Abarten  des  Liebes- 
spiels,  die  ihre  Reize  haben,  ohne  daB  man  dabei  gleidi  den  Kopf 
zu  verlieren  braudite. 


Rent  5 Side  ft  • Hans  im  SSnafenfoS  63 


Hans:  Wenn  das  deine  Kinder  hdrten! 

Klar:  So  wurden  sie  nur  undeutlich  erkennen,  wovon  die  Rede 
ist.  Aber  idi  verspreche  dir,  daB  unsere  Kinder  midi  niemals  mit 
ihrer  Gouvemante  verwechseln  werden. 

Hans:  Jetzt  sehe  ich  erst,  wie  idi  didi  verdorben  habe.  Die  Ehe 
ist  dcxh  etwas  and eres  — 

Klar:  Was  1st  sie? 

Hans:  Mehr  und  weniger,  als  ein  Abenteuer  der  Sinne. 

Klar:  Du  sdiridtst  vor  keiner  Heudielei  zurOdc.  Jetzt  spridist  du 
vie  ein  Missionsprediger.  Wenn  du  vor  Entzudtung  den  Kopf  ver- 
lierst,  so  ist  das  ein  Abenteuer  der  Sinne.  Wenn  idi  diet  redit 
verstehe,  etwas  Minderwertiges.  Langweilst  du  didi,  so  ist  es  eine 
Ehe  und  erhaben.  Nun  brauche  idi  mir  aber  nidit  erst  die  Haare 
Schwarz  farben  zu  lassen,  um  audi  Sinne  zu  haben  — 

Hans:  Ferner? 

Klar:  Ferner  habe  ich  mich  seit  der  Katechismusstunde  nicht 
mehr  gefragt,  was  die  Ehe  sei,  und  will  es  audi  gar  nidit  wissen. 
— Ich  habe  sie  erlebt,  das  genugt  mir. 

Hans  <hat  sidi  auf  das  Sofa  ausgestredet,  nadi  eintm  kurzen  Schweigen) : 

Als  ich  Frau  Cavrel  auf  ihren  Wunsch  in  ihr  Haus  zurudcbradite, 
sagte  mir  ihr  Mann:  »Idi  weiB,  daB  man  eine  Frau  wie  Louise 
nicht  verfiihrt.  Sie  braudien  also  keine  Vorwurfe  zu  erwarten.  In- 
dem  wir  — franzdsisch  laBt  sidi  so  etwas  angenehm  sagen  — in- 
dem  wir  gegenseitig  unsere  Gefuhle  schonen,  ehren  wir  uns  selbst. 
Da  wir  einander  fortan  nidit  mehr  kennen,  brauchen  wir  uns  nicht 
der  peinlichen  Prozedur  zu  unterziehn,  fur  bestimmte  Falle  bestimmte 
VerhaltungsmaBregeln  zu  verabreden.  Wir  kehren  einfiach  in  unser 
altes  Leben  zuruck,  und  keiner  von  uns  hat  den  W unsch,  den  andern 
wieder  herauszulodcen.  Madame  Cavrel  laBt  sidi  entschuldigen.  Sie 
leidet  an  Migrane.« 

Klar:  Ein  bedeutender  Redner.  Was  willst  du  damit  sagen? 

Hans:  Ich?  Nichts  . . . Es  sei  denn,  daB  die  Franzosen  besser, 
praziser  zu  leben  verstehn,  als  wir. 

Klar:  Denk,  wenn  idi  didi  mit  einerahnlichen  Rede  empfangen  hatte ! 

Hans:  Ich  hatte  eine  vorbereitet.  Naturlidi  war  sie  meiner  Lage 
angepaBt. 


Rene  SSidieft  • Hans  im  S<£naHenfo<£ 


Klar:  Und  warst  enttauscht,  als  das  Wiedersehn  eine  Wendung 
nahm,  die  sich  nicht  mit  der  franzosischen  Satzkonstruktion  vertrug? 

Hans:  Im  ersten  Augenblick,  glaube  ich,  war  id)  wirklid)  aus 
dem  Konzept  gebracht. 

Klar:  Jetzt  aber  sdieint  dir  der  Augenblick  gekommen,  zu  deinem 
Konzept  zuruckzukehren? 

Hans:  Hs  ist  unmoglich,  emsthaft  mit  dir  zu  sprechen. 

Klar:  Id)  spredie  die  ganze  Zeit  emsthaft.  H5re,  du.  Hast  du 
schon  einmal  daran  gedacht,  dafi  id)  mid)  einem  andern  Mann  geben 
konnte? 

Hans:  Es  gibt  nichts  Schmerzhaftes  im  Bereid)  meines  Lebens, 
woran  id)  nod)  nid)t  gedacht  hatte. 

Klar:  Id)  meine,  nid)t  nur  so  an  die  Mdglichkeit  gedacht,  son- 
dern  — gesehn. 

Hans:  Ja. 

Klar:  Dann  muflt  du  die  Hdlle  kennen,  in  die  du  mich  nie,  nie 
wieder  stQrzen  darfst.  Id)  bin  glucklich,  daft  id)  das  Schlimmste  er- 
fahren  habe,  ohne  fur  did)  verunstaltet  zu  sein.  Nicht  wahr?  Du 
hattest  mid)  nicht  mehr  geliebt,  wenn  id)  dir  untreu  geworden  ware. 
Ich  weifi,  dal)  du  selbst  gegen  deinen  Egoismus  nichts  vermochtest. 
Und  id),  ich  ware  dir  untreu  geworden,  wenn  id)  einen  andern  ge- 
liebt hatte.  Nicht  studcweise,  nicht  auf  Urlaub,  nein,  ganz,  mit  mir 
und  meinen  Kindern.  (Hans  ridjtet  sich  auf.>  Sei  froh,  dafl  du  mid)  die 
Liebe,  die  ganze  Liebe  gelehrt  hast,  du  adein.  Forsche  nicht,  was 
die  Ehe  ist,  oder  wie  sie  sein  soil.  Sieh  mich  an.  Hier  hast  du  eine 
Geliebte,  reif  und  nicht  verdorben,  erfahren,  aber  nicht  im  gering- 
sten  resigniert,  bestrafe  sie  nicht,  weil  du  sie  geheiratet  hast,  dafur 
werden  ihre  Kinder  nicht  auf  der  Strafle  mit  Steinen  geworfen,  ver- 
wohne  sie  ein  bifichen,  und  wenn  sie  did)  ein  Leben  lang  geliebt 
hat,  so  wird  das  dann  eine  Ehe  gewesen  sein. 

Hans:  Ja. 

Klar:  Und  da  du  gern  Frauen  im  Herrensattel  siehst,  so  reiten 
wir  morgen  durd)  die  Felder,  bis  an  die  Berge.  Wir  essen  auf  der 
Terrasse  des  Hotels  zu  Abend  und  sehn  die  Nacht  am  Schwarz- 
wald  herabsteigen. 

Hans:  Ja. 


Rene  5<£idtefe  • Hans  im  SdmakenfoS 


Klar:  Wenn  wir  Lust  haben,  konnen  wir  audi  dort  ubernachten. 
(Hans  nickt.)  Im  Herbst  fahren  wir  nach  Paris.  Einkaufen.  (Hans  nidct.) 
Und  wenn  mir  dabei  ich  weifi  nidit  was  geschieht  — idi  halte  den 
Tanz  durch.  Den  Tanz  der  Bajadere  vor  Hans  im  Sdinakenlodh. 

Hans:  Ausgezeidmet.  — Genau  das  Gegenteil  von  dem,  was 
ich  dir  mitteilen  woilte! 

Klar  <<ia  Hans  ihr  unter  die  Augen  sieht>:  Nein.  Geheult  wird  nidit 
mehr.  Und  was  das  Kindergeschrei  angeht,  so  sdilaft  das  Kind  be- 
reits  mit  der  Amme  im  alten  Flugel.  Icb  habe  GroBvaters  Zimmer 
herriditen  lassen.  Es  ist  schoner,  als  das  hier  war,  und  der  jungste 
Boulanger  kann  sidi  im  Krakehlen  uben,  ohne  dabei  die  zu  storen, 
die  es  in  dieser  ihrem  Volk  eigentfimlidien  Kunst  bereits  zur  Voll- 
endung  gebracht  haben. 

Hans:  Soil  idi  nun  weinen  oder  ladien? 

Klar:  Wozu  du  didi  audi  entsdiliefit  — icb  ladie. 

Hans:  Man  merkt  dir  das  Reiten  im  Herrensattel  an.  Idi  modite 
aber  dodi  lieber  weinen.  Idi  modite  midi  viel  lieber  trosten,  als 
lieben  lassen.  — Wir  haben  vielleidit  unsre  Rollen  vertausdit.  Gelt? 
Das  ist  auch  eine  Neuigkeit? 

Klar:  Die  Neuigkeit  madie  idi  nidit  mit. 

Hans:  Du  willst  mir  nidit  helfen? 

Klar:  Dodi,  auf  jede  Weise,  nur  nicht  so,  daB  idi  midi,  und 
audi  nodi  durth  didi,  vor  Bilder,  Erinnerungen  und  Vorstellungen 
schleppen  lasse,  damit  sie  midi  nodi  einmal  martem. 

Hans:  Idi  sdiwore  dir,  du  hast  nicht  den  geringsten  Grund  zur 
Eifersudit. 

Klar:  Idi  glaube  es  zu  wissen.  Aber  bedenke,  bitte,  du  hast  es 
mit  einer  Rekonvaleszentin  zu  tun.  Als  ich  dir  fruher  einmal  vor- 
hielt,  du  solltest  doch  den  Mut  haben,  mir  in  jedem  Fall  die  Wahr- 
heit  zu  sagen,  antwortetest  du,  idi  verwediselte  Mut  mit  Grausamkeit. 
Bitte,  verwedisle  audi  du  sie  nicht.  Was  idi  wissen  muBte,  weiB 
idi/  idi  habe  es  durdigemadit  und  will  unter  gar  keinen  Umstanden 
weiter  Fetzen  davon  mit  mir  herumschleppen.  Idi  will  auch  nicht, 
daB  du  didi  damit  schmuckst,  ob  das  Band  nun  rosa  oder  lila  sei 
— die  Farbe  der  feinen  Trauer. 

Hans:  Du  laBt  midi  fur  alte  Sunden  buBen.  — Ich  werde  die 


7VMIMM 


Rene  Sdidiefe  . Hans  im  S&na&enfo<£ 


66 


'em 


****** 


v. 


ms 


M 


Frau  nicht  los.  Auf  einmal  ist  sie  wieder  da.  I A kampfe  fast  korper- 
liA  mit  Ihr.  Sie  verfolgt  miA  aus  der  dunkeln  Edte  ihres  Boudoirs 
heraus,  wo  sie  den  haiben  Tag  sitzt  und  ihre  Gedanken  auf  miA 
riAtet  — aJie  ihre  heftigen,  zahen  Gedanken.  IA  bin  eine  Festung, 
Ae  der  Feind  unter  immerwahrenden  Sturm  gesetzt  hat,  wie  unter 
eine  Brandung  Waffen.  I A wehre  miA  und  wehre  miA,  sie  bleibt 
da.  Sie  weiAt  niAt.  O,  iA  sehe  sie  sitzen,  den  haiben  Tag,  und 
ihre  grunen  Augen  herhalten.  — Mit  Frauen,  die  griine  Augen 
haben,  sollte  man  si  A nie  einlassen.  Man  wird  sie  niAt  mehr  los. 

Klar:  Du  kannst  weiterspreAen,  Hans. 

Hans:  Was  will  sie  von  mir?  IA  frage  AA,  was  kann  sie  von 
mir  wollen?  I A habe  ihr  nie  VerspreAungen  gemaAt,  aber  wahrend 
wir  reisten,  gewohnten  wir  uns  in  so  furAtbarer  Weise  aneinander, 
dab  wir  uns  sAliebliA  lieber  miBhandelten,  als  uns  zu  trennen.  IA 
habe  ausgehalten  bis  zum  letzten.  IA  habe  miA  sAinden  lassen,  in 
jeder  denkbaren  Weise,  iA  habe  sie  naA  Hause  gebraAt,  vor  ihren 
Mann,  der  wie  ein  Offizier  der  Heilsarmee  mit  mir  spraA,  naA- 
dem  er  sie  mit  der  Freude  eines  ausgehungerten  Baren  umarmt 
hatte,  • — auf  diesem  Gipfel  der  Demutigung  mufite  sie  miA  sehn. 
IA  habe  brav  still  gehalten,  damit  sie  den  Anblick  genieben  konnte. 
Als  iA  wieder  auf  die  Strafie  trat  und  den  Kopf  hob,  war  Sonntag 
in  der  ganzen  Welt.  Eine  unbandige  Heiterkeit  sprang  mir  in  die 
Glieder,  iA  lief  zwei  Straiten  weit  aus  lauter  Freude  am  Springen. 
So  oft  iA  sAon  in  Paris  war,  der  Gedanke,  den  Eifelturm  zu  be- 
steigen,  war  mir  nie  gekommen,  Jetzt  sAwebte  iA  auf  den  Eifel- 
turm hinauf.  Als  einziger  BesuAer.  So  hoA  es  ging.  Es  war  herr- 

liA.  (Legt  sich  aufs  Sofa  zurGck.)  Klar? 

Klar:  Ja. 

Hans:  Es  war  herrliA.  Aber  naturliA  t5riAt,  niAt  daran  zu 
denken,  dab  sie  siA  raAen  werde.  Erinnerst  du  diA  eigentliA  an 
ihre  Augen?  Klar? 

Klar:  Kaum. 

Hans:  Seltsam.  <Erhebt  sith.)  IA  daAte,  jeder,  der  sie  einmal  ge» 
sehn  habe,  konnte  sie  niAt  wieder  vergessen.  <Beginnt  im  Zimmer  auf 
und  ab  zu  gehn.)  Es  freut  miA,  dab  es  dir  niAt  so  gegangen  ist. 
Wird  also  niAt  so  sAlimm  damit  sein  ...  Wie  der  Abend  am 


67 


Rene  5c£ic6eCe  • Hans  im  Sc£nakenfoc£ 

Sdiwarzwald  herabsteigt.  Ja,  das  wollen  wir  uns  morgen  betrachten. 
Wenn  du  nodi  willst. 

Klar:  Idi  will  nodi. 

Hans:  Dir,  Klar,  werde  idi  audi  nie  das  unsagbar  Gute  ver- 
gelten  konnen,  das  du  an  mir  getan  hast.  Du  bist  von  einer  Ge- 
duld,  die  einen  fast  heiligt.  Wenn  idi  didi  nidit  getroffen  hatte, 
wuflte  tefa  nidit,  was  Liebe  ist.  Ich  bin  ein  Stuck  Menschenkrampf . . . 
und  fliege  darauf,  wenn  idi  die  Krankheit  bei  andern  entdedee.  Du 
aber  liebst  aus  dem  Ganzen,  du  liebst  majestatiseb.  Idi  fuhl's,  die 
Zeit  kommt,  wo  idi's  von  dir  gelemt  haben  werde. 

Klar:  Ich  danke  dir. 

Hans:  Hab  nur  nodi  ein  wenig  Geduld.  Das  wollte  idi  dir  nam* 
lidi  von  der  Ehe  sagen.  Idi  wollte  dir  sagen,  dafl  idi  ein  guter 
Gatte  und  Vater  sein  will 

Klar:  Und  das,  meintest  du,  ginge  nur,  wenn  man  sidi  mit  dem 
notigen  Ernst  dahintersetzte. 

Hans:  Dumm,  nidit?  ...  Idi  habe  midi  aber  fest  entsdilossen, 
die  Scbeuklappen  anzulegen,  mit  denen  allein  man  ins  Himmelreidi 
gelangt. 

Klar:  Warum  Scbeuklappen? 

Hans:  Icb  nenne  es  nur  so.  Um  eine  gewisse  philosophisdie 
Haltung  bei  dem  Rudczug  zu  bewahren.  Zuerst  bringe  ich  das  Gut 
auf  den  Stand  zuruck,  in  dem  es  bei  Vaters  Tod  war.  Icb  mache 
niebts  mehr  ohne  Balthasar.  Wir  sind  B ruder  und  mussen  zusam- 
menhalten.  Die  Bilder  hier  — die  zwei  sebonsten  behalte  icb,  die 
andern  gehn  zur  Auktion.  Das  Geld  wird  angelegt.  In  ldeinen  so- 
liden  Papiercben,  wie  die  Mutter  sie  liebt.  Von  den  Jungen  bekommt 
jeder  ein  Sparkassenbuch. 

Klar:  Ein  Sparkassenbudi ! Denk  mail 

Hans:  Docb,  das  gewohnt  sie  fruh  ans  Sparen.  Und  statt  Bal- 
thasars kummere  icb  mich  um  den  Altesten.  Er  mufi  deutsdi  werden, 
ganz  deutscb,  nur  deutsdi  . . . Er  wird  mein  bester  Kamerad  — gib 
adit.  Das  ist  docb  nodi  etwas.  Kinder  — was  icb  an  meinem  Kinde 
tue,  das  ist  warmes,  saftiges  Leben,  wacbst  und  wirkt  selber  Leben, 
wer  weiB  wie  weit.  So  ein  Haus  ist,  riebtig  gesehn,  mehr  Welt, 
als  icb  auf  alien  m einen  bidden  Fahrten  zusammengekratzt  habe. 


68  Rene  Sdidefe  • Hans  im  Sdna&enfod 


Audi  alt  werden  1st  sdion,  nicfat  nur  bel  an  der  n.  Und  der  gleidi- 
bleibende  Wechsel  der  Jahreszeiten,  am  selben  Ort,  bereidiert  einen 
Immer  mehr,  man  wadist  und  schmifzt  in  die  Ewigkeit  hinein. 

Klar:  Hans,  komm  her.  <Sie  feo6t  iha  heftig.)  Verzeih  die  Unter- 
brediung.  <Sie  kofit  ihn  noA  dnmal.)  Du  mufit  mir  aber  schworen,  daB 
dein  Programm  nidit  ein  Kniff  ist,  um  deine  Langeweile,  die  du 
bisher  wie  ein  Janitschar  bekampft  hast,  nunmehr  in  einen  Gottes» 
dienst  zu  verwandeln.  Wir  behalten  nur  unsem  Leichtsinn  fur 
uns,  ja? 

Hans:  left  denke,  es  geht.  Nur  . . . idi  hatte  gedadit  . . . weifit 
du,  die  Angriffe,  denen  idi  ausgesetzt  bin,  die  sind  bestimmt  — 
bis  zu  einem  gewissen  Grad  — bfirgerlicher  Art  Idi  hatte  gedadit, 
wenn  idi  ihnen  eine  bOrgerliche  Ordnung  entgegensetze  — man  muB 
den  Feind  mit  seinen  eigenen  WafFen  sdilagen. 

Klar:  Ich  beginne  zu  fQrditen,  daB  du  das  nadiste  Mai  in  ein 
Kloster  durdibrennst. 

Hans:  Ja,  ja!  >Die  wir  haben,  die  halten  wir  fest,«  sagt  Schmitt. 
Die  Tonsur  ist  nodi  keinem  zugewadisen.  Wir  sind  die  besseren 
Rebellen,  weil  wir  die  besseren  Herren  haben.  Ihr  seid  ein  mehr 
oder  minder  irdhlidier  Haufen  Christenmensdien.  Wir  haben  nodi 
immer  die  alte  romisdie  Disziplin  in  der  Seele  — nidit  nur  die  Ge- 
weihten,  alle,  die  durdi  den  Beiditstuhl  und  die  Mysterien  gegangen 
sind.  Aber  du  muBt  zugeben,  dafi  zum  Beispiel  der  Abb^  ein  braver, 
ein  ausgezeichneter  Mensch  ist.  <Man  hort  Rufe:  »He!  Hc!*> 

Klar:  Er  hatte sich  mir  gegenuber  nidit  taktvoller  benehmen  konnen. 

Hans:  Der  Dimpfel  . . . (Am  Fenster.)  Was  ist,  Dimpfel?  <DimpfeI* 
Stimme):  »Es  gibt  Krieg.c 

Hans  (leichten  Tons):  Ei,  dann  komm  herauf  — und  bring  eins 
zu  trinken  mit.  — Klar,  ich  hab  dich  sehr,  sehr  lieb,  und  um  so 
lieber,  je  frohlicher  du  bist.  Ich  bitte  dich,  bleib,  wie  du  bist,  wenn 
ich  midi  audi  nodi  so  anstrenge,  es  dir  zu  verleiden. 

Klar  <kreuzt  die  Arme  auf  der  Brest):  Die  Bajadere  gruBt  den  ge» 
strengen  Herrn  und  empfiehlt  sich  seinem  Dienst. 

Hans:  Sela.  Dein  Herr  hofft  mit  deiner  Hilfe  gluddidi  in  der 
Mitte  zwisdien  der  Wasserheilanstalt  und  dem  Kloster  hindurdhzu- 
kommen. 


Rene  ScBidefe  • Hans  im  ScBnaHenfoS  69 


Klar:  Id)  werde  tanzen , daB  Sonne  und  Mond  stdistehn  und 
die  Sterne  sid)  zur  Brde  n eigen.  — Und  es  audi  als  Gattin  und 
Mutter  nid)t  am  notigen  Ernst  fehlen  lassen.  Sela. 

VIERTER  AUPTRITT 

Hans.  Kl£r.  Dimpfel. 

Dimpfel:  Madam!  Salu!  Ihr  macht  Theater?  Ich  sag7,  es  gibt 
Krieg. 

Klar:  Euere  Kriegsgespradie  kenne  id).  Auf  Wledersehn.  <Ab.> 

FQNFTER  AUPTRITT 

Hans.  Dimpfel  <mit  Weinkrug  und  zwe i GlSsern,  die  er  auf  den  Tisdi  stel(t). 

Hans:  Warum  denn,  Dimpfel? 

Dimpfel:  Du  ladist.  Gerade  wird's  im  Dorf  ausgetrommelt. 
(GekrSnkt)  Die  Leute  wollen  nie  glauben,  daB  es  Krieg  gibt. 

Hans:  Was  wird  ausgetrommelt? 

Dimpfel:  Kriegszustand.  Idi  hab  nur  immer  gehort:  — >wird 
mit  dem  Tode  bestraftc  — *vird  mit  dem  Tode  bestraftc  — Die 
Bauern  sind  ganz  vertattert.  Wie  id)  den  Pfeifescbang  anspredien 
vollte,  hob  er  die  Hande  zum  Himmel  und  rief:  »Nlx/  nix,  wir 
durfen  uns  nidit  zusammenrotten . « Strenge  Zeiten. 

Hans:  Kriegszustand  ist  noth  nidit  Krieg.  Dummheiten.  Wegen 
der  Serben. 

Dimpfel:  Ja,  weswegen  — . Ha  be  id)  heute  morgen  audi  gefragt, 
als  ein  Junge,  der  Sohn  eines  Majors,  den  Finger  hob  und  sagte: 
»Herr  Doktor,  morgen  geht  der  Spektakel  los.e  Warum,  habe  ich 
gefragt.  >Damit  es  endlidi  einmal  Ruhe  gibt,«  hat  er  gesagt.  Jetzt 
weiBt  du's.  Liest  du  denn  keine  Zeitungen? 

Hans:  In  den  Zeitungen  hat  es  schon  oft  Krieg  gegeben  in  den 
letzten  Jahren.  Aufierdem  lese  ich  im  Sommer  fast  nie  eine  Zeitung. 

Dimpfel:  Ei,  die  Leute  tun  audi  nichts  anders,  als  drauf  zu 
varten,  dafi  es  endlidi  losgeht. 

Hans:  Wer  wartet  drauf?  Wir  nicht. 

Dimpfel:  Das  glaub  ich,  Wenn  es  losgeht,  dann  erst  einmal  auf 
unserm  Bucket.  Es  ist  gar  nicht  auszudenken,  was  unser  armer 
Budcel  schon  ausgehalten  hat.  Er  liegt  halt  schlecht.  Wenn  wenig- 


70  Rene  S<6i<£ete  • Hans  im  5c£na6enfo<£ 

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stens  die  Franzosen  nicht  mitmaditen.  Sdieint,  sie  hatten  nicht  ge- 
braucht,  wenn  sie  nicht  gewollt  hatten. 

Hans:  ^Revanche!  Revanche!*  Sie  kriegen  sie  ausgeprugelt,  daB 
sie  weiB  Gott  wie  lange  braudien,  um  wieder  ordentlich  gehn  zu 
lemen.  — Dummheiten.  Es  gibt  keinen  Krieg. 

Dimpfel:  Bis  vor  ein  paar  Jahren  hatten  sie  noth  alle  Angst  vor 
dem  Krieg,  weil  die  neuen  Mordmaschinen  nodi  nicht  recht  aus- 
probiert  waren.  Seitdem  die  Balkanvolker  es  ihnen  aber  so  in  der 
Nahe  vorgemacht  haben,  konnen  sie  sich  kaum  halten  vor  Ungeduid 
loszubollern.  Wenn  es  schon  einmal  kommen  muf),  dann  mdglichst 
schnell,  damit  wir  die  Sadie  hinter  uns  haben.  Ich  denke,  sie  ver- 
sohlen  einander  so,  dab  sie  nachher  alle  miteinander  froh  sind,  wenn 
sie  etwas  Gbrig  behalten,  um  in  Frieden  darauf  zu  sitzen. 

Hans:  Mufitest  du  mit? 

Dimpfel:  Gott  sei  Dank,  nein.  Meine  Leber  bewahrt  mich  davor, 
uberschnappen  zu  mussen,  um  nicht  selbst  von  Qbergeschnappten 
umgebracht  zu  werden.  Du? 

Hans:  Nein. 

Dimpfel:  Was  fehlt  dir  denn? 

Hans:  Eigentlich  nichts.  Bel  der  Musterung  hatte  ich  ein  sch wadies 

Herz. 

Dimpfel:  Ein  Studentenherz.  Freu'  didi. 

Hans:  Ich  wurde  midi  gar  nicht  freuen. 

Dimpfel:  DaB  du  ein  Raufbold  bist,  weiB  ich.  Aber  — uberleg' 
es  dir  einmal. 

Hans:  Wenn  die  Franzosen  wirklich  Krieg  madien,  so  haben  sie 
nichts  anderes  verdient,  als  daB  die  deutsdie  Dampfwalze  uber  sie 
geht.  Ich  wurde  mir  die  Liebe  zu  ihnen  aus  dem  Leibe  reiflen,  und 
wenn  ich  dabei  verbluten  sollte.  Es  muBte  ein  Ende  haben.  Diese 
Zebranation,  — deren  eine  Halfte  als  gute  Weltburger  an  der  Spitze 
der  Menschheit  marsdiieren  will,  indes  die  andere  nodi  immer  bei 
Napoleon  dem  Ersten  halt. 

Dimpfel:  Pass' auf,  sie  geben  eine  groBartige  Absdiiedsvorstellung. 

Hans:  Wer? 

Dimpfel:  Die  Welsdien  — der  Welt.  Wenn  sie  friedlich  sind, 
schwatzen  sie  sich  jeden  Tag  ein  biBchen  hoher  in  den  Himmel. 


71 


Rene  Sc6tc6efe  • Hans  rm  Sdbnaftenfocfi 

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Abcr  wenn  sie  wild  werden,  fahren  sie  wortlos  zur  HoIIe  und 
nehmen  unterwegs  mit,  was  sie  erwischen  konnen.  Da  legen  sie  stch 
nidit  so  einfadi  unter  die  Dampfwalze. 

Hans:  Wer  imstand  sein  will,  Krieg  zu  fuhren,  muB  sidh  darauf 
vorbereiten.  Deutschland  ist  eine  einzige  Kriegsmasdiine.  Frankreich 
hat  im  besten  Fall  eine  halbe  Million  guter  Soldaten,  die  mit  vier 
Zielsdieiben  am  Leib,  zwei  roten  Hosenbeinen,  einem  blauen  Rode 
und  einem  blauen  Kappi,  gegen  ein  Riesenfeld  anlaufen,  das  wie 
eine  Erdwelle  hinter  einem  Sturm  von  Feuer  und  Eisen  wandert. 
Wenn  die  Franzosen  jetzt  Krieg  fuhren,  obwohl  sie  nidit  bereit 
sind,  so  — so  — 

Dimpfel:  Ich  als  Altphilologe  weiB,  wie  es  zugehr.  Ich  sage  dir, 
es  wird  groBartig.  Alle  beruhmten  Endkampfe,  vom  Kampf  in  den 
Thermopylen  bis  zu  Waterloo,  werden  in  der  Gesdiidite  zu  harm- 
losen  Sdilagereien  herabsinken. 

Hans:  Dimpfel,  — auch  das  ware  ja  nur  ein  Feuerwerk. 

Dimpfel:  Aber  eins,  das  fur  immer  in  der  Nadit  der  Welt- 
geschidite  hangen  bliebe. 

Hans:  Ober  einem  riesenhaften  Massengrab. 

Dimpfel:  Ha,  idi  denke,  soviel  wie  von  Griedhenland  wird  von 
Frankreich  immer  nodi  ubrigbleiben. 

Hans:  Du  spridist  von  morgen,  als  ob  es  sdhon  zweitausend 
Jahre  her  ware. 

Dimpfel:  Die  Alten  waren  zu  ihrer  Zeit  gerade  so  lebendig  wie 
heute  wir.  Zeus  steigt  halt  sdieint's  nodi  immer  von  Zeit  zu  Zeit 
in  seine  Weinberge  und  erntet  — und  aus  den  Pressen  fliefit  Blut, 
Der  Anblidc  wirkt  immer  wieder  hinreifiend.  Aber  weder  die  Menge, 
nodi  die  Kostbarkeit  des  Stoffes  konnen  midi  verleiten,  an  der  all- 
gemeinen  Orgie  teilzunehmen.  Idi  bleib  still  und  denke  mir  mein' 
Sadi'.  G'sundheit. 


SECHSTER  AUFTR1TT 

Dieselben.  Abbe  Scbmitt. 

Sdimitt  (auf  Hans  zu):  Hans,  was  machen  wir?  Es  gibt  Krieg. 
Hans  <ihn  ansebreiend):  Wieso  gibt  es  Krieg?  Kriegszustand  ist 
nodi  nidit  Krieg. 


72  Rene'  Se£idUHe  • Hans  im  S<6na6enfo& 


Schmitt:  Doch.  StarkfuB  sagt  — 

Hans:  Was  du  macfaen  sollst?  Wozu  du  da  bist.  Beten.  Beten, 
daB  es  vorubergeht ...  Es  ist  ja  — nicht  — wahr,  daB  es  Krieg  gibt. 
Schmitt:  Icfa  kann  nicht  beten. 

Hans:  Wo  ist  StarkfuB? 

Schmitt:  Mit  Balthasar  bei  deiner  Frau. 

Hans:  Was  haben  sie  bei  meiner  Frau  zu  suchen? 

Schmitt  <zudct  die  Adiseln). 

Dimpfel:  Sie  werden  ihr  erzahlen,  was  los  ist. 

Hans  <rei6t  die  Tflr  auf>:  Klar!  Klar!  — Was  sagt  StarkfuB? 
Schmitt:  DaB  heute  Nacht  mobilisiert  wird. 

Hans:  Diese  Nacht?  <Sd»mitt  nickt.)  StarkfuB  ist  naturlich  begeistert? 
Schmitt:  Wie  ein  Raubtier  im  Kafig  kurz  vor  der  Futterung. 
Hans:  Er  hat  recht. 

Schmitt:  Ja,  das  hat  er. 

Dimpfel  <mit  vorgestredctera  Finger):  Ihr  geht  noch  alle  mit.  Ihr  wiBt 
nur  noch  nicht,  mit  wem. 

SIEBENTER  AUFTRITT 

Dieselben.  StarkfuS. 

StarkfuB:  Heil!  <Legt  den  Sabel  auf  den  Tisdi.)  Deine  Frau  kommt 
glelch,  soil  ich  dir  sagen.  (Schcnkt  si6  ein.) 

Hans  (nad»  einem  Scfcweigen):  Recht  hast  du,  hab  ich  gesagt. 
StarkfuB:  Worauf?  Auf  Krieg  und  Sieg!  <Da  Hans  das  Gias 

zdgernd  nimmt): 

Dimpfel  (sdmeli):  Komm  her,  Soldat,  ich  stoB  mit  dir  an.  Man 
darf  ihn  jetzt  nicht  reizen. 

Hans:  Du,  ist  es  ganz  sicher? 

StarkfuB:  Bomben-  und  granatensicher. 

Hans:  Heute  Nacht? 

StarkfuB:  Heute  Nacht.  <Sdiweigen.)  Kinder,  tut  mir  das  nicht  an. 
Ich  fuhle  mich  ganz  beklommen.  Der  Pfafif  stiert  midi  an,  der 
Dimpfel  ist  so  idiotisch  wie  immer,  und  du,  Hans  — 

Hans:  Was  ist  mit  mir? 

StarkfuB:  Du  machst  ein  Gesicht  wie  Allerseelen. 

Schmitt:  Es  sind  nur  drei  Monate  bis  dahin. 


Rent  5c6iditf?  • Hans  im  Scbnaitn  loS  73 


StarkfuB:  Danke  schon.  Audi  werde  idh  wahrsdieinlidi  nidit  unter 
denen  sein,  die  die  Graber  besuchen,  nodi  uber  das  dankbare  Thema 
predigen.  Wo  kb  liege,  wird  sogar  kaum  eins  der  hubschen  Wachs- 
liditer  brennen,  die  ihr  euern  Toten  an  dem  Tag  anzundet.  Was 
weiter?  Wollt  ihr,  daB  Deutsdiland  in  Stucke  gerissen  wird  und 
vie  Teile  eines  gesdilachteten  Ochsen  in  franzosischen,  russisdien 
und  wer  weiB  in  welchen  Sdiaufenstern  hangt? 

Hans:  Blddsinn.  Deutsdiland  wird  nidit  in  Stucke  gerissen.  Ein 
Volk  wie  das  deutsche  kann  nidit  vemichtet  werden. 

StarkfuB:  Dafur  laB  uns  sorgen.  Immerhin  haben  die,  die  uber 
uns  her  fallen,  den  brennenden  Wunsdi,  es  zu  versudien. 

Hans:  Du  hast  Recht,  — Was  sagt  meine  Frau? 

StarkfuB:  Deine  Frau  ist  eine  Deutsche.  Und  dein  Junge  spielt 
bereits  Deutsche  und  Franzosen. 

Hans:  Er  halt  es  naturlidi  mit  den  Starkeren.  — Aber  wer  hat 
den  Mut,  die  Franzosen  zu  spielen? 

StarkfuB:  Die  Jungens  brauchen  keine.  Es  wird  angenommen, 
daB  die  Franzosen  immer  davonlaufen. 

Dimpfel:  In  seinem  Innersten  hofit  das  naturlidi  jeder  von  euch. 
Die  Kriege  waren  unmoglich,  wenn  nidit  der  Selbsterhaltungstrieb 
den  Menschen  noch  in  der  Todbereitschaft  glauben  liefie,  daB  er,  er 
vielleicht  allein  am  Leben  bleibt. 

Hans:  Seine  Vettem  jenseits  der  Grenze  spielen  jetzt  wohl  das- 
selbe  Spiel,  und  morgen  sdilagen  ihre  erwachsenen  Bruder  einander 

im  Ernste  tot  . . . 

StarkfuB:  Um  solche  personlichen  Familienangelegenheiten  kum- 
mert  sich  die  Weltgeschichte  nidit.  Was  heute  ein  rechter  Deutsdier 
ist,  den  reiBt  es  mit  einem  Ruck  hodi.  Der  fragt  nidit  lange,  wieso 
und  warum.  Ihm  genugt  zu  wissen:  es  gilt  far  uns,  ein  StGck  weiter 
in  der  Welt  zu  kommen.  Wir  mussen  unsem  Weg  macfaen,  geht  es 
nidit  friedlidi,  dann  mit  Gewait. 

Hans:  Uns  haltst  du  also  nidit  fur  rechte  Deutsche? 

StarkfuB:  Den  Hopsa,  ja  Alle  j ungen  Bauern,  die  wir  gedrillt 
haben,  ja.  Dich  und  die  meisten  andern  sogenannten  Familiensohne 
nicht.  Balthasar  ist  eine  Ausnahme. 

Hans:  Sei  ruhig.  Die  meisten  werden  es  jetzt,  wenn  audi  nur 


74 


Rene  S <£idiefe  • Hans  im  SSna/tenfoS 


aus  Verzwei  flung.  In  den  nadisten  Tagen  siehst  du  manchen,  der 
so  S dull  ter  an  Schulter  mit  eudi  zu  sterben  sdieint  und  in  Wirk- 
lichkelt  Selbstmord  begeht. 

StarkfuB:  Wir  werden  sie  nidit  lange  fragen. 

Hans:  Es  sind  nidit  die  scbleditesten. 

StarkfuB:  Krieg  ist  Krieg. 

Hans:  Damit  wird  jetzt  alles  niedergeschrien , was  bisher  der 
Mensdiheit  am  wertesten  war.  Aller  Glaube,  das  Werk  von  Mil- 
lionen  Leben,  alle  Liebe,  alles  personlidie  Sdiicksal.  Sieh  zum  Fenster 
hinaus.  Die  sdi5nen  Felder,  die  Garten,  die  Hauser,  von  denen 
jedes  einem  harmlosen  Bauern  gehort,  der  eucb  nur  immer  das 
Brot  aus  der  Erde  geholt  hat  — was  wird  ubermorgen,  in  einer 
Wothe,  davon  ubrigsein?  Ich  habe  so  oft  davor  gebangt,  so  viel 
davon  getraumt,  von  Kindesbeinen  an,  so  viel  Schreddiches  vom 
letzten  Krieg  erzahlen  horen,  dafi  mir  gerade  so  ist,  als  ob  ich  ihn 
sdion  erlebt  hatte. 

% 

StarkfuB:  Kerle,  gewohnt  eudi  moglichst  sdinell  an  den  Ge- 
danken:  Es  ist  Krieg.  Denn:  Krieg  ist  Krieg. 

Hans:  Du  weiBt  gar  nidit,  wie  sehr  du  bereits  verroht  bist,  und 
es  hat  noch  nidit  einmal  angefangen. 

Dimpfel:  Guter  Jagdhund.  Er  wittert  das  Wild  und  zittert. 

StarkfuB:  Jawohl,  Schulmeister.  Die  Leidensthaften  sind  los- 
gekoppelt.  Die  Meute  fliegt.  Weh  dem,  der  nidit  mitrennt  . . . 
<Zu  Hans>  Wenn  du  audi  kein  rediter  Deutsdier  bist,  so  bleibst  du 
dodi  mein  Freund,  Komm  her,  Hans,  stofl  an,  auf  unsere  Freund- 
sdiaft.  Sdiade,  daB  unser  Herz  jetzt  nidit  zusammensdilagt. 

Hans:  Ja.  Ich  beneide  dich,  wenn  du  wOBtest,  wie.  Bis  zum  Ver- 
langen,  ganz  und  gar  zu  eudi  zu  gehdren,  einer  von  eudi,  von 
eurem  Fleisch  und  Blut  zu  sein,  in  dieser  grausigen  Stunde. 

StarkfuB:  Sieh  midi  an,  bin  ich  ein  reiBendes  Tier? 

Hans:  Nein,  aber  du  sehnst  dich  danadi,  eins  zu  werden. 

StarkfuB:  Der  deutsche  Soldat  ist  kein  Kannibale. 

Hans:  Der  deutsche  Soldat  muB  kampfen,  und  er  will  siegen. 
Soviel  ich  weiB,  sdiieBt  ihr  nicht  mit  Platzpatronen  und  tragt  keine 
Gummisabel.  Wenn  die  Engel  seiber  herabstiegen , um  Krieg  zu 
fuhren,  so  wurden  vor  ihnen  her  die  Stadte  und  Dorfer  brennen 


Rene  S<£ic6efe  • Hans  im  S<6na6enfo<6 


75 


und  hinter  ihnen  Unsdiuldige  in  den  Trummem  verkohlen.  Haufen 
zerrissener  Leiber  sanken  in  die  Erde,  und  die  Verstummelten 
wurden  in  den  Hospitalern  zu  den  weiflen  Wanden  scbreien.  Die 
an  der  Spitze  horen  nidit.  Sie  siegen . . . 

StarkfuB  (strahlcnd) : Sie  siegen! 

Dimpfel:  Ihr  geht  noth  alle  mit. 

Hans:  Icb  nidit.  Idi  weidie  nidit  von  der  Stelle,  und  wenn  sie 
das  Haus  bis  auf  die  Grundmauem  uber  mir  zusammensdiieBen. 

Sdimitt:  Idi  bleibe  in  meiner  Kirdie. 

StarkfuB:  Die  Weiber  werden  didi  audi  notig  haben.  Du  wirst 
sie  damit  trosten  mussen,  du  Romerknecht,  daB  ihre  Manner  und 
Sohne  fur  meinen  Gott,  fur  mein  Vaterland  sterben. 

Sdimitt:  Idi  werde  sie  trosten,  und  sidier  gehort  dazu  fur  midi 
mehr  Tapferkeit  und  jedenfalls  mehr  GroBmut,  ais  du  fur  deine 
Arbeit  braudist.  Liebe  ist  sdiwerer  als  HaB.  Idi  ritte  viel  lieber  in 
die  Kugeln. 

StarkfuB:  Mit  den  Franzosen? 

Sdimitt:  Wie  es  meine  Pflidit  ware:  mit  deutsdien  Katholiken 
oder  selbst  als  einziger  katholisdier  Gedanke  in  einem  Haufen 
Andersglaubiger.  Du  siehst  die  Dinge  zu  militarisdi.  Mein  Gott  ist 
kein  Feldwebel  im  Bekleidungsamt. 

StarkfuB:  Was  ist  aus  den  Kampfen  geworden,  die  uber  uns 
in  den  Luften  ausgefoditen  werden,  hier,  an  der  Glaubenssdheide? 

Sdimitt:  Idi  wiederhole:  es  ist  leiditer  gut  zu  sdiieBen,  als  gut 
zu  denken.  Das  Schiefien  ist  an  der  Reihe.  Sprechen  wir  weiter, 
wenn  die  Tage  des  Denkens  wiederkommen. 

StarkfuB:  Audi  die  Gedanken  werden  mit  dem  Sabel  ausgefoditen. 

Sdimitt:  Manthmal.  Aber  sie  lassen  sicfa  nie  totsdilagen.  Dagegen 
hat  der  Weltgedanke  der  Ersdilagenen  sdion  oft  die  Sieger  besiegt. 

Dimpfel:  Ob  ihr  mir  glaubt,  oder  nidit.  Ihr  seid  alle  drei  Rauf- 
bolde.  Und  der  Soldat  triumphiert,  weil  er  sidi  am  ungeniertesten 
betatigen  kann. 

StarkfuB:  Hurra.  Der  Dimpfel  soli  leben. 

Hans:  Und  weil  er  der  Starkere  ist.  Wie  hieB  es:  »wird  mit 
dem  Tode  bestraft...  wird  mit  dem  Tode  bestraft...c  Er  gehort 
zu  denen,  die  bestrafen,  wir  bestenfalls  zu  denen,  die  bestraft  werden. 


5 Voi.  m/i 


76  Ren/  SSidiefe  • Hans  im  Sc6na6enfoc6 


StarkfuB  <crh«bt  sich):  Hans,  venn  ich  dir  sage:  von  jetzt  an  bis 
zum  Ende  dieses  Krieges,  der  wahrschelnlich  das  furchtbarste  Wag- 
nis  ist,  das  je  ein  Volk  auf  sich  genommen  hat,  kennen  wir  ein- 
ander  nicht  mehr,  so  kundige  ich  dir  nicht  die  Freundschaft,  sondern 
spreche  nur  aus,  was  du  sicher  auch  schon  gefuhlt  hast  Wir  stehn 
einander  im  Weg.  Der  Gang  heute  zu  dir  fiel  mir  so  schwer,  wie 
noth  keiner.  Trotzdem  mufite  ich  her,  um  — ja,  du  wirst  lachen,  ich 
dachte,  ich  konnte  dir  irgendwie  fiber  die  erste  Stunde  weghelfen. 
Du  hast  gesehn,  es  ging  nicht.  Und  ich  halte  es  auch  nicht  linger 
aus.  Let/  wohl,  Dimpfel,  leb  wohl,  dunkler  Kamerad.  Pass’  auf  deine 
Kirch e auf  und  gib  acht,  dafi  kein  Franzose  hinaufsteigt,  um  zum 
Fort  hinuberzublinzeln,  denn  sonst  hast  du  sie  gesehn.  — Geht  ihr 
beide  mal  hinaus,  ich  habe  dem  Mann  noth  etwas  zu  sagen. 

Dimpfel:  Dann  bleiben  wir  auch  gleich  drauBen,  gelt?  Viel  Glide, 
Soldat.  Ich  denke,  Weihnachten  trinken  wir  hier  unsern  Gluhwein 
zusammen.  Da  wirst  du  etwas  zu  erzahlen  haben. 

StarkfuB:  Ist  recht,  Dimpfel. 

Schmitt:  Du,  ich  bete  fir  dich,  als  ob  du  mein  leiblicher  Bruder 
warst  — und  nur,  dab  du  am  Leben  bleibst,  weiter  nichts.  Wenn 
ich  dich  verlore,  wflrde  ich  um  vieles  armer. 

Starkfufi:  Gottesmann,  das  schreib  ich  meiner  Mutter.  Da0  so- 
gar  ein  katholischer  Pfarrer  fur  ihren  Sohn  betet.  Sie  wird  es  nicht 
fir  moglich  halten.  Ich  gfaube,  sie  hat  noch  keinen  aus  der  Nahe 
gesehn.  Bei  uns  muB  man  drei  Stunden  mit  der  Eisenbahn  fahren, 
um  auf  einen  Katholiken  zu  stoBen. 

Dimpfel:  Salu! 

StarkfuB:  Sali,  Dimpfel. 

Schmitt:  Eine  gesegnete  Medallle  wirdest  du  von  mir  nicht  an- 
nehmen? 

StarkfuB:  Nein,  aber  dein  Gebet. 

Schmitt:  Du  hast  recht.  Komm  wieder. 

ACHTER  AUFTRITT 

StarkfuB.  Hans. 

StarkfuB:  Jetzt  kommt  das  Schwerste. 

Hans:  Mach's  schnell.  Leb'  wohL 


77 


Rene  SSicftfe  * Hans  im  SSnatenfoS 


StarkfuB:  Nicht  nur  der  Abschied . . . Ihr  habt  nodi  keine  Zei- 
tung  bekommen? 

Hans:  Nein. 

StarkfuB:  Da  steht  namlidi  drin  — In  Paris  haben  sie  fur  und 
gegen  den  Krieg  manifestiert,  du  weiflt  ja,  wie  sie's  da  madien,  mlt 
Llmzugen  in  den  StraBen.  Dabei  1st  eln  Zug,  den  Cavrel  fuhrte, 
Arbeiter,  gegen  den  Krieg,  auf  einen  Haufen  Pobel  gestoBen  — 
verzeih,  so  steht  in  der  Zeitung  — , sie  kamen  in  eine  Sdilagerei, 
Cavrel  fiel,  es  wurde  auf  ihm  weiter  gerauft,  seine  Freunde  wurden 
geworfen,  und  als  der  ganze  nachstfirmende  Haufen  endlldi  uber 
Cavrel  hinweggerannt  war,  erkannte  man  ihn  erst  nldit,  so  hatten 
sie  ihn  zerstampft.  Sie  sdiafften  ihn  nadi  Hause.  Aber  er  kam  tot 
an.  Wie  bei  den  Dominosteinen  . . . 

NEUNTER  AUFTRITT 

Dicsclbcn.  Kl5r. 

Klar:  Hans,  idi  konnte  nidit  firfiher  kommen.  Idi  mufite  die  Mutter 
auf  das  Schreckliche  vorbereiten.  Sie  ist  wie  gelahmt.  (Da  Hans  auf- 
•pringt.)  Bleib  nur.  Balthasar  und  der  Abb^  sind  bei  ihr,  Du  wurdest 
sie  eher  aufregen. 

Hans:  Sie  mufl  fort.  Sie  kann  nidit  hierbleiben,  mitten  auf  dem 
Sdilachtfeld.  Du  muBt  mit  ihr  und  den  Kindern  in  die  Sdiweiz. 

StarkfuB:  Wie  bei  den  Dominosteinen.  Wenn  du  den  ersten 
umstoBt,  reiBt  er  alle  andern  mit.  Jetzt  gibt  es  in  Frankreidi  wahr- 
sdieinlidi  keinen  Freund  des  Friedens  und  keinen  Freund  Deutsch- 
lands  mehr.  Sie  werden  mit  dem  tiefsten  HaB  und  der  letzten  Ver- 
zweiflung  kampfen.  Sie  sind  eine  tapfere  und  freie  Nation.  Idi  ginge 
lieber  gegen  die  Russen  . . . Aber  wir  haben  nidit  die  Wahl.  Sag' 
bitte  — spater  — deiner  Mutter,  idi  hatte  sie  herzlidi  gruBen  lassen, 
als  idi  ihr  Haus  verlieB.  Leben  Sie  wohl,  Klar.  Hfiten  Sie  ihn. 

(Sdmell  a b.) 

Hans:  StarkfuB! 

StarkfuB:  Ja? 

Hans:  Weiter  stand  nidits  in  der  Zeitung? 

StarkfuB:  Nein. 

Han®'  Danke  dir.  (StarkfuB  ab.) 


f f 


Ren/  ScBicReft  • Hans  an  S<£naienfo<6 


ZEHNTER  AUFTRITT 

K!2r.  Hans. 

Hans:  Klar,  wenn  du  gut  sein  willst,  so  laBt  du  midi  jetzt  ein 
klein  wenig  allein. 

ELFTER  AUFTRITT 

Dieseiben.  Balthasar. 

Balthasar:  Du  muilt  zur  Mutter.  Sie  will  unbedingt,  dafi  du  zu 
ihr  kommst.  Idi  bitte  didi,  rede  ihr  zu,  daft  sie  in  die  Schweiz  geht. 
Am  besten  ware,  du  brachtest  sie  mit  Klar  und  den  Kindem  hin 
und  bliebst  bei  ihnen. 

Hans:  Idi? 

Balthasar:  Ihr  muBt  nodi  heute  Nacht  fahren.  Morgen  ist  die 
Grenze  gesperrt. 

Hans:  Ich,  meinst  du? 

Balthasar:  Ja , schon  weil  Klar  sonst  auch  bleiben  will. 

Hans:  Klar  kann  nicht  bleiben. 

Klar:  Doch,  Hans,  idi  bleibe. 

Hans:  Du  muBt  die  Kinder  bringen. 

Balthasar:  Dann  kommt  sie  nidit  so  sdinell  fiber  die  Grenze 
zurudc.  Ich  kann  nidits  fur  euch  tun,  idi  muB  sofort  einrudcen. 
Hans:  Sieh  mich  an:  bist  du  einig  mit  dir? 

Balthasar:  Vollkommen.  Fur  mich  ist  es  wie  eine  Befreiung.  Ich 
mdchte  am  liebsten  mit  gehobenen  Handen  laufen  und  Hurra  rufen  . . . 
Hans:  Befreiung  . . . Nidit  auch  etwas  wie  — eine  Rache? 
Balthasar:  Vielleidit  auch  das. 

ZWOLFTER  AUFTRITT 

Dieseiben.  Mutter. 

Mutter:  Sdiangel,  was  sagst  du  dazu,  sie  wollen  mich  nidit  zu 
dir  (assen! 

Hans:  Du  bist  ja  schon  da.  Mutter.  So.  <Er  setzt  sie  neben  sidb  und 

nimmt  sie  in  den  Arm.) 

Mutter:  WeiBt  du,  Schangele,  man  tut  am  besten,  wenn  man's 
nicht  glaubt.  Setzt  euch  zu  mir,  daB  ich  meine  Kinder  um  mich  habe. 
<Zu  Hans.)  MuB  der  Balthasar  wirklich  und  wahrhaftig  mit?  Kann 
man  nichts  dagegen  machen? 


VM 


Rene  S&idiefe  • Hans  im  SSnaienfoS 


79 


Ok 


Balthasar:  Nichts,  Mutter. 

Mutter:  In  Gottes  Namen. 

Hans:  Du  muBt  vernunftig  sein.  Du  kannst  ni<ht  hier  blelben. 
Du  mufit  mit  Klar  und  den  Kindem  in  die  Schweiz. 

Mutter:  Du  brauchst  dir  keine  Muhe  zu  geben.  Ich  gehe  nicht 
von  hier  fort.  Ich  tu  doch  sonst,  was  du  willst  Drum  sage  ich  dir 
gleich:  ich  bleibe  zu  Hause. 

Klar:  Ich  auch. 

Mutter:  Da  hast  du  recht,  Klar. 

Hans:  Es  wird  doch  vielleicht  alles  hier  zusammengeschossen. 

Mutter:  Dann  gehn  wir  in  den  Keller.  Gelt,  Klar?  Der  Balthasar 
ware  froh,  wenn  er  hier  bleiben  konnte?  Gelt,  mein  Junge?  Was 
werden  unsre  Pariser  jetzt  machen?  Ob  die  Jungens  mit  mussen? 
So  sagt  doth  etwas! 

Hans:  Dann  bleiben  wir  halt  alle  hier. 

Balthasar:  Sie  mussen  beide  mit. 

Mutter:  Das  arme  Frankreich!  Wegen  der  schmutzigen  Russen, 
sagt  der  Abbi.  Du  lieber  Gott  im  Himmel,  mach'  mit  den  Russen, 
was  du  willst,  aber  erlaube  nicht,  daB  es  Frankreich  schlecht  ergeht . . . 
Sei  mir  nicht  bos,  Klar.  Ich  bin  eine  alte  Frau,  die  kann  nicht  mehr 
umlemen,  — ich  habe  Frankreich  lieb.  Schon  der  Name  1st  so  sufi  . . . 
Gelt,  Klar,  du  mochtest  auch  nicht  — 

Klar:  Was,  Mutter? 

Mutter  <zu  Hans):  Glaubst  du,  ich  darf  sie  fragen? 

Klar:  Frag',  Mutter. 

Mutter:  Es  muB  doch  nicht  sein,  daB  Frankreich  ganz  und  gar 
zugrunde  geht? 

Klar:  Wenn  ich  Frankreich  so  Schlimmes  wunscfaen  konnte,  hatte 
ich  dich  nicht  lieb. 

Mutter:  Ich  habe  doch  gute  Kinder  ...  Ich  meine  immer,  ich  hore 
schon  Kanonen, 

Balthasar:  Das  kommt  von  den  letzten  Manovem. 

Mutter:  Oder  von  Siebzig.  Da  safien  wir  auch  so  da,  der  Vater 
und  ich  und  der  GroBvater  und  die  GroBmutter  und  warteten  ...  — 
Ja,  und  dann  ist  es  auch  richtig  gekommen  . . . <SAweig«n.) 

Vorhang. 


Rene  ScBickefe  * Hans  im  SSnafenfoS 


VIERTER  AUFZUG 

Die  gutc  Stubc  im  Sdmakenlocfi  vie  im  vorigen  Aufzug.  Sommerabend.  Zum  Sdsluf 
dunkelt  c a dann.  Keiae  andre  Beleuditung,  als  die  brcnnende  Sdieune. 

ERSTER  AUFTRITT 

Hans.  Klar.  (Am  Sdireibtisdi.) 

Hans:  Hier  liegen  al(e  die  Papiere,  die  mir  das  Leben  so  oft 
sdiwer  maditen,  als  es  noch  leidit  zu  tragen  war.  Vers  idi  eru  ngen , 
Hypotheken,  Steuern,  Vertrage.  Immer  war  irgend  etwas  fallig,  immer 
muBte  man  etwas  kundigen  oder  wurde  einem  etwas  gekflndigt. . . <Wi«  «■ 

zu  K12r  neben  sich  aufblickt:  auf  ein  Lodi  in  der  Wand  d cut  end.)  Sdion  ge- 

sehn?  Eine  Granate.  Und  dort  1st  sie  hinausgeflogen.  Wann,  meinst 
du,  hat  sie  hier  durdigesdilagen  ? 

Klar:  Heute,  gestem,  vorgestem  — weifi  ich? 

Hans:  Nein,  gleidi  am  ersten  Tag.  Ich  kam  gerade  vom  Keller 
herauf.  Unterwegs  flatten  nur  immer  die  Mause  gepfiffen,  wie  idi 
aber  hier  ins  Zimmer  trat,  fiihr  heulend  ein  Hund  dazwisdien  — 
die  Tierdien  sdiwiegen , wie  erschrocken  . . . Dann  war  der  grofie 
Hund  vorbei,  und  sie  (ingen  wieder  an,  um  die  Wette  zu  pfeifen. 
— Ein  Grufi  von  StarkfuB. 

Klar:  Oder  eine  Wamung. 

Hans:  Wovor? 

Klar:  Den  Keller  zu  verlassen. 

Hans:  Idi  kann  nidit  bei  den  Kartoffeln  leben.  Ihr  seid  alle  gelb 
geworden  da  unten.  Dieser  Schlussel  — 

Klar:  Und  du  bist  weiB  geworden  auf  deinen  ewigen  Rundgangen 
durchs  Haus  bei  Tag  und  Nacht. 

Hans:  Du  ubertreibst.  Nachts  habe  ich  meistens  auf  dem  Familien- 
sofa  geschlafen  und  selten  sdilecht.  — Dieser  Schlussel  6 fine t den 
Sdiatz  der  Familie  Boulanger.  Hier  liegt  auth  unser  Briefwedisel. 
Es  ist  also  ein  kostbarer  Schlussel.  Verwahre  ihn  gut. 

Klar:  So  madist  du  midi  mOrbe.  Dreimal  bist  du  mit  dem  SdilOssel 
und  einem  finstem  Gesicht  hinunter  gekommen.  Ich  wollte  ihn  nidit 
haben.  Jetzt,  wo  ich  im  Tageslidit  neben  dir  stehe  und  du  frohlidi 
bist,  bin  idi  fast  stolz  auf  die  Ehre  . . . 


Rene  Sctiidiefe  • Hans  im  SSnaHenfocB 


81 


Hans:  Keine  Madit  der  Welt  bradite  mich  nodi  einmal  in  den 
Keller.  Man  konnte  nidit  atmen,  man  sah  nicht  hell.  Der  Kleine 
klingelte  und  ladite.  Der  andre  sdioB  mit  seiner  Kanone  immer  auf 
dieselbe  Stelle  an  der  Wand.  Die  Mutter  widcelte  ihren  Rosenkranz 
ab,  und  du  sahst  ihr  mit  so  sinnloser  Aufmerksamkeit  zu,  daB  idi 
wiederum  kein  Auge  von  dir  wenden  konnte,  bis  wir  alle  in  dem 
Lodi  auf  und  ab  zu  sdiweben  sdiienen.  Ich  muflte  die  ganze  Zeit 
gegen  das  Verlangen  ankampfen,  midi  hinter  der  groBen  Butte  auf- 
zustellen  und  mit  Kartoffeln  nadi  Eudi  zu  werfen  . . . 

Klar:  Du  groBer  Kindskopf! 

Hans:  WeiBt  du,  wofiir  die  Mutter  betet? 

Klar:  Fur  Balthasar  und  fur  Frankreidi. 

Hans:  Armes  Frankreidi.  Nun  brennt  es  in  seiner  ganzen  Breite 
von  den  Vogesen  bis  fast  ans  Meer,  und  hinter  diesem  Wall  seiner 
raudienden,  zusammengestiirzten  Dorfer,  seiner  todlich  verstummten 
Stadte  und  schon  zahlloser  Leidien  reckt  es  sich  und  hebt  sein  finster 
verzweifeltes  Gesicht  in  den  Feuersdiein  und  bereitet  sich  zum  letzten 
Waffengang.  — Die  Mutter  hat  getraumt,  die  Jungfrau  von  Orleans 
sei  wiedergekommen  und  marschiere  mit  ihren  Heerscharen  unter 
brennenden  Riesenfahnen  durch  eine  lange  Nadit  gegen  Reims  . . , 
Sogar  unsere  Gebete  bekampfen  einander. 

Klar:  Hans,  wer  von  uns  hatte  vor  einem  Monat  gedadit,  daB 
das  Leben  uns  diese  furdhtbare  Priifung  auferlegen  werde?  Wir 
mussen  Geduld  haben.  Tapfer  sein.  Alle  sind  jetzt  tapfer.  LaB  es 
uns  auf  unsre  Art  sein.  Wenn  wir  durchhalten,  sind  wir  von  allem 
Sdimerz  der  Erde  gesegnet,  wir  beide,  Bitte,  laB  das  alles  nidit  ver- 
gebens  sein. 

Hans:  Sehr  schon,  was  du  da  sagst,  Klar.  Und  wahr,  wahr. 
Betest  du  audi? 

Klar:  Ich  wage  es  nidit.  Obwohl  ich  mandimal  Starkung  braudite, 
so  allein  unter  euch. 

Hans:  Idi  kann  es  mir  denken  . . . 

Klar:  In  den  schlimmsten  Stunden  halt  mich  etwas,  was  du  oft 
den  Fetisdi  der  Deutsdien  genannt  und  verhohnt  hast:  die  Pflicht. 

Hans:  Idi  kann  nichts  dafur.  Schlechte  Komodianten  bringen  es 
fertig,  daB  man  das  sdionste  Trauerspiel  beladit.  Bei  dem  Wort  Pflicht 


Rene  Scbicfofe  • Hans  im  Sd&nafenfoS 


82 
IWM 

zum  Beispiei  fallt  mir  immer  gleich  ein  Universitatsfreund  ein,  der 
das  Dienstmaddien  seiner  Wirtsleute  heiraten  muBte,  das  ihn  ver- 
fGhrt  hatte. 

Klar:  Idi  bitte  did),  werde  endlid)  ernst. 

Hans:  Siehst  du,  der  Keller!  Der  Anblick  der  Kartoffeln,  aus 
denen  dicke  grune  Wfirmer  wadisen,  hat  dir  deine  Heiterkeit  ge- 
nommen. 

Klar:  Findest  du  das  hier  lustig? 

Hans:  Hier  ist  es  frisdi,  hell,  und  idi  habe  zu  tun.  Spaziere  nur 
einmal  durdi  das  Haus.  Die  Turen  stehn  auf  oder,  wenn  du  Gluck 
hast,  sind  sie  sogar  zerschlagen.  Dazu  larmt  es  ununterbrochen, 
wenn  du  audi  nidit  genau  weiBt,  wo.  Blickst  du  aus  dem  Fenster, 
so  bewegen  sidi  kreuz  und  quer  viele  Reihen  von  Kommata,  mit 
Ausrufungszeidien  und  Gedankenstrichen  dazwisdien,  und  wenn  sie 
sidi  verhaddern,  so  kannst  du  dir  sagen:  Dies  ist  eine  Staatsaktion, 
von  deren  Ausgang,  das  eine  zum  andern  Mai  gerechnet,  schlieB- 
lidh  das  Schicksal  der  Volker  abhangt.  Es  mag  dumm  sein,  dafi  so- 
viel  vom  Ausgang  einer  Rauferei  abhangt,  aber  idi  kann  es  nicht 
andern.  Von  Zeit  zu  Zeit  schidten  sie  mir  eine  Abordnung  ins  Haus. 
Ein  Haufen  Soldaten  sturzt  herein  und  wieder  hinaus.  Etwas  zer- 
schlagen sie  immer,  und  idi  bliebe  vielleidht  nidit  so  ungesdioren, 
wenn  idi  nidit  gleidi  meine  Vorkehrungen  getrofiFen  hatte.  An  der 
Tiir  der  Schreinerei  uberm  Hof  kannst  du  von  meiner  Hand  lesen: 
»Hier  gibt  es  zu  essen  und  zu  trinken,  so  lange  der  Vorrat  reidit.c 
Und  am  Tor  zum  Weinkeller  im  alten  Flugel  steht  groB  und  deut- 
lidi:  »Eingang  zum  Weinkeller*.  Daneben  eine  Weinkarte  mit  Be- 
zeichnung  der  Fasser,  die  idi  sorglaltig  in  Ordnung  halte.  Die  In- 
schriften  sind  zweispradiig.  Der  Hopla  paBt  am  Dadifenster  auf,  was 
fur  Hosen  sidi  dem  Sdinakenlodi  nahern,  und  je  nadidem,  ob  sie  rot 
oder  grau  sind,  hangt  er  die  franzosisdie  oder  die  deutsdie  Insdirift 
aus.  Nadits  stellen  wir  einfadi  eine  Lamp>e  vor  die  Kantine  und 
den  Keller  und  offnen  weit  die  Turen. 

Klar:  Sdion  wieder  die  Kanonen. 

Hans:  Ersdirick  nidit,  mein  Liebling.  Sie  bellen,  aber  sie  beiBen 
nidit.  Wenigstens  nidit  uns.  Die  weiBe  Fahne  sdiGtzt  dieVerwun- 
deten  und  uns. 


Rene  Schidiefe  * Hans  im  S<£na6enfoS 


83 


Klar:  Sind  es  deutsdie  oder  franzosisdie? 

Hans:  Beides.  Die  dunkleren  sind  die  deutsdien,  und  die  hellen 
die  franzdsisdien  . . . Seltsam,  nidit  wahr?  . . . Bing.  Bu.  Bu.  Bing  . . . 
Mir  tut  ihr  Gesang  unendlich  wohl.  Ich  gehe  damit  herum,  ich  schlafe 
darin  ein.  Ich  weiB  nidit,  ist  es  eine  Klage,  oder  ist  es  Zorn  . . . 
Im  Grunde,  furdite  ich,  singen  sie  ein  Wiegenlied,  bei  dem  man 
leidit  zu  heftig  traumL 

Klar:  Ja,  Hans,  es  ist  wie  eine  Wolke,  in  der  du  mir  langsam 
entscfawebst.  Du  bist  ja  schon  so  weit  fort.  Warum  muBte  ich  die 
ganze  Zeit  im  Keller  bleiben?  (Hans  ist  aufgestanden  und  tritt  ans  Fenster.) 

Hans:  Arme  Jungen,  da  liegen  sie  wahrhaftig  in  Reih  und  Glied. 
Und  die  Franzosen  davor  hingesdileudert  wie  Pfeile,  die  ihr  Ziel 
nidit  ganz  erreiditen.  Schau,  die  einen  sind  so  still,  die  andern 
strecken  krampfhafte  Hande  aus,  als  wollten  sie  nodi  im  Tode  wiirgen. 

Klar:  Warum  erlaubt  der  Abbe  nicht,  daB  ich  ihm  helfe? 

Hans:  Wie  er  sie  umdreht  und  jedem  ins  Gesidit  sieht  . , , 

Klar:  Warum  darf  ich  nidit  helfen?  Warum  haltet  ihr  midi  ein- 
gesperrt? 

Hans:  Der  Abbe  will  alles  allein  tun.  Er  fahrt  sie  auch  allein 
hinaus  und  begrabt  sie  allein.  Er  sagt,  er  habe  etwas  erlebt,  was 
er  sidi  nie  wieder  nehmen  lieBe:  die  Demut,  die  grofie  Demut  sei 
uber  ihn  gekommen.  Man  solle  ihn  um  der  Barmherzigkeit  willen 
nicht  storen.  Ich  finde,  er  hat  sich  audi  sehr  verandert.  Er  ist  schon 
geworden  . . . (Plotzlicb.)  Midi  hat  die  Wildheit  dieser  Toten  ange- 
steckt.  So  will  ich  audi  liegen.  Hingesdileudert  und  mit  krampfhaften 
Handen,  die  ihr  Ziel  nidit  erreiditen.  So  und  nidit  anders  will  ich 
sterben.  So. 

Klar:  Hab  Geduld.  Es  geht  voriiber.  LaB  mich  dein  heftiges 
Herz  so  lang  halten.  Bitte.  Ich  hab  nidits  anderes  zu  tun.  Alle 
store  ich.  Nicht  einmal  mein  Junge  will  mit  mir  spielen.  Ich  bin  voll- 
kommen  uberfliissig.  LaB  midi  wenigstens  dein  Herz  so  halten  und 
mich  damit  ducken,  bis  der  Sturm  voriiber  ist. 

Hans:  Ja,  mandimal,  wenn  die  Kanonen  gar  so  inbrunstig  ein- 
ander  zusingen,  meine  idi  audi,  ich  miiBte  midi  an  irgend  etwas 
festklammern,  um  nidit  fortzufliegen. 


84  Rene'  ScBicOefe  • Hans  rm  SSnakenfoS 


ZWEITER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hopla. 

Hopla  (herdnstflrztod  links):  Jetzt  sind  es  wieder  die  Franzosen. 
Haufenweise.  (Redits  ab.) 

DRITTER  AUFTRITT 

Hans.  Klar. 

Hans:  Sdhnell  in  den  Keller.  Lai)  die  Mutter  mit  ihnen  reden, 
wenn  sie  hinunterkommen. 

Klar:  Ja. 

Hans:  Worauf  wartest  du? 

Klar:  Id)  sollte  did)  von  der  Mutter  kitten,  hinunterzukommen. 
Id)  sollte  dir  sagen,  sie  hake  dick  seit  vorgestern  nicht  gesehn. 
Hans:  GuL  Sokald  die  Franzosen  untergekrad)t  sind.  (Klir  ab 

links.) 

VIERTER  AUFTRITT 

Hans.  Hopla.  Ein  franzosiscber  Korporal. 

Hopla  <voc  rechts) : Hierher,  Herr  Korporal.  Der  Herr  Korporal 
mufi  die  gute  Stuke  haken.  Ein  Landsmann. 

Hans:  Belfort? 

Korporal:  Jawohl. 

Hans:  General  Vautier? 

Korporal:  Jawohl. 

Hans:  Guten  Appetit.  Leider  gikt  es  nur  nod)  Reste. 
Korporal:  Wenn  es  nur  den  Magen  fullt.  <Hans  ab.) 

FQNFTER  AUFTRITT 

Hopla.  Korporal. 

Hopla:  So  ist's  reckt.  Setzt  Eudi.  Das  war  unser  Herr.  <Nimnit 
ihm  das  Gewehr  ab.)  Id)  meine  immer,  unser  Chassepot  sei  leichter  ge» 
wesen  . . . Schmeckt's? 

Korporal  <auf  ein  Lodi  in  der  Wand  deutend):  War  die  von  uns? 
Hopla:  Von  den  Preufien.  Ich  denke,  da  driiken  im  Fort  haken 
sie  sid)  gesagt,  im  Sdinakenlod)  miissen  sie's  schwul  haken,  wir 
wollen  ihnen  ein  bifidien  Luftzug  madien,  Saukere  Arkeit,  alles  was 
redit  ist. 


Rene  SSidefe  • Hans  im  S<£na£enfo<£ 


85 


Mi 


Korporal:  Kase  heiBt  Ihr  das?  Idi  bin  kein  Zahnathlct.  Schafft 
was  anders  her. 

Ho  pi  a:  Es  ist  das  letzte,  was  wir  im  Hause  haben. 

Korporal;  Da  konnte  idi  gerade  so  gut  meine  Munition  fressen. 

Ho  pi  a:  Ei  da  freBt  halt  Eure  Munition  und  schieBt  mit  dem 
Kase. 

Korporal  (bequemt  sidi,  weiter  zu  essen):  Krieg  ist  Krieg. 

Hopla:  Geht  sdion  herum.  Ihr  meint  doth  audi,  dafi  wir  wieder 
franzdsisdi  werden? 

Korporal:  Was  denn  sonst? 

Hopla:  Unser  Herr  meint,  die  Franzosen,  die  scherzen  gern  mit 
den  Maddien,  aber  sie  heiraten  sie  nidit.  Er  meint,  ihr  madit  uns 
ein  paar  Visiten  und  bleibt  dann  fort. 

Korporal:  Er  irrt  sidi,  Euer  Herr. 

Hopla:  Was  aber  der  Hopsa  ist,  der  Pferdeknedit,  der  sagt, 
wenn  die  PreuBen  verlieren,  werden  wir  russisch.  Russisch!  Ich  hab 
gesagt:  Hopsa,  du  bist  immer  ein  Narr  gewesen,  es  ware  ein  Wun- 
der,  wenn  du  jetzt  auf  einmal  gescheit  wiirdest,  wo  sogar  brave 
Leute  den  Verstand  verlieren. 

Korporal  <sAiebt  dea  Teller  fort.  Stedrt  eine  Zigarette  an):  Ihr  kdnnt 
euch  freuen. 

Hopla:  Ha,  ich  hab  lang  genug  gewartet,  daB  die  roten  Hosen 
uber  die  Vogesen  kommen. 

Korporal:  Aber  daB  wir  so  schnell  da  waren,  |habt  Ihr  doth 
nidit  gedacht? 

Hopla:  Ich  hatte  gedacht,  die  PreuBen  wehren  sidi  besser. 

Korporal:  Ja,  die! 

Hopla:  Sind  viele  Landsleute  unter  euch? 

Korporal:  Ihr  wiBr,  wir  waren  immer  gutes  Kanonenfutter.  Aber 
idi  lasse  midi  tausendmal  lieber  fur  die  Franzosen  totschieBen,  als 
fur  die  PreuBen.  Es  ist  halt  so.  (Sdiufl.) 

Hopla:  Habt  Ihr  gehort? 

Korporal:  Es  geht  immer  mal  eine  Flinte  los,  Solange  sie  nidit 
mit  Kanonen  sdiieBen,  bleibe  idi  ruhig  sitzen  und  rauche  meine 
Zigarette. 


O 


Rtn/  Sdbiditft  • Hans  im  SSnafenfoS 


SECHSTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Kl§r. 

Hop! a <erfaebt  sirfi):  Madam? 

Klar:  Hopla,  gibt  cs  gar  nidus  zu  essen? 

Ho  pi  a:  Nidus,  Madam,  nidus.  Was  ncdi  da  ist,  wollen  nidit 
einmal  die  Soldaten. 

Korporal:  Ah,  die  Madam.  Wollt  Ihr  Eudi  nidit  setzen,  Madam? 

Klar:  Gehn  Sie  dodi  hinunter  und  sagen  Sie's  ihnen.  Sie  werfen 
den  Keller  durdieinander,  weil  sie  glauben,  dab  wir  Lebensmittel 
versteckt  halten  . . . 

Korporal:  So  ist's  recbt.  Madit,  daft  Ihr  hinaushomtnt.  Die 
Madam  und  ich  werden  schon  allein  miteinander  fertig. 

Hopla:  Gem,  Madam. 

Klar:  Seien  Sie  vorsiditig,  Hopla.  Idi  fQrdite,  dab  es  H§ndel  gibt 

Hopla:  Ist  der  Herr  Hans  unten? 

Klar:  Eben  deshalb.  Er  will  sie  aus  dem  Keller  vertreiben. 

Korporal:  Bei  mir.  Madam,  seid  Ihr  in  Sidherheit.  Idi  bin  Kor- 
poral. Idi  weib  stfaon  gar  nidit  mehr,  was  eine  Frau  ist.  <Sdma®tlnd>: 
Idi  mufi  sagen,  Ihr  riedit  nidit  sdiledit. 

Hopla:  Leise,  Mann,  leise.  Ihr  brennt  ja,  als  ob  Ihr  laufig  wart 

Klar:  Kommen  Sie,  Hopla,  idi  gehe  mit  Ihnen. 

Korporal:  Dageblieben!  Ihr  meint,  idi  brenne?  Dann  heifit's 
sdinell  iosdien.  Sonst  sdilagt  der  Brand  ins  Haus.  Verstanden,  du 
ausgesdilenkerter  Dresdifiegel  ? Idi  madhe  der  Madam  nidus,  aber 
dableiben  soil  sie. 

Klar:  Hopla,  rufen  Sie  meinen  Mann. 

Korporal:  Ihr  Mann,  Madam,  bleibt  besser,  wo  er  ist.  Denn 
wenn  er  hier  hereinkommt,  ist  es  nidit  sicher,  ob  seine  Beine  nodi 
stark  genug  sind,  um  ihn  wieder  hinauszutragen.  Ware  es  nidit 
besser,  idi  w2rmte  ihm  den  Platz  bei  Ihnen,  als  dab  er  . . . 

Hopla:  Schamt  Eudi.  Ein  franzosisdier  Soldat  Ist  Eure  Republik 
ein  Hurenhaus? 

Korporal  <zu  Kl3r>:  Dageblieben,  sag  idi.  <zu  Hopla):  Wenn  du 
dein  dummes  Maul  gehalten  hattest,  ware  kein  boses  Wort  gefallen. 
Idi  hab  mit  der  Madam  nur  reden  wollen.  Madam  gefallt  mir  . . . 
Halt's  — ! <Holt  aus) : W enn  einer  nur  nodi  einen  Zahn  hat,  so  sollte 


Ren/  Scbi&efe  • Hans  im  S<£na6enfocB  87 


er  ihn  besser  hGten,  besonders  in  Zeiten,  wo  es  Gemuse  regnet, 
von  den  Bohnen  bis  zu  Kurbissen. 

Hopla:  PaB  auf,  es  gehn  wieder  Flinten  los.  Diesmal  aber  sind 
es  ein  biBchen  viel  auf  einmal. 

sage  ich  ...  (Signal.)  (Zu  KI3r>: 

Dageblieben.  (Tritt  zum  Fcnster.)  Warte  nur!  Idi  komme  wieder!  (Ein 
Bdn  a us  dem  Fcnster.) 

SIEBENTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hans.  DerTeufel.  Deutsche  Soldaten. 

Klar  (verzweifelt) : Hans! 

Soldaten  (auf  den  Franzosen  anlegend):  Halt! 

Klar:  Hans  — 

Der  Teufel  (packt  den  Franzosen  am  Kragen  und  zieht  ihn  herein):  Hab 
idi  dich,  elender  Wackes! 

Hans:  Sie  erdrosseln  ihn  ja!  (Klar  schnell  ah.) 

ACHTER  AUFTRITT 

Dieselben,  ohne  Klar. 

Der  Teufel:  Das  ware  viel  zu  sdsade  fur  den  Kerl.  Hier  kuss'l 

(Hilt  ihm  das  Handgelenk  bin,) 

Der  Korporal:  Nidit  urns  Verrecken. 

Hans:  Idi  bitte  Sie!  Seit  wann  werden  Gefangene  gefoltert? 
Der  Teufel  (breit  lachend):  Das  mussen  Sie  den  Citoyen  hier 
fragen.  Hast  du  midi  sdion  versdinuren  lassen,  he?  Wie  eine  Brat- 
gans,  wie?  Und  mich  ins  Heu  gelegt?  Wann  sollte  denn  Feuer 
gemacht  werden  — wie?  Kerle,  pafit  mir  auf  den  auf!  (StoBt  ihn  den 

Soldaten  zu,  die  ihn  abfflhren.) 

Ein  Soldat:  Jawohl,  Herr  Waditmeister. 

Der  Teufel:  Er  kommt  in  die  Scheune,  genau  dorthin,  wo  ihr 
mich  gefunden  habt  Fest  anziehn,  beim  Binden!  (Auf  den  Franzosen 
zustQrzend):  Kuss',  du  Halunke,  oder  — 

Hans:  Lassen  Sie's  gut  sein  . . . (Hinter  den  Soldaten  ah.) 

NEUNTER  AUFTRITT 

Hopla.  Der  Teufel. 

Hopla  (mount  das  Gewehr  des  Franzosen,  hantiert  damit  herum):  Ja  da! 
(Streidielt  es  und  legt  es  wieder  sorgsam  auf  den  Tisch.)  Ich  hab  gedacht,  sie 


Korporal:  Solange  keine  Kanonen, 


Rtrte  SSidUfr  • Hans  im  SSnaStnfoS 


88 

erwisdien  Eudi  in  Euerm  FaB.  Aber  nein,  Ihr  wart  so  besoffen, 
daB  Ihr  nidit  einmal  mehr  hineingcfundcn  habt.  Ihr  vertragt  den 
Weingeruch  nidit,  he?  Seitdem  idi  Eudi  in  dem  FaB  einquartiert 
hab,  geht  Ihr  jedesmal,  wenn  Ihr  an  die  Luft  kommt,  im  Kreis 
herutn. 

Der  Teufel:  Hopla,  Mann,  die  Rothosen  laufen. 

Ho  pi  a:  Kommt  darauf  an,  in  weldier  Richtung. 

Der  Teufel:  In  der  richtigen. 

Hopla:  Dann  ist  das  eben  so  ihre  Art  zu  kampfen.  Paflt  auf,  Teufel, 
sie  kommen  wieder.  Einer  hat  sein  Gewehr  gleich  hier  geiassen. 
Es  dauert  keine  zwei  Stunden,  und  Ihr  leckt  wieder  am  W^einstein. 
Gebt  nur  adit,  daB  Ihr  diesmal  rechtzeitig  hineinkommt. 

Der  Teufel:  Der  Herr  Balthasar  ist  unten,  der  sagt,  es  sei  bald 
zu  Ende  mit  den  Johanniskafem.  Von  Straflburg  hierher,  vom  Rhein 
bis  an  die  Berge  wusselts  von  deutsdien  Heuschrecken. 

Hopla:  Heusdirecken  — da  habt  Ihr  redit.  Wo  Ihr  durdige- 
gangen  seid,  da  ist  nidits  mehr  zu  holen. 

T e u f e 1 : Ruhe,  alter  Franktireur ! W ir  regieren  jetzt  wieder.  Still- 
gestanden ! 

Hopla:  Wenn  idi  Eudi  nidit  ins  FaB  gesteckt  hatte,  wie  die 
Franzosen  das  erste  Mai  kamen,  da  wart  Ihr  jetzt  sdion  im  Himmel. 

ZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hopsa  <sd>mutzig,  verstfirt). 

Teufel:  Junge,  wo  kommst  du  her?  Idi  denk  die  ganze  Zeit,  du 
hupst  da  drauBen  zwischen  den  Stoppeln  herum. 

Hopsa  (zu  Hopla):  Sag'  dem  Herrn  Waditmeister,  wo  ith  her- 
komme. 

Hopla:  Ei,  idi  denk,  aus  dem  Kanindienstall. 

Der  Teufel  (larfiend):  Haha!  Idi  sitz  im  FaB,  und  der  Junge  im 
Kanindienstall.  Wer  wohnt  denn  im  Misthaufen? 

Hopsa  (zu  Hopla):  Vieileicht  der  Teufel.  Und  dort  gehorst  auch 
du  hin,  du  Hund.  <Zum  Teufel):  Nidits  zu  ladien. 

Hopla:  Komm  her,  Knirps. 

Hopsa:  Eingesperrt  hat  er  midi,  wie  die  Mobilmadiung  kam. 
Dem  Herrn  Balthasar,  der  midi  mitnehmen  wollte,  hat  er  gesagt. 


89 


Rent  S<£ic£efe  ■ Hans  im  S<£na6enfo<£ 


ich  sei  schon  fort.  Einen  Deserteur  hat  er  aus  mir  machen  wollen. 
Dcr  Franzosenkopf! 

Hopla:  Sei  still.  Hast  immer  dein  gutes  Essen  und  Trinken  ge- 
kriegt.  Besser,  du  sitzt  im  Kaninchenstall,  als  dali  du  Franzosen 
schieflt. 

Der  Teufel  (lachend):  Was  hat  er? 

Hopsa:  Der  Verstand  ist  mir  aus  den  Augen  geschossen  vor 
all  dem  Bumpem  und  dem  Geschrei  draufien.  Da,  schau  her,  blutig 
gehauen  hab  ich  mich  an  der  Tur,  wie's  drauBen  losging:  >Kar- 
toffelsupp,  Kartoffelsupp,  den  ganzen  Tag  Kartoffelsupp  . , . (gegen 
Hopla  eindringend)  Supp-Supp-Supp!« 

Der  Teufel:  Hopsa,  wir  wollen  ihn  verhafien. 

Hopsa:  Ich  bin  schon  dabei.  (Er  hebt  die  Faust.  Hopla  greift  nach  dem 
Gewehr  auf  dem  Tisdi,  im  Handgemenge  rcifit  Hopsa  das  Gewehr  an  sidi>  . . . 

Hopla  (taumelnd):  Komm  her  . . . 

Hopsa:  Da!  (und  sdilagt  Hopla  nieder). 

Hopla:  Knirps. 

Hopsa  (nodi  einmal  zuschlagend) : Da. 

Der  Teufel  (vollig  ernaditert):  Junge  . . . Junge  . . . das  ist  ver- 
boten. 

Hopsa:  Im  Hof  liegt  ein  toter  Dreiundneunziger,  dem  seine  Uni- 
form ziehe  ich  an  und  dann  los!  > Kartoffelsupp,  Kartoffelsupp,  den 
ganzen  Tag  Kartoffelsupp*.  (Ab.> 


ELFTER  AUFTRITT 

Der  Teufel. 

Der  Teufel  (geht  einige  Male  um  Hopla  herum,  wlscbt  sidi  den  SdiweiB 
von  der  Stirn.  Dann  hebt  er  erst  das  Gewehr  auf  und  schicbt  es  unter  den 

Schrank.  Dann  ans  Fenster):  Herr  Abbe!  Herr  Abbe! 


ZWOLFTER  AUFTRITT 

Der  Teufel.  Abb£  Schmitt. 

Der  Teufel  (legt  den  Finger  auf  den  Mund):  Pst!  Spater  . . . Wir 
wollen  ihn  aus  dem  Zimmer  schaffen  . . . Dafi  die  Herrschaft  ihn 
nicht  sieht. 

Schmitt:  Wer  — ? 


90  Ren/  5<£icfefe  • Hans  im  5<£na/enf<x£ 


Der  Teufel:  Spater.  — Vielleicht  am  besten  durdis  Fenster. 
Fassen  Sie  an,  Herr  Abb£.  So.  <Sle  lassen  den  toten  Hopla  am  dem 
Fenster  gleiten.)  Idi  will  mir  scbnell  die  Hande  wasdien.  <Verwisdit  BIut» 
spuren  am  Boden  mit  dem  Stiefel.)  So.  Lind  jetzt  fort! 

Sdimitt:  Wenn  Sie  wollen,  helfen  Sie  mir  ein  wenig  den  Wagen 
wasdien. 

Der  Teufel:  Idi  will  lieber  einmal  ins  Dorf,  nadh  dem  Recbten  sehn. 

Sdimitt:  Da  gibt  es  nur  nodi  wenig  zu  sehn. 

Bride  ab.  In  der  Tflr  Begegnung  mit  Balthasar.  Teufel  steht  stramm,  bevor  er 

writergeht.) 

DREIZEHNTER  AUFTRITT 

Balthasar  in  Leutnantsuniform.  Klar.  Der  Teufel. 

Balthasar  <no<h  in  der  Tor>:  Es  geht,  Herr  — es  geht  famos. 

Teufel:  Zu  Befehl,  Herr  Leutnant.  (Ab.> 

VIERZEHNTER  AUFTRITT 

Balthasar.  Kl3r. 

Balthasar:  Klar,  wenn  du  nidit  gewesen  warst,  hatte  idi  lceinen 
FuB  uber  die  Sdiwelle  gesetzt. 

Klar:  Sind  das  deine  Leute  im  Hof? 

Balthasar:  Ja,  aber  sie  sind  aus  dem  Gefedit  gezogen.  Sie 
sollen  sidi  im  Spargelfeld  ausruhen,  bevor  es  weitergeht. 

Klar:  Du  bist  wenigstens  nidit  trubsinnig. 

Balthasar:  Die  Franzosenzeit  zu  Ende.  Wenn  nidit  sdion  jetzt, 
so  doch  bis  zum  Abend.  Die  Armee  ist  beisammen  und  hat  den 
Aufmarsdi  begonnen.  Wir  an  der  Spitze!  Bitte,  gib  mir  einen  KuB: 
idi  bin  so  zufrieden  mit  mir  und  der  ganzen  Welt. 

Klar:  Im  Ausnutzen  von  Gelegenheiten  warst  du  sdion  immer  stark. 

Balthasar:  Nur:  die  Gelegenheiten  waren  ebenso  selten  wie  un- 
zulanglich.  Einen  KuB  — auf  die  Backe. 

Klar:  Wenn  du  fortgehst,  zum  Abschied. 

Balthasar:  Dafur  aber  auf  den  Mund? 

Klar:  Ja,  hast  du  didi  nidit  sdion  mit  Hans  gestritten? 

Balthasar:  Im  Gegenteil. 

Klar:  Urn  so  besser.  Erzahle! 

Balthasar:  Ein  Komodiant.  Er  gehort  wirkltdi  zu  den  Franzosen. 


Rene  Sdidefe  • Hans  im  SdnaHenfod 


91 


Als  idi  mein  Bedauern  ausspradi,  daB  gerade  urn  das  Sdinakenlodi 
herum  so  bos  gekampft  werde  — es  liegt  eben  auf  unserer  Vor- 
postenlinie  — weiBt  du,  was  er  da  antwortete?  Er  braudite  nidit 
die  Toten  und  Verwundeten  zu  sehn,  um  zu  wissen,  daB  er  in 
einem  furditbaren  Handgemenge  stehe.  Sdilug  sich  auf  die  Brust: 
Hier  sei  das  Edio,  wo  alle  Schreie  und  Verwunsdiungen  zusammen- 
trafen . . . Mitten  auf  dem  Hof!  Mein  Hauptmann  sah  midi  groB  an. 

Klar:  Sei  still.  — Erzahle. 

Balthasar:  Natiirlidi.  Die  gefallenen  Engel  mit  dem  Heimweh 
nadi  dem  Paradies  haben  ihren  Eindruck  auf  die  Frauen  nodi  nie 
verfehlt.  Die  Engel,  die  droben  blieben,  waren  aber  nicht  dummer, 
sie  hatien  nur  mehr  Charakter, 

Klar:  Theologie  zwischen  Bomben  und  Granaten. 

Balthasar:  Charakter  ist  Treue,  Treue  kann  allerdings  kaum  mit 
den  melandiolisdien  Reizen  eines  Seiltanzers  aufwarten.  Qbrigens 
sind  wir  drauf  und  dran,  den  ganzen  Sdiwindel  in  Fetzen  zu  hauen. 
Gib  adit.  Mode  werden  jetzt  die  braven  untersetzten  Kerle  wie  ich. 
Ihr  geht  ja  dodi  immer  mit  der  Mode. 

Klar:  Ja,  ja,  du  hast  hundertmal  redit,  wenn  du  mir  jetzt  nur 
erzahlst,  was  du  erlebt  hast. 

Balthasar:  Was  idi  erlebt  habe?  Erstens  die  Losung  der  elsaB- 
lothringisdien  Frage,  in  zwolf  Stunden.  Die  Sturmglocken  lauteten, 
das  war  fur  die,  so  Blut  statt  Gespenster  im  Kopf  haben/  fur  die 
anderen  geniigte  die  Verkiindung  des  groBen  Belagerungszustandes. 
*Sdhwab«  und  »Wackes«:  fort  im  Glockengelaut.  Blitzblank  ist  das 
Land  geworden,  und  als  wir  ausmarsdiierten,  da  sangen  wir,  Sadisen, 
PreuBen  und  Elsasser: 

*Idi  hatt'  einen  Kameraden, 
einen  bessern  findst  du  nit...c 
Du,  das  ist  ein  herrliches  Lied! 

Klar:  Nidit  wahr! 

Balthasar:  Zweitens  habe  idi  eine  Entdeckung  gemadit.  Selbst 
wenn  es  wahr  ware  — was  sidi  ja  zeigen  wird  — , daB  die  deut- 
sdien  Soldaten  Masdiinen  seien,  so  will  mir  nodi  viel  mehr  sdieinen, 
daB  die  deutschen  Masdiinen  ausgezeichnete  Soldaten  sind.  Die  Mobil- 
madhung  gesdiah  wie  ein  millionenfadi  abgestufter,  aber  einziger  Griff. 


7 VoL  ni/i 


92  Ren/  5 Side  ft  • Hans  im  SSnaienfoS 

Aus  den  weithin,  weither  funkelnden  Gelenken  der  Riesenmaschine 
loste  sid)  etwas  wie  eine  Seele,  eine  Kraft  ohnegle ichen , beruhrte 
jeden  und  machte  ihn  froh:  die  grofie  Sicherheit,  die  Zuversicht. 

Klar:  Kerldien,  du  bist  zum  Kussen. 

Balthasar:  Sofort.  — Drittens  ein  Wunder.  Unter  einem  klarsten 
Sommerhimmel,  in  den  durchsonntesten  Tagen,  die  id)  je  gesehn  habe, 
zogen  tausend  undtausendSoldaten  ernst  und  hochzeitlich  geputzt  an  uns 
voruber.  Wir  winkten  einander  zu,  als  waren  wir  alle  ein  Liebhaber 
und  hatten  dieselbe  Braut.  So,  Madchen,  war  der  Auszug  der  Bar- 
baren.  Id)  habe  ihn  mit  diesen  meinen  Augen  gesehn,  davon  bin  ich 
fast  fromm  geworden.  Seitdem  sind  dreiftig  Tage  vergangen.  Wir 
haben  die  Franzosen  aus  Lothringen  hinausgeworfen,  und  jetzt 
werfen  wir  sie  aus  dem  Elsaft.  Unsere  Heere  stehn  an  der  Maas, 
an  der  Marne,  an  der  Aisne,  in  einem  groften  Halbkreis  vor  Paris.  Kufi! 

Klar:  Bist  du  aud)  ganz  sicher,  daft  wir  siegen? 

Balthasar:  Si<faer  hat  nie  ein  Volk  freudiger  gekampft,  keines 
war  besser  fur  den  Kampf  gerustet,  und  secbzig  Millionen  Mensdten, 
die  bis  auf  jedes  Kind  nur  den  einen  Wunsth  kennen,  ihre  ganze 
Kraft  einzusetzen,  alles  herzugeben,  urn  zu  siegen  — besiegt  konnen 
die  nitht  werden. 

Klar:  Hans  fifirchtet  — 

Balthasar:  daft  wir  alien  Freiheitsbaumen  an  Stelle  der  phry- 
gischen  Mutze  die  stachlige  Pickelhaube  aufsetzen,  und  die  Welt  in 
einen  Kasernenhof  verwandeln. 

Klar:  Er  behauptet,  in  den  Zeitungen  sei  derVorstblag  gemacht 
worden,  Kant,  Beethoven  und  Goethe  — ihre  Denkmaler  versteht 
sid)  — in  Landsturmuniformen  einzukleiden , damit  unser  Volk  sie 
nicht  ganz  aus  den  Augen  verliere. 

Balthasar:  Mit  Witzen  macht  man  keine  Weltgeschichte.  Unsere 
groften  Manner  gehoren  gerade  so  gut  den  Englandern,  wie  sie  uns 
die  ihrigen  nid)t  vorenthalten  konnen/  aber  ihre  Kolonien,  die  be- 
halten  sie  fur  sid)  allein,  und  die  Franzosen  bezahlen  fur  den  ganzen 
Goethe  nicht  mehr,  als  den  Ladenpreis.  Geschwatz!  Zugegeben,  die 
Franzosen  und  die  Englander  seien  kultiviertere  Volker  als  die 
Deutschen,  so  hat  ihre  Kultur  sie  doch  nicht  gehindert,  Kriege  zu 
fuhren,  wenn  sie  sich  Vorteile  davon  versprachen.  Nicht  wahr? 


Rets/  S<£i<£ef*  • Hans  im  5c£naftenfoc£  93 


Klar:  O,  Junge,  ich  glaube  dir  gern. 

Balthasar:  Als  Kant,  Goethe,  Schiller  lebten,  war  Preufien  so 
groB  wie  Serbien,  und  das  Herzogtum  Sachsen-Weimar  unbedeu- 
tender,  als  Montenegro.  Ein  Narr,  der  glaubt,  dafi  dieses  Deutsch- 
land, wenn  es  erst  ein  Weltreich  geworden  sei,  statt  philosophischer 
Systeme  nur  noch  Kriegervereine  und  statt  Dichter  un<!  Musiker  nur 
mehr  Feld webel  und  Versicherungsagenten  hervorbringen  werde.  Das 
alles  habe  ich  naturlich  meinetn  grofien  Bruder  wieder  nicht  sagen  konnen. 

Klar:  Warum  nicht? 

Balthasar:  Weil  er  mich  sofort  mit  seinen  eigenen  Angelegen- 
heiten  vollpadcte . . . Klar,  sag'  mir:  glaubst  du,  dafi  du  mich  lieben 
konntest,  oder,  nein,  dafi  du  midi  hattest  lieben  konnen,  wenn  du 
mich  etwa  vor  Hans  getroffen  hattest?  Oder  wenn  es  ear  keinen 
Hans,  sondem  nur  einen  Balthasar  gabe? 

Klar:  Du  willst  sagen,  wenn  Hans  nur  in  der  Ausgabe  Balthasar 
vorhanden  ware? 

Balthasar:  Meinetwegen. 

Klar:  Du  vergiBt  — 

Balthasar:  Denke  doch:  in  einer  Stunde  kann  ich  tot  sein. 

Klar:  Ich  bleibe  nie  mehr  allein  mit  dir. 

Balthasar:  Sprich  zu  mir,  als  ob  ich  in  einer  Stunde  nicht  mehr 
ware.  Sag'  mir  die  Wahrheit.  Konntest  du  mich  lieben?  Ich  frage  ja 
nicht,  ob  du  mich  liebst.  Ich  weifi,  daft  du  Hans  gehorst.  Idi  mufi 
klar  sehn.  Glaube  mir,  ich  frage  nicht  aus  Eigensinn  oder  um  einer 
eitlen  Hoffnung  willen.  Ich  frage  nicht,  ob  du  mich  jetzt  liebst.  Ich 
frage:  konntest  du  mich  lieben  — 

Klar:  Deine  Frage  ist  sinnlos.  Wie  kann  ich  wissen  — 

Balthasar:  Wenn  Hans  dich  verliefie?  (Heftig.)  Er  verlafit  dich. 
Er  will  didi  nodi  heute  verlassen.  Er  hat  es  mir  eben  gesagt. 
Heimlich  will  er  dich  verlassen.  Er  fahrt  mit  dem  Abb£  fort,  um 
Essen  zu  holen  und  sdileicht  sich  durch  die  Vogesen  zu  den  Franzosen. 

Klar  <langsam>:  Ich  kann  ihm  ja  spater  folgen. 

Balthasar:  Nein!  Er  will  fort.  Versteh  doch.  Ganz  fort. 

Klar:  Er  konnte  doch  nur  verwundet  werden. 

Balthasar:  Er  schwor,  dafi  er  dann  — nachhulfe. 

Klar:  Warum? 


94  R*n/  SduAeft  • Hans  im  S<£naktnfo<6 

Balthasar:  Warum! 

Klar:  Und  warum  sagt  er  es  nkht  mir? 

Balthasar:  Idi  denke,  du  soilst  ihn  in  guter  Erlnnerung  behalten. 
Klar:  Dcshalb?  Um  hier  zu  sitzcn  und  ewig  zu  warten  — 
Balthasar:  Diese  Luge  dulde  idi  nicht.  Br  soil  didi  nidht  nodi 
im  Tode  betrugen... 

Klar:  Bine  sotcfae  Folter  konnte  nur  er  sidi  ausdenken. 
Balthasar:  Ich  iiebe  did).  Idi  setze  audi  mein  Leben  aufs  Spiel. 
Idi  will  etwas  zu  gewinnen  haben.  Nur  eine  feme  Moglidikeit,  nicht 
mehr.  — Audi  du  darfst  in  dieser  sdiredriidien  Zeit  nicht  ohne  alle 
Hoffnung  sein.  Idi  stQrme  in  ein  neues  Leben,  das  herrlich  klar  sein 
wird,  starker  und  stiller,  als  es  je  war.  Komm  mit  mir  in  deinen 
Gedanken!  Sag'  mir  — 

FQNFZEHNTER  AUFTRITT 

Dieselben.  Hans. 

(Sdinell  herein.) 

Hans:  Balthasar  — laufi  (Offnet  die  Tare  links,  siSflt  ihn  hinatis  und 

stellt  sidi  davor.) 

SECHZEHNTER  AUFTRITT 

K(3r.  Hans.  Franzdsisdber  Offizier. 

(Herein.) 

Hans:  Einen  Augenblick,  Herr  Offizier.  Klar,  Ia6  uns  allein. 

(Kilr  ab.) 

SIEBZEHNTER  AUFTRITT 

Hans.  Der  Offizier. 

Hans:  Es  war  mein  B ruder. 

Offizier:  Im  Krieg  kennen  wir  nur  Uniformen. 

Hans:  Idi  bezahle  fur  ihn.  Idi  trete  sofort  in  das  firanzosisdie  Heer  ein. 
Offizier:  Ihr  Wort? 

Hans:  Mein  Wort.  Heute  Nadbt  gehe  ich  uber  die  Vogesen. 
Offizier:  Dann  auf  Wiedersehn  in  Belfort.  <Ab.) 

Hans  <l3<fcelnd) : Auf  Wiedersehn. 


Rene  SStdSefe  • Hans  im  ScSnafenfodj 


95 


e* 


« 


ACHTZEHNTER  AUFTRITT 

Hans. 

Hans  (rum  Fenster):  Gottesmann,  wlflst  du  einen  Augenblick  her 
aufkommen?  (Sieht  Hopla.) 


NEUNZEHNTER  AUFTRITT 

Hans.  Abbl  Scbmitt. 

Hans:  Wer  sdireit  denn  so? 

Schmitt:  Was  fragst  du?  Ein  Verwundeter. 

Hans:  Es  sind  jetzt  Arzte  da. 

Schmitt:  Ja,  endlich.  Wenn  die  Franzosen  sie  nicht  mitgenommen 
haben. 

Hans:  Hast  du  gesehn?  Der  Hopla  — 

Schmitt:  Ich  wollte  ihn  gerade  begraben. 

Hans:  Wer  hat  es  getan? 

Schmitt:  Ich  weifi  nicht.  Es  ist  ja  audi  gleichgultig. 

Hans:  Vielleicht  die  Franzosen,  weil  sie  den  Keller  leer  fanden, 
vielleicht  die  Deutschen,  weil  er  nicht  sdmell  genug  aus  dem  Weg 
ging.  Im  ubrigen  wird  niemand  ihn  vermissen. 

Schmitt:  Was  wolltest  du? 

Hans:  In  der  neuen  Zeit,  die  jetzt  anbricht,  war  kein  Platz  fur 
ihn.  Ebenso  wenig  wie  fur  midi. 

Schmitt:  Verzeih,  Bruder,  ich  habe  keine  Zeit,  deine  Reden  an- 
zuhdren. 

Hans:  Darf  idi  unserm  Hopla  nicht  einen  kleinen  Nadiruf  halten? 
Die  Mutter  hat  er  zur  Hodizeit  gefahren  und  mich  und  den  Balt- 
hasar uber  die  Taufe  gehalten,  wir  alle,  audi  du,  haben  an  seiner 
Hose  gehen  gelernt,  den  Hopsa  hat  er  sogar  mit  der  Mifdiflasche 
aufgezogen  und  dabei,  solang  er  lebte,  auf  der  Spreu  bei  den  Gaulen 
geschlafen.  Er  war  ein  braver  Mann  . . . Wer  hat  die  Sdieune  an- 
gezundet? 

Schmitt:  Ich  will  es  gar  nicht  wissen.  Sie  brennt. 

Hans:  Sie  wird  abbrennen,  bis  auf  den  Grundstein.  Aber  es 
sdiadet  nidits.  Das  Heu  ist  fort  und  das  Feuer  kann  nicht  heruber. 

Schmitt:  Vom  Dorf  steht  nidit  mehr  ein  Haus.  Seit  vorgestern 
irren  die  Bewohner,  die  nidit  von  den  einsdilagenden  Granaten  ge- 


Rene  Sc£idefe  • Hans  im  SdBnatenfocB 


96 

totet  worden  sind,  auf  den  Feldern.  Heute  Nacht  haben  sie  zwischen 
den  feindlidien  Vorposten  geschlafen. 

Hans:  Und  heute  1st  uber  ihnen  gekampft  worden. 

Schmitt:  Die  meisten  habe  ich  aus  dem  Feuer  herausgeholt  und 
in  der  Kirche  eingesperrt  — auf  der  Galerie. 

Hans:  Von  dort  konnen  sie  zuschauen,  vie  unten  die  Vemin* 
deten  weiterkampfen. 

Schmitt:  Das  alles  ist  nur  eine  einzige  Trane  in  Gottes  Auge, 
und  der  ganze  Himmel  spiegelt  sich  darin. 

Hans:  Ja  — 

Schmitt:  In  solchen  Schredcen  naht  die  Botschaft  vom  Heil.  Es 
gibt  keine  Feinde  mehr,  nur  Menschen,  die  leiden,  und  alle  Leiden 
fiiihren  zum  selben  Ziel. 

Hans:  Und  dieses  ware? 

Schmitt:  Die  Gute  aller  gegen  alle.  Der  Frieden. 

Hans:  Nach  mir! 

Schmitt:  Hunderte  von  Kriegen  sind  uber  dieses  Land  gegangen. 
Es  hat  sidi  immer  sdinell  erholt.  Was  blieb,  das  war  der  Geist 
jener  Kampfe.  So  wird  es  auch  diesmal  sein. 

Hans:  Wenn  man  didi  predigen  laflt,  haltst  du  noch  immer  schon 
still.  Du  hast  nur  das  Thema  gewechselt. 

Schmitt:  Ich  finde,  Bosheit  ist  jetzt  ein  miserabler  Zeitvertreib. 

Hans:  Du  wirst  didi  nach  dem  Krieg  mit  StarkfuB  gut  verstehn. 

Schmitt:  Wahrscheinlich.  Wir  erleben  beide  dasselbe. 

Hans:  Wir  wollen  nach  den  Bergen  fahren  und  zu  essen  holen. 

Schmitt:  Das  ist  sehr  notig,  Aber  idi  furchte,  wir  werden  weit 
fahren  mussen. 

Hans:  Hinten  im  Tal  ist  noch  nicht  gekampft:  worden. 

Schmitt:  Ware  es  nicht  sicherer,  in  die  Stadt  zu  fahren? 

Hans:  Wer  weifi,  ob  wir  hineinkamen.  Aufierdem  muB  ich  dort 
hiniiber  . . . 

Schmitt:  So  will  ich  anspannen. 

Hans:  Du  kehrst  allein  zurudt.  Morgen  fuhrst  du  die  Frauen 
und  die  Kinder  in  die  Stadt.  Die  Mutter  bringst  du  im  Stilt  unter. 
Dort  findet  sie  Frauen  aus  ihrem  Jahrgang.  . . Um  Klar  brauchst  du 
didi  weiter  nicht  zu  kummern/  die  hilft  sich  allein. 


Ren/  ScBicttf*  • Hans  im  SSnaienRxB 


Schmitt:  Was  soli  ich  deiner  Mutter  sagen? 

Hans:  Ihr?  Die  Wahrheit.  Aber  sie  soil  sie  far  sich  behalten  . . . 
Hier  hast  du  Geld  fur  eine  Kerze  am  Muttergottesaltar.  Wenn  sie 
herabgebrannt  ist,  kannst  du  eine  Seelenmesse  fur  midi  lesen.  Langer 

wird  es  wohl  nicht  dauem.  (Unterdessen  ist  Klar  elngetreten.) 

ZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Hans.  Abbd  Sdimitt.  Klir. 

Hans:  Mir  ist,  als  hatte  idi  genau  das  vor  langer  Zeit  einmal 
getraumt:  wie  der  Abb4  dasteht  und  du  so  langsam  hereinkommst. 

<Nimmt  KlSr  am  die  Sdiultern  und  tritt  mit  ihr  ans  Fenster.)  So  weit  du  siehst: 

Sieg.  Unser  letzter  Besuch  durfte  nidit  weit  gekommen  sein.  Ein 
Dorf  nach  dem  andem  flammt  auf.  Bis  an  die  Berge.  So  weisen  die 
Geschfltze  der  Infanterie  den  Weg.  Sogar  unser  Hotel  brennt  mit 
der  schdnen  Terrasse,  von  der  wir  zusdiauten,  wie  die  Nacht  am 
Schwarzwafd  hinunterstieg  . . . <Zu  Sdimitt:)  Ja,  Herr  Abb£  — ja. 

(Sdimitt  ab.) 

EINUNDZWANZIGSTER  AUFTRITT 

Hans.  KiSr. 

Hans:  Wie  sangst  du  manchmal : *Dies  ist  die  Stunde,  die  wir 
liebenc?  — Die  Nacht  am  Schwarzwald  hinuntersteigt . . . Jetzt  sieht 
das  rehaugige  Maddten  in  iangen,  braunen  Haaren  aus  wie  ein 
schwangeres  Weib.  Aber  wir  hier  an  der  Grenze  wissen  Besdieid. 
Die  Madam  ist  nur  so  dick  von  allerhand  Zeug,  das  sie  schmuggelt. 
Wenigstens  eine  halbe  Million  Bajonette.  Unter  dem  Saum  ihres 
Kleides  springen  die  Kanonen  wie  Mause,  die  den  Speck  riechen, 
<Summt>  »Dies  ist  die  Stunde,  die  wir  lieben.c  <Kiar  hat  sich  von  ihm 
losgd6st.>  Ah,  jetzt  wei0  ich,  was  da  vorhin  so  jammerlidi  schrie,  Der 
Korporal  in  der  Scheune!  Der  Teufel  ist  fortgegangen  und  hat  ihn 
vergessen  . . , Was  ist  denn,  Klar? 

Klar:  So  hole  ihn  doth  heraus. 

Hans:  Wozu?  Er  sdireit  nicht  mehr. 

Klar:  Idt  denke,  du  fahrst  gleich  fort  — Essen  holen. 

Hans:  Woher  weiflt  du  das? 

Klar:  Nicht  von  dir. 

Hans:  Ich  wollte  es  dir  gerade  sagen. 


98 


Rene  S<£t<£efe  • Hans  im  S<£na6enfo<£ 

Klar:  Von  Balthasar. 

Hans:  Was  weifit  du  von  Balthasar? 

Klar:  DaB  du  uns  verlassen  willst  — heimlidi  — wie  der  Dieb, 
der  du  bist. 

Hans:  Dieb? 

Klar:  Du  hast  dein  Leben  lang  Gluck  gestohlen,  wo  du  es  finden 
konntest,  und  nidits  dafur  gegeben.  Nichts,  nichts,  als  Zweifel  und 
Enttausdiung. 

Hans:  Wie  leidit  die  Frauen  umsdilagen. 

Klar:  Wenn  man  sie  verrat. 

Hans:  Wenn  man  sie  verrat. 

Klar:  Hattest  du  wenigstens  den  Mut  gefunden,  mir  ins  Gesidit 
zu  sagen:  der  Hafi  gegen  dein  Volk  hat  die  Liebe  zu  dir  getdtet. 
Idh  hatte  es  verstanden,  i<h  habe  audi  manchen  Kampf  gehabt  in 
diesen  Tagen. 

Hans:  Klar,  so  ist  es  nidit,  idi  liebe  dich  sehr. 

Klar:  Du  offnest  den  Mund  nur,  um  zu  lugen. 

Hans:  Weifi  Gotf,  idi  luge  nicht. 

Klar:  Idi  klage  midi  an,  daB  idi  bereit  war,  alles  fur  didi  zu 
opfern,  meine  Vergangenheit,  meine  Familie,  mein  Volk,  ja,  idi  hatte 
schon  alles  geopfert,  und  wahrenddessen  bereitetest  du  dich  darauf 
vor,  midi  heimlidi  zu  verlassen,  wie  ein  Grandseigneur  ein  Madel 
mit  zwei  Kindem  sitzen  laBt  — indem  er  seinem  minder  glanzenden 
Bruder  aufs  Herz  bindet,  sie  nidit  verhungern  zu  lassen. 

Hans:  Du  bist  zum  erstenmal  bose  und  ungeredit. 

Klar:  Du  hast  Balthasar  ein  Messer  in  die  Hand  gedruckt  und 
gesagt:  »Geh,  bringe  sie  um,  mir  fehlt  der  Mut.« 

Hans:  Den  Mut  hat  er  gehabt,  das  Messer  war  von  mir,  aber 
idi  habe  ihn  nidit  gesdiickt. 

Klar:  Er  wollte  nidit,  daB  du  bis  zum  Ende  logst. 

Hans:  Idi  zweifle  nicht  daran:  er  folgte  nur  edlen  Trieben.  Aber 
ich  hatte  gedadit,  er  wurde  nidit  mit  einem  Messer  kommen,  sondern 
nadiher,  als  Sieger,  mit  einem  BlumenstrauB.  — Krieg  ist  Krieg. 

Klar:  Es  ist  nidit  unedel,  daB  er  midi  mehr  liebt,  als  didi. 

Hans:  Du  horst  nidit  mehr,  was  ich  sage, 

Klar:  Nein,  idi  will  nidit  horen. 


Rene  SSidiefe  • Hans  im  SSnakenfoS  99 


Hans:  Warum  spreAen  wir  dann  no  A? 

Klar:  I A wane,  daft  du  gehst. 

Hans:  Einen  kleinen  Augenblkk!  <Blickt  sich  sudiend  um.)  IA  mo  Ate 
gem  die  MeersAaumpfeife  mitnehmen.  — Der  gluAliAe  Junge  ge- 
hort  zu  den  Siegem.  Wie  jeder  Sieg  sAon  entsAieden  ist,  bevor 
noA  die  S Ala  At  begonnen  hat . . . Das  wirst  du  eines  Tages  ein- 
sehn,  Klar. 

Klar:  Du  glaubst  naturliA,  die  Franzosen  wurden  siegen. 

Hans:  Wenn  iA  niAt  so  vom  Gegenteil  uberzeugt  ware,  ginge 
iA  ja  niAt  zu  ihnen. 

Klar:  Du  bist  noA  feiger,  als  iA  geglaubt  hatte. 

Hans:  Hast  du  niAt  die  Flugel  an  Balthasars  SAultem  bemerkt? 
Sie  werden  waAsen.  Jeder  Mann  in  DeutsAland  hat  jetzt  Engelflugel . 

Klar:  Das  ist  auA  wahr. 

Hans:  Gewifl  doA.  Und  als  der  Junge  voreilig  seinen  letzten 
Trumpf  gegen  miA,  einen  Toten,  ausspielte,  da  fuhlte  er  siAer  deut- 
liA,  wie  das  ganze  gefliigelte  DeutsAland  ihm  beifallig  fiber  die 
AAsel  sah. 

Klar:  Es  war  seine  PfliAt  — 

Hans:  Begreife  doA:  auA  iA  gehorAe  der  PfliAt.  <L3dielnd>:  Denn 
niAt  wahr,  seiner  PfliAt  gehorAen,  das  heifit  doA,  selbst  mit  Wider- 
streben,  vielleiAt  sogar  gegen  si  A selbst,  das  tun,  was  man  fur 
reAt  halt . . . MeinesgleiAen  fahrt  jetzt  zur  Holle.  Da  mull  iA  dabei 
sein.  Die  Wage  der  WeltgesAiAte  sAwebt.  IA  mul)  durA  mein 
GewiAt  helfen,  euere  SAale  in  den  Himmel  zu  treiben.  Je  sAwerer 
wir  fallen,  desto  hoher  steigt  ihr  empor. 

Klar:  So  geh  doA! 

Hans:  Trotzdem,  iA  beneide  euA  niAt.  Euere  Generate  konnen 
die  sAonsten  SAlaAten  gewinnen,  euere  Genies  ein  Wunderwerk 
aufs  andere  turmen  — aus  alledem  maAen  euere  SAulmeister  eine 
Fibel  fur  die  reifere  Jugend.  Sie  werden  euA  beweisen,  dafl  ihr 
siegtet,  niAt  weil  ihr  die  bessere  Ausrustung,  die  besseren  Kanonen, 
die  klugeren  Fuhrer  hattet,  nein,  wei!  ihr  die  Bravsten  wart  und 
deshalb  den  Sieg  verdientet.  Fur  die  DeutsAen  ist  die  SAopfung 
eine  SAule  und  der  liebe  Gott  der  Herr  Lehrer,  der  gute  und  sAleAte 
Noten  verteilt. 


Pert/  SSidtU  • Hans  fm  S<£na6tn(<x6 


Klar:  Du  schwatzt,  wie  du  Immer  geschwatzt  hast  — und  wenn 
du  did)  endlich  zu  einer  Tat  aufrajfst,  so  laufst  du  zu  denen,  die 
untergehn.  Du  furditest  didi  vor  den  Starken. 

Hans:  Was  kann  id)  dafur,  daB  mein  Herz  hell  durd)  die  Welt 
bellt?  Hell!  Hell,  wie  die  Stimme  der  franzosisdien  GeschOtze.  — 
Es  gibt  ein  Bild,  da  stQrmt  eine  Frau  mit  flattemder  Trikolore  auf 
eine  Barrikade,  und  ruft  alle,  die  fur  die  Freiheit  sterben  wollen. 
Jetzt  bilden  Gebirge  die  Barrikade,  und  das  Feuer  ist  ein  Welt- 
brand.  Die  Frau  sd)reit.  Und  dodi  hat  ihre  klaffende  Sdiamlosigkeit 
mehr  Anmut,  als  das  sdionste  Ladieln  euerer  Tugendhaftigkeit  her- 
vorzaubern  kann. 

Klar:  Id)  kenne  euere  Freiheit.  Die  Freiheit  von  Wilddieben, 
GlOdtsspielern  und  — 

Hans:  Was  kGmmert  mid)  die  Freiheit,  die  du  kennst.  Mid) 
rufen  die  Toten!  Sie  und  id),  wir  sind  frei!  . . . Klar,  wenn  du 
wuBtest,  wie  firoh,  wie  frei  id)  bin.  Id)  mochte  did)  umarmen. 

Klar:  Geh  endlich  fort. 

Hans:  Sieh  mid)  nidit  so  an!  — Id)  werde  hafllich  sein  im  Tod. 
Hingesdileudert,  alle  Viere  ausgestreckt,  und  mit  krampfhaften  Han- 
den,  die  nodi  im  Tode  wurgen. 

Klar:  Idi  sehe  dich. 

Hans:  Gut.  — Sollte  didi  einmal  Mitleid  befallen,  denn  du  hast 
ein  gutes  Herz,  so  sage  dir,  daB  diese  Hande  vielleidbt  au<h  nach 
der  Kehle  deiner  Kinder  zielten. 

Klar:  Bist  du  nodi  nidit  fertig? 

Hans:  Stehst  du  noth  immer  da? 

Klar:  Id)  muB  da  sein,  wenn  du  gehst  Ida  konnte  es  sonst  viel- 
leidht  nidit  glauben  — 

Hans:  Wie  oft  habe  id)  gewGnsdit,  daB  du  mid)  haBtest  — 

Klar:  Um  von  mir  loszukommen. 

Hans:  Um  dich  von  mir  zu  befreien. 

Klar:  Und  jetzt  tut  es  dir  doch  weh. 

Hans:  Ja.  Aber  was  bedeutet  unser  beider  Herzen  Klopfen  in 
dem  Sturm! 

Klar:  Ich  bitte  didi:  geh. 

Hans:  Der  Abb£  bringt  den  Wagen  zuruck.  Bis  zum  Morgen 
habt  ihr  zu  essen.  <Ab.) 

Vorhang. 


Affrtd  Woffenftein  * Die  GfeiSgiftigHeit,  AugenBfid 


Affred  Woffertjiein: 

DIE  GLEICHGILTIGKEIT 

Wie  leidit  er  war,  wie  langc  wehte  klar  sein  Lauf  — 

Doch  ihre  stumme  Ebene  bringt  ihn  brausend  auf, 

Bewolkter  Ricse  dringt  er  schreiend  auf  sie  ein  — 

Du  Auge,  Stirn,  Empfangnis  denk,  empfange,  wdn'! 

Sieh  seine  Freude,  seine  Trauer  — 

O,  well  du  blind  bist,  biiebe,  bliebe  er  alfein! 

Dcxb  seine  Sdiam,  und  sein  gespanntes  Herz  und  Gluck 

Und  sein  zerstdrter  Aufiruhr  kann  nicht  mehr  zurudc  — 

Er  packt  mit  Korper  Korper  — 

Adi  Haus  und  Himmel,  der  ihn  ruhig  uberbaut! 

Sonne,  die  sein  entbldHtes  Spruhen  uberschaut! 

Adi  tief  versdileudert  Rausdien  im  Gerausdi  der  Stadt! 

Und  Weib,  — durdisdiaumt  von  ihm  und  nadi  ihm  wieder  glattl 


AUGENBLICK 

Auf  dem  Platze  zwisdien  unbekannten  Hausern 
Steh  idi  stille,  ruhig  halt  der  Raum  — 

Glasig  hartet  sich  der  Sonnensdiaum 
In  den  steilen  zimmers diwarzen  Fenstem, 

Auf  dem  Pflaster  steht  vergangner  Tritte  Flaum  — 

Idi  v erg  esse  meinen  langen  wildbewufiten  Strafiengang, 
Mich  durdigeht,  umgeht  nur  bleibendes  Gerank 
Meines  Atems,  Fufie  fQhlen  in  die  Steine, 

Zwisdien  Bergen  wie  ein  Baum  — 


102 


Else  Las  Her*  S <6 tiler  • VerinnerfiSt 


Efse  L as&er-ScBufer: 

VERINNERLICHT 

(Job.  HauBrida  gtwidmet) 

IA  denke  immer  ans  Sterben, 

MiA  hat  niemand  lieb. 

IA  wollt,  iA  war  still  Heiligenbild 
Und  alles  in  mir  ausgelosAt. 

TraumcrisA  farbte  Abendrot 
Meine  Augen  wundverweint. 

WeiB  niAt,  wo  iA  hin  soil 
Wie  Gberall  zu  dir. 

Bist  meine  heimliAe  Heimat 
Und  will  niAts  leiseres  mehr. 

Wie  bluhte  iA  gern  suB  empor 
An  deinem  Herzen  himmelblau. 

La u ter  weiAe  Wege 

Legte  iA  um  dein  poAend  Haus. 


Af&trt  ESnenftein  • Die  G5tt§r  103 

AfBert  EBrenJieitt: 

DIE  GOITER. 

Ein  gebeugtes  Hungertier, 

Bettler  vor  den  Tisdien, 
im  Krampf  der  ewig  hohlen  Hande 
ersehnt'  idi  Madcbenlende. 

Mude  dann  badistelzenden  Trippelgangs 
einer  leicht  Fertigen, 

Sdilammstatue  auftaucbend  aus  Schlaf, 
fleht'  ich  zu  Reinen. 

Aber  die  Gottinnen, 
lichtumgossen,  duftbeseelt, 

Blurnen,  die  den  Nadittau  trinken, 
die  'Herzverehrten 

geseiien  sidi  lieber  den  Zwirbelbarten. 

Kein  Segel  bluht  mir  im  Winde. 

Und  Sturm  ward.  Meine  Freunde, 

die  Haare  versdinitten,  die  Fufie  vereist, 

dem  Werk  entritten,  leibverloteter  Geist, 

stallwacbend  berlechen  RoBapfel  zur  nacbtlicben  Stunde. 

Oder  verstummt  in  Verstummelung, 

die  entwandelte  Hand  vom  trauernden  Mantelarmel  umlodert, 
kruckten  sie  sich  die  Wand  entlang, 
bis  sie  die  Erde  versditang. 

Klagend  liefi  ich  auch  sie/ 
niemand  liebt  mich  auf  Erden, 
so  lechze  idi  nicht,  mein  Blut  zu  vergieflen, 
niemand  freut  sicb  der  Spende. 


Albert  Ebrettfitin  • Die  Gdtter 


Schmerzgebild  aus  Grauen  und  Gram 
nidit  mehr  trostete  midi  die  Wiese, 
der  Heimat  zartlicher  Halm, 
im  Traume  floh  idi  ins  Dsdiungel. 

Nidit  da,  nidit  dort! 

Bin  Kdnigstiger  auf  Java, 
stark  und  sein  eigener  Gott, 

— zerkrfimmt  verging  idi  unter  seinen  Pranken. 

Letzter  Atem  entsank. 

Die  Seele  stieg.  Nicht  hoch. 

Hinsirrend  fiber  fahle  Moore, 

im  sdiwarzen  Scbwarm  der  Schatten, 

fern  den  herrlidien 

Gestaden  Gottes, 

sdiaute  sie  nur  die  Gdtter. 

Naher  stob  idi  dem  flirrenden  Reigen, 
hob  midi  betend  hinan  meinen  Gott: 

»Phoibos  Apollon,  neunfach  umtanzt  Didi  der  Tag  mit  rosigen  Musen, 
was  klirrt  Deine  sdiidcsalbehangene  Sdiulter? 

Niemand  verletzte  den  Chryses. 

Deine  vergoldeten  Priester  beleidigen  Didi? 

Verseudhten  Halbdiditer  den  Vers,  Zeithunde  die  Zeitung, 

schone  das  sdiuldlose  Volk, 

gnadig  umwandle  Dein  Reich, 

erstick'  uns  nicht  in  Pest  und  gelber  Verwesung!* 

Antwortend  umdrang  midi  unfriedlicher  Berggesang/ 

»Ihr  redet  gem  vom  Glfidte, 
und  lebet  lustzerschabt, 
dodi  hat  eudi  viel  geliebt,  gelabt, 
war  es  der  Weiber  Lfidte. 

Eudi  Zwerge  wirbeln  die  Winde, 
bis  ihr  am  Felsen  zersdiellt, 
ihr  torkelt,  trunkene  Blinde, 
von  Asche  zur  Asdie  gefallt. 


Albert  Ebrenftrin  • Die  GStter  105 


fiber  dem  Schiffbruch  irdisdier  Gewatten 
wehen  wir  Gotter  selig  dahin. 

Eudi  frommt  nacb  Feldgraueln  brandsdiwarzes  Erkalten, 
Wir  sind  die  Freude,  Wir  sind  der  Sinn.« 

Da  blidcte  icb  alies  versteinert. 

Der  greise  Zeus  verfolgt  nodi  das  Kuhweib/ 
sah  Mohammed,  ferne  dem  Gipfei  des  Sieges, 
wegmfide  zum  Berg,  der  stets  welter  zurudkweicht. 

Jesus  Christus  htitet  das  Holz, 
starr  genagelt  ans  Kreuz. 

Vergebens  war  das  Gebet  der  drelBig  Gerechten. 

Aus  Mordnadhten  des  Nordens 
sdioll  unendliche  Klage, 

Jammer  zerhackte  mein  Herz, 

Israel  winselt  im  Winter, 
der  Ewige 

besdineidet  sein  Volk. 

Gegen  den  unerbitdidien  Dombusch  warf  sidi  die  Seele, 
ob  sie  dem  Zorn  sich  als  Opfer  empfehle: 

>In  den  MarmorbrOchen  von  Carrara 
dQnkte  sicb  dein  Volk  geboren, 

Eckstein  ward  es  dann  den  Hunden, 
auserkoren!  auserkoren! 

Du  hast  es  gesendet, 

unter  die  Fufie  der  Kampfelephanten  deines  Grimmes! 
In  dir  ist  es  beendet, 

Wer  hat  dich  geboren  ?« 

Nicht  nahm  er  midi  an, 

aus  unerforsdilidiem  Nebel-Nirwana 

Qberkam  mich  im  Grauen  der  Gru0  des  Suddhodana: 


106  Albert  Efirenftein  • Die  G otter 

+ If  im*llfinrr 

»Die  ihr  herrsAet:  lebt,  ihr  kennt  miA  niAt. 

Was  da  iAt,  sieht  se in  GesiAt. 

Sterbet  bis  ins  warmste  Seelcnhcrz! 

SAmutz  1st  Leben,  Erde  SAmerz. 

Raum,  du  Trubsal, 

Wahn  die  Zeit, 

im  Weltwirrsal 

sci  dcr  Tod  gebenedeit.« 

SpraA  der  Teufel  traumessAlau: 

*Or  wie  leiAt  verweht  selbst  dieses  Blau! 

Im  Wunder  seid  ihr  Gotter  niAt  bewandert. 

Keiner  ist  Meister  des  Baus, 

Da  immer  das  Heiligtum  hinwelkt. 

Auf  den  Hauptern  des  Asketen  paaren  siA  Insekten! 

Ist  euA  VortnensAen  das  Ewige  unerreiAbar, 
knirsAt  niAt  vor  Gottern  um  irdisAe  Hilfe. 

Die  zeitliAe  Losung  keimt  auA  in  euerem  Hirn. 

Im  Hahnenkampf  der  Volker 
ansAwillt  manA  Vaterland. 

Tiefere  SAmerzen  pflanzt  in  Heldenzahne  der  Geist. 

NiAt  jung  mit  den  verbrauAten  SAatten 
hinwandern  uber  die  Wiese! 

Erst  wenn  euA  Vergehenden  der  Tod  niAt  mehr  gilt, 
atmet,  Assassinen,  die  Amok-Luft 
in  wahren  Kampfen  mit  Barbarenzaren, 
aller  Welt  Geldfiirsten. 

Erdherrn,  die  naA  QbermaAt  dursten. 
mufi  man  die  Glut 
losAen  mit  ihrem  Blut.« 

Und  rettete  steil  iA  mi  A aus  dem  Traum  hervor, 
iA,  auA  iA,  iA  habe  gemordet! 

Bitteres  essen  die  MensAen. 


Ttrdinand  Hardtiopf  • Spdt 


‘Ferdinand  Hardeftopf: 

SPAT 

Der  Mittag  1st  so  karg  erhellt. 

Ein  sAwarzer  See  sinkt  in  sein  Grab. 

Dies  ist  das  letzte  Li  At  der  Welt, 

Das  bleiAste  Glimmen,  das  es  gab. 

Aus  Sumpfen  sAwankt  Gestrupp  und  Baum. 
Die  Birken-Nerven  asteln  weh. 

Die  Zeit  erblaBt,  es  krankt  der  Raum. 

Tot  steht  das  SAilf  im  toten  See. 

Die  Luft  stromt  grau  ins  Mundungs-AIl. 
Der  Rabe  sAreit,  Der  Wald  sAIaft  ein. 

Mi  A trennt  ein  rasAer  Tranenfall 
Vom  Ende  und  der  Flammenpein. 


s Voi.  m/i 


T fie  odor  DduBfer  • Simuftanitdt 


**S*M**0**S+*****A ********* 


r 


Mi 


TBeocfor  Dau6fer: 

SIMULTANIT  AT 

STIL  1st  Schidcsal:  wir  konnen  unscren  Stil  nicht  selber  wahlen. 

Frfiher  zeichneten  die  Baumcister  ihre  Plane  mit  freier  Hand, 
heute  regiert  das  Lineal  und  das  ReiBbrett:  daher  wird  eine  groB* 
zGgige  Einfachheit  den  Stil,  der  kommt,  bestimmen  mOssen!  Wagner 
in  Wien,  Loos  in  Wien,  Peter  Behrens,  Martens  in  Berlin,  Poelzig 
in  Breslau,  Franklin  Wright  in  Chicago  sind  bereits  moderne  Archi- 
tekten.  Wo  ist  da  unser  Stil?  Wo  ist  bei  ihnen  das  Gemeinsame? 
Im  Sauberlichen , in  detn,  was  sie  weglassen,  in  der  gemauerten 
Selbstkritik,  die  sie  uns  bringen.  Obrigens  will  ich  von  Simultanitat, 
noth  nicht  von  Stil  sprechen! 

Die  GrOnderjahre  sind  der  Ausdruck  der  burgerlich-unsittlichen 
Gesellschaft  im  neunzehnten  Jahrhundert.  Jeder  angestiefelte  Empor- 
kommling  konnte  seiner  Frau  zu  Weihnathten  eine  Gotenburg  sthen- 
ken,  jeder  Streber  als  Baumeister  hatte  auf  der  Kunststhule  das 
Recht,  Neigung  zur  Renaissance  zu  ftihlen,  oder  sith  Rokoko  zu 
wQnsdhen/  der  Protzenbauer  durfte  sein  Dorf  durdi  ein  Stadtgebaude 
verschandeln : anstatt  sich  zu  Hause  zu  verkriechen,  erridhtete  er  sith 
eine  Wohnstatte,  die  zugleich  ein  Wahrzeichen  offentlithen  Arger* 
nisses,  seines  sthlediten  Beispieles  wurde.  Versidherungsgesellschalten 
ersetzten  bald  die  himmlische  Vorsehung  und  schaflten  das  warm- 
nestige,  hergebrathte  Strohdadi  ab/  so  bedauerlidh  das  ist,  so  konnen 
wir  uns  doth  nkht  dagegen  auflehnen,  hier  spridit  ein  ordnendes, 
modernes  Prinzip  mit,  dem  Schidtsal  wollen  wir  uns  nicht  entgegen* 
stemmen.  Freilith  gibt  es  impragniertes  Stroh,  nur  ist  man  etwas 
spat  darauf  gekommen! 

Unsere  alten  Stadte  brauchte  man  aber  nicht  zu  brandschatzen, 
das  Neue  hatte  weniger  erbarmlidi  ausfallen  mussen,  zumal  die 


Udeodor  DduBftr  ■ Simu&anitdt 


109 

Monumentalarchitektur : der  Ring  in  Wien  ist  cine  TriumphstraBe 
akademischer  Plumphcit!  Vom  prunkvollen  Berlin  ist  besser  uberhaupt 
nicht  zu  spreeben. 

Die  Akademie  im  vergangenen  Jahrhundert  war  ein  arges  Ver- 
brechen:  die  Kunstbeflissenen  haben  die  Tradition  erdrosselt  und 
unreine  Gespenster  beschworen:  die  historischen  Stile.  Was  erreichen 
die  staatlichen  Kunstschulen  anderes,  als  daB  ein  unberufener,  unbe- 
gabter,  unbemittelter  Knabe  ein  Sdiadling  in  der  Kunst  auf  Lebens- 
dauer  wird.  Das  Ergebnis  des  Pontifikates  aller  Mittelmafiigen : unser 
herrliches,  groBes  Deutschland  hat  durch  die  Grunderjahre  mehr  ge» 
litten,  als  im  Dreifligjahrigen  Krieg.  Wir  mochten  die  Heimat  keinem 
Gebildeten  mehr  zeigen,  weil  sie  die  vorige  Generation  geschandet 
hat,  wir  selber  konnen  es  zu  Hause  kaum  mehr  aushalten,  so  ent* 
setzlich  sieht  es  zwischen  Mosel  und  Memel  aus.  Wir  bevolkern  ein 
haBliches  Land. 

Der  eigentlidhe  Grund  zu  diesem  schreddidien  Elend  liegt  somit  in 
der  Erwurgung  der  Oberlieferung.  Anstatt  also  den  damals  herr- 
schenden  international  klassizistisch  entwickelten  und  doch  in  j edem 
Land  lokal  gepragten  Stil  — bei  uns  war's  der  biedermeierische  — 
falls  notig,  durch  alte,  fruher  fallen  gelassene  Erfahrungen  jung  zu 
beleben  und  dadurch  sdiopferisch  einzusetzen,  gab  man  das  Schone, 
das  Lebendige  auf  und  baute  von  damals  an  nach  Stilvorlagen,  Bau- 
rezepten  aus  alien  Zeiten  und  Landern,  unbeholfen,  unfahig,  Ver- 
gangenes  aufzunehmen,  stumperhaft,  dumm  und  dreist  weiter.  Oft* 
mals  ward  das,  was  mit  Griechisdiem  zu  tun  hatte,  nicht  mehr  als 
heimisch  befunden,  uberdies  gab  es  in  Frankreich  etwas  Ahnliches 
wie  das,  was  bei  uns  gut  und  erprobt  war,  den  Stil  Louis  Philippes, 
folglich  sollte  unsere  Tradition  untergehen,  denn  man  wollte  heimat* 
lich  bauen,  das  heifit:  mindestens  wie  vor  dem  DreiBigjahrigen  Krieg, 
womoglich  wie  vor  der  Reformation,  und  dabei  entstand  als  Heimats- 
gebilde  der  Kitsch,  der  entsetzlichste  Wechselbalg  auf  Erden.  Hatte 
man  aber  einmal  Altnurnberg  verballhornt,  an  alien  Edcen  des  deut* 
schen  Landes  emporgiebeln,  mit  Kinkerlitzen  die  sdionen  Stadte  ver* 
unstalten  gesehen,  so  konnte  man  ja  auch  zum  italienischen  Palazzo 
greifen/  das  war  aber  das  allerunanstandigste,  landschaftfeindiichste: 
kurz,  Deutschland  sollte  verdorben  werden.  Funfzig  Jahre  erbarmlicher 


110 


Theodor  DduBfer  • Simuftanit&t 


HaBliAkeit:  romanisAe  ErinnerungskirAen,  alexandrinisAe  Parian 
mentsgebaude,  Mietkasemen  in  der  Manier  von  Versailles,  Konigs- 
sAlosser  im  HoAstaplergesAmaA  wuAerten,  krampften  siA  aus  dcm 
sAliAtestcn,  gottcrgcbcnsten  Boden  cmpor.  Ein  Jammer  ohne  Ende, 
ein  nie  zu  dlgendes  VerbreAen  gegen  die  eriauAten  Vorfahren.  Und 
heute?  Sind  Ac  Grfinderjahre,  die  vorgrOnderjahrige  historisierende 
GerQmpelbauerei  uberstanden?  tlberwunden  bestimmt,  aber  fiber* 
stan  den  no  A lange  niAt! 

Die  WiederbelebungsversuAe  der  Gotik  zur  Zeit  der  Romantiker 
waren  zuerst  reAt  gesAiAt  angepaAt  oder  ziemliA  harmlos/  erst 
die  Bewegung  far  den  Aufbau  alter  Munster,  die  sie  in  die  Wege 
leiteten,  wurde  sAwer  bedenkliA.  SAlieBliA  setzte  man  die  Voll- 
endung  des  Kolner  Dorns  durA:  welAes  Verhangnis!  So  geht  es 
aber  immer,  wenn  DiAter  si  A mit  bildender  Kunst  befassen,  sie 
verstehen  niAts  und  verderben,  was  sie  anfassen! 

Es  1st  hier  niAt  der  Platz,  um  die  tragisAe  Ruine  des  steinemen 
Hohelieds  am  Rhein  zu  klagen.  Der  Kolner  Dom  war  unvergleiA* 
liA,  er  ist  aber  auA  heute  ein  bewunderungswfirdiger  Baa  Er  kann 
niAt  immer  freigelegt  bleiben,  die  Zuge  werden  vielleiAt  noA  reAt* 
zeitig  elektrifiziert  werden,  hoffen  wir,  daB  des  Bahnhofs  NaAbar- 
sAaft  ihr  Zersetzungswerk  niAt  bis  zu  Ende  fahren  kann!  Traurig 
ist  es  eigentliA,  daB  die  DurAfahrung  des  Dombaues  gelungen  ist 
und  dadurA  Veranlassung  gegeben  wurde  zu  anderen  bosen  Turm* 
aufreAungen,  zu  allerhand  Gotislerungen,  Ae  durAaus  unzeitgemaB 
waren.  Fur  den  Dombau  zu  Koln  war  ein  Stab  von  Meistem,  dne 
Gilde  von  Handwerkern  notig:  die  beruhmte  SAmidtsAe  Bauhfitte 
entstand.  OberrasAend  bleibt,  wie  liebevoll  zu  Anfang  das  Langst* 
verjahrte  wieder  aufgegriffen,  behandelt,  ja  verstanden  wurde/  aber, 
wie  gesagt,  das,  was  gelang,  gereiAte  sAlieBliA  bloB  zum  Unheil. 
Sowie  einmal  der  Dom  fertig  werden  muBte,  konnte  es  nur  unver* 
sorgte  Gotiker  mit  Familie  geben:  eine  ganze  Reihe  niAt  heimat* 
bereAtigter,  zeitliA  unmogliAer  ArAitekten  blieb  fibrig:  man  denke, 
eine  ganze  SAule  war  da.  An  ein  Abstreben  der  Gotisierer  war 
also  niAt  zu  denken,  Oberdies  gefiel  der  Dom  so  gut,  daB  von  nun 
an,  naA  dem  groBen  Beispiel,  uberall  im  Lande  gotisA  gedaAt,  in 
Gotik  gemaAt,  gestfimpert  und  gelogen  wurde.  Immer  tiefer  sank 


Theodor  Dduhfer  • Simuftanitat  111 

man,  bis  zum  Reidispostamt  in  Badcsteingotik.  Und  2war  ubcr  Land 
und  Meer.  Einc  Schmacfa  bradi  uber  uns  herein,  die  nidit  wieder 
gut  zu  machen  ist  Kunstgelehrten  ging  das  Licht  fur  das  Mittelalter 
auf/  man  denke:  Historiker  und  das  gotische  Bekenntnis/  Schulfuchse 
und  die  romanisdie  Inbrunst! 

Idi  will  blob  einige  Nationalunglucke,  die  uns  beschert  wurden, 
anfuhren:  die  Verunglimpfung  von  Stadt  und  Kirdhe  Ulm.  Die  Ver- 
irrung  zu  Marienburg.  Die  wiederholten  Anschlage  gegen  das  Heidel- 
berger  Schlol?.  Die  Auslieferung  der  Ruine  Hohkonigsburg  im  ElsaD. 
Das  Verbrechen  an  Meil?en.  Die  Bedrohung  des  Hradsdiins  in  Prag. 
<Die  Toren  sehen  nicht,  dal?  die  prachtvolle  Horizontale  der  Hof- 
burg  bereits  mit  einem  stedcen  gebliebenen  Veitsdom  redinet.)  Die 
Zurechtrichtung  samtlicher  ehrwurdiger  Kirchen  in  Koln.  Die  mond- 
silbrige  Innerlidikeit  von  Sankt  Gereon  ist  nicht  mehr.  Maria  im 
Kapitol  kann  man  nur  nodi  abends  betreten.  Und  so  geht's  endlos 
weiter.  Wo  es  etwas  Erhabenes  in  Deutschland  gab,  dort  hat  man 
herumgetiftelt,  gesdimiert  und  ausgebessert,  bis  nichts  mehr  iibrig  war. 
Handlanger  des  Materialismus  haben  die  steinemen  Offenbarungen 
unserer  Mystiker  vergewaltigt.  Deutschland,  was  hast  du  uber  dich 
ergehen  lassen!  Wir  religiosen  Menschen  protestieren  gegen  die  Will- 
kur,  die  Unbotmafligkeit,  mit  der  man  sich  uber  Erbgut  madit,  Herr- 
tidies  bis  zur  Unkenntlidikeit  wasdit  und  ladciert,  Erhabenes  ausrottet 
Heiliges  Koln,  du  bist  nicht  mehr!  Heiliger  Dom,  wohl  bist  du  nodi 
schon,  furditbarer  Mitschuldiger  an  der  Verpfusdiung  Deutsdilands, 
konnte  idi  dir  fludien?  Wie  ein  Gletsdiergebirge  sah  idi  dich,  von 
Muhlheim  aus,  ins  Augustblau  tausendzadcig  funkeln.  Das  indu- 
strielle  Grofigewolk  konnte  nidit  bis  zu  dir  hinuber.  Unweigerlidi 
gipfeltest  du,  Dom,  mit  steinemen  Sehnsuditshalsen  uber  alie  Mensch- 
lichkeit  empor  ins  ewige  Sanftblau.  Lilasilbriges  Eigengewolk  um- 
halste  dich  in  riesenhafter  Schwanenhaftigkeit.  Du  wufitest,  dal?  du 
ein  Berg  bist,  denn  du  hattest  Nebel  und  Wolken,  du  wuBtest,  dal? 
du  zuerst  abkuhlen  wurdest,  um  dann  der  Stadt  Nachtkuhle  zu 
spcnden.  Du  bist  ein  Sinai,  Kolner  Gebirgswelt,  Bekennerhand  hat 
dich  aufgebaut/  du  bist  der  Berg  aus  unseren  Gesetzen  hervorge- 
ttirmt:  du,  du  birgst  unsere  heilige  Wolke  in  Pfeilerhut. 

Ich  habe  den  Kolner  Dom  betreten.  Ein  Sdiritt,  und  idi  war  in 


112 


Theodor  DduBfer  • Simuftanitdt 


******************************************************* e********************************************************m**m*****mm******m***m*m**** 

eine  himmelhohe  Sphare  entruckt.  Nur  zufallig  bist  du,  Heiligtum, 
bci  uns  zu  Gast.  Kolner  Gletscber,  bist  du  aus  einer  Region  kri* 
stallener  Vollkommenheit  zu  den  Mensdien  emporgeflogen? 

Wenigstens  um  zwanzig  Jahre  zu  spat:  was  soli  heute  nodi  eine 
Jeremiade  ixber  die  Grunderjahre!  Wir  werden  wieder  aus  der  Not 
eine  Tugend  zu  madien  wissen,  ich  muftte  daher  eine  Gr  under jahr- 
einleitung  sdhreiben!  Denn  in  dieser  grauenhaften  Epodie  liegt  die 
kunftige  Simultanitat  unseres  Stilempfindens  eingewurzelt. 

Den  Beweis,  daO  man  audi  historisierend  Gutes  leisten  kann,  er* 
braditen,  auBer  dem  Dombaumeister  Sdimidt,  noch  Hansen  und 
Semper.  Wie  steht's  mit  einer  Klitterung,  Versdimelzung  eklektisch 
wiederbelebter  Stile  durdi  groBstadtmaBige  Zusammenfassung?  Audi 
das  geht!  Siccardburgs  und  van  der  Null  haben  Wien  in  seiner 
Oper  gelungene  Gemeinsdiaft  der  Stile  besdiert.  Gamiers  Pariser 
Opernhaus  ist  gleichfalls  sehr  prasentabel.  Die  Wohlbeleibtheit  von 
Pollaerts  Justizpalast  in  Brussel  laBt  auf  eine  Sdiwangersdiaft  hoffen. 
Calderinis  Justizpalast  in  Rom  ist  nidit  so  hoffnungslos,  wie  man 
vielleidit  zuerst  denkt.  Sdiade,  freilidi,  dal)  er  die  Engelsburg  drudtt 
und  die  Wirkung  der  romisdien  Hiigel  sdimalert.  Hier  kann  aber 
vor  allem  Messel  nidit  ubergangen  werden:  in  dieser  Gesellsdiaft 
ist  er  sidierlicb  der  Hervorragendste.  Wo  knupft  er  an?  Bei  portu- 
giesisdier  Gotik?  Beim  Flamenstil?  Oft  sdieint  er  Streifzuge  durdis 
Barock  zu  unternehmen,  dann  setzt  er  sidi  etwas  abseits  vom  Empire 
fest,  sdilielMidi  aber  versteht  er  Langhansens  Klassizismus.  Und  darin 
liegt  seine  vorbereitende  Arbeit.  Audi  in  der  naturalistisdi  eklekti- 
sdien  Mailander  Bildhauerei,  zumal  beim  Fursten  Trubetzkoj,  linden 
wir,  so  sdilecht  sie  audi  nodi  bleibt,  bereits  Ansatze  zu  einem  Stil 
der  Simultanitat:  da  fallt  einem  auf  einmal  das  Erhasdien  fremd* 
artigster,  grundversdiiedener  Konnexmoglidikeiten  auf  irgendeiner 
verkraust  impressionistisdie  Steinlaune  mit  gotisdiem  Hierarchies 

Oder  renaissancehafte  Ausgewogenheit  einer  Hausabsidit  be> 
fenstert  sidi  geschickt  kleinerkerig  maurisdi. 

An  der  Unmoglidikeit,  einen  Stil  gewaltsam  zu  gebaren,  zweifelt 
wohl  niemand  mehr.  Van  der  Velde  selbst  ist  viel  zu  sehr  Kunstler, 
um  das  nidit  als  erster  einzusehen.  Leider  ist  er  nidit  ganz  firei  von 
Sdiuld  an  den  gekriimmten  Hausern  in  Belgien  und  Frankreidi.  Bei 


113 


Theodor  Dauhfer  ■ Simuftanitat 


uns  hat  der  Jugendstil  rasch  ausgewutet,  in  Italien  steckt  cine  ahnliche 
Pest,  das  Floreale,  nodi  immer  von  einem  Haus  aus  die  Nachbar- 
schaften  an. 

Zu  einer  Entsdieidung  in  Stilfragen  fiihlt  sich  wohl  jeder  Mensch 
mit  etwas  Gesdimack  gedrangt,  wenn  er  den  Denker  des  riesen- 
haften  Rodin,  der  das  Wesen  der  Baume  und  des  Wassers  in  einem 
Lubecker  Privatgarten  zu  uberdenken  imstande  ist,  in  Paris  vor  dem 
Pantheon  aufgestellt  sieht.  Nein,  das  ist  dort  bloB  nodi  ein  Gedanken- 
hervordrucker,  ein  Klumpen  Erz,  der  das  ganze  Pantheon  beein- 
traditigt.  So  geht  es  niefat  weiter:  entweder  zuruck  zu  einem  intel- 
lektuell  wiederbegrundbaren  alten  Stil  oder  uber  Rodin  hinaus  in 
eine  sdiwingerische  Ardiitektonik.  Wahrsdieinlich  sollen  wir  bald 
beides  erleben.  Wie  viel  Ridirungen  werden  zugleidi  Wurzeln  setzen 
konnen,  traditionsfahig  werden?  Mindestens  zwei!  Eine,  die  sidierste 
Riditung,  wurde  bereits  eingeschlagen,  nur  fuhrt  sie  nicht  zum  Pan- 
theon, sondern  sie  geht  vom  Brandenburger  Tor  aus.  Denn  Peter 
Behrens'  deutsdie  Botsdiaft  in  Petersburg  ist  eine  Tat.  Die  Aus- 
sdialtung  der  historisierenden  Grunderjahre,  der  AnsdiluB  an  groBe 
Qberlieferung  muBte  geschehen.  Welches  lebendige,  witterungsfahige 
Wadistum  wird  uns  wieder  besdiert!  Behrens,  Sdiinkel,  Klenze, 
Langhans,  Gilly,  Scamozzi,  Palladio,  so  heiBt  vorlaufig  die  Reihe. 
Ein  Weg  zu  Baldassare  Peruzzi  und  Donato  Bramante  kann  ge- 
funden  werden. 

In  Goethes  Faust,  in  der  Sage,  ist  Helena  bloB  ein  Gespenst. 
Ein  Gespenst,  das  in  Deutschland  ganz  kurz  aufgeisterte,  das  aber 
auch  in  Italien  nach  funfzig  Jahren  wieder  weg  war.  Gar  vieles,  was 
die  Renaissance  geschaffen  hat,  wurde  bald  zerstort/  Leonardo  spurte 
am  deutlichsten  den  Gerudi  vom  Gespenst/  er  wollte  seine  Werke 
kaum  vor  dem  Versdhwinden  bewahren.  Sogar  sein  Leidinam  ging 
verloren. 

Die  Wiederbelebung  der  Klassik  an  Amo  und  Tiber  hat  in  Deutsch- 
land Moden  geschaffen,  Steingewander  umgestaltet,  in  den  Humani- 
sten,  in  Holbein  dem  Jungeren  Kronzeugen  gehabt,  Durer  umzaubert, 
aber  wirklich  umgeboren,  verheidnischt,  hellenisiert  hat  sie  niemals. 
Qbrigens  ging  sie  mehr  aufs  alte  Rom  als  auf  Athen  zuruck. 

Deutschland  enthalt  aber  die  wirkliche  Erweckung  des  Griechen- 


114 


IBtodor  DduBftr  • Simuftanltdt 


turns:  sie  stammt  von  Winkelmann  und  Lessing.  Sie  kann  Jahr- 
hunderte  Qberdauem. 

Wir  sind  unseres  Klassizismus  in  der  Baukunst  ailerdings  vorGber- 
gehend  beraubt  worden/  in  der  Malerei  jedoch  nicbt:  da  blieb  die 
Kette  gesdhlossen.  Schwind,  Cornelius,  der  groBe  Genelli,  schiiefilich 
auch  Pilot!,  vor  alien  aber  Feuerbach  und  der  herrlkhe  Hans  von 
Marees  verburgen  uns  heilvolle  Besonnenheit  bei  der  Heimsudiung 
auf  Erden,  heimatliche  llnterkunft  Qber  den  Stemen  und  bei  den 
Quellen,  hellenisdies  VerantwortlichkeitsgefGhl  vor  der  Form.  Wie 
durchaus  liebesbewuBt  und  streng  ausFuhrlich  steht  ein  Bildhauer, 
Sdiadow,  auf  marmomem  Sockel  vor  unseren  Augen.  Heute  ist  der 
entschiedene  Vertreter  der  Riditung  Adolf  Hildebrand.  Audi  August 
Gauls  Werk  richtet  sich  vortreffiich  im  klassizistischen  Berlin  ein. 

In  Frankreidi  ist  die  Folge  der  nach  klassischem  Beispiel  schaffen- 
den  KOnstler  nodi  imposanter:  das  grofiartigste  Bauwerk  nadi  anti- 
kern  Vorbild  wurde,  nach  der  Madeleine,  der  groBe  Triumphbogen. 
Aber  gerade  in  Paris  mehr  romisdier  Auftakt  als  Griechentum.  Rude 
zumal  ist  ein  nadigebomer  Romer:  seine  »Marseil!aise«  ist  das  be- 
wegteste  Epos,  das  sich  bildhauerisch  Qberhaupt  beherrsdien  laBt 
Die  Trajanssaule  tragt  im  Vergleich  eine  Rinde  von  Kleinplastik 
Die  Truppen  Constantins  folgen  auf  dem  rdmisdien  Triumphbogen 
einem  Schlachtruf,  wahrend  die  »Marseillaise«  von  Rude  simultan 
Ruhm,  Siegesjubel,  Schlachtgesdirei,  Freiheit,  Volkererlosung  sympho- 
nisch  zusammenrafFt  und  in  die  Welt,  die  horen  und  staunen  kann, 
hinausschmettert,  vor  den  Blidcen  von  Mensdi  und  Sternhimmel  ver- 
kundet.  Diese  Kunst  ist  endlich  aufbrecherisch,  in  Pergamon  wogte 
erst  Aufruhr  emp>or.  Auf  Rude  folgte  das  Raubtier  durch  Barry,  die 
barodce  Tanzerregbarkeit  eines  Carpeaux,  das  Halsbrecherische  in  den 
speziell  genialen  Werken  Rodins.  Aber  gerade  in  ihm,  im  Meister 
von  Meudon,  wird  eine  griechisch  verinnerlichte  Sehweise  immer  deut- 
barer:  Rodin  wirft  bald  die  windbewegten,  sturmisdien  Hflllen  seiner 
Problematiker  in  Stein  und  Erz  ab,  und  seelenvolles  Nadctsein  offen- 
bart  eine  geheimnisreiche  Formergriffenheit:  sie  fuhrt  zurOdk  zur 
Sdiweigsamkeit,  die  vor  Pappeln  um  Stille  zittert  oder  bei  Zypressen 
die  Ruhe  wirklich  gefunden  hat,  Ingres  war  immer  gefaBt.  Welch e 
Beruhigung,  ihn  im  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts,  im  AnsthluB 


Theodor  DauBfer  • Simuftanitat 

an  den  auftreterisdhen  Romer  David  zu  wissen.  Eigentumlidi:  in 
fruhern  stileinheitlichen  Zeiten  gewahrte  der  einzig  herrschende  Sell 
alien  Teniperamenten  Obdach/  nun  aber  ist  es  anders:  jedes  Tem- 
perament  schliefit  sidi  an  seinen  Lieblingsstil  an.  Desto  wichtiger,  da0 
der  klassische  miterhalten  bleibe,  wenn  neue  Ausdrudcsweisen  uber 
uns  hereinzubrechen  sdieinen!  Vielleicfit  setzen  wir  bloB  die  Simul- 
tanitat  der  Stile  fur  die  Simultanitat  im  Stile. 

Betrachten  wir  die  Erhaltung  der  Klassik  in  Frankreich  noch  weiter: 
Paul  Chenavard  hat  Massenwirkungen  von  Menschen  und  Genien 
fur  die  Ausschmuckung  des  Pariser  Pantheons  zusammenzuhalten  ge- 
wufit,  Nur  uberkommne  Kenntnisse  konnten  so  ein  Gesamtgebilde 
uberhaupt  ermoglidhen.  Leider  kam  es  niefat  zur  Ausfuhrung  des 
Werkes. 

Chasseriau,  ein  michelangelesker  Freskotechniker,  war  ein  gewaU 
tiger  Vorlaufer  von  Puvis  de  Chavannes.  Seine  Hauptwerke  befan- 
den  sich  leider  in  der  Cour  des  comptes  und  sind  abgebrannt.  Was 
gerettet  werden  konnte,  steht  im  Louvre.  Fresken  von  ihm  gibt's  in 
verschiedenen  Pariser  Kirchen. 

Couture  soil  nicht  ubergangen  sein.  Er  konnte  Riesenfladien  groB- 
artig  ausfullen:  audi  war  er  der  Meister  einer  ganzen  Generation, 
Cabanel  durfen  wir  hier  auch  nidit  vergessen.  Er  war  kein  nuditerner 
Akademiker,  sondern  ein  lebhaft  begabter  Klassizist.  Sein  Land- 
scbaftlidhes  ist  sogar  haufig  voll  von  davongrunenden  Unsagbarkeiten. 

Puvis  de  Chavannes:  der  groBte  Visionar  des  vorigen  Jahrhun- 
derts.  Er  bringt  uns  versdjleierte  Qberwelt  sehr  nahe.  Puvis  erfullt 
seine  Wande  mit  diristlidher  Einfalt  und  primitiver  Hilflosigkeit,  er- 
ganzt  sich  aber  im  heidnisch  Allegorischen.  Eine  langatmige  Simul- 
tanitat. Vielleicht  die  erste:  sie  stammt  von  Dante/  die  Renaissance 
erfullt  sich  in  ihr  hochst  reizvoll  und  uberlogisch. 

Also  es  gibt  noch  eine  klassische  Oberlieferung!  Eine  Zeit  der 
Stilwirrnis,  der  Geschmacksverwilderung,  kunstlerischer  Unsicherheit 
kann  nur  durch  einen  intellektuellen  Stil  zur  Gesundung  gelangen, 
Mittels  einfacher  Begriffe  mussen  wir  klarlegen,  was  anstandig  ist, 
was  verwerflich.  Ich  spreche  immer  von  Bauwelt/  in  der  Malerei 
wirkt  die  Kritik  viel  lebhafter  sichtend  und  gebuhrlich  einstellend. 
Schlechte  Skulptur  kann  Platze  verunstalten,  aber  niemalsVerwustungen 


115 


116  IX t odor  D&uBltr  • Simu&anit&t 


anrichten.  Darum  konnten  wir  dort  anfangen,  wo  Brunelleschi  die  mit 
Donatello  dem  V erstand  zu  seinem  Recht  in  der  Kunst  verhalf : bei 
der  Sakristei  von  San  Lorenzo. 

Vlelleicht  ist  man  aber  immer  nodi  so  weit,  dad  unsre  besten  Ar- 
diitekten  sicb  sogleidi  in  Sdiinkel  einzufQhlen  vermogen:  dann  wGrden 
wir  im  Nu  die  ganze  Tradition  wiedererobert  haben  und  beherrsdien. 
Dann  ware  audi  das  fGnfzehnte  Jahrhundert  Toskanas  demnachst 
eine  Bereidierung  mehr,  kein  Beginn!  Italienische  Probleme  waren 
aber  niemals  wicbtiger  als  soeben.  Eines  solien  wir  nicht  vergessen: 
Deutscfalands  schdne  Zeile,  die  Ludwigstrafie,  fGhrt  nacb  Florenz. 
Wohin  nicxbte  wohl  die  Maximilianstrade  gewiesen  haben?  Zu  den 
Tudors  nacb  England? 

Es  ist  wahrsdieinlich,  dad  der  Klassizismus  zuerst  Berlin  zurudt- 
erobern  wird.  Moller  van  der  Brudc  hat  redit,  wenn  er  dort  die  Vor- 
bedingungen  dazu  erkennt  und  feststellt.  Qbrigens  hat  das  klassizie- 
rende  Potsdam  und  was  von  Berlin  nodi  (xbrig  ist  nidits  mit  Florenz 
zu  tun.  Palladio  1st  da  viel  eher  der  grode  Ahnherr.  Qberhaupt  die 
Po-Ebne!  Kdnnte  das  norddeutsche  Tiefland  nidit  in  dieser,  nun«* 
mehr  ganz  seiner  eignen  Riditung  fortschreiten  und  dem  hQgligen 
Suden  sein  Toskanisches  Oberiassen? 

Soli  das  unsre  Zeit  erfGllen?  Bevor  idi  »nein«  sage,  mocbte  idi 
nodi  den  Grund  anfuhren,  der  dem  Klassizismus  am  entsdiiedensten 
das  Wort  redet.  Warum  sollte  unsre  2^eit  auf  alien  Gebieten  neu- 
gebarend  sein?  Soilten  nicht  aufgepeitschte  Mensdien  gerade  eine 
Wohnstatte  ihrer  Herkommlichkeit  besonders  lieben,  einem  neuerungs- 
besessnem  Aufenthalt,  dem  sie  sich  schidcsalsartig  ausgeliefert  fQhlten, 
unbedingt  vorziehen?  Sollte  nicht  Kunst  gerade  letzt  eine  Sendung 
zur  beruhigenden  Gberlieferung  Qbemehmen  konnen!  Einer  schnell- 
dahinlebenden  Zeit  eine  letzte  Kunst:  letzte  im  Sinne  von  Ewig~ 
keitswittern . 

Diesen  Standpunkt  vertrete  ich  eigentlich  vollauf:  aber  idi  bin 
trotzdem  beunruhigt,  weil  uns  der  Simultanismus  erfaSt  hat.  Aller* 
dings  versagt  er  in  der  Baukunst  noch  vollstandig.  So  wenden  wir 
uns  zur  Bildhauerei  und  Malerei,  seinem  ungefahrlidieren  Kampf- 
gebiet  Folgendes  sdiidce  ich  voraus:  Simultanitat  ist  unser  gefahr- 
licher  Reichtum,  der  Charakter  ist  Expressionismus ! 


T Be  odor  DduBfer  ■ Simuftanitdt  117 

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Man  kann  zugleidh  erhoben  sein  und  sdiimpfen,  loben  und  beinahe 
die  Hoffnungslosigkeit  als  das  Beste  ansehen.  Die  simultanistisdie 
Gberfulle  von  Gelerntem,  nur  fluditig  Aneigenbarem,  fuhrt  zu  Ab- 
straktionen,  nervischen  Erkenntlidikeitszeichen  mehr  als  zu  erschopfen- 
demWissen,  Eingeweihtsein.  Wir  tragen  ganze  Namenregister  her- 
um,  audi  lieber  auf  den  Tastorganen,  als  im  GroBhim:  hinter  jedem 
Namen  eine  Widitigkeit,  oft  ganz  winzig,  aber  do<b  stenogramma- 
tisch  in  uns  eingeselzt,  versponnen.  Bin  Impresslonismus  im  Geistigen? 
Kenntnisse  sind  nidit  mehr  Pfeiler  unsrer  Kultur:  wir  spielen  damit, 
setzen  sie  nadi  dem  Sdionheitsgefuhl  willkurlidi,  aber  eigenrhythmisdi 
ein:  wir  barodcisieren.  Die  Wirkung  nadi  auflen  ist  so  gering/  bauen 
wir  unsre  Innenraume  aus/  Treppenhallen  braucben  wir:  die  neuen 
Erlebnisse  sollen  bequem  in  unsre  Empfangsraume  emporsteigen 
.konnen.  Wir  erwarten  sie  in  der  Bibliothek.  Der  erste  Barockbau 
war  Michelangelos  Laurentiana.  Barock:  wir  waren  uberall.  Wo  der 
Schnellzug  uns  nidit  hlngelangen  lieB,  kerbten  wir  uns  dodi  ein:  die 
besten  Wiedergaben  stehen  zur  Verfugung. 

Barock:  Petersplatz  Palmira,  Borromini  Petra,  Bernini  Timgad,  Fon- 
tana Trevi  Baalbeck,  Sant  Andrea  delle  Fratle  Heliopolis.  Die  Jahr- 
hunderte  dazwisdien  sind  versunken:  wie  sollten  sie  auch  nidit  ver- 
schwinden,  wir  haben  doth  den  Raum  uberwunden.  »Mon  ame  est 
triste,  helas,  et  j'ai  lu  tous  les  livres«  kennzeidmet  Mallarm^. 

Wir,  die  wir  die  Verantwortung  in  der  Kunst  tragen,  ziehen  durch 
unsre  verbauten,  in  Sdiutt  gelegten  Stadte  und  suchen  nach  ver- 
sdionten  Winkeln,  sdiliefien  Augen  und  Ohren  streckenlang,  bis  wir 
zu  einer  versteckten  anheimelnden  Stelle  kommen,  fireuen  uns  plotz- 
lich  uber  etwas  Neues,  das  verspricht,  und  dabei  vergessen  wir  ab- 
sidididh  was  uns  beleldigt  hat,  sdiludten  hinunter,  ubersehen,  sind 
einsichtig,  nehmen  mit  in  Kauf:  Einheit  finden  wir  ja  nidit  mehr. 
Aber  einzelnes  lieben,  hegen  wir  inbrunstig,  zittern  um  seinen  Fort- 
bestand,  sind  simultan  bei  allerhand  ahnlichem,  das  raumlich  entlegen 
ist,  und  wir  glauben  nodi  an  eine  Einheit.  So  haben  die  Grunder- 
jahre  das  simultanistisdie  Empfinden  gefordert. 

Oder  man  ist  ein  unbeirrbarer  Museumsbesucher.  Man  erinnert 
sich  audi  der  Bilder,  bevor  sie  restauriert,  gewasdien  und  ladciert 
waren.  Triibsinnige  Betraditungen ! Aber  schlieBIich:  einige  blieben 


118  % 'Btodor  DduSfer  • Stmuftanitdt 


bisher  unberfihrt.  Sogar  von  den  groflten  Meistem.  Doth  nein:  da 
ist  wieder  eins  aus  dem  Rahmen  gehoben:  leb  wohl,  auf  Nirnmer- 
wiedersehen!  Aber  sdiliefilich,  es  hilft  nidits:  irgendein  Eckdien  wird 
fibersehen,  verschont  bleiben!  Rembrandt:  bier  nodi  Spuren  von  La- 
sur/  evQtjxa,  das,  um  was  sich  das  Genie  am  meisten  abmGhte,  ist 
nodi  sporadisdi  vorhanden.  Sogar  ein  van  Dyck  hat  zufallig  in  dieser 
Galerie  nodi  seine  vomehme  Eleganz.  Wie  muO  dieser  Tizian  herr- 
lidi  gewesen  sein!  Was  war  einmal  Rubens!  Auf  zwanzig  Bildem 
nodi  so  viel  Stelien  ubrig,  dad  man  sidi  ein  Bild  von  ihm  madien 
kann.  Hier  dieser  unbekannte  Venezianer:  nur  nicht  verraten,  dad 
man  weid,  wer  es  ist,  sonst  sieht  man  das  berQhmte  Gemalde  als 
Untermalung  wieder.  Nun  ein  Trost,  ein  groder:  das  Museum  ist 
dazu  da,  dad  die  aite  Kunst  versdiwinde.  Foiglich  wird  es  eine  neue 
geben!  Und  in  Cincinnati  wird  man  dereinst  den  letzten  deutsdhen 
Meister  entdedcen,  der  nidit  verhausert  ist.  Jubel  und  Wehmut, 
frQhere  Gesdilediter  kannten  euch  nicht  in  so  verheidungsvoHer  Ver- 
quickung! 

Wir,  in  denen  die  Elemente,  die  der  neue  Stil  zusammenfassen 
wird,  in  Gahrung  sind,  bleiben  selbstverstandlich  die  wichtigsten.  Aber 
sehen  wir  audh  auf  breitere  Kreise,  die  uns  einst  verstehen  werden. 

Die  vielseitige  Beschaftigung  mit  interessanten  Dingen,  sadigemade 
Erfullung  einer  Brotpflicht,  ohne  eigentliche  Vorliebe  zum  Beruf,  die 
LektOre  von  Zeitungen  versdiiedener  Sdiattierungen,  Kenntnis  leben* 
der  und  toter  Spradien,  alles  das  veranladt  simultanistisdie  Elastizi- 
tat.  Dazu  reist  man  sehr  viel,  lebt  der  Wissensdiaft  und  bleibt  da- 
bei  unbeirrbar  glaubig,  erfQlIt  andrerseits  als  Sozialist  vollkommen 
seine  Militarobliegenheiten : alles  das  ist  im  Grunde  ausgesprodien 
neuzeitlidi. 

Sdiliefien  wir  mit  psythologischen  Erlauterungen  des  modemen 
Phanomens  ab.  Simultanismus  ist  ein  Zustand:  das  widitigste  Ele- 
ment fGr  die  grofizQgig  kQnfrige  Horizontale.  Wir  werden  breitspurig, 
gesdhwind,  gesdimeidig,  empfanglich  fur  EinflQsse  und  Eingebungen 
bleiben.  Der  Wille  zum  Stil,  der  sdion  vorhanden  ist,  wird  diese 
Unterlage  bestatigen,  festlegen.  Von  den  erzielten  Ergebnissen  je- 
doth  an  andrer  Stelle. 

Ein  paar  Zeilen  Gesdiichtliches:  die  frfihesten  Schopfungen,  die  wir 


Theodor  DduSfer  • Simuftanitdt 


119 


heute  simultanistisch  ncnnen  mogen,  gehen  wahrscheinlich  auf  Delaunay 
zuruck.  Das  erste  Bild,  das  sidi  »Simuitane  Visionen*  nannte,  ist 
von  Umberto  Boccioni,  der  somit  das  Wort  zuerst  in  dieser  Auf- 
fassung  gebraucht  hat.  Es  sollte  eine  Feier  der  Geschwindigkeit,  des 
modernen  GroBstadtbetriebes,  einen  neuen  Fieberzustand,  erweckt 
dutch  die  wissenschaftfichen  Errungenschaften,  zusammenfassend  be- 
zeichnen.  Simultanitat,  heifit  es  bald  darauf  in  einem  Futuristenmani- 
fest,  ist  die  Bedingung,  unter  der  die  verschiedenen  Elemente,  die 
den  Dynamismus  ausmachen,  in  Erscheinung  treten. 

Marinetti  schrieb  darauf  eine  Abhandlung  uber  Simultanitat  in  der 
Dichtung.  Wir  brechen  ab. 

Richard  Wagners  Ideal  vom  Zusammengehen  von  gesungenem 
Drama,  Orchester  und  Plastik  bedeutet  den  entscheidenden  Schritt  im 
Sinne  der  Simultanitat.  Der  Futurist  Luigi  Russolo  sieht  in  der 
Musik  uberhaupt  ein  Prinzip  der  Simultanitat,  das  er  ganz  er- 
schliefien  will. 

Moglicherweise  wird  ein  bewegter  Stil  zuletzt  in  der  Baukunst 
durchbrechen : damit  hat's  auch  keine  Eile.  Im  Gegenteil,  lassen  wir 
die  klassizistische  Richtung  ruhig  Oberhand  gewinnen:  vor  allem  tut 
Gesundung,  Beruhigung  not.  Freilich,  etwas  wie  Kantenbarodc  hangt 
langst  in  der  Luft:  was  wird  man  dereinst  noch  in  Eisenbeton  giefien! 
Die  Phantastik  mag  kommen,  aber  erst  wenn  sie,  weil  ihr  Stil  bereits 
vorhanden,  selbstverstandlich  emporraketen  und  sich  abstrakt  verblat- 
tern  kann. 

Ein  gotisches  Element  mag  immer  bei  uns  zugegen  sein,  oft  halt 
man  aber  fur  gotisch,  was  viel  eher  barock  ist.  Jeder  sollte  sich  seibst 
darin  einer  Prufung  unterziehen:  am  besten  nimmt  man  Bucher  von 
Gurlitt,  von  Wolfflin  oder  Riegl  vor.  Eine  Klarung  ist  da  sehr  rat- 
sam:  gegen  Barodc  besteht  vielfach  ein  hergebrachter  oder  auch  ge- 
dankenloser  Widerwille,  der  unberechtigt  ist.  Leider  sind  gerade  die 
Jungsten  in  diesem  Vorurteil  befangen. 

Selbstredend  sind  Bezeichnungen  wie  gotisch  und  barock  auch  hier 
nur  vorlaufige  Hilfsausdriicke.  Der  neue  Stil  ist  zwar  im  Keimen, 
aber  noth  nicht  da/  wir  konnen  daher  bloB  annahemd  mit  gelaufigen 
Worten  kennzeichnen,  was  wir  meinen.  So  gleicht  man  den  Eltem, 
die  schon  vor  der  Geburt  des  erwarteten  Kindes  streiten,  welchen 


120 


UBeodor  DauBfer  • Simuftanitat 


Namen  es  bekommen  soil.  Augenblicklidi  sind  Simultanitat,  Futuris- 
mus,  Expressionismus  am  haufigsten  im  Umlauf. 

Wir  hoffen  zuversidttlich  auf  cin  starkes  deutsdies  Element  im  kunf— 
tigen  Kufturwerden,  besonders  in  der  Baukunst.  Die  Vorarbeit  ist 
aber  in  der  Bildhauerei  und  Malerei  geleistet  worden,  und  zwar 
hauptsachlich  in  Frankreid). 

★ 


Wenn  wir  zu  Anfang  des  Aufsatzes  sagen:  Stil  ist  Sdiicksal,  so 
war  das  in  keinem  fatalistisdten  Sinn  gemeint.  Vom  Simultanismus 
wollen  wir  nodimals  betonen,  daft  er  ein  unabwendbarer  Zustand 
ist/  nadi  diesen  beiden  Festlegungen  konnen  wir  moderne  Folge- 
rungen  ziehen.  Es  ist  Kulturarbeit,  sogar  die  tristen,  unwiirdigen 
Elemente  unter  Menschen  aufzubrauchen,  zu  verwerten.  Kunst  kann 
geradezu  Erloserin  sein:  eine  Schmach  der  Seele,  das  Charakter- 
widrige  in  jeder  Zeit  mufl  schopferisdi  aufgesogen,  erfinderiscb  empor- 
gegipfelt  werden.  Niemals  wie  heute  soil  ein  Stil  auf  gefahrvoller 
unsidierer  Grundlage  Notwendigkeiten  in  Begeisterung  ubertragen, 
Zusammenwirkendes  emporgiebeln  lassen.  Was  jemals  bestand,  alles 
Neuhinzugekommene  verlangt  es,  in  Mensdienhand  ein  einziges  Er- 
gebnis  zu  werden.  So  kann  den  Eklektizismus  hochstens  der  An- 
standigkeit  wegen  bei  so  sdiwerer  Aufgabe  als  vorlaufig  hingenommen 
werden.  Uns  sind  aber  Gesamtpragungen  besdiieden.  Urwudisige  Ab- 
straktionen  werden  gen  Himmel  gotisicen,  seltsam  pflanzlidi,  geistig 
erleuchtet  die  Welt  besamen.  Aus  dem  gleichen  Gewadis  werden 
barockere  Blatter  unsre  Heimstatten  besrhatten  und  treu  und  freund- 
lich  bis  in  die  Stuben  Gesammeltheiten  fadieln.  Also,  icb  sage:  die 
gleiche  Pflanze  hat  versdiiedene  Ausdruckswirklidikeiten. 

Der  kuhnste  Besdireiter  auf  solchen  Wagnispfaden  war  im  vorigen 
Jahrhundert  Honor£  Daumier.  Der  ganze  Naturalismus  ist  die  see- 
lisdhe  Steigerung  aus  eigenem  Elementaren  geworden,Emporsdhwingen 
ohne  Ruckwartsgriffe  in  verstaubten  Krimskrams.  Selbst  die  Roman- 
tik  in  seinem  Don  Quidiote  bleibt  voll  von  Erdgeruch  in  ihrer  her- 
vorsteilenden  Mondhaftigkeit.  Daumier  glaubt  an  die  Sancho-Tragik. 
Sein  Stil  knauft  sich  im  Ratapoil  wirblcrisdi  zusammen. 


Z "Beodor  DduBfer  • 5 imu  ft  a nit  at  121 


W r r 


Rodins  Balzac  wurde  nidit  aufgestellt,  er  wartet  nod)  in  Gips, 
unter  einem  Vorhang,  im  Atelier  von  Meudon.  Seine  Existenz  ist 
aber  eine  hilfireidie  Tatsadie.  Er  wurde  bereits  der  Traum  der  ab- 
sonderlichen  Platze,  das  Gespenst  der  StraBen,  der  panisdie  Schreck 
der  Parkeinsamkeiten  vorbeirasender  GroBstadte.  Denn  die  Waren- 
hauserkarawane  steht  nidit  mehr  an  einem  Fledt.  Der  versteckte 
Gipsklotz  wirkt  bis  hierher.  Er  wird  auf  einmal  als  steinemer  Gast 
unter  uns  ersdieinen. 


Gfossen 


GLO 

Die  drei 

fetzten  Briefe  an  einen  Toten. 

I. 

I A begreife  niAt,  warum  die  wahren 
DeutsAen  noA  niAt  dagcgcn  protestierten, 
dab  die  AlldeutsAen  siA  AlldeutsAe 
nennen.  SiesinddoA  soundeutsA!  NiAts 
ist  doA  bislang  undeutsAer  gewesen,  als 
UngedankliAkeit  und  HoAmut.  Und  wel- 
Aes  DeutsAtum,  iA  bitte  diA,  haben  diese 
allbetriebsamen  Leute  binter  siA?  Auf 
welAe  Tradition  dfirfen  si  A diese  plotz- 
liAen  Emporkommlinge  berufen,  die  niAts 
sind , wie  eine  ausgefallene  Generation, 
Ahnen  und  Urenkel  in  cinem,  Insufaner 
ohne  die  EntsAuldigung,  dab  sie  auf  einer 
Insel  wohnen,  Anabaptisten,  die  ihre  Wie- 
dergeburt  feiern?  Obertont  hier  etwa  niAt 
wie  einst  das  wilde  GesArei  einer  kleinen, 
aber  verderbliAen  Sekte?  1st  dies  etwa 
niAt  ein  und  dieselbe  Welt?  Fallt  je  etwas 
aus  ihr  beraus?  Und  sAleppen  wir  uns 
niAt,  noA  immer,  mit  dem  Agens  ver- 
flossener  Irrtfimer,  fiber  welAe  siA  dann 
immer  die  NaAwelt  so  erbaben  fuhlt,  dab 
sie  ihr  einen  unerklarliAen  Wabnsinn 
dfinken?  Ob,  iA  weiB  sehr  wohl,  was  man 
fiber  kurz  oder  lang  von  den  AfldeutsAen 
sagen  wird,  aber  es  hindert  gar  niAt,  dab 
sie  heute  die  Unbesonnenen  verwirren 
dfirfen,  und  dab  ibnen  ein  zu  ho  Aster 


iSEN 

Vervollkommnung  berufenes  Volk  es  ver- 
dankt,  dab  es  verkannt  und  ungeliebt  ist 
wie  nur  eins.  Und  keines  ist  doA  von  so 
weitem  Flug,  wenn  auA  keines  so  be- 
sAwert.  Es  ist  das  geistigste  und  geist- 
verlassenste,  das  potenzieH  hoAste,  das 
effektiv  gefahrdeste,  der  Heimgarten  aller 
Gegensatze,  in  welAem  die  blaue  Blume 
tiefer  aufleuAtet,  zugleiA  wilder  fiber- 
wuAert  steht,  als  irgendwo.  Mit  groberem 
Ernst,  als  dieses  fiberduldsame  Volk  bat 
keines  die  Parole  von  der  GleiAheit,  Frei- 
heit  und  BrfiderliAkeit,  die  seine  stfirmi- 
sAeren  Bruder  pragten,  zu  Taten  aufge- 
griffen/  keines  war  so  getragen  von  dem 
Geffihl,  dab  der  eigene  NiedersAlag,  die 
eigenen  Vcrkommenen,  das  eigene  Ge- 
sindel,  der  eigene  Pobel . . . zugleiA  die 
eigene  SAmaA  einer  Nation  umfabt/  und 
sAritt  es  da  niAt  sAon  gerade  darauf  aus, 
die  Armut  aus  seinem  BereiAe  zu  ver- 
bannen  und  die  Entwfirdigung  der  Nic- 
drigen  niAt  mehr  zu  dulden?  Auf  eine 
Sanierung  naA  dieser  Seite  bin  so  be- 
daAt,  dab  es  andere  Dinge  fibersah,  wo 
andere  Augen  geubteren  Blickes  gar  auf- 
merksam  naA  den  WetterzeiAen  sAauten 
und  siA  vorsahen,  damit,  wenn  der  ge- 
furAtete  Sturm  siA  entfesseln  sollte  in- 
mitten der  Luft,  die  sie  entzfinden  halfen, 
niAt  sie  die  Inkriminierten,  niAt  auf  sie 
das  Odium  fallen,  niAt  sie:  Feuer!  son- 


Gfossen 


123 


dcrn:  *Wir  sind  es  nidit  gewesen !«  rufcn 
durften. 

Idb  tadlc  sic  darum  nidit!  Es  ist  nur 
redit  zu  wissen,  was  die  Gcstc  wert  ist, 
und  man  ist  der  Sdileditere  nidit,  weil 
man  der  Gerissenere  ist. 

Doch  um  so  bedeutsamer  bleibt,  daft 
kraft  seiner  stetig  sidi  veredelnden  Arbeiter- 
bevolkerung  und  eines  Bauernstandes,  der 
vielfadi  eine  Adelsklasse  fQr  sicfi  bildet, 
das  pofitisdi  unreifste  Volk  dennodi  in 
gewisser  Hinsicht  das  demokratischste  ge- 
worden  war/  denn  wenn  es  audi  keinen 
Konig  hingerichtet  hat,  so  ware  es  dafflr 
gegen  ein  » East-End*  schon  lange  in  Auf- 
ruhr.  Es  wiirde  rebellieren,  bevor  cs  sich, 
wie  das  herrische  London,  eine  ganze  Stadt 
organisierter  Slums,  organisierten  Ver- 
brechertums,  organisierter  Elender — britisdi 
subjects:  audi  sie  — an  die  marmornen 
Flanken  schmieden  liefie/  oder  bevor  es, 
wie  das  sdiimmernde,  ewig  holdselige  Paris 
so  finster  umgurtet  stunde,  dafi  nadits  die 
Apadien  — Franzosen : audi  sie  — Wolfen 
gleich  das  Innere  der  Stadt  wie  ein  feind- 
liches  Lager  besdilidien.  Denn  sein  Wohl- 
stand  kam  den  Enterbten  weiter  entgegen, 
in  keinetn  Lande  war  die  Armut  so  be- 
dingt,nirgends  hatte  sidi  der  cinzelneHand- 
werker  so  individualisiert,  seine  Bildung 
so  zu  heben  vermocht  und  so  menschen- 
wurdig  gewohnt. 

Und  von  einem  soldien  Volk  hat  jene 
kleine,  alien  vemunftigen  Deutsdien  hochst 
fatale  Sekte  ein  seelenloses  Plakat  hinaus- 
gegeben,  das  nun  als  typisch  gilt,  wahrend 
es  die  Verneinung  alles  dessen  begreift, 
was  deutsches  GemQt  und  deutsdier  Him- 
mel  ist.  So  haben  diese  plumpen  Parforce- 
Germanisierer  sidi  vermessen,  in  Germa- 
niens  lauterem  Angesicht  freche,  fremde, 
widerliche  ZOge  einzuzeidmen , die  es  bis 
zur  Unkenntlidikeit  entstellen.  An  euren 


FrQchten  werde  idi  eudi  erkennen:  »Zehn 
eiserne  Gebote*  heifit  eine  BrosdiOre, 
die  ganz  nach  Art  und  Stil  der  Wiedcr- 
taufer,  im  Ton  der  Bibelparaphrase  ge- 
halten,  ein  Exempel  fur  kiinftige  Psydiiater 
herstellt:  »Jene  reden  von  Mitleid  und 
S<honung,  ihr  aber  sollt  eure  Feinde  ver- 
niditenl  Krieger,  werdet  hart!*  lehrt  sie, 
um  dann  in  folgender  Saturnalie  auszu- 
klingen: 

»Wir  lieben  den  Krieg . . . 

Wir  danken  dem  Krieg  . . . 

Wir  werden  Qber  den  Krieg  dahinbrausen 
wie  der  Marzensturm!* 

Dies  im  Jahre  1915  nadi  Christi  Geburt. 

Ja,  wer  vor  Ausbruch  dieses  Krieges 
starb  wie  du,  der  ist  nodi  mit  der  Illu- 
sion gegangen,  dafi  gewisse  AusbrQdic 
aufierhalb  der  Umzaunung  eines  Narren- 
hauses  nidit  mehr  moglich  seien.  Statt 
dessen  fangen  jetzt  sdion  Zahnarzte  und 
Gouvernanten  zu  delirieren  an,  und  dein 
Tapezierer  wurde  Qber  Nadit  von  dem 
Irrsinn  angestedet. 

Wer  sie  dodi  komisdi  nehmen  dGrfte, 
diese  Panslavisten,  Pangermanisten,  Im- 
perialistcn,  Nationalisten  usw. ! Alles  Ana- 
baptisten  redivivi,  die  samt  und  sonders 
auf  ein  Ziel  losrennen,  das  langst  hioter 
uns  liegt.  Trostlos  ladierliches  Schauspiell 
Oh  der  Toren,  welche  da  wahnen,  christ- 
lidie  Nationen  seien  umzubringen  als  wie 
Phrygier  oder  Babylonier!  Und  die  es 
wagen,  sidi  weiterhin  Christen  zu  nennen, 
wahrend  sie  dodi  von  dem  Niederringen 
zwisdien  diristlichen  Nationen  reden.  Denn 
wie  verloren  ist  an  ihnen,  und  wie  un- 
vorhanden,  wie  ausgeschlossen  sind  sie  von 
der  Tat,  welche  die  Zeitredinung  unseres 
Planeten  in  zwei  Halften  spaltete!  Nidit 
einmal  das  eine,  das  einzige  IndieAugen- 
Springende,  was  unsere  Zeit  vor  der  An- 
tike  voraus  hat,  nehmen  sie  wahr:  dafi 


9 voi.  m/i 


/ 


///; 


7777 


/ / 


Gfosstn 


der  PulssAlag  der  National  ein  andcrcr 
geworden  ist/  dafi,  wo  solAe  frfiher  unter- 
gingen,  sic  sich  hcutc  wicdcr  aufriAten, 
gencsen,  siA  cmeuem  konnen*)/  daB  cs 
in  dem  alten  verjahrten  Sinn  cine  Deka- 
denz  dcr  Volker  gar  niAt  rnehr  gibt,  und 
daB  allcs  Unvemunft  ist,  was  sic  von 
Germanen  contra  Romanen,  Romanen 
contra  Gcrmancn  bin  und  her  fiber  rufen, 
daB  Ac  Gcfabr  ganz  anders  bciBt:  Gcr- 
mancn ohne  Romanen,  Romanen  ohne 
Gcrmancn,  wcil  ihnen  auBcrhalb  ihrer  Ge- 
meins  A aft  gleiAerweiie  kcinc  aufstcigcnde 
Linic  mchr  bevorsteht,  sondem  sic  glciAcr- 
weise  von  dcr  cigencn  Erffillung  siA  ent- 
fernen  mfissen. 

Du  weifit,  wic  ungch5rt  iA  Aesc  kfinftige 
Binscnwahrhcit  scit  cl f jahren  in  die  Welt 
hinausrufe:  Dcuts Aland  vcrniAtcn  hiefle 
si  A selbst  vcrniAtcn/  denn  mit  ihm  »fielc 
die  Wcltc.  Es  ist  tausendfaA  wahr.  Aber 
our  an  den  gesunden  Wescnsclcmentcn 
dcs  »dckadcntcn«  FrankreiA  wird  das  *ge- 
sundc<  Dcuts  A land  mit  dcr  gefehrliAcn 
und  cntstellcndcn  Bcule  dcs  AlIdeutsA- 
turns  mitten  in  dem  gdttliAen  Antlitz  ge- 
nesen. 

II. 

Es  ist  niAt  wic  zu  Anfeng,  da  mir  Ac 
Gcfallcncn  so  oft  den  besseren  Tcil  vor- 
weg  zu  nehmen  sAicnen.  Die  jetzt  noA 
fallen,  beklagc  iA.  Wer  den  Krieg  bis 
hierher  mit  crlcbtc,  fingt  langsam  an,  den 
Kopf  aufzuriAten,  ob  dcr  Himmel  si  A 
noA  auf  keiner  Seite  liAtet.  SAon  ringt 
cr  um  einc  RiAtsAnur  inmitten  des  Wirr- 

*>  Burfchards  Worte  ans  seiner  tKtdtar  dcr 
Remittance*,  die  kb  sAon  to  lange  dtkrc,  aind 
nie  to  beherzlgenrwert  gevesen:  »Das  sdkdnbar 
krloktie  Volk  kaea  der  Oetnndhdt  nahe  seta,  and 
da  tdieinbar  gesundes  Volk  kana  eiaen  mScbtif 
enrwkfcdten  Todctkeim  in  ddk  bergea,  des  ertt  die 
Ocfahr  as  des  Tag  briogt* 


sals,  abseits  von  jenen,  Ac  noA  Kin-  und 
herrennen  .mit  dem  GesArei,  wer  ihn 
cntfcsscltc.  AuA  cin  bcraufzichendcs  Gc- 
witter  ist  bis  zuletzt  etwas  Ungcwisses. 
Dcr  Wind  kana  Ae  Wolken  ausdnander 
trdben  / das  Gcwittcr  kann  vorfibcrzichcn. 
DoA  briAt  cs  los,  so  darf  mit  Fug  be- 
hauptet  werden,  daB  es  kommen  muBtc, 
und  c ben  so  wird  es  niAt  einen,  sondem 
vide  Grfinde  daffir  geben,  daB  cs  si  A 
entlud.  Und  ebenso,  denke  iA  mir,  werden 
ffir  die  NaA  welt  dicUrbcbcr  dieses  Krieges 
vor  dessen  vielverz  weigte  Ursa  Aen  zurQck- 
treten,  und  Aese  wiederam  werden  wdter 
zurOdtrdAen,  als  Cromwell  und  der  30- 
jahrige  Krieg,  Peter  der  GroBe  und  die 
Borgias.  Und  seinen  unzahligen  Ursa  Aen 
entspreAen  unzlhlige  GesiAtspunkte.  Von 
Aesem  GesiAtspunkte  aus  gesehen  war 
er  eminent  vermeidliA,  von  jenem  unver- 
meidliA/  bctraAtet  ihn  von  dieser  Wolkc 
aus,  und  er  war  so  vermeidliA ! noA  ho  her, 
und  er  muBte  siA  noA  einmal  <zum  letzten 
Mali)  unweigcrliA  ergeben. 

Denn  alle  Biologic  in  Ehren:  aber  die- 
jenigen  <und  sie  sind  noA  zahlreiA),  welAe 
da  wirkliA  vermdnen,  solAe  Kriege,  die 
nur  deshalb  cinen  solAcn  HaB  auslosen, 
wdl  sic  Brudcrkricge  gcworden  sind,  solAc 
Kriege  seien  an  siA  etwas  zu  Bejahendes, 
fernerhin  Notwendiges,  und  Ae  Zust2nde, 
das  Chaos,  das  sie  sAaftcn,  Ae  sden  in 
der  Ordnung,  eine  Institution  gleiAsam, 
die  Are  RiAtigkcit  habe  und  in  dcr  Natur 
der  Dinge  liege  wie  cin  Erdbcben  oder 
dn  Orkan,  die  Volker  selbst  hiermit  nur 
dem  blinden  Element  oder  der  reiBenden 
Tierwdt  vergleiAbar,  Ac  willcnlos  ist  ~ 
diese  Leute  sollten,  fells  sie  weiterhin  in 
der  Welt  entsAdden  dfirfen,  do  A we- 
nigstens  so  viel  Logik  aufbringen,  daB  sic 
das  StraBburgcr  Mfinster  wie  den  Kolner 
Dorn,  St.  Pauls  Cathedral  wie  die  Peters- 


G fosse h 


125 


fcirdie  a Is  vollkominen  f 5 (her  I i die  Objekte 
proklamieren , das  Wort  Christentum  als 
das  einztg  wahre  Fremdwort  ausmerzen, 
odor  wenfgstens  soil  ten  sie  cine  Doktrin, 
von  weldier  nidit  die  alierleiseste  Notiz 
genommen  wird,  mcht  mit  so  fludiwGrdiger 
Stirn  dem  Sinn  nach  nod)  aufrecfct  halten, 
dafi  sie  gar  nodi  in  den  Geriditsstuben 
mit  ihren  Sinnbildern  hantieren  und  auf 
das  sdiworen,  worauf  sie  dodi  im  vollsten 
Sinne  des  Wortes  pfeifen. 

Doth,  was  sage  idi  ? Sind  nidit  unter  eben 
diesen  Zeidien  die  wGstesten  Greuel  in 
der  Welt  entbrannt?  Und  hat  nidit  eine 
Wahrheit  zu  urn  so  widerlichercn  Aus- 
wfldisen  gefGhrt,  je  erhabener  sie  war? 
Was  Wunder,  daB  in  einer  Christenheit, 
in  weldier  die  Inquisition  moglidi  war/ 
dieser  Krieg  sidi  nodi  ereignet!  Denn  ist 
dies  nidit  ein  und  dieselbe  Welt?  Fallt 
jc  etwas  aus  ihr  heraus?  }a,  wir  bedaditen 
es  nidit! 

Jetzt  aber  kann  man  der  Vcrwun- 
deten  und  der  Gefangenen  nidht  denken, 
obne  daB  sidi  das  Mitgefflhl  audi  Jenen 
Vereinzelten  zuwendet/  deren  es  heute  in 
alien  Landem  gibt,  die  von  dem  Strom 
der  Gedankenlosigkeit/  der  alles  umwarf, 
nidit  fortgerissen  wurden,  sondern  von 
ihrer  brennenden  Erkenntnis,  wie  inEinzel- 
halt  verwiesen,  affein  und  abgetrennt/  ihn 
Gberragen.  Man  sdircibt  gewifi  nidit  ohne 
groBe  innere  Pcin  Sitze  nieder,  wie  ids 
sie  heute  in  der  >Facfcelc  finde:  »Der 
kriegerisdie  Zustand  sdieint  den  geistigen 
auf  das  Niveau  der  Kinderstube  herab- 
zudrGdcen«/  und  man  stimmt  nidit  anders 
als  bedrGdcten  Herzens  dem  Autor  bel.  Aber 
nidit  linger  bin  ids  des  Verfassers  Meinung 
(was  ni<ht  gesdiieht,  urn  ihm  entgegenzu- 
kommen,  der  ein  paar  Seiten  we  iter  die 
AuBerang  zu  Drucke  bringt:  *Eine  Frau 
soli  nidit  einmal  meiner  Meinung  sein. 


gesefaweige  denn  ihrer«)/  nidit  (anger  teile 
idi  seine  Meinung/  wenn  er  auf  die  Frage, 
die  er  aufwirft:  »Was  kann  durdi  den 
Weltkrieg  entsdiieden  werden  ?«  sidi  selbst 
zur  Antwort  gibt:  »Ni<ht  mehr,  als  daB 
das  Christentum  zu  schwadi  war,  es  zu 
verhindernc.  Ja,  idi  maBe  mir  die  Meinung 
an,  daB  er  da  wirklidi  mit  einer  unzu- 
reidienden  Leudite  an  das  Problem  her  an- 
tritt.  Das  Christentum  war  nidit  zu  schwadi, 
sondern  zu  stark,  und  die  Mensdiheit 
evoluiert  der  art  langsam  und  in  so  ver- 
zweifelt  weiten  Kurven  um  dies  Gestim, 
daB  ihr  sidi  trotzdem  vollziehender  Auf- 
sdiwung/Votlends  zurStunde  einer  Sonnen- 
finsternis  wie  der  heutigen,  dem  freien 
Auge  sidi  v5llig  entziehen  muB.  Aber  der 
Gewalt  des  Christentums  tut  die  mensdi- 
lidie  HinfSHigkeit  keinen  Abbruch/  ja  un- 
erbittliditr  kdnnte  es  nidit  wider  uns 
tr iumphieren , dafftr,  daB  wir  statt  seiner 
cine  irtindisdie,  cine  polnisdie,  eine  elsafi- 
lothringisdie  Frage  als  unersdiGtterlidie 
Pfeiler  setzten  und  deren  Last  — wire 
auch  im  Vergleidi  zu  ihr  jedes  Jodi  sGB 
und  |edc  BGrde  leidit  — folgerichtig  auf 
uns  nahmen,  als  seien  sie,  die  doth  im 
Lauf  der  Jahrzehnte  zerrinnen  und  ver- 
wehen  werden  wie  nie  Gewesenes,  der 
Dinge  letztes  und  EndgQltiges! 

Besserund  Gberlegter  ist  es, durdi  das  Al- 
beme  so  wenig  wie  durdi  das  Abgeschmacfcte 
irre  zu  werden,  ja  selbst  durdi  das  Ekle  und 
das  SdieuBlidie  nidit,  das  giftigen  Sdiwam- 
men  gleidi  den  Katholizismus  Gberwudis, 
sidi  an  ihm  festfraB  und  tief  unter  sidi 
begrub,  sondern  an  dessen  goldenem  Be- 
stand  festzuhalten,  in  weiten  Kunstbdgen 
der  BerGhrung  mit  ail  seinen  unberufenen 
Vertretern  bedachtsam  auszuweichen,  um? 
in  der  Vermutuog  nidit  gestort  zu  wer- 
den, daB,  wo  einmal  dieser  viel  miB- 
brauchte  Kult  zu  seinem  adaquaten  Aus- 


126  Gfossen 


,vr  / / / / //  r / / / / • / . . / / //  . / , / # /.  i , • - / . /,  j m I //  / - . I / a + 


drudc  gelangt,  cine  H6he  dcs  Daseins 
sids  ergibt,  die  alles  anderc  welt  unter 
sids  l5Bt,  soldi e Grkorene  aber  entspre- 
<bend  seltener  nods  wie  in  der  Kunst  vor- 
kommen,  weil  sie  wciter  Abgelegenes  um- 
spannen  und  wieder  zum  Ausgleids  bringen 
mfissen,  daB,  wo  diesc  Wage  aber  still- 
halt,  die  Wfirde  des  Gedankens  nidst  nur 
unbesdsadet  bleibt,  sondern  unsagbare 
Sdswingungen  erfShrt  Nidst  langer  von 
dem  Wortlidsen,  dem  Absurden,  nods  dem 
Betbrfiderisdsen  genarrt/  vielmehr  auf  das 
In  Platons  Sinne  Ballformige  erpidit,  viel- 
mehr  dem  Verstedrten,  Versdilcicrten  auf- 
lauemd,  dringt  ein  soldses  Denken  trium- 
phierend  zum  Profanen  vor  und  vindiziert 
es  hinzu.  Nun  erst  dem  Verhaltenen,  Ent- 
zogenen,  dem  Eingeraupten,  in  Perspektiven 
Fortgetragenen  und  Flfidstigen  auf  der 
Spur,  tut  sids  ihm  dort  das  ewig  Mutie- 
rcnde,  Ebbc  und  Flut,  der  Ozean,  das 
Planctare  auf,  wo  andere,  von  der  Enge 
abgestoBen,  verzagen  und  vcrzidsten.  — 

DaB  heute/  wo  die  Welt  wie  nie  zuvor 
zu  einem  Jammertal  versank,  daB  sids  ihr 
da  zum  ersten  Male  die  Umrisse  der  Ge- 
stalt des  Hirtcn  vollgfiltig  umsdirieben/  ist 
diese  Tatsadse  keiner  Deutung  wert?  Nidst 
Feind  vom  Feinde/  ni<ht  ihre  Konfessionen 
sdieidend/  ist  Gleidsgewidst,  das  hods  und 
einsam  fiber  die  gebeugten  Volker  ragt, 
bei  ihm  allein.  Ist  dies  kein  Innehalten 
wert?  Die  wahre  Fahne,  die  alle  umwallt, 
^ntrollte  nur  er.  Und  wer,  Jud  oder  Heide/ 
spottet  heute  diese  Hirten  ohne  Herde  und 
dennodi  Hirten/  wie  nie  zuvor/  nie  zuvor 
so  gebieterischen  und  so  weithin  deutlidsen 
Reliefs,  von  der  Wahrheit  selbst  gleidssam 
emporgehalten  und  hinausgestellt,  aus  der 
Ohnmadst  erst  geschaffen,  wie  es  sdseint . . . 

Oder  soil  ids  es  in  Wahrungen  aus- 
drficken,  da  sie  es  dods  sind,  welche  diese 
Zz it  in  ihre  Babnen  warfen?  Nun,  wie  zwei 


Mfinzen,  ffir  was  sie  gelten  und  nur  auf 
ihren  Klang  hin  und  ohne  Kommentar 
werfe  ids  sie  hin:  Wilson  und  Benedikt 
Denn  wer  horte  nidst  von  selbst  die  sdswere, 
gewaltige  vor  der  hohten  und  hinfalligen 
heraus?  Wen  ersdiredfte  da  nidst  der  Unter- 
scfaied?  Sogar  Amerikaner.  So  viel  Phantasie 
haben  sogar  sie. 

Ncin,  Herr  Kraus,  das  war  gedankenlos ! 

Qberhaupt  — um  von  den  Mannern  zu 
reden  meine  ids,  daB  gegenwartig  kein 
Grand  vorliegt  zu  ihrer  Qberhebung.  Ids 
bin  nie  eine  Frauen reditlerin  gewesen  und 
dieser  Bewegung  gegenfiber  stets  passiv 
geblieben/  aber  ids  muB  sdson  sagen:  daB 
»nads  vielen  Dezennien  eines  aussdslieBlidsen 
Minnerregiments  ein  derartig  voilendeter 
Wirrwarr  zutage  gefordert  wurde,  gibt  dods 
zu  denken.  Man  mddste  da  wirklich  mcincn, 
daB,  wenn  statt  der  Herren  Sonnino, 
Berdstold,  Poincar£,  Bfilow,  Churdsill, 
Iswolski  usw.  die  Damen  <ids  nenne  keine 
beliebigen,  sondern  soldse,  die  sids  sdson 
crprobten,  die  es  wirklich  gegeben  hat,  die 
mithin  irgendwie  weiter  vorhanden  sind), 
wenn  statt  ihrer  Damen  wie  die  Mark- 
grSfin  von  Bayreuth,  Maria  Theresia, 
Katharina  II.  und  die  von  Siena,  Julie  de 
Lespinasse  und  auds  die  alte  Queen,  daB 
wenn  soldse  Frauen  mehr  im  Vorder- 
grunde  gestanden  hStten,  statt  ausgescbaltet 
zu  sein,  mit  zu  bestimmen,  statt  zu  sdswei- 
gen  gehabt  hatten,  daB  dann  . . . — ■ es  l5Bt 
sich  nidst s beweisen. 

Fest  steht  nur,  daB  die  Dinge,  wie  sie 
ohne  ihr  Zutun  und  in  dem  selbstherr- 
lidsen  Mannerstaat  erwudssen,  unmdglids 
nods  irger  oder  nods  verfahrener  sein 
konnten,  und  daB  bei  einem  soldsen  Er- 
gebnis  ihrer  Regiekunst,  wie  wir  es  heute 
erleben  mfissen,  die  abgeworfene  Beschei- 
denheit  wieder  in  ihre  Rechte  treten  konnte. 
Man  dfirlte,  meine  ids,  sids  sogar  darauf 


G fosse n 


127 


besinnen,  daB  die  Frauen,  wo  immer  sie 
zur  Hcrrscberrolle  gelangten,  sdion  von 
der  alten  Dido  ber  sidh  fast  immer  glanzend 
bewahrten  und  groBe  Regentinnen  waren, 
sei  es,  weil  das  Regieren  gar  niAt  so  sAwer 
ist,  oder,  da  es  erwiesenermaBen  so  auBer* 
ordentliA  schwer  ist,  veil  sie  vielleiAt  zu 
regieren  berufen  sind,  weil  dies  vieHcicbt 
(hort!  hort!)  sogar  ihre  Spezialitat  ist.  Es 
gef&llt  mir  an  den  Englandern,  daB  sie 
einem  Impuis  der  Selbsteinkehr  foigend, 
mitten  in  die  politisAe  Debacle  hinein,  als 
die  ersten  zur  Berufung  des  ersten  weib* 
liAen  Diplomaten  siA  entsAlossen  haben. 
Bci  uns  dagegen  heiBt  es  jetzt,  die  Un* 
politisAcn  muBten  politisiert  werden,  aber 
dieser  Ruf,  so  bereAtigt  er  auA  ist,  er* 
geht  so  spat,  daB  auA  sAon  die  Stunde 
far  eine  Selbsteinkehr  der  Politik  selbst 
gesAlagen  hat.  Denn  was  diese  noA  niAt 
wahrhaben  wollte,  war  langst  in  das  Be* 
wufltsein  der  Volker  eingedrungen.  Ein 
Beweis  dafar  sind  gerade  jene  jungsten 
Volker,  die  in  letzter  Stunde  auf  den  SAau* 
platz  der  europaisAen  GesAiAte  traten. 
Rakowsky,  der  groBe  Vork  amp  fer  fur  cinen 
Balkanbund,  crblickte  die  Gewahr  fur  eine 
nationalc  Befreiung  und  Vereinigung  bei 
den  Balkan vo  1 kern  und  niAt  bei  den 
Balkan staa ten  — und  10  Jahre  spater, 
1874,  sArieb  Karawelow:  »Die  Haupt* 
ursaAe  der  bisherigen  Sklaverei  ist  die,  daB 
die  dixistliAen  Nationen  auf  der  Balkan* 
halbinsel,  sowie  alle  andern  Volker  und 
Nationen  betrogen  sind,  weil  sie  Hilfe, 
Unterstutzung  und  Heil  von  den  europ^i* 
sAen  Kabinetten  erwarteten,  und  am 
meisten  von  RuBlandc  und  Botjow:  »Wenn 
Ae  Rcgierung  eines  jeden  Volkes  den  Aus* 
druck  seines  eigenen  Willens  und  seiner 
Bestrebungen  gewesen  ware,  so  hatten 
selbstverstandliASerbien,  GrieAenland  und 
Rumanien,  sowie  Montenegro  langst  ihre 


Staatsgrenzen  ubersAritten  und  den  Bui* 
garen  geholfen  — aber,  wie  es  sAeint, 
haben  die  Regierungen  dieser  Staaten  siA 
bisher  mit  niAts  anderem  befaBr,  als  mit 
der  NaAahmung  der  klugen  Devise  eines 
MetterniA:  ^Divide  et  imperalc  Und  siA 
gleiAerweise  gegen  den  Panhellenismus 
GrieAenlands  wie  gegen  die  groBserbisAen 
Ideen  wendend  klagt  er  diese  Staaten  an, 
daB  sie  der  Idee  eines  brflderliAen  freien 
sudslavisAen  Bundes  entgegen  seien.  Die 
Neulinge,  Ae  das  sArieben,  nannte  man 
Revolutionare.  Und  warum  wollten  sie  das 
UnmogliAe?  GewiB  niAt,  weil  es  unmog* 
liA  war,  sondern  weil  Ae  GroBmaAte  ihr 
Prestige  von  so  rationellen  Bewegungen 
mit  ReAt  bedroht  sahen,  sie  also  nieder* 
hielten  und  ihren  vorAristliAen  Kurs  bei* 
behaltend,  das  Dogma  von  einem  Balkan* 
Wetterwinkel  aufstellten  und  die  Volker 
mit  weiser  Miene  dahin  steuerten,  wo  sie 
heute  angelangt  sind. 

Sie  waren  ja,  diese  Volker,  wo  sie  nur 
konnten,  vor  AusbruA  dieses  Krieges 
zueinander  unterwegs : Die  DeutsAen  naA 
der  Provence,  die  Franzosinnen  mit  Kisten 
und  SAaAteln  naAMunAen  und  Bayreuth, 
Autos,  Qberfullte  Sleepings,Wanderer,  wo* 
bin  man  sah,  und  statt  der  Salons,  iA 
sagte  es  sAon,  hatten  die  Bahnhdfe  ihre 
»Habituesc.  Wer  ein  Haus  besaB,  war  von 
dem  einen  WunsA  beseelt,  es  wieder  los 
zu  werden,  und  nur  unter  den  Politikern 
und  Kapitalisten  gab  es  noA  einen  Aus* 
sAuB,  der  es  fur  dringend  geboten  hielt, 
daB  Europa  zu  einem  Spital  zusammen* 
breAe/  sonst  war  sAon  das  groste  Zu* 
einander  im  SAwung:  ein  ewiges  Kommen 
und  Gehen/  kein  Verweilen/  nirgends/  bei 
niemand. 

Und  mit  ReAt. 

Herr  BorAardt  mit  seiner,  von  alien 
Registern  gesAwellten,  und  do  A so  weit 


' 


Gfossen 


128 


ab  von  der  Wahrheit  hinorgelnden  Rede, 
besinne  si <h  doch : er  traf  das  Redbte  nidit. 
O Gedankcn!  seid  ihr  dcnn  von  der  Welt 
entflohen,  seit  die  scbimmernden  Zeppc* 
line,  ewig  getrflbten  Andenkens,  Bomben 
statt  Passagiere  durdi  die  Lufte  fahren.  A<h ! 
laflt  micb  redcn!  laflt  mir  meine  Narrcn* 
freiheit ! Was  kommt  es  auf  meine  Worte 
an?  Ich  sage  ja  nidbts  anderes,  als  was  unsere 
Kindeskinder  sagen  werden.  Mogen  wir 
alle,  die  heute  leben,  zu  Staub  darQber 
werden,  ehe  es  sidi  erfQlIt,  wahr  bleibt 
es  docb,  daB  die  Volker,  bevor  sie  jah  und 
gewaltsam  auf  sidi  selbst  zurGdcgewiesen 
wurden,  den  Plan  scbon  beschritten  hatten, 
von  wo  aus  ihre  Wege  versdilungen  aus* 
liefen  und  das  Tal  der  Mensdiheit  geweitet 
stand.  Wie  der  Flufl,  der  als  Quelle  der 
Hohe  entstflrzt  und  dann  sidi  Gber  Blocke 
und  Falle  quSlt  und  durdi  finstere  Scb§chte 
angstet,  bis  er  ans  Licht  und  breiten  Laufes 
strahlend  dem  Meer  entgegenstromt,  wie 
er  da  wohl  zu  auBerordentlidier  Hohe  sidi 
tGrmen  wGrde,  wenn  er  vor  seiner  MGn* 
dung  gewaltsam  in  sein  enges  Bett  zurGck* 
gedrangt,  die  alten  lifer  wieder  aufw5rts 
trciben  mGBte,  ebenso  werden  die  Volker, 
die  jah  und  gewaltsam  auf  die  sdion  ver* 
(assene  Engc  zuruckfluten,  gewifl  lei  den* 
schaftlich  groBe  Taten  verriditcn/  aber  neue 
Gestade  sehen  sie  nidit,  und  um  ihre  Be* 
stimmung  sind  sie  betrogen. 

Aber  wer  denkt  nodi  daran?  Wie  be* 
zeidinend  1st  es,  daB  fast  alle,  die  geistig 
zu  dem  Kriege  Stellung  zu  nehmen  ver- 
suditen,  unweigerlidi  versagten,  und  dafl 
nur  das  Wort  von  der  *Ohnmadit  der 
Gedanken*  ins  Sdiwarze  traf.  Die  Gleidi- 
formigkeit,  mit  weldier  die  Kriegfflhren* 
den  das  Ritornell  von  dem  aufgezwungenen 
Krieg  absingen,  ist  nicht  mchr  anzuhoren. 
Sogar  Italien  stolperte  nachtrSglich  mit 
demselben  Notenblatt  herzu.  Es  ist  das 


einzig  Gemeinsame  zwisdien  ihnen  ge* 
werden.  Entscb(6ssen  sie  sidi  dodi,  glei* 
dberweise  Stellung  zu  nehmen  wider  die 
eigenen  Besessenen,  die  hinter  der  Zeit 
einherlaufen , Gewesenes  aus  der  Taufc 
heben  modi  ten  und  durdi  ihre  Verblen* 
dung  die  verrudite  Falle  stellen  halfen, 
weldie  gleidierweise  die  Vdlkcr  in  diesen 
rGckstandigen  Krieg  hineinlodcte ! 

Seltsam ! Inmitten  des  Jammers  um  die 
hingemordeten,  die  vermiSten,  die  unge- 
borgenen,  die  ewig  um  ihre  Jugend  be* 
trogenen  Sohne,  in  einer  von  RadiegefGh* 
len  unterminierten  Welt  stehen  Gberall  nur 
die  Sdiuldigen  unbedroht.  Es  ginge  nidit  an, 
sie  zu  einem  Reigcn  zusammenzutreiben, 
cinen  Reigen,  den  Kitdiener  wohl  am  schick* 
lichsten  eroffnen  wflrde.  Denn  mit  seiner, 
unseres  Zeitalters  so  vollkommen  unwflr* 
digen  Initiative  der  Konzentrationslager 
hat  er  einen  schmachvollen  Zustand  ge* 
sdiaffen,  namenlose  Leiden  unsdiuldiger 
Mensdien  inszeniert,  und  er  ist  es,  weldier 
durdi  die  Preisgabe  und  Verfolgung  der 
Wehrlosen  den  niedrigen  Instinkten  des 
Pobels  am  meisten  entgegenkam.  Jcdes 
Volk  halt  ja  in  Friedenszeiten  die  Spalten 
seiner  Zeitung  fur  die  Aufzahlung  der 
eigenen  Greueltaten  und  Verbrechen  offen. 
Mein  Gedachtnis  ist  nicht  so  kurz.  Audi 
der  Gesdiichte  bleibe  ich  eingedenk,  und 
deshalb  audi  der  Tatsadie,  daB  Kitdiener 
einen  Pobel  aufreizte,  fflr  den  gcrade  in 
s einem  Lande  die  Prinzessin  von  Lam* 
balle  und  dcr  kleine  Ludwig  XVII.  so  un* 
vergeBlich  sind.  Man  tausdit  nur  Verwun* 
dete,  keine  Verantwortlidien  aus  . . Weldi 
toriditer  Vorsdilag!  Warum  so  toridit? 
Weil  er  unausfGhrbar  ist.  Sche  ich  denn 
das  nidit  ein?  Aber  mit  alien  Anzeicheo 
des  Blodsinns  beharre  ich  auf  meiner  Frage : 
Warum  ist  es  nidit  mdglich?  Was  ist 
dann  mdglidi?  Nur  das  Unmogliche  ist 


also  moglich : da 6 dieser  glfickliche  Erdteil 
sicfa  auftat  zu  dnem  Sumpf  von  Blot  und 
W tin  den,  der  das  Gcmut  immer  tiefer 
hinabzieht.  Ndn,  ich  verstche  diese  Weft 
nicht  mehr! 

III. 

Man  maB  es  schon  dnmal  sagen:  deno 
darfiber  wird  ernes  Tages  kein  Zweifel 
sdn,  daB  in  dieser  Zdt  nur  einer  das 
Recht  auf  seiner  Sdte  hatte,  und  das  ist 
der  parteilose  uod  unparteiische  Papst/  die 
Neutralen,  die  sich  heute  gerne  besser 
dfinken,  kdnesfalls/  abcr  audi  die  Strei- 
tenden  nicht/  mogen  sie  sich  noch  so 
vortrefflich  halten:  der  fiber  dem  Streit 
Stehende  uberragt  sie  docb  wcit,  und  vor* 
bildlicb  ist  nur  er. 

Dieser  Vorbildlicbkeit  wegen  balte  ich 
aucb  stets  die  Erinnerung  an  einige  Epi- 
soden  fest,  die  icb  alle  mit  Naraen  vcr- 
schen  und  beschworen  konnte. 

Zum  ersten:  in  London.  Sdt  1904  fuhr 
ich  ziemtidb  regelmaBig  hinfibcr.  Die  Phasen 
der  Feindsdigkdt  wahrend  dieser  Zeit 
waren  mir  sehr  personlich  fGhlbar  gewor- 
den,  cbenso  deutlich  der  zuletzt  einsetzende 
Umschwung.  So  popular  endlicb  wic  im 
Fruhsommer  1914  — die  Geschichte  wird 
es  bezeugen  — waren  die  Deutscbcn  scit 
einem  Menschenalter  nicht  gewesen/  ja, 
sie  standen  im  Begriff,  London  im  Sturme 
zu  erobem.  Ein  Deutscher,  mochte  er  auch 
zu  Hause  afs  ein  ziemlicher  Pinsel  gelten, 
hier  genoB  er  a priori,  iediglidi  weil  er 
Deutscher  war,  Anspruch  auf  Gedai\ken- 
tiefe  und  Geist.  So  weit  war  man  sdion. 

Die  wertvollste  Orientierung  uber  die 
offentliche  Lage  erstattete-  jcderzeit  Lady 

C Icb  kannte  sic  ni<bt,  abcr  es  ge- 

nugte,  ihr  von  wcitem  zuzusehen.  Stets 
in  das  allerletzte  Fahrwasser  getaucht, 
zeigte  niemand  besser  die  Tern  per  atur  der 
elften  Stunde  an,  ob  dies  nun  die  letzte 


Geschmadcsrichtung  in  der  Musik,  der  Li- 
teratur  oder  der  Mode  oder  abcr,  vor 
allem  andercn,  die  letzte  politiscbe  Stro- 
mung  betraf.  — Niemand  trieb  so  ietden- 
schaftlich  mit  ihr  empor  — und  war  als- 
bald  so  gaoz  von  ihr  erfaBt. 

Am  Vorabcnd  meiner  Abreise  safi  idi 
im  Salon  meiner  Freundin  und  erwartete 
mit  ihr  Lady  C . . . . Sie  hatte  ihren  Be- 
such  angekundigt  und  erschien  no<b  vor 
Mitternacbt,  von  Juwelen  uberfunkelt,  das 
gel  be  Haar  von  Diamanten  Gbersprfiht: 
Wurf  und  Farbe  ihres  Klcides  voran- 
leutbtend  und  no<b  nicht  dagewesen.  Ihre 
scbnellen  Blidce,  wahrend  sie  spracb,  be- 
deuteten  mir  ohne  Vorbehalt,  daB  sie  aus 
Neugierde  gekotnmen  war,  und  zwar 
meinetwegen.  Es  gab  kein  Thema,  das 
sie  da  nicht  heranzog,  nichts,  worfiber  sic 
nicht  meine  Meinung,  mein  Urteil  als  aus- 
scblaggebenden  Faktor  — denn  icb  war  fa 
deutsch  — zu  wissen  begehrte.  Und  was 
rief  sie  da  nicht,  bevor  sie,  schneller  als 
sie  gekommen,  wieder  entscbwirrte  und  ihr 
Auto  durch  die  stillgewordcne  GroBvenor- 
street  der  funften  oder  secbsten  >party« 
des  Abends  entgegensurrte : »Give  me  the 
Germans!*  rief  sie  hingerissen.  *They  are 
the  first  people  in  the  world.* 

Und  da  ich  mir  noch  immer  in  der  Feme, 
und  wenn  icb  mich  cine  Wcilc  raumlich 
von  den  ^Germans*  geschieden  hatte,  die- 
selbe  Meinung  fiber  si'  zurfickerwarb, 
stimmte  ich  ihr  rfidchaltlos  bei. 

Diese  ihre  letzten  Worte  waren  es  auch, 
welchen  ich  folgenden  Tages  gerne  nach- 
hing,  wahrend  vor  mir  Ahnungslosen  die 
englische  Kuste  immer  weiter  zurticktrat. 
Schafwolkchen  weideten  am  Himmel,  und 
ich  sah  zufrieden  zu  ihnen  auf.  Denn  Gott 
sei  Dank ! man  war  endlicb  vernunftig  ge- 
worden  und  die  Gefahr  war  uberstanden. 
Ich  teilte  meine  frohen  Wahmehmungen 


1 30  Gfossen 


einem  Englander  mit,  den  iA  an  Deck  des 
SAiffes  traf  und  der  mit  den  Politikem 
seines  Landes  aufs  engste  verquickt  und 
versAwSgert  war.  Krieg,  sagte  iA,  gibt 
es  kelnen  mehr.  Aber  er  sAOttehe  den 
Kopf:  *Sie  lassen  siA  tSusAen.  IA  sche 
nirgends  AnzeiAen  dafQr,  daft  man  ihn 
vermeiden  wird.« 

NoA  waren  siA  aber  die  wenigsten  Leute 
be wuftt,  daft  es  ei n Sera jevo  auf  der  Karte  gab. 

FGnf  WoAen  splter:  MunAen.  Bei 
einem  namhaften  russisAen  Maler  lebte 
dessen  originelle,  wenn  auA  unzuverlas- 
sige  und  unkultivierbare  SAwester.  Eines 
Tages  verkraAte  sie  siA  mit  ihm,  und  da 
es  ihr  an  alien  Mitteln,  um  allein  weiter 
zu  existieren,  gebraA,  erklarten  siA  ihre 
bishengen  Bekannten  als  ihre  KundsAaft, 
und  indem  sie  sozusagen  eine  Private 
sAneiderin  wurde,  fuhr  sie  fort,  gesell- 
sAaftliA  mit  ihnen  zu  verkehren.  Alles 
ging  zum  besten,  bis  es  Sommer  wurde 
und  ihre  ausstaffierten  Freundinnen  die 
Stadt  verfieften.  Nunmehr  saft  die  auf 
Vorzugsbehandlung  gestellte  Amateur- 
nSherin  allein  und  kflmmerli  A in  ihrem  Zim- 
mer. Diesen  langst  vorausgesehenen  Mo- 
ment nahm  iA  wahr,  um  endliA  auA 
meinerseits  etwas  zu  bestellen. 

Als  iA  zur  Anprobe  kam,  war  sie  niAt 
zu  Hause,  ersAien  aber  gieiA  darauf  hoA- 
geraut  und  federngesAmQAt  direttissimo 
von  einem  MittagssAmaus  bei  einem  alten 
russisAen  Grafen.  Sie  legte,  seitdem  sie 
sAneiderte,  ganz  besonderen  Wert  darauf, 
auA  weiterhin  von  ihrer  GesandtsAaft 
eingeladen  zu  werden,  und  der  alte  Graf, 
der  sie  sehr  protegierte,  tat  ihr  immer  den 
Gefallen.  Der  Stab  war  diesmal  sogar 
vollzsihlig  ersAienen,  sie  hatte  als  einzige 
Dame  den  obersten  Platz  behauptet/  so 
gut  hatte  sie  es  niAt  alle  Tage/ zerstreut, 
doA  um  so  mitteilsamer  steckte  sie  die 


Falten  meincs  Mantels  zureAt,  und  wie 
iA  jetzt  bemerkte,  hatte  sie  »!e  vin  ba- 
vard«.  »Ah!  il  faut  une  guerre !«  rief  sic 
plotzliA  aus . . . »Oh  pas  maintenant:  en 
1915<  <und  berief  siA  auf  ihren  Gcwlhrs- 
attaA£>  »i(  le  faut . . . Les  Allemands  sont 
devenus  trop  arrogants.c 

»Vous  vous  trouvez  bien  Aez  eux,< 
erwiderte  iA  . . . 

Kurz  zuvor  saft  iA  im  Lesesaal  eines 
Pariser  Hotels.  I A sehe  die  Zeitung  durA/ 
doA  von  Qbelkeit  und  Verzweiflung  flber- 
waltigt,  werfe  iA  sie  wieder  hin  und  stflrze 
in  mein  Zimmer  hinauf.  Es  bllckt  auf  den 
Fluft.  Allein  die  weite  und  geliebte  Stadt 
wird  mir  zur  furAterliAen  Enge.  Wohin 
soli  dieser  Ton,  dieses  GesArei,  sollen 
diese  hohnisAen  Ausfalle  und  gemeinen 
Drohungen,  soli  dieser  unheilbare,  unbe- 
lehrbare,  planmaftige  DeutsAenhafi,  wohin 
soil  er  fQhren? 

Wieder  kurz  darauf  war  iA  in  Berlin. 
Bei  einem  Abendessen.  ReAts  von  mir 
ein  Oberst,  links  ein  Ministerialrat/  beide 
sind  mir  fremd.  Der  Oberst:  >Nee,  die 
GesAiAte  dauert  mir  zu  lange.  Wenn  es 
heuer  niAt  losgeht,  stulpe  iA  mir  einen 
Zylinder  auf.«  I A,  angstliA:  »Was  soil 
denn  losgehen?«  »Nun,  gegen  dieses  gott- 
verdammte,  freAe  Franzosenvolk.c  Der 
Ministerialrat,  elektrisiert : »Und  zahlen 
sollen  sie  uns  diesmal !«  Der  Oberst:  »Bis 
zur  letzten  PusteU  FrohliAes  Gemedter. 

Warum,  da  er  nun  gekommen  ist,  dieser 
Krieg,  den  tiberall  noA  zu  viele  wollten, 
warum  wollen  sie  ihn  plotzliA  alle  niAt 
gewollt  haben  und  walzen  die  Verant- 
wortung  far  diese  ungeheuere  Tragodie 
der  MitsAuldigen  einander  auf? 

Weil  sie  reAt  hatte,  die  mutige  Frau 
von  Suttner,  die  vielverlaAte  Friedens- 
berta  mit  ihrer  Behauptung,  daft  die  erste 
Zwangsfolge  des  Krieges  die  Lflgc  sei! 


Gfossen 


131 


***  *****  * ***** ***  ***********************************************************************************************************  # ********************* 
Mein  Gott,  wie  sehnlich  wunschte  idi,  die  Achsel  zuckten,  wahrend  man  drauBen 


daft  wir,  uns  selber  treu,  den  anderen  Vol- 
kern  mit  der  Initiative  vorangingen,  den 
inneren  todbringenden  Feind  zu  stellen. 
Vielleicht  warten  sie  in  England  nur  dar- 
auf,  um  zuzugeben,  daft  bei  ihnen  jener 
Militarismus,  dem  sie  bei  uns  den  Garaus 
machen  wollcn,  in  Lord  Kitchener,  auf  den 
sie  doch  so  stolz  sind,  in  seinem  subal- 
temsten  Glanze  erstrahlt/  und  daft  jener 
Imperialismus,  den  sie,  wo  er  als  Pan- 
germanismus  auftritt,  so  namenlos  verab- 
scheuen,  in  Churchill,  von  dem  sie  sich 
doch  regieren  lieften,  seinen  typis<h  grofi- 
mauligen  Vertreter  fand.  Gut  also.  Lassen 
wir  furs  erste  die  Imperialisten  aus  dem 
Spiel.  Machen  wir  versuchsweisc  nur  gegen 
unsere  Alldeutschen  Front. 

Und  so  greife  ich  weiter  zurude  und 
sehe  etwas  Unheilvolles  und  Gefahr- 
liches  in  unserer  Arroganz.  Sie  ist  es,  die 
unseremVerstandnis  franzosisdierWesens- 
art  so  sehr  im  Wege  liegt.  Und  sie  ist 
das  Bedenklidie  und  Hinzugekommene. 
Die  Franzosen  neigen  zur  Suffisancc. 
Sie  haben  stets  etwas  von  Kindern. 
Wir  nie.  Das  Ominose  und  Charak- 
teristische  bei  gewissen  Alldeutschen  ist, 
daft  sich  die  Arroganz  bei  ihnen  an 
Steile  der  Besonnenheit  behauptet  und 
da  Turen  zuschlagt,  wo  sonst  Gedanken 
waren.  Von  mir  im  Jahre  1904  geschrie- 
ben,  sogar  gedruckt,  aber  naturlidi  igno- 
riert:  »Denn  in  keinem  Lande  ist  es  so 
unmdglkh,  sich  Geh5r  zu  verschaffen,  wenn 
man  nicht  in  Amt  und  Wurden  schon  er- 
graute,  wie  bei  uns.  Nur  Dichtern,  Schau- 
spielern  und  Tanzern  ist  bei  uns  Jugend 
bewiiligt.€  Ich  bitte  um  Entschuldigung, 
wenn  ich  mich  schon  wieder  selbst  zitiere. 
Hatte  ich  aber  nicht  redit,  wenn  mir  da- 
mals  schon  vor  jenen  Leuten  bangte,  uber 
die  wir  innerhalb  des  Reiches  leiditsinnig 


nur  allzu  gespannt  den  paar  Schreiern, 
wic  wir  sie  vcrachtlich  nannten,  aufhorchte, 
die  so  lange  an  der  Hollenpforte  rutteln 
halfen  und,  wo  sie  einzurosten  drohte,  sie 
wieder  olten,  bis  sie  sidi  von  selbst  in 
ihren  Angeln  drehte.  Ja,  aus  meinem 
Deutschtum  heraus  hasse  ich  sie,  diese 
Schadlir.ge,  wie  jene  Raupen,  die  in  ihrer 
morderisdien  Geschaftigkeit  die  Farbe  des 
Laubes  annehmen,  das  sie  zerfressen,  und 
sich  nicht  unterscheiden  (assen  von  der 
koniglidien  Eiche,  deren  Tod  sie  berciten. 
Denn  ihnen  danken  wir  es  heute,  daft  cine 
verblendete  Welt  mit  einer  HerzenskSlte 
ohnegleichen  den  beispiellosen  Kampf  mit 
ansiehr,  den  ein  verkanntes  Volk  bestehen 
muft,  nur  dem  Griechenvolk  hierin  ver- 
gleichbar,  ja  es  noch  uberbietend. 

Jene  humorlose  und  sonderbare  Korpo- 
ratlon  aber,  welche,  den  Rauberhut  in  die 
Stirne  gedruckt  und  den  Brigantenmantel 
uber  die  Schulter  geschlagen,  so  furchter- 
lich  verspatet  in  der  Gesdiidite  aufzog, 
schiebt  sich  heute  Bismarck  als  Gewahrs- 
mann  unter:  ihn,  dem  sie  — man  kann  in 
Anbetracht  seiner  eigenen  unparlamenta- 
rischen  Ausdrucke  uber  diese  Art  von 
Leuten  nur  ein  entsprechendes  drastisches 
Wort  gebrauchen  — schon  spei fatal  ge- 
wesen  sind,  als  sie  nodi  in  ihren  An- 
fangen  steckten,  weil  er  wohl  ahnen  modite, 
wie  sie  sich  auswachsen  wGrden.  Und  in 
der  Tat  fehlt  heute  nidits  mehr  zu  ihrer 
Entfaltung.  Oder  wird  mir  ein  Kenner 
Bismarcks  entgegnen  kdnnen,  daft  die 
Art,  mit  welchem  der  und  jener  seine 
eine  ewig  selbe  Geste  des  Handschuh- 
hinwerfens  meistert,  nach  Sinn,  Art  und 
Geschmack  die  des  schmiegsamsteo  aller 
Staatsmanner  sei?  Wurde  sich  der  GrGn- 
der  des  Deutschcn  Reiches  heute  von  den 
Alldeutschen  nicht  vielmehr  boykottiert,  ja. 


verd^Atigt  sehen,  er,  welAer  naA  dem 
Si  eg  von  1870  Lothringen  FrankreiA  zu 
lassen  rict  un d mit  so  frierliAen  Worten 
Ac  Vcrantwortung  fOr  diesen  Krieg,  den 
er  damals  voraussagte,  jenen  aufbOrdetc, 
Ac  damals  dicscn  srinen  Rat  miBaAtcten? 

Annette  KofB. 

Das  Gewitter. 

»Und  David  sandte  hin  und  liefl  naA 
dem  Weibe  fra  gen,  und  man  sagte:  1st 
das  niAt  Bathseba,  die  ToAter  Eliams, 
das  Wcib  Urias,  dcs  Hcthitcrs?  Und  Da* 
vid  sandte  Boten  hin  und  lieB  sic  ho(en.« 

*Des  Morgens  sAricb  David  einen  Brief 
an  Jakob  und  sandte  An  durA  Uria.c 
Er  sArieb  in  dem  Briefe:  »SteIlet  Una 
an  den  Streit,  da  er  am  h&rtesten  ist  und 
wendet  euA  hinter  ihm  ab,  daft  er  er* 
sAlagen  werde  und  sterbc.€ 

2.  Samuelis  11 

★ * ★ 

<Die  Szene  ist  auf  dem  flaAen  DaAe  des 
Palastes.  Ringsum  Himmel.  Im  Boden  zwei 
Tflren.  Bathseba  hier,  Uria  dort,  wie  auf 
cincr  Wage,  auf  und  ab.> 

Kdnig  David: 

Wie  gut  ist  Aese  Stunde  do  A zu  mir, 
wie  strciAt  sie  liebliA  Qber  meine  Haare! 
Strahlt  niAt  Ae  Stadt  wie  kleine  Abend  ware 
in  meinem  uferlosen  ReiAsquartier? 

So  mOtterliA  ist  mir  von  Anbeginn 
vor  Aug'  und  Ohren  blau  die  Welt  ver* 

hangen: 

daft  meine  FQfte  bloft  und  wund  gegangen, 
daB  meine  Lippen  HirtenspraAe  sangen, 
daB  Gouts  SturmesflGgel  miA  be* 

sAwangen  — 

sAeint  alles  eines  fremden  Lebens  Sinn, 

AuA  daB  vor  einer  steilen  Stadt 
mein  Heer  wie  eine  RiesensAlange  lauert. 


im  Hagel  blutet  und  am  Feuer  kauert, 
hat  meine  Seele  sAGAtern  nur  besAauert, 
weil  meine  Seele  Traum  und  Abend  hat. 

Ein  WaAter  (unsiAtbar): 

Den  innem  Kreis 
besAritt  Ar  FuB, 

Ae  Stunde  heiB 

bewegt  zum  GruB 

Ae  Wolken  an  der  Himmelswand 

und  baut  viel  SAatten  fibers  Land. 

Brim  Tempel  sAon  — 
den  Bogen  sAon 
betrogen  sAon  — 

und  immer  Wind  und  Wolke  mit  — 
Bathseba  naht  mit  holdem  SAritt? 

Bathseba: 

Wer  von  Konig  Davids  Stamme 
hat  des  Harzes  aufgefangen, 
spiegelt  nimmermehr  die  Wangen 
im  verklskrten  WiesensAlamme. 
Nimmermehr  nimmt  klrin  Behagen 
meinen  SAeitel  an  die  Brfiste. 

In  Urias  fahler  Wfiste 

kann  iA  nicmals  FrQAte  tragen, 

AA,  Uria,  wie  so  feme 
<Wurzel  warst  du  mir  und  Mitte!) 
sAweben  wir  auf  einem  Sterne  — 

Fort!  IA  hore  seine  SAritte  . . . 

Uria: 

Du  hieBest,  Herr,  miA  rufen 
und  laBt  miA  fragen  aus: 

»Was  sAlifst  du  auf  den  Stufen, 
was  gehst  du  niAt  naA  Haus? 

Vor  deines  Hauses  SAwellen, 
des  Windes  Zeitvertreib, 

Ae  sAweren  Rosen  qucllcn. 

I 

Und  drinnen  sproBt  dein  Wrib.«  — 

Soli  iA,  da  deine  Helden, 
ein  tausendfaAer  Hauf, 
um  Gouts  Ruhm  zu  melden 
Ae  Heiden  greifen  auf. 


f J d X 


133 


im  Hagcl  der  Gescbosse, 
im  Feuer,  Dampf  und  Blut, 
im  Wirbcl  toller  Rosse, 
bei  Wolkenbrudi  und  Flut, 
soil  icb  geborgen  scblafen?! 

Und  nicbt  auf  hartem  Sand? 

Gott  sollt'  miefa  eher  strafen! 

Hcil!  Ehre!  Vaterland!  <ab) 

Konig  David: 

Ein  Opfer  aller  Opfer  singt  sein  Blut 
sicb  auf dem  scbmalen  Pfade  nacb  dem  Rande, 
und  xst  der  Himmclflut  und  ist  dem  Sande 
und  ist  der  Erde  atemzcugend  gut. 
fhm  ahnt  es  nidit,  vom  Morgen  aufgespart, 
in  einer  Wolke  Qber  kuhlem  Lande, 
da6  er  von  GottweiBwem  verwaltet  ward. 

Bathseba: 

Mit  wesfhin  aufgelostem,  blondem  Haar 
und  einem  Mantel  von  der  Wolken  T6nung 
nimmt  Abscbied  alles,  was  mir  Leben  war. 
Ein  neuer  Atem  tninkt  midi  mitVers5hnung. 
LaB  um  die  Sdiale  rund  den  Donner  gehn, 
in  deren  Mitte  brandbereit  wir  ragen. 
Midi  drangt  die  Dunkelheit,  icb  soil  dir  sagen : 
Mein  Iiebes  Scbeit  — laB  midi  in  Flammen 

stehn ! 

<Sdion  wahrend  des  Vorigen  der  Him  met 
duster  und  gewitterhaft.  Donnerscblag  und 
Blitz.  Ein  Engel  fahret  nieder.) 

Der  Engel: 

Midi  sefaidet  der  Herr  mit  Flammenwort 

und  Hellc, 

idi  hab  vor  diet  das  Gleidinis  auszuscbGtten 
vom  reicben  Mann,  der  Qber  seine  Stalle 
nadi  eincs  armen  Nadibars  Wolle  griff  ~ 

Zudrt  MiBmut,  RScber,  auf  dir  im  Gesidit  ? 
Willst  du  der  frechen  Wilikflr  Handwerk 

legen  ? 

So  treffe  diet  der  gottgere<btc  Segen 
selbeigner  Missetat,  du  Bosewicbt! 


Konig  David: 

Weh  mir!  Wer  hilft  mir  sterben! 

Adi,  sdhollc  Erde  sebon 
midi  Toten  einzuerben! 

Mir  graut  auf  meinem  Thron. 

Nur  immer  Scbritt  um  Sdiritt 

vom  Atem  fremd  getricben, 

wie  ein  dunkles  Blatt  in  die  Sonne  gesdirieben. 

Ein  Regen  fallt  und  scbwemmt  midi  mit. 

Eudi  wird  das  dQrre  Holz  ersdilossen, 
eu <b  tragen  alle  Ranken  Laub.  — • 

Gott  ist  ein  Fels  und  meinenWurzeln  taub : 
So  falle  denn  <du  hast  Genossen) 

Stamm  Israels,  ein  Gottesraub! 

(Er  sinkt  grimmig  hin.) 

Der  Engel  (unsiglicb  mild): 

Nicbt  also,  S&nder,  mit  verkrampfter  Faust, 
mit  wildem  Atem  und  geblumten  Adern, 
nicbt  mag  der  Herr,  dafi  du  ihn  so  ersdiaust. 
Will  Staub  und  Erde  mit  dem  Himmel 

hadern  ? 

Komm,  ofine  didi,  laB  flieBen  und  ersprieBen 
in  meinem  Licbtkreis  deiner  Ruhe  Spur! 
Sebon  brenn'  idi  still  und  lasse  micb  um* 

schlieBen, 

und  sei  es  bloB  mit  einer  TrSncnscbnur. 

Sdiau,  wie  der  Regenbogen  auf  und  nieder 
zuHaupten  uns  ein  licbtesBQndnisscbwingt. 
Erhcbe  diet,  versQndigtes  Gefieder, 
ob  deine  Stimme  ausgelidbtet  wieder 
bis  an  die  Grenze  deiner  Trcuc  dringt! 

Konig  David: 

Strahlende  Eigenscbaft 
zeigst  du  der  Welt  mir. 

Sprengst  meine  Einzelhaft  — 

Erde  gefallt  mir, 
lieblicb  und  bloB. 

Von  dem  verderblicben, 
ahnenfludv-erblidien 
Hocbmut  der  Leidenscbaft 
sag  icb  midi  los. 


134 


Gfossen 


Zwar  — an  der  Zinnen  Kranz 
wird  mir  verzichen 
lirias  Totentanz, 

Bluten  und  Pliehen? 

<Nocb  donncrt  es  hohl) 

Wir  icb  entflohn,  wic  er, 
llg  id)  nadi  Gegenwehr 
dunkel  vor  Abcndrot, 
selbstlos,  gctrcu  und  tot  — 
adi/  mir  war  wohl ! 

Aber  Versdhnung  brid)t 

flammend  aus  (etztem  Licit/ 

braust  mir  ins  Angesidit/ 

rciBt  midi  aus  Sttnden  rein, 

laBt  midi  des  Himmels  sein. 

Nicbt  durdi  den  bangen  Hain 

irrend  in  bittrer  Qua!  ~ 

Triff  midi  zur  Steiie 

mit  deiner  Helie! 

Icb  bin  die  Welle, 

Du  bist  der  StrahL 

* * ★ 

Von  der  gesamten  Wassermenge  eines 
Niedersdilages  verdunstet  ein  Drittel,  ein 
anderes  sideert  ein,  eines  aber  wandert  zum 
Meere. 

An  eincr  sanften  Boscbung  der  Ufer- 
hfiften,  unter  wallenden,leichtangezGndeten 
Wolken,  trflbt  es  den  FluB  bis  auf  den 
letzten  Grand,  tausendjahriges  Wurzel- 
werk  umgerissen  und  in  einer  GberstGrzten 
Nadit  Mensdi  und  Vieh  naefa  dem  Atem 
getraditet  2u  haben.  Aber  was  waren  wir, 
da  sich  unserer  Beklommcnheit  wieder  das 
goldene  Feuer  der  Abendsonne  bemacb- 
tigt,  wenn  wir  es  nicbt  an  unseren  Sunden 
erlitten,  daB  wir  nach  dem  ewigen  Meere 
reisen,  licbe  Frcundin? 

Rudolf  Tuds. 

Bemer&ungen  des  HerausgeBers . 

Der  Verlag  teilt  mit:  Das  Schauspiel 
»Hans  im  Sdinakenlocbc,  das  das  Heft 


erdffhet,  wird  erst  bei  seiner  Auffuhrung 
nadi  dem  Frieden  ais  Bucb  ausgegeben. 
Dieses  Heft  ist  nacb  ScbluB  des  Qgartals 
einzeln  nicbt  mehr  zu  beziehen. 

* 

Eduard  Bernstein  war  sehr  krank.  Die 
Veroffentli  chung  seiner  Erinnerungen,  die 
im  Dezemberheft  begann,  erfuhr  dadurcb 
eine  Verzogerung. 

* 

In  den  letzten  Monaten  haben  sich  die 
Schwierigkeiten,  unter  denen  die  Heraus- 
gabe  der  WeiBen  Blitter  leidet,  nocb  be- 
deutend  vermehrt.  Urn  eine  ausfuhrliche 
Erkllrang  fur  die  vieifachen  Unzutrlglich- 
keiten  zu  vermeiden,  mogen  die  Lescr  be- 
den  ken,  daB  unsere  Zeitscbrift  von  jungen 
Menscben  gesebrieben  wird,  die  der  Krieg 
in  alle  Windc  verstreut  hat.  Audi  war 
der  Hcrausgeber  monatelang  abwesend. 
Er  bittet  alle  diejenigen  urn  Entscbuldigung, 
denen  er  auf  ihre  Briefe  nicbt  geantwor- 
tet  hat. 

★ 

linterdessen  hat  mein  ehemaliger  Freund 
Otto  Flake  in  der  Neuen  Rundschau  cincn 
Aufsatz  flber  die  jGngste  Literatur  ver- 
offentlicht,  worin  er  einer  Gesellschafts- 
anschauung  den  Garaus  macht,  die  er  *Ex- 
pressionismus*  nennt.  Icb  konnte,  icb  will 
ihm  nicbt  antworten,  wie  eine  reinliefae 
Auseinandersetzung  es  vielleicbt  verlangte, 
und  besebranke  micb  deshaib  darauf,  ihn 
an  einiges  zu  erinnern,  was  er,  wenigstens 
in  seinem  Aufsatz,  voilkommen  vergessen 
zu  haben  scheint.  Den  Roman  von  Hein- 
rich Mann,  den  er  kritisiert,  zu  erwerben, 
hat  er  sidi  zur  Zeit,  wo  die  WeiBen  Blatter 
vorbereitet  wurden,  lebhaft  bemflht/  der 
Roman  wire  im  ersten  Jahrgang  dieser 
Zeitscbrift  ersebienen,  den  er  als  verant- 
wortlicfaer  Schriftleiter  gezeichnet  hltle. 
Flake  hat  sich  Gberdies  angeboten,  far 


G fosse  n 


135 


*******  **********  /////  / / ///  #//////////////  ////  //////////////////////////////// 

Heinrich  Mann  die  Verhandlungen  fiber  lichen  Grunden  ablehncn  mussen.  Wenn 


die  Qbersetzung  in  eine  fremde  Sprache 
zu  fuhren  . . . Die  Arbeit  erschien  dann  in 
einer  Mundhener  Wochenschrift.  Flake 
weifl,  daB  der  Roman  infolge  des  Krieges 
Obersturzt  zu  Ende  gcbradit  wurde,  er 
wcifi,  daB  und  warum  das  ausgedrudcte 
Buch  wahrend  des  Kriegs  nicht  ersdieint. 
Er  hatte,  ganz  abgesehen  von  kamerad- 
schaftlichem  Anstand,  Grfinde,  sogar  per- 
sonlide  Grfinde  genug  gehabt,  diese  Zu- 
ruckhaltung  zu  achten.  Dabei  nehme  tch 
an,  daB  er  aufrichtig,  im  Innerstcn  durdi 
den  Krieg  umgelernt  hat,  und  daB  er  slch 
nicht  einer  Stromung  fugte,  die  sein  eigenes 
Denken  und  Trachten  leichthin  umwarf . . . 
Was  er  nicht  nur  fiber  meinen  Roman 
»Benkal«,  sondem  uber  midi  schrieb,  be- 
ruhre  ich  nicht/  es  tat  mir  leid,  dafi  er  den 
Augenblick  fur  gekommen  hielt,  nein,  dafi 
er  sich  in  diesem  schlecht  gewahlten  Augen- 
blick  verleiten  lieB,  in  der  Neuen  Rund- 
schau weiterzugeben , was  unser  La;ids- 
mann  Fritz  Lienhard  in  seiner  Flugsdirift 
fiber  das  Elsafi  ungefahr  zur  selben  Zeit 
ausspielte,  wo  der  von  Lienhard  verdadi- 
tigte  Ernst  Stadler  auf  dem  Sdilachtfeld 
fiel:  eine  falsdie  Charakteristik  unserer 
wahrend  mehr  als  zehn  Jahren  gemein- 
samen  Bestrebungen,  die  auf  eine  unwur- 
dige  Denunziation  hinauslief.  Aber  Flake 
uberbot  Lienhard:  er  vergafi  wiederum, 
dafi  er  bis  in  die  letzte  Zeit  sich  selbst 
in  jener,  wie  er  sagt  »hysterischen«  Ver- 
fassung  befand,  die  er  als  die  unliterarisdie 
Gemeinsamkeit  der  »Expressionisten«  be- 
zeichnet.  Der  Aufsatz  1st  sdilecht.  Wer 
von  uns  hatte  noch  keinen  schlechten  Auf- 
satz geschriebeu?  Er  bedeutet  jedoch  die 
Ausfuhrung  eines  redaktionellen  Auftrags, 
dessen  Sinn  nicht  miftzuverstehen  war. 
Den  Auftrag  hatte  Flake,  wenn  nicht  aus 


er  ihn  aber  ubernahm,  so  hatte  er  ent- 
weder,  in  rucksichtsloser  Aufrichtigkeit,  ein 
Pamphlet  sdbreiben  sollen  — was  eine 
saubere  Sadie  gewesen  ware  — oder  aber 
sich  darauf  beschranken  mussen,  literarische 
Angelegenheiten,  ohne  kulturhistorisdie 
Manover,  nach  bestem  Wissen  literarisch 
einzuordnen.  Die  scheinbare  Objektivit3t 
des  Verfahrens,  das  er  wahlte,  mag  zeit- 
gemaB  sein.  Sie  ist  widerlich  und  setzt 
cinenSchriftsteller  tiefer  herab,  als  ihn  zwolf 
gute  BQcher  htnaufheben  konnten,  die  er 
nodi  in  seinem  Leben  schrieb^. 

Ich  wurde  nicht  bei  einem  Aufsatz  wie 

dem  besprochenen  verweilen,  wenn  nicht 

Angelegenheiten,  die  sehr  personliche  zu 

sein  scheinen,  heute  in  Wirklichkeit  uber- 

personlidher  Art  waren : sie  stellen  Menschen 

dorthin,  wohin  sie  cndgultig  gehoren  kraft 

der  Prufung,  die  ihnen  von  der  Zeit  auf- 

erlegt  ward.  Gemeinsdiaften  haben  sich 

gelost,  andre  werden  sich  statt  ihrer  bildeu. 

Ihr  Bestand  wird  fester  sein,  weil  sie  nicht 

durdi  Zufall,  Neigung  und  Berechnung  be- 

stehen  werden,  sondern  aus  Trcue  zu 

sich  selbst  und  der  erprobten  Widerstands- 

kraft  gegen  Gewaltsamkeiten  aller  Art. 

Man  wird  gern  alles  verzeihen,  aber  gut 

tun,  nichts  zu  vergessen. 

★ 

Da  wir  sdion  beim  » Expression  ism  us  « 
sindy  will  ich  mit  meiner  Meinung  fiber 
ihn  nicht  hinter  dem  Berg  halten.  Der  Ex- 
pressionismus  ist  ebensoviel  und  ebenso- 
wenig  wert,  wie  jedes  Schlagwort.  Es  gab 
expressionistische  Diditungen,  expressio- 
nistische  Gemalde,  bevor  es  einen  *Ex- 
pressionismus«  gab.  Vielfach  nennen  wir 
heute  expressionistisch,  was  frfiher  roman- 
tisch  hiefi,  und  deshalb  ist  es  nicht  richtig, 
daB  uns  die  Intensitat  des  Ausdrucks,  die 


pers5n lichen, so  wen igstens  aus gesellschafi-  ihn  kennzeidinen  soil,  erst  durch  franzo- 


Gfossen 


136 

sische  Werke  vermittelt  werden  muBte.  dcr  crstcn  Gelegenheit  das  Ges<h3ft  dcr 
Jedenfalls  hat  das  Sdilagwort  den  Wert  oppositionellen  Haltung  wiedcr  beginnen, 
eines  Schlagworts,  es  ist  mit  ihm  bestellt  genau,  wic  er  in  die  Hochkonjunktur  des 
wie  mit  dem  Realismus  und  Naturalismus  »Patriotismus«  sprang,  urn  ja  auf  der 
frQhercr  Generationen.  Es  kann  eine  mo*  Butterseite  zu  bleiben.  Es  gibt  mdglicher- 
ralische  Macht  werden  oder  in  der  Lite*  weise  viele  Arten,  deutsch  zu  sein/  als 
raturgeschichte  stecken  bleiben.  Der  Essai  reifer  Mann  sich  zu  verleugnen,  ist  die 
von  Heinrich  Mann  im  Novemberheft  zeig*  beste  nicht.  Wir  gehn  nicht  na<h  dem  Lon* 
tc,  zu  welcher  politischen  Macht  der  Na*  don  frttherer  Jahrzehnte/  wir  bleiben  in 
turalismus  in  Frankreich  gelangen  konnt  t,  der  Nlhe  Wei  mars,  heute  wie  vor  einem 
ein  Vergleich  mit  dcr  sozialisierenden  Lieb*  Jahr.  Eine  Nation  ist  vielfaltig  genug  ge* 
haberei  der  schnellemporgekommenendeut*  gliedert.  Wir  gchdren  nicht  zu  denen,  die 
schen  Naturalistcn,  die  eben  nur  Literatur*  leben,  urn  Geschafte  zu  machen.  Diese 
beflissene  waren,  Literaten,  die,  wenigstens  mogen  in  der  Mehrzahl  sein.  )e  zahlreicher, 
bi(dfi<h  gesprochen,  eilig  nach  Berlin  W je  stirker  sie  sind,  desto  leichter  konnen 
Gbersiedelten,  wGrde  das  MiBverhsMtnis  in  sie  unsere  Hilfe  entbehren.  Jene  konnen 
ein  noch  grelleres  Lidht  setzen.  siegen  oder  geschlagen  werden/  wir  nicht. 

Der  Expressionismus,  so,  wie  ihn  die  Wir  hQten  einen  Schatz,  ohne  den  Eu* 
sehn,  die  als  Expressionisten  angesprochen  ropa  aus  bosen  Negern  bestinde.  Denn 
werden,  ist  nattirlich  auefa  eine  technische  dieser  Schatz  ist  das  einzige,  was  uns  von 
Ausdrucfcsform  — der  die  Naturalisten  den  »Wilden«  unterscheidet.  Jede  andere 
genau  so  gegenQberstehn,  wie  die  *to*  Qberfegenheit  teilen  wir  letzten  Endes  mit 
talenc  Deutschen  der  aditziger  Jahre  den  den  AfFen.  Unsere  MSrser,  sie  mogen  nodi 
Naturalismus  ansahn.  Er  bedeutet  aber  so  gut  sein,  haben  mit  Goethe  niefats  ge* 
vqjt  allem  den  Wunsch,  neben  die  Schilde-  mein,  die  gelungensten  DurdibrOdie  zu 
rung^ einen  moralischen  Willen  zu  setzen/  Bach  nicht  die  geringstc  Beziehung.  Ein 
er  ist  kimpferisch  / er  ist  radikal  / er  sdileu*  Sieg  ist,  wenn  Geist  Macht  wird/  wenn 
dert  die  Kunst,  die  in  und  seit  unsrer  aber  die  Gewalt  sich  des  Geistes  bedient, 
Klassik  ein  vomehmes  Privatleben  filhrte,  urn  der  Macht  und  nur  ihretwillen,  so  Gbt 
durch  die  StraBe  — ■ selbst  auf  die  Gcfahr  sie  die  schlimmste  Sklaverei,  die  Menschen 
hin,  dab  sie  dort  zugrunde  gehe.  erdulden  kSnnen. 

* Und  sic  haben  sie  nie  erduldet, 

Es  ist  nicht  nur  leicht,  es  ist  schdn,  sich  Und  sie  werden  sie  nie  dulden. 

einer  Licbe  hinzugeben.  Die  Art,  wie  er  Der  Kampf  darum  heiBt  Weltgeschichte. 

es  tut,  kennzeichnet  einen  Menschen.  Und  Jeder  tue,  an  seinem  Platz,  was  sein 
eins  weiB  ich : wer  jetzt  feig  war,  der  i s t Gewissen  ihm  gebietet.  Es  gibt  kein  an* 
feig  und  wird  es  immer  sein,  er  wird  bci  deres  »Gebot  der  Stunde«.  R.  S. 


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Original  from 


UNIVERSITY  OF  MICHIGAN 


Em  if  Lucfia: 

DIE  PSyCHOLOGIE  NAPOLEONS*) 

WIR  konnen  im  Mensdien  zwei  letzte  Elemente  finden,  die  so 

sehr  letzte  sind,  dafi  alles  Mensdilidie  uberhaupt  durch  sie 
festgelegt  ist:  Die  Wirkungen  der  Welt  und  die  Anlagen  seiner  Natur, 
kurz  alles,  was  dem  Menschen  gegeben  ist,-  und  diesem  unermefilidi 
Vielen  steht  die  innere  zusammenfassende  Kraft  des  Willens  oder 
der  Personlidikeit  gegenuber.  Diese  im  innersten  zwiespaltige  Kon* 
stitution  madht  den  Menschen  zu  etwas,  das  fiber  die  Natur  hin- 
ausragt,  das  ihn  prinzipiell  nidit  vollig  beredienbaren  Mechanismus 
sein  lafit,  weil  eine  innere  Aktivitat,  etwas  ganz  Unmathematiscbes, 
da  ist,  das  wissensdhaftlich  nicht  erfafit  werden  kann. 

Die  beiden  Grundelemente  — sagen  wir  kurz:  Sdiicksal  und  Wille 
— • mussen  prinzipiell  in  jedem  Mensdien  angenommen  werden,  aber 
es  gibt  Mensdien,  die  so  sehr  Naturwesen  sind,  die  so  wenig  eigent- 
lidi  Menschlidies  haben,  dafi  das  eine  Element,  die  personlidie  Kraft, 
gar  nidit  vorhanden  zu  sein  scheint  oder  wenigstens  nidit  in  ihr  Be* 
wufitsein  fallt  und  bei  keiner  ihrer  Handlungen  merldidi  wird.  Wenn 
wir  die  groBen  Romer  naher  betraditen,  so  erkennen  wir  leidit,  dafi 
sie  einander  aufe  Haar  gleichen.  Sie  empfinden  sidi  selbst  nidit  als 
besondere,  auf  einem  inneren  Mittelpunkt  ruhende  Personlidikeiten, 
sondern  als  abhangige  und  vollig  bestimmte  Glieder  ihres  Staates, 
der  nidit  viel  anders  gefugt  ist  als  der  Staat  der  Btenen,  der  einen 
grofien  Versudi  darstellr,  dem  Geist  eine  innerlidi  fremde  Ordnung, 
namlidi  die  Ordnung,  die  in  der  Natur  herrsdit,  aufzulegen,  ohne 
das  Besondere,  Personlidie,  Menschliche  zu  wfirdigen.  In  Rom  ist 
fur  die  Personlidikeit  kein  Platz,  Romertugcnd  ist  Unterwerfung  unter 
die  Forderungen  der  Gesamtheit,  Angleidiung  alles  Besonderen  ans 
Gemeinwohl.  Die  Gesittung  Roms  ist  absolut  unphilosophisdi  und 
unkunstlerisdi-unpersonlidi,  ganz  auf  den  Zwang  des  Nutzlidien  ge- 

I— » » ■ - ■ ■ ■*-«>  — . ■» » w . ■ ■ ^ mm  - ■ ■ i 0 — > — — — i ■■  "mm  ■ » m m ^ 

•>  Diese  Arbeit  ist  vor  dem  Kriege  abgesdilossen  und  nidit  mehr  gcandert  worden. 


10  Voi.  m/i 


Emit  Ludia  • Die  PsgSoCogie  Napofeons 


grGndet.  Zwar  wlrd  auch  in  der  griediischen  Tragodie  das  Schicksal 
als  absolut  Herrschendes  anerkannt,  aber  cs  ist  doch  immerhin  zum 
Problem  gemacht/  der  einzelne  empfindet  die  Moira  als  etwas  Frem- 
des  und  Lastendes,  und  wenn  er  sie  auch  nicht  anzuzweifeln  wagt, 
so  vermag  er  doch  uber  sie  nachzusinnen  und  hat  sie  so  schon  in- 
nerlich  entthront  Fur  den  unphilosophisdien  Romer  dagegen  ist  die 
Abhangigkeit  vom  Zwange  der  Welt,  vom  Schicksal,  das  ihm  sein 
Staat  reprasentiert,  so  fraglos  und  selbstverstandlidi,  daB  er  sidi  sie 
nidit  bewuBt  machen  kann/  schon  der  Gedanke,  nicht  ein  Teil,  son* 
dem  ein  Ganzes  zu  sein,  ist  ihm  unverstandlich  und  fremd.  Ich  nenne 
diese  iiberaus  einfache  seelische  Formation,  die  im  Romer  kulturell 
festgelegt  ist,  den  Schidcsalsmenschen,  im  Gegensatze  zum  Men* 
schen,  der  sich  als  innere  Einheit,  als  Personlichkeit  zu  fuhlen  vermag. 

Fur  die  Gegenwart,  die  unter  dem  Zeichen  der  Personlichkeit  und 
der  inneren  Freiheit  steht,  bedeutet  der  Schicksalsmensch  eine  Aus- 
nahme  und  einen  kulturellen  Atavismus.  Mit  der  Schopfung  der 
Personlichkeit  — die  gegen  das  Ende  des  Mittelalters,  besonders  in 
den  deutschen  Mystikern,  vollzogen  erscheint  — ist  das  Schicksal  als 
Letztes  und  Hochstes  abgesetzt,  alle  groBen  Menschen  der  neueren 
Zeit  konnen  nicht  mehr  Schidcsalsmenschen,  mit  Verstand  ausgestattete 
Naturmechanismen  sein/  sie  haben  etwas  Neues,  Hoheres  in  sich, 
eine  Kraft,  die  von  alien  auBeren  Schlagen  nicht  ganz  gelahmt  wer* 
den  kann,  die  den  eigentlichen  Kern  der  modernen  europaischen  Seele 
ausmacht. 

Der  Mensch  als  Personlichkeit  ist  eine  wirklidie  Welt,  ein  Mikro- 
kosmos,  der  sein  eigenes  Gesetz  in  sich  tragt  und  dem  Kosmos,  der 
Welt,  als  ein  selbstandiges  Ganzes  gegenubersteht.  Der  Schidcsals* 
mensch  ist  kein  Ganzes  <weil  ihm  das  BevuBtsein  innerer  Freiheit 
abgeht),  keine  Welt,  sondern  ein  Teil,  ein  Stuck  der  allgemeinen 
Welt  unter  deren  Gesetzen.  Und  weil  sich  dieser  Mensch  nur  als 
ein  Teil  und  nicht  als  abgeschlossenes  Ganzes  fuhlt,  konnen  Leben 
und  Geltunghaben  fur  ihn  nur  in  bestandiger  VergroBerung,  nicht  in 
innerer  Veranderung  und  Vertiefung  beruhen.  Sein  Wunsch  ist,  ein 
immer  groBerer  Teil  der  Welt  zu  werden  — der  Wunsch  alter  Men- 
schen ohne  inneren  Mittelpunkt  — und  endlich  die  ganze  Welt  aus» 
zufullen.  Tamerlan  hat  gesagt:  Wenn  wir  die  Erde  erobert  haben. 


Emit  Lucfia  * Die  Psycftofogie  Napofeorts  141 

so  werden  wir  uns  auf  den  Mond  sturzen.  Dieser  Wunsch,  sich  be- 
standig  auszudehnen,  an  Macht  zuzunehmen,  kann  nie  gestillt  wer- 
den, denn  das  Grundgefuhl,  nichts  Ganzes  zu  sein,  sondern  ein  Teil, 
andert  sich  niemals/  das  StGck  Welt,  das  der  Schicksalsmensch  ist, 
wird  immer  nur  umfangreicher  — kann  sidi  aber  nie  zu  einem 
Ganzen  schlieBen,  es  hat  eine  unersattliche  Gier  nach  Raum  und 
Macht.  Wortlich  genommen  ist  es  wohl  faisdi,  aber  in  einem  tieferen 
Sinn  fur  den  Schicksalsmenschen  wahr,  wenn  Napoleon  von  sich 
selber  sagt:  »Ich  habe  keinen  Ehrgeiz/  sollte  ich  aber  doch  welchen 
besitzen,  so  ist  er  mir  derail  angeboren,  daB  er  vollkommen  in 
meinem  Wesen  liegt,  und  er  hangt  mit  meinem  Dasein  so  innig  zu- 
sammen  wie  das  Blut,  das  in  meinen  Adern  rollt,  und  die  Luft,  die 
ich  atme.«  Denn  Sein  und  Mehrseinwollen  ist  fur  ihn  dasselbe. 

Der  Sdiidksalsmensdi  versteht  nidit  zwisdien  Mensdhen  und  Dingen 
zu  scheiden,  zu  werten/  er  sieht  nur  Grofies  und  Kleines.  Denn  nur 
in  bestandigem  quantitativem  Wachstum  vermag  er  einen  Inhalt  zu 
gewinnen.  Das  ist  wohl  eine  Illusion,  aber  eine  unvermeidliche  Illu- 
sion, wenn  ein  innerer  Lebensquell  nicht  vorhanden  ist.  Wirkliches 
Innenleben,  das  heiBt  Leben,  das  selbst  genugsam  in  sich  ruht,  ist 
daher  fur  diesen  Menschen  nicht  moglich/  er  geht  in  Wirkung  und 
Gegenwirkung  mit  der  Aufienwelt  auf. 

Audi  der  kleine  Mensdi  unserer  Zeit  hat  nicht  das  Gefiihl  innerer 
Selbsttatigkeit,  er  beugt  sich  dem  Geschehen  ohne  Widerstand,  »weil 
es  einmal  nicht  anders  ist«,  Aber  dieser  Zustand  ist  so  sehr  charak- 
teristisch  fur  den  kleinen,  inhaltsleeren  Menschen,  daB  wir  uns  den 
wahrhaft  groBen  genau  entgegengesetzt  denken,  daB  uns  GroBe  ge- 
radezu  mit  dem  Bewufltsein  innerer  Kraft,  Personlichkeit,  Freiheit 
identisch  ist.  Ein  wahrhaft  grofier  Schicksalsmensch  ware  fur  unsere 
Zeit  die  erstaunlichste  Anomalie/  sie  ist  nur  ein  einziges  Mai,  nam- 
lich  in  Napoleon  verwirklicht  worden.  Schon  im  Jahre  1790  hat 
der  korsische  General  Paoli  zu  ihm  gesagt:  >Sie  sind  ganz  ein  Mann 
aus  dem  Plutarch,  Sie  haben  nichts  von  einem  Modernen  an  sich!« 
Und  so  glaube  ich  mit  dem  Verstandnis  dieses  einen  Menschen  die 
seelische  Konstitution  eines  Typus  festzulegen,  der  uns  heute  fremd 
geworden  ist,  ja  wie  ein  Fossil  anmutet. 

Der  richtige  Schicksalsmensch  kommt  aus  den  Tiefen,  ist  Geschopf 


Emit  Ludla  ■ Die  Psxdotogie  Napofeons 


des  Zufalls.  *Ich  bin  der  Sohn  des  Glilcks!«,  hat  Napoleon  auf  der 
Hohe  seiner  Madit  gesagt.  Er  wird  Zeit  seines  Lebens  von  dem 
Geftihl  beherrsdit,  unfrei,  vom  Schicksal  abhangig  zu  sein.  »I<h  bin 
Fatalist  seit  jeher/  wenn  das  Sdiidcsal  etwas  ■will,  haben  wir  zu  ge» 
hordien.*  — *I<fa  babe  midi  niemals  damit  abgequalt,  die  Umstande 
meinen  Ideen  anzupassen/  idi  liefi  mich  jederzeit  von  ihnen  treiben. 
Wer  kann  im  voraus  fiber  die  zufalligen  Umstande,  die  unerwarteten 
Begebenheiten  gebieten?*  — »Idh  konnte  midi  selbst  nidit  ersetzen « 
<d.  h.  idi  bin  dieser  Besondere  nur  unter  diesen  besonderen  Urn- 
standen)/  *i<b  bin  das  Gesdiopf  der  Zeitverhaltnisse.* 

Diese  und  ahnlich  lautende  Worte  begleiten  Napoleon  durdis 
Leben,  sie  sind  der  getreue  Ausdradt  seines  Grundgeffihles : nidit 
selber  zu  wollen  und  zu  handeln,  sondem  gefuhrt  zu  werden.  Er 
betont  ausdrucklich  die  Blindheit  seines  Wollens  und  erklart:  »Der 
wird  nidit  weit  kommen,  der  von  Anfang  an  seinen  Weg  kennt.c 
Als  die  Sonne  von  Austerlitz  strahfend  aufging,  da  ist  er  vom  Sieg 
fiberzeugt  gewesen  — und  er  hat  ihn  errungen. 

Weil  sidi  der  Sdiidisalsmensdi  nidit  als  eine  eigene  autonome  Welt 
empfindet,  sondern  nur  als  ein  Phanomen  in  der  Welt,  ist  sein 
Grundgefuhl,  von  alien  anderen  Phanomenen  abhangig  zu  sein.  Er 
aditet  auf  Zeidien  und  ist  aberglaubisdi.  Von  innen  kann  ihm  ja 
nichts  kommen,  er  vermag  keinen  eigentlidien  Wert  zu  erlangen,  nur 
dessen  Surrogate,  Glfick  und  Madit,  und  so  weifl  er  sidi  als  Knecht 
der  Ereignisse.  Er  glaubt  an  sein  Gluck,  an  seinen  Stem  — »Ge» 
trost!  Du  fahrst  Casar  und  sein  Glfick  !c  raft  Casar  dem  zaghaften 
Sdiiffer  zu/  ihm  kann  nidits  geschehen,  denn  das  Sdiidcsal  halt  die 
Hand  fiber  ihn.  Und  Napoleon  ermutigt  die  wankenden  Soldaten 
bei  Waterloo:  >Die  Kugel,  die  midi  treffen  soli,  ist  nodi  nidit  ge» 
gossen.c  So  fuhlt  er  sidi  bestandig  getragen  und  geleitet. 

Napoleon,  der  in  katholischen  Landem  aufgewadisen  und  vollig 
unreligids  gewesen  ist,  hat  sidi  dem  Mohammedanismus,  der  Reli- 
gion des  blinden  Fatumglaubens,  des  Kismet,  eigentumlidi  verwandt 
geffihlt  Und  diese  Sympathie  charakterisiert  ihn  als  heimlidien  Orien- 
talen.  Die  Phantasien  von  einem  orientalisdicn  Kaiserreich  verfolgen 
ihn  von  Agypten  bis  St.  Helena,  und  es  ware  ganz  unpsychologisdi, 
diesen  aussdiweifenden  Gedanken  blofi  auf  seine  Politik  zurfidtzu- 


Em  if  Lucia  • Die  PsycSofogie  Napofeons  143 

9************M******************************************************************************************************s************************ 

fuhren,  die  England  in  Indien  vielleidit  hatte  treffen  konnen.  Nodi 
am  Tage  von  Austerlitz  hat  er  gesagt:  » Hatte  idi  Accon  einge- 
nommen,  so  ware  ich  Mohammedaner  geworden  . . . Kaiser  des 
MorgenIandes.«  Und  der  Zug  Alexanders  hat  wie  ein  bezaubemdes 
Gaukelspiel  vor  ihm  geschwebt.  Selbst  im  Jahre  1812  sind  die  Plane 
lebendig  gewesen,  uber  Ruflland  bis  nach  Indien  vorzudringen. 

Folgenden  Aufruf  hat  Napoleon  an  die  Mohammedaner  in  Agypten 
erlassen:  *Ist  ein  Mensdi  so  unglaubig  zu  bezweifeln,  dafi  alles  in 
dieser  Welt  der  Herrsdiaft  des  Schicksals  unterliegt?  Der  Tag  wird 
kommen,  wo  die  Welt  einsehen  wird,  dafi  idi  hoheren  Befehlen 
folge,  und  dafl  keine  mensdilidie  Anstrengung  etwas  gegen  midi 
vermag  . . , Alles,  was  idi  unternehme,  ist  bestimmt  zu  gelingen. 
Die  sidi  als  meine  Freunde  erklaren,  werden  gedeihen/  die  mir  feind- 
lidi  begegnen,  werden  untergehen,*  »Madit  dem  Volke  bekannt,« 
bcfielt  er  der  Geistlidikeit,  *dafl  seit  Anbeginn  der  Welt  gesdirieben 
steht:  Idi  werde,  nadidem  idi  die  Feinde  des  Islams  verniditet,  die 
Kreuze  zersdilagen  habe,  aus  der  Feme  des  Abendlandes  daher- 
kommen,  urn  das  zu  erfullen,  was  mir  aufgetragen  ist.  Zeiget  dem 
Volk,  dafl  in  den  heiligen  Biidiern  des  Korans  an  mehr  als  zwanzig 
Stellen  vorausgesehen  ist,  was  sich  jetzt  ereignet.«  Wenn  man  audi 
die  sdione  Phrase  <die  Napoleon  sein  Leben  lang  uber  alles  geliebt 
hat)  und  die  orientalisdien  Floskeln  in  Betracht  zieht,  so  spridit  aus 
solchen  Worten  dodi  ganz  zweifellos  das  BewuRtsein  einer  Gemein- 
samkeit  mit  dem  islamischen  Fatalismus:  der  blinde  und  grundlose 
Glaube  an  die  Unabwendbarkeit  des  Vorausbestimmten,  der  die  Per- 
sonlidikeit  aussdialtet  und  daher  mit  dem  Christentum  und  dem  Geist 
Europas  in  sdiroffem  und  ganz  prinzipiellem  Widerspruch  steht.  Und 
es  ist  widitig,  dafl  Napoleon  nidit  nur  vom  Fatalismus  beseelt  ge- 
wesen ist,  sondem  dafl  er  sidi  selbst  mit  dem  Sdiicksa!  in  Zusammen- 
hang  gebradit,  als  dessen  Liebling  gefuhlt  hat. 

Damit  sich  das  Bild  des  Sdiicksalsmensdien  vollende,  mufi  namlich 
nodi  etwas  dazukommen,  was  gar  nidit  mehr  ins  Psychologische 
fallt,  uber  das  eigentlich  nichts  gesagt  werden  kann;  dieser  Mensdh 
mufl  sidi  nidit  nur  ganz  vom  Sdiicksal  regiert  wissen  — das  Sdiicksal 
mufl  ihm  audi  wohlgesinnt  sein,  er  mufl  Gluck  haben.  Es  ist  natur- 
lich  nidit  zu  scheiden,  wie  einerseits  der  Glaube  an  seinen  Stern 


144 


Emit  LucHa  • Die  PsySofogie  Napofeons 


rj  ai  i ■nrjr.ruTij  i i 1 i rm  i r r r rrrr  - rrrrrrrrrrrrr  ~n rrr^rrr r ~rr i — ~i n — — i \rrn~rrrrr'nr“rr  -rrrnrmtumnmmmm' 

durdh  bestandiges  Gluck  geweckt  und  zum  Aberglaubcn  wird/  aber 
dieser  Glaubc  ist  doch  von  Anfang  an  da  und  reift  zu  der  Qber- 
zeugung,  daft  das  Geschidc  dieses  eine  Mai  fur  seinen  Liebling  ein 
Auge  haben,  zur  Vorsehung  werden  kdnne.  Bei  einer  psychologischen 
Betrachtung  muft  dies  unberetbenbare  und  unfaftbare  fremde  Element 
— daft  einem  ailes  gelingt,  was  er  anfangt  — naturlich  wegbleiben, 
aber  der  seelische  Typus  des  Schicksalsmenschen  wird  erst  dadurdi 
ganz  abgerundet,  daft  er  wirklich  der  Mann  des  richtigen  Augen- 
blicks  und  des  glucklichen  ZusammentrefFens  ist. 

Das  Volk  hat  nie  an  andere  Menschen  geglaubt  als  an  die  Lieb- 
linge  des  GlOcks  — sie  sind  seine  eigentlichen  Helden.  Es  fragt 
nicht  nach  Geist,  nicht  nach  Talent  und  audi  nidit  nadh  Taten  im 
wahrhaften  Sinn,  sondem  nur  nadi  dem  Zusammentreffen  alier  Zu- 
falle,  die  einen  in  die  Hohe  heben,  nadi  aufieren  Vorzugen,  nadi 
Erfolg,  nach  Gluck.  Das  erklart  sidi  ganz  einfadi:  die  Mensdien 
wissen  sidi  ununterbrochen  von  alien  Faktoren  abhangig,  unter  hun- 
derten  ist  vielleicht  nicht  einer,  dem  eine  Ahnung  von  Freiheit  dam- 
mert.  Wen  also  alle  Faktoren  <der  Zufall)  begunstigen  und  emj>or» 
heben,  der  ist  offensiditlich  der  wahre,  der  bewundemswerte  Mensdh. 
Napoleon  ist  nicht  angestaunt  worden,  weil  er  ungewohnlich  viel 
Verstand  und  Kaltbliitigkeit  besessen  hat  oder  gar,  weil  er  eine  starke 
Personlichkeit  gewesen  ware,  sondern  weil  er  mehr  Gludt  gehabt 
hat,  als  jeder  andere.  Sachverstandige  meinen,  daft  Lazare  Hodie 
ein  ebenso  fahiger  General  gewesen  sei  wie  Bonaparte  — aber  er 
starb  jung,  er  hatte  kein  Gluck. 

Napoleon,  der  an  nichts  geglaubt  hat,  als  an  Nutzen  und  Erfolg, 
vermochte  sich  auch  bei  den  Menschen  keine  anderen  Motive  vor- 
zustellen.  *Es  gibt  nur  zwei  Hebei,  um  die  Menschen  in  Bewegung 
zu  setzen:  Furcht  und  Interesse.  Liebe  ist  eine  dumme  Verblendung, 
Freundschaft  ein  leeres  Wort  . . .«  Ohne  Widerstreben  schrieb  er 
<im  Februar  1814)  seinem  Schwager  Joachim  Murat,  der  mit  den 
Feinden  gemeinsame  Sache  gemacht  hatte,  und  stellte  ihm  vor,  daft 
er  von  keinem  anderen,  als  von  ihm  etwas  zu  erwarten  habe.  »Be- 
nutzen  Sie  wenigstens  einen  Verrat,  den  idh  doch  nur  der  Furcht 
zuschreibe,  um  mir  mit  einigen  guten  Ratschlagen  beizustehen!  . . .« 
Ebenso  weift  er  genau,  dafi  die  Minister  Fouche  und  Talleyrand 


4 


Em  if  Ludia  • Die  PsycBofogie  Napoftons  145 

mit  seinen  Feinden  in  Verbindung  stehen  und  bestoAen  sind.  DoA 
solange  er  sie  brauAen  kann,  nimmt  er  ihnen  das  niAt  Qbel.  Von 
FouA£  hat  er  selbst  gesagt:  IA  sollte  ihn  eigentiiA  hangen  lassen! 
— zieht  cs  aber  vor,  siA  seiner  kaltblutigen  VerbreAersAlauheit  zu 
bedienen.  In  den  hundert  Tagen  werden  alle  wieder  aufgenommen, 
die  siA  dem  Feind  angesAlossen  haben.  A!s  MarsAall  Ney,  der 
vom  Konig  ausgesandt  war,  um  ihn  gefangen  zu  nehmen,  und  es 
gem  tat,  zu  ihm  ubergeht  — da  ist  wieder  alles  wie  zuvor.  Auf 
Liebe  hat  er  niemals  gereAnet,  hat  er  doA  selbst  keinen  geliebt  und 
alle  nur  als  seine  Werkzeuge  verwendet.  Man  erhalt  sie  in  mog- 
liAst  gutem  Zustand  und  zahlt  niemals  vergebens  auf  ihre  niedrigen 
LeidensAaften/  kommt  aber  der  AugenbliA,  wo  man  sie  niAt  mehr 
brauAen  kann,  so  wirft  man  sie  fort.  Als  es  auf  St.  Helena  unter 
seiner  Umgebung  Streitereien  gab,  erklarte  er:  »Was  gehen  miA 
die  GefOhle  an,  die  man  innerliA  hegt?  Wenn  man  mir  nur  eine 
freundliAe  Miene  zeigt!  IA  hore  nur  die  Worte,  iA  lese  niAt  in 
den  Herzen. « 

»Viel  verspreAen  und  niAts  halten,  so  will  es  die  Welt,c  ist 
Napoleons  WahlspruA  gewesen.  Ein  anderes  Mai  freiliA,  wie  ihn 
einer  im  StiA  lafit,  heifit  es:  *Wenn  ein  Mann  sein  Wort  niAt  halt, 
was  do  A sogar  naA  den  Gesetzen  der  Wuste  gesAiehr,  unter** 
sAeidet  er  siA  in  niAts  mehr  von  einem  Tier.«  Dies  ist  keine  In** 
konsequenz:  Es  hat  ihm  Nutzen  gebraAt,  dab  die  Leute,  die  zu 
etwas  verpfliAtet  waren,  ihr  Wort  hielten,  und  so  hat  er  diese 
EigensAaft  gelobt  <wie  die  katholisAe  Religion),  ohne  selber  an  sie 
zu  glauben.  Als  die  Qberreste  der  grofien  Armee  im  russisAen 
Winter  umkamen  und  zu  niAts  mehr  gut  waren,  hat  er  sie  be! 
NaAt  verlassen  und  siA  selbst  in  SiAerheit  gebraAt/  ebenso  die 
Armeen  in  Agypten,  in  Spanien  und  naA  der  SAlaAt  von  Water- 
loo. Ein  Gefuhl  der  VerpfliAtung  gegen  alle  diese  MensAen,  die 
ihm  gefolgt  und  fur  ihn  verwundet  worden  waren,  hat  er  niAt  ge- 
kannt,  weil  er  die  MensAen  niAt  anders  ansehen  konnte,  als  siA 
selber  — Dinge  der  Natur  ohne  Seele  und  Innenleben.  Und  diese 
vollige  Fremdheit  zu  allem  eigentiiA  MensAliAen  maAte  ihn  so 
aufierordentliA  stark/  denn  er  hat  hemmungslos  gehandelt,  er  hat 
keine  seelisAe  Kraft  damit  vergeuden  mussen,  Ehre,  Gewissen  und 


Emit  Ludta  > Die  PsydoCogie  Napofeons 


146 

Mitgefohl  in  si  A zu  uberwinden,  wie  and  ere  Feldherren  doth,  wenn  \ 

sie  ihre  Soldaten  opfern,  ihm  1st  niemals  zum  Bewufltsein  gekommen,  j 

dafl  sein  WunsA,  Herrscher  der  Welt  zu  sein,  niAt  audi  der  WunsA  , 

aller  anderen  MensAen  gewesen  sein  konnte.  • 

Napoleon  hat  es  verstanden,  den  Glauben  an  sein  Glu  A alien  , 

um  ihn  her,  besonders  Soldaten  und  Offizieren  <aber  auA  den  feind- 
liAen  Feldherren)  einzuflofien.  UnersAopfliA  sind  seine  Phrasen  von 
Ehre  und  Ruhm  und  Vaterland  — und  sie  wirken,  solange  sein 
GlftA  dauert.  Als  er  aber  gesAlagen  aus  RuBland  kommt  — »das 
GlflA  1st  eine  Dime!*  sagt  er  dieses  Mai  — da  ist  auA  bei  den 
anderen  der  Zauber  dahin.  Es  zeigt  si  A,  dafl  die  Welt  niAt  von 
der  MaAt  einer  PersonliAkeit,  sondem  von  der  Gunst  des  Zufalls 
geblendet  war.  Wohl  sind  ihm  seAs  oder  sieben  Treue  naA  St.  Helena 
gefolgt  — alle  in  dem  festen  Glauben,  dafl  seine  Wiederkehr  be* 
vorstehe!  — Millionen  andere  aber  haben  seine  eigenen  Lehren  be- 
herzigt  und  ihren  Vorteil  wo  anders  gesuAt 

Napoleons  MaAt  Qber  die  Massen  beruht  aber  zuletzt  darauf, 
dafl  er  selbst  an  sie,  an  den  MensAen  als  Naturphanomen  geglaubt 
hat.  So  wenig  er  einen  einzelnen  bedeutenden  MensAen  hat  be- 
greifen  konnen,  so  nah  ist  sein  Verhaltnis  zur  Masse  — Wirkung 
und  Gegenwirkung  — gewesen.  »Die  Krafte  eines  MensAen  sind 
niAts,  wenn  die  Umstande  ihm  niAt  helfen,  die  offendiAe  Meinung 
ihm  niAt  gftnstig  ist.  Die  offendiAe  Meinung  maAt  alles  . . .« 

Der  beruhmte  Satz  des  Code  Napoleon:  »Es  ist  verboten,  naA 
der  VatersAaft  zu  forsAen,*  beweist  von  einer  anderen  Seite  her, 
dafl  ihm  jedes  Verhaltnis  zum  MensAen  als  einem  Individuum  a b- 
gegangen  ist,  dafl  ihm  die  MensAen  nur  als  Masse  eine  WirkliA- 
keit  gewesen  sind.  Er  hat  gefuhlt  wie  die  Natur,  die  Keime  aus- 
streut,  ohne  siA  um  ihr  SAiAsal  weiter  zu  kflmmem  — wenn  es 
nur  immer  genug  MensAen  gibt,  Ae  man  als  Soldaten  brauAen 
kann!  Alles  sonst  interessiert  ihn  niAt  an  ihnen. 

Was  for  ihn  das  SAiAsal  gewesen  ist,  hoAste  Gottheit  — das 
wollte  er  selbst  fur  die  anderen  sein,  der  Reprasentant  des  SAiA- 
sals,  er  wollte  naA  Goethes  Wort  »das  Fatum  spielen**).  Und  dar- 
um  forderte  er  den  Glauben  an  seine  Autoritat,  an  die  Autoritat 

*>  Am  11,  M3rz  1807  zu  Riemer, 


Em  if  Ludia  • Die  PsySofogie  Napofeons  147 

des  Staatcs,  an  Autoritat  fiberhaupt  fur  alle  anderen  a(s  eigentliAe 
Religion.  Er  hat  vor  der  katholisAen  KirAe  einen  gewissen  Respekt 
besessen,  veil  sie  die  grofite  und  alteste  Organisation  der  MaAt  ist, 
und  hat  sie  von  Jahr  zu  Jahr  als  Stfitze  der  Autoritat  hoher  ge» 
sAatzt.  Allein  uber  das  PraktisAe  hinaus  ist  ihm  doA  noA  etwas 
anderes  am  Katholizismus  nahegekommen:  Das  Dogma.  An  das 
Dogma  mufi  ja  so  blind  geglaubt  werden  wie  an  das  SAiAsal  — 
und  es  kann  dem  MensAen  innerliA  ebenso  fremd  sein.  Napoleon 
hat  dem  Dogma  den  »Wert  einer  KuhpoAenimpfung«  gegen  seinen 
wahren  und  tiefsten  Feind,  das  Bewufitsein  der  Freiheit,  das  Be- 
sinnen  auf  die  eigene  Seele  und  das  selbstandige  Denken  zugesproAen. 
*Die  Religion  befriedigt  das  Bedfirfnis  der  MensAen  naA  dem  Wun- 
derbaren  und  sAfitzt  sie  vor  SAarlatanen.  Die  Priester  sind  mehr 
wert,  als  die  Cagliostro,  die  Kant  und  alle  Traumer  DeutsAlands.* 
Napoleon  hat  das  Dogma  genau  so  gesAatzt  wie  der  GroB-Inqui- 
sitor  bei  Dostojewski,  namliA  als  Bollwerk  gegen  wirkliAe  Religion, 
und  als  er  gesAlagen  wurde,  hat  er  <im  tiefsten  Sinne  mit  ReAt> 
die  Philosophic,  die  *Ideologie«,  der  immer  sein  eAtester  Instinku 
hafi  gegolten  hat,  fur  alles  UnglfiA  verantwortliA  gemaAt/  denn  sie 
untergrabt  die  Autoritat  und  *proklamiert  das  Prinzip  der  Unbot- 
maBigkeit«  — FiAtes  FreiheitsrausA  als  PfliAt!  Und  Napoleon  hat 
den  Zusammenhang  gekannt:  »Ware  iA  ein  religioser  MensA  ge- 
wesen,  so  hatte  iA  alles  das  nie  vollbringen  konnen.*  Wie  gut 
stimmt  dazu,  was  Hudson  Lowe,  der  Gouverneur  von  St.  Helena, 
fiber  Napoleons  letzte  Jahre  erzahlt:  er  hat  si  A immer  mehr  dem 
Dogma  genahert.  >IA  bin  kein  Atheist,*  sagt  der  Erbe  der  Revo- 
lution. »IA  bin  kein  Gottesleugner  und  glaube  alles,  was  die  KirAe 
lehrt*  Wie  ein  magisAes  ZeiAen  hat  er  das  Kreuz  gesAlagen, 
wenn  ihm  eine  Gefahr  drohte. 

Aller  eAte  Wert  hat  seinen  Sitz  im  Geiste,  die  Sphare  des  Ver- 
standes  wird  von  Erfolg  und  MaAt  beherrsAt.  Napoleon  hat 
Erfolg  und  MaAt  praktisA  und  theoretisA  als  das  einzige  Wesent- 
liAe  angesehen.  Hatte  er  Spinoza  gekannt,  so  ware  er  sein  SAfiler 
geworden.  »Wenn  ein  Rebellenffihrer  Erfolg  erringt,  grofie  Dinge 
vollffihrt  und  Ruhm  fiber  das  Land  und  siA  selbst  verbreitet,  so 
wird  er  niAt  mehr  als  Rebellenffihrer,  sondern  als  General  und 


148  Emif  Luda  • Die  Psy&ofogie  Napofeons 

Souveran  bezeidinet.  Es  ist  der  Erfolg  allein,  der  ihn  dazu  madit... 
1st  einmal  der  Pdbel  Sieger,  so  wird  er  nicht  mehr  Pdbel  genannt, 
sondem  »die  Nation*.  Siegt  er  nicbt,  so  werden  einige  hingeritbtet, 
und  es  ist  von  Pobel  oder  Raubern  die  Rede.* 

Und  well  Napoleon  nur  das  tatsachliche  Geschehen  anerkannt  hat, 
ist  ihm  die  Weltgesdiidite  als  »die  einzige  wahre  Philosophic*  er- 
schienen.  Dies  ist  ganz  anders  gemeint,  als  die  ahnfidi  klingenden 
Satze  Hegels.  Hegel  hat  in  der  Weltgesdiidite  die  Entfaltung  von 
an  und  fGr  sich  sinnvollen  Ideen,  von  Werten  hodister  Ordnung 
gesehen,  fur  ihn  ist  gar  nidits  zufallig,  alies  hat  Sinn  und  wesent- 
lidie  Bedeutung,  was  sidi  in  der  Gesdiichte  der  Volker  und  Staaten 
ereignet.  Er  treibt  einen  Kult  mit  der  Entfaltung  des  wahrhaften 
Seins  in  der  Weltgesdiidite,  und  sdion  das  blofie  Werden  ist  ihm 
hodister  Wert.  Genau  das  Gegenteil  von  alledem  findet  Napoleon 
in  der  Geschidite:  nicht  Logik  und  Sinn,  sondern  Zufall,  und  fur  ihn, 
den  Sohn  des  Zufalls,  ist  das  durdi  und  durch  sinnlose  Geschehen 
das  eigentlich  Verehrungswiirdige.  Er  erhebt  Geschidite  und  Politik 
<Zufall  und  Klugheit)  im  Gegensatze  zu  Philosophic  und  Kunst 
<hoherer  Notwendigkeit,  Weisheit,  Personlidikeit),-  das  blofie  Ge» 
sdiehen  ohne  Sinn  und  Richtung  soil  Geschidite  heifien,  die  Politik 
ist  das  Sdiicksal,  sagt  er  zu  Goethe.  Verstand,  Klugheit  besitzt  Na- 
poleon im  hodisten  Mafi  <wahrend  er  den  Geist  furchtet  und  hafit)/ 
die  einzige  Wissensdiaft,  fQr  die  er  Vorliebe  hat,  ist  die  Mathematik, 
die  das  Skelett  des  Verstandes  darstellt,  den  Verstand  in  seinem 
blofien  Funktionieren  ohne  Inhalt,  nodi  Ausblidc  auf  einen  Sinn. 
Was  im  Vorstellungsleben  des  Menschen  geordnet  ist,  aber  regel- 
haft  im  Sinne  der  Natur  arbeitet,  das  kann  man  unter  dem 
Begriff  des  Verstandes  zusammenfassen/  der  Geist  <die  *Ver- 
nunft«>  ist  eigentlich  mensdilich  und  mufi  daher  dem  Mensdien,  der 
nidits  als  Naturprodukt  ist,  fremd  sein.  Es  versteht  sidi  von  selbst, 
dafi  audi  die  Mathematik  in  eine  hohere  Sphare  gehoben  werden 
kann,  wo  das  Formale  Selbstzweck  wird  und  asthetisdien  Wert  ge» 
winnt.  Aber  Napoleon  hat  von  diesen  hoheren  Beziehungen  nidits 
gewufit,  er  hat  die  Mathematik  nur  als  Mefikunst  und  als  Ballistik  ge- 
sdiatzt.  Der  Gedanke,  die  Pyramiden  <die  augenfalligsten  Sinnbilder 
der  Macht!)  ausmessen  zu  lassen,  hat  ihn  bis  St.  Helena  besdiaftigf. 


Em  if  Ludta  • Die  Psydbofogie  Napofeons  149 


/.V/.  ’ . - ...  : ^T77T7T77777777777T7777T7\^T77777 — ’Z ■ ' rj  ? ' T — ' — ’ V/V  V/ff  1 ' ' 'TV 


Die  Gabe,  sicfi  in  der  Welt  zu  orientieren,  ist  Napoleon  im  er- 
staunlichsten  Mafl  eigen  gewesen.  >In  melnem  Kopf  sind  die  ver- 
sdiiedensten  Angelegenheiten  fadiweise  geordnet  wie  in  einem  Sdirank. 
Wenn  ich  eine  Sadie  unterbrechen  will,  schliefie  icb  ihr  Fadi  und 
offne  ein  anderes.  So  geraten  sie  nie  durdieinander  . ■ . Wenn  ich 
sdilafen  will,  sdiliefie  idi  samtlidie  Facher  und  sdilafe  ein.c  Man 
kann  den  ganz  nuditernen  Verstandesmenschen,  den  Mensdien  der 
hochsten  Klarheit,  vielleicht  nicht  besser  beschreiben  als  mit  diesen 
Worten  — Leidensdiaft  und  Genie  sind  ihm  gleidi  fremd.  Und  die 
Fahigkeit,  immer  orientiert  zu  sein,  alles  richtig  und  ohne  Illusion 
zu  sehen,  wird  durdi  sein  beruhmtes  Gedaditnis  (besonders  fur 
Zahlen)  machtig  unterstutzt, 

Mit  dieser  Beherrschung  der  Phanomene  trifft  zusammen,  da0 
Nap>oleon  eine  ganz  souverane  Art  besessen  hat,  das  Geld,  den 
Nerv  aller  austauschbaren,  funktionalen,  unpersonlidien  Dinge  und 
das  widhtigste  Mittel  der  Organisation,  zu  behandeln.  Er  ist  der  ab- 
solute Herr  des  Geldes,  lafit  sidi  niemals  von  ihm  tyrannisieren  <wie 
doch  mancher  grofie  Herr),  ist  weder  habgierig,  nodi  allzu  versdhwen- 
derisdi  und  gibt  es  jederzeit  am  richtigen  Orte  hin.  Es  wird  erzahlt,  da8 
er  alle  Redinungen  des  Staates  selber  gepriift  und  mit  verbliiffender 
Sidierheit  Irrtumer  und  Betrugereien  herausgefunden  habe.  Diese 
Vertrautheit  mit  dem  Abzahlbaren,  Rationalen  ist  ein  sehr  wesent- 
licher  Zug.  Denn  fast  alien  Mensdien,  die  nidits  entsdiieden  Person- 
lidies  besitzen,  wird  das  Geld  zum  Verhangnis.  Napoleon  aber  hat 
es  verstanden,  sidi  uber  dieses  Sdiidcsal  des  Allraglidien,  dieses  so- 
zusagen  biirgerlidie  Sdhicksal  zu  erheben,  es  zu  beherrsdien  und  zu 
veraditen.  Seine  Qberlegene  Stellung  zum  Gelde  ist  gerade  entgegen- 
gesetzt  der  gleidhgiiltigen  des  Phantasten,  der  das  Geld  mifiachtet. 
Der  Phantast  hat  die  sdiicksalhafte  Macht,  die  Damonie  des  Geldes, 
der  schon  mandier  ungewohniiche  Mensdi  erlegen  ist,  niemals  ver- 
standen, er  ist  in  Wirklidikeit  von  dem  abhangig,  was  er  zu  ver- 
aditen glaubt.  Napoleon  kennt  die  Bedeurung  des  Geldes  genau  — 
und  er  steht  daruber  wie  der  Meister  uber  seinem  Werkzeug. 

Napoleon  ist,  wie  die  grofien  Romer  alle,  Verstandesmensch  ge- 
wesen,  in  ihm  gibt  es  nidits  Philosophisdies,  nidits  Phantastisches, 
nidits  Religioses.  Nodi  auf  St.  Helena  ist  er  Ciberzeugt,  dal)  der 


150  Em  if  Ludia  • Dit  Psydofogit  Napofeons 

Mensch  nur  ein  besser  ausgestattetes  Tier  sei  (was  seiner  Anerken- 
nung  des  Dogmas  durcfaaus  nidit  im  Wege  steht)/  und  diese  Gber- 
zeugung  gehort  zum  Verstandesmensdien.  >Der  Mensdj  ist  ein  volU 
kommeneres  Tier,  als  die  anderen  . . . Sagt,  was  Ihr  wollt,  ailes  ist 
Materie,  mehr  oder  weniger  mit  Erkennen  ausgestattet  ...  Es  ist 
meine  Qberzeugung,  dafi  wir  nidits  als  Materie  sind.«  Solche  Aus- 
spruche  wiederholen  sich  oft  genug,  und  er  sagt  zu  Gourgaud:  » Wenn 
wir  tot  sind,  dann  sind  wir  vollkommen  tot.<  Dieser  gleichgultige  Mate- 
riaiismus  ist  ganz  verschieden  von  dem  leidenschaftlichen  Atheismus 
der  franzdsischen  Enzyklopadisten  <die  ihm  Ja  den  geistigen  Boden 
bereitet  haben).  Weidie  begeisterte  Polemik  gegen  Gott  spridit  a us 
den  Karfreitag-Diners  eines  Diderot! 

Nidit  nur  durcb  den  Zufall  der  politischen  Lage  und  eines  be- 
sonderen  Feldherrentalentes  hat  Napoleon  so  viele  Kriege  gefohrt. 
Der  Krieg  war  vielmehr  der  einzige  Zustand,  der  ihm  ganz  an- 
gemessen  gewesen  ist,  der  organisdie  Zustand  des  Mensdien  als 
Naturwesen  und  nicht  als  Personlidikeit  Audi  ein  hoherer  Mensch 
kann  den  Kampf  wollen,  um  sich  an  einem  Feinde  zu  rachen,  uber- 
sdiQssige  Kraft  zu  entfalten,  einen  bestimmten  Zwedc  zu  erreichen. 
For  Napoleon  aber  ist  der  Krieg  eigentlidies  Lebenselement  gewesen. 
Im  Kriege  hat  der  Mensch  jeder  hdheren  Norm  entsagt  und  sich 
dem  Naturrecht  des  Starkeren  (Spinoza!)  Qbergeben.  Dies  ist  der 
wahre  Grund,  dafi  der  Sdiidcsalsmensdh,  der  Mensch,  der  Natur- 
wesen ist  und  nichts  mehr,  in  seiner  reinsten  Erscheinungsform  Krieger, 
Feldherr  sein  wird  (obgleich  diese  Richtung  auch  mit  anderen  An- 
lagen  zusammen  bestehen  kann).  In  der  Herabsetzung  alles  Mensch- 
lichen  auf  das  Mindestmafi,  auf  das  AUgemein-Tierische  <das  durch 
Berechnung  und  Technik  nur  verstarkt,  aber  nidit  verandert  wird), 
liegt  die  eigenste  Sphare  des  Menschen  als  Naturwesen.  Man  mufi 
bedenken,  wie  sehr  einer  im  Vorteil  ist,  der  in  der  Sdilacht  erst  ganz 
er  seibst  wird  (dies  ist  von  Napoleon  vielfach  bezeugt),  der  alle  seine 
Fahigkeiten  zur  VerfQgung  hat,  wo  sich  das  Nervensystem  der  an- 
deren doth  in  einem  ungewohnlichen  Zustand  befindet.  For  den 
Menschen  unserer  Kultur  — fur  den  Berufssoldaten  ebenso  gut  wie 
for  jeden  anderen  — ist  der  Krieg  eine  Anomalie,  und  auch  beim 

und  Oberlegenheit  in  aufierordent- 


grofiten  Mute  sind  KaltblQtigkeit 


EmU  Luda  • Die  Psydofogie  Napohons 


151 


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lichen  Verhalfnissen  nichts  Naturhafies,  sondem  Zustande  hoherer 
moralischer  Willensanspannung. 

Nietzsche  hatte  vidleicht  die  Psychologic  Napoleons  geben  konnen, 
ware  er  nicht  sogleich  in  Schwarmerei  geraten  und  hitle  er  vor  allem 
das  Wesen  des  verbrecherischen  Menschen  richtig  erfafit.  Aber  wie 
Fichte  in  Napoleon  das  Urbose  gesehen  hat,  so  hat  auch  Nietzsche 
den  Sdiidcsalsmenschen  — den  Menschen  als  N aturphanomen  — 
nicht  vom  Verbrecher,  der  durchaus  menschlich,  wenn  auch  negativ 
menschlich  ist,  zu  scheiden  gewufit,  slch  far  ihn  begeistert  und  alles 
verdorben.  Die  typisch  falsdhe  Perspektive,  unter  die  eine  unserer 
Kultur  so  firemde  — weil  antike  oder  orientalische  — Erscheinung 
wie  Napoleon  immer  geruckt  wird,  ist  das  Entweder-Oder : ein 
Genie  — ein  Verbrecher  <auch  wohl:  ein  Verbrecher  — Genie).  Dies 
laflt  sich  ja  begreifen,  denn  es  ist  nicht  leicht,  MaBstabe  an  einen 
Menschen  zu  legen,  die  uns  ganz  und  gar  ungewohnt  sind.  Wir 
pfiegen  wohl  Geisteskranke  und  Degenerierte  unter  dem  Gesichts- 
punkt  der  Natur  <anstall  der  Menschheit)  zu  betrachten  und  wie  die 
Tiere  nicht  als  verantwortlich,  sondem  als  bloB  naturhaft  bedingt  zu 
werten,  aber  fur  den  seelisdi  gesunden  und  sogar  bedeutenden  Men- 
schen ist  uns  diese  Art  der  Betraditung  unnaturlidh/  wie  immer 
unsere  theoretische  Ansicht  daruber  sein  mag  — wir  konnen  doch 
nicht  umhin,  den  Menschen  als  selbstverantwortlich,  als  frei  anzu- 
sehen. 

Der  tiefe  und  prinzipielle  Unterschied  zwischen  dem  Schicksals- 
menschen  und  dem  Verbrecher  ist  aber  der:  der  Schidcsalsmensch  als 
reiner  Typus  hat  schlechterdings  keine  Beziehung,  auch  keine  feind- 
selige,  zum  Personlichen,  zum  Sittlichen,  er  ist  Natur  und  handelt  im 
Stande  der  Unschuld,  er  ist  dem  Guten  wie  dem  Bosen  gleich  fremd. 
Der  Verbrecher  jedoch  ahnt  seine  Freiheit  — und  ist  ihr  wildester 
Feind.  »Des  Lebens  Wein  ist  ausgeschenktlc  nift  Macbeth  in  Ver- 
zweiflung,  wie  er  den  Konig  ermordet  hat.  Der  Schidcsalsmensch 
weiB  so  wenig  von  der  Freiheit  als  der  eigentlichen  Menschlichkeit 
wie  der  Stein,  der  niederfallt,  und  der  sich  durchaus  nicht  frei  fGhlen 
wurde  <wie  Spinoza  behauptet),  konnte  er  denken.  Der  Schidcsals- 
mensch  erfahrt  im  tieferen  Sinne  keine  Freiheit  und  auch  kein  Schidc- 
sal,  gleichwie  das  Tier  kein  Schicksal  hat/  denn  erst  im  Lidite  des 


152  Emit  Luda  * Die  Psgdofogie  Napofeons 

e****+9*9+**+*******e*****++***s****0+***++****s****4*******+*+****+*******+***+**+*******+**+ssss****+*+s+******msm09—m**0*****3*****m**mr 

eigentlidi  Mensdilichen  kommt  das  Fremde,  das  Sdiicksalhafte  zum 
BewuBtsein.  Eines  findet  sich  am  anderen. 

Dem  Sdiidtsalsmensdien  fehlt  jede  Moglidikeit,  einen  Sinn  des 
Lebens  zu  fassen/  in  ihm  gesdhieht  nidits,  obgleich  er  in  bestandiger 
Bewegung  scin  kann  <—  so  wenig  wie  durdi  einen  Bergsturz  eine 
wirldiche  Veranderung  in  der  Natur  erfolgt,  hodistens  eine  Veran- 
derung  im  asthetisdi-formalen  Zug  der  Linien.  Was  er  tut,  versteht 
er  nidit  an  und  fQr  sich  als  Tat,  die  ein  Ziei  vor  sich  sieht,  sondem 
nur  von  der  Wirkung  her,  die  sie  verursadit  hat.  Und  darum  sind 
seine  Taten  nidit  Symbole  seines  Seins  (wie  beim  Menschen  im 
hdheren  Sinn>,  sondern  sie  sind  fur  ihn  das  Sein  selbst.  Nimmt  man 
Ihm  die  Moglidikeit,  in  die  Welt  zu  wirken  — Beispiel:  Napoleon 
auf  St  Helena  oder  mandier  andere,  der  immer  in  kleinen  Verhalt- 
nissen  leben  mud  — so  ist  er  audi  innerlich  tot. 

Die  GroBe  Napoleons,  die  wir  alle  empfinden,  ist  nidit  Menschen- 
grdBe,  sondem  ein  asthetisdies  Phanomen,  vergleidibar  einer  voll- 
endet  sdionen  Tanzerin,  die  sidi  in  naturlidien  Rhythmen  wiegt/  als 
Seele  ist  sie  uns  gleidigultig,  vielleidit  wertlos,  und  entzudct  uns  doch 
als  bewegte  Korperform.  Wir  empfinden  ihr  Tun  als  schon  und  edel 
nadi  gegenstandlich-asthetisdien,  nidit  nadi  seelisdi-menschlidien  Be- 
ziehungen,  wie  von  einem  Gesdiopf  der  Natur  ausgehend,  das  die 
Mensdiheit  nur  sdieinbar  und  vorubergehend  urn  sich  getan  hat. 
Ebenso  ist  der  Sdiidksalsmensdi  ein  Stuck  Natur,  zur  hddisten  Kon- 
zentration  gesteigert,  er  ist  eigentlidi  nicht  Mensdi,  weil  ihm  das  ab- 
geht,  was  den  Menschen  uber  die  Natur  erhebt,  er  ist  Phanomen 
und  kann  wie  ein  Wasserfall  oder  ein  Seesturm  hohe  asthetisdie 
Bewunderung  wedten.  Audi  diesen  Erscheinungen  spredien  wir  nidit 
Wert  an  sich  zu,  wir  wissen,  daB  sie  nidits  sind,  als  physikalisdie 
Vorgange,  aber  wir  vermogen  sie  in  eine  andere,  in  die  asthetisdie 
Lage  zu  Qbertragen  und  uns  an  ihnen  zu  erfrcuen.  Und  darum  ist 
der  Sdiidtsalsmensch  immer  wieder  der  bevorzugte  Gegenstand  der 
Diditung.  Die  Bewunderung,  die  Nietzsche,  mandie  Kunstler  und 
viele  Frauen  fur  Napoleon  empfinden,  ist  rein  asthetisdi,  sie  ist  die 
Bewunderung  des  Zusdiauers  fur  ein  Phanomen,  nidit  des  Menschen 
for  einen  Menschen.  Diese  Bewunderung  zur  Weltanschauung  zu 
erheben,  beweist  eine  prinzipielle  Verwedislung  der  gegenstandlidien 


Em  if  Ludta  • Die  PsydBotogie  Napofeons  153 


W Y-p 


und  der  personlichen  Katcgorie,  das  heifit,  man  vermag  nicht  den 
Menschcn  von  innen  heraus  als  Mensdien  zu  verstehen  und  zu  be* 
urteilen,  sondem  man  wertet  ihn  nur  von  auBen,  nach  seinen  Wir* 
kungen,  von  einem  Beschauer  her.  Diese  Perversion  ist  das  eigentliche 
Grundubel  des  Asthetizismus. 

Wir  verstehen  jetzt  nicht  nur  die  Bewunderung  Goethes  fur  Na* 
poleon,  der  hier  ein  groBes  Naturphranomen  gesehen  hat,  sondern 
audi  die  tief  menschliche  Empfindung  Beethovens:  er  hat  das  Titel* 
blatt  der  dem  General  Bonaparte  gewidmeten  heroischen  Symphonie 
wutend  zerrissen,  als  er  vemahm,  der  Held  habe  sidi  zum  Kaiser 
gemacht.  Sein  reiner  und  genialer  Instinkt  hat  sogleich  erfaflt,  daB 
Bonaparte  nicht  der  groBe  Mensch  sei,  fur  den  er  ihn  gehalten  hatte, 
sondem  der  Mann  des  Tages  und  der  Menge. 

Und  veil  Napoleon  kein  grofier  Mensch,  sondern  elne  grofie 
Erscheinung  gewesen  ist,  darum  hat  er  auch  keine  bleibende  Wir* 
kung  uben  konnen,  er  hat  das  Fuhlen,  das  Handeln,  das  Denken 
der  Menschheit  nidit  dauemd  beeinfluBt.  Als  es  mit  seiner  Macht  zu 
Ende  ging,  da  ist  er  selbst  dahin  gewesen.  Ein  paar  StraBenbauten 
sind  Obrig  geblieben.  Der  Schidcsalsmensdi  als  ein  Teil  der  Natur 
kann  nicht  schaffen,  sondem  nur  zerstoren.  Wenn  Napoleons  Hande 
unbeschaftigt  gewesen  sind,  haben  sie  vernichtet,  was  sie  erreidicn 
konnten,  Blumen,  Mobel,  Porzellan,  kleine  Tiere  — und  dieser  Zwang 
zu  zerstoren,  ist  <neben  einem  bestandigen  und  undifFerenzierten  sexu* 
ellen  Bedurfnisse)  sein  tiefster  Ersatz  far  Produktivitat  . . , 

Wahre  Schopfung  kann  nur  aus  dem  Kosmos  — und  aus  dem 
Kosmos  im  Menschen,  aus  der  Personlichkeit  — hervorgehen.  Wenn 
man  auf  das  Leben  Napoleons  von  einer  gewissen  Distanz  blidct, 
so  erkennt  man,  wie  all  sein  Tun,  das  mit  so  auBerordentlichen 
Mitteln  ins  Werk  gesetzt  worden  ist,  keinen  eigentlichen  Sinn  — 
auch  nicht  fur  ihn  selbst  — gehabt  hat.  Er  kann  niemals  zur  Ruhe 
kommen,  weil  er  bewegtes  Sein  ist  — aber  es  ist  das  Umlaufen 
eines  Pferdes  im  leeren  Gopel,  instinkthaftes,  automatisches  Wollen 
und  Sich-Bewegen,  identisdi  mit  dem  Tun  des  Wilden  und  sogar 
des  Tieres,  nur  von  einem  groflen  Verstande  bewegt/  aber  doch 
wieder  nicht  bewufites  Handeln  in  der  eigentlichen  Bedeutung,  denn 
BewuBtsein  ist  nicht  Reflex  der  Instinkte  in  den  Gedanken,  sondem 
11 


154  Em/f  LudSa  • Die  PsySofogie  Napofeons 

Handeln  nach  Sinn  und  Ziel,  Orientierung  dcs  Subjektiven  an  ide» 
ellen  LeitJinien.  Und  dieses  blinde  Hintreiben  versucht  immer  wieder, 
in  Bildem  von  Grofle  und  Majestat  einen  Ruhepunkt  zu  erringen. 
Napoleon  hat  den  Giebel  des  Mailander  Domes  mit  seiner  Statue 
<als  romisdier  Imperator)  geschmfldct  und  von  Thorwaldsen  den 
Siegeszug  Alexanders  symbolisch  meiBeln  und  in  Rom  aufstellen 
lassen.  Die  Kunstschatze  Italiens  hat  er  nach  Paris  gefuhrt,  um  seinen 
Namen  an  sie  zu  hangen. 

Napoleon  ist  in  seiner  Jugend  schwermGtig  gewesen  und  hat  mit 
dem  Gedanken  des  Selbstmordes  gespielt.  Das  angespannte,  in  halt- 
lose  und  durchaus  unersattliche  Wollen  ist  olFenbar  zuerst  mit  seiner 
ganzen  Trostlosigkeit  hervorgetreten,  es  hat  ihn  gedrangt,  Biblio- 
theken  durchzulesen  und  endlosen  Grubeleien  nadizuhangen . Spater, 
als  er  sich  schon  ganz  dem  blinden  Geschehen  ubergeben  hatte,  da 
ist  ihm  alles  Fragen  nach  Sinn  und  Zweck  tief  verhafit  gewesen. 
Der  Mensdi,  meint  er,  der  sich  die  Frage  stellt:  Wozu  lebe  ich? 
ist  der  ungluddichste  von  alien.  Vielleicht  wurde  der  Philosoph  sagen: 
Wer  sich  die  Frage  nach  dem  Zwedc  des  Lebens  nicht  stellt,  sei 
nicht  wert,  ein  Mensdi  zu  sein/  aber  fur  den  Schidtsalsmenschen 
bedeutet  die  Frage  nach  dem  Sinn  des  Lebens  — Selbstvemichtung. 

Die  Taten  Napoleons  sind  nicht  Taten  im  eigentlichen  und  tieferen 
Sinn,  das  heifit  Wirkungen  einer  Seele  in  die  Welt  hinein/  sie  sind 
vielmehr  der  Ersatz  fflr  Innenleben  und  in  ihrer  erstaunlichen  Menge 
immer  noch  leeres  Geschehen  ohne  seelischen  Kern.  Die  Hinriditung 
des  Herzogs  von  Enghien,  die  man  ihm  so  sehr  zum  Vorwurf  ge» 
macht  hat,  ist  ebensowenig  wie  alle  anderen  politischen  Hinrichtungen 
als  moralische  Tat  zu  werten/  alles  das  sind  instinkthafte  Reaktionen 
gegen  Hindemisse,  mogen  sie  auch  durch  den  Verstand  hindurch- 
gegangen  sein. 

Napoleon  hat  sich  selbst  fGr  einen  Mann  der  Tat  gehalten,  und 
er  gilt  atigemein  dafGr.  Aber  so  sehr  auch  sein  ganzes  Leben  mit 
Ereignissen  angefullt  ist  — es  gibt  keinen  bedeutenden  Menschen, 
der  nicht  mehr  Taten  vollbracht  hatte,  als  er.  So  paradox  es  klingen 
mag:  KGnstler,  Philosophen,  Gelehrte,  Techniker  sind  mehr  Manner 
der  Tat,  als  Napoleon.  Was  bewundern  wir  doch  an  Homer,  an 
Mozart,  auch  an  Edison  und  Geringeren?  Nicht  unmittelbar  sie  selbst 


Em  if  Lucia  • Die  PsySofogie  Napofeons 


155 


— oft  wissen  wir  gar  nichts  von  ihnen  — aber  ihrc  Gestalten  und 
Werke  <ihre  Taten)  sind  lebendig  unter  uns,  und  erst  von  ihnen 
fallt  ein  Strahi  auf  den  Menschen,  den  wir  dann  im  hochsten  Sinn 
als  Menschen  ehren.  Bei  Napoleon  aber  bewundem  wir  genau  ge- 
nommen  keine  einzige  seiner  Taten  — denn  daft  von  zwei  kampfen- 
den  Heeren  eines  den  Sieg  davontragt,  ist  selbstverstandlich,  und 
seine  taktiscben  Zfige  konnen  nur  von  Spezialisten  gewurdigt  wer- 
den.  Wir  bewundern  Napoleon  nicht  als  Schopfer  von  irgend  etwas, 
sondern  als  ein  asthetisches  Phanomen,  als  ein  Schauspiel  der  Natur. 
Er  ist  heute,  nadi  hundert  Jahren,  nicht  mehr  eine  lebendige  Kraft, 
sondern  ein  Gegenstand  fur  gelehrte  historische  Bucher  und  fiir 
Theaterstucke,  und  so  hat  sich  seine  behauptete  Unpersonlichkeit 
durch  die  Geschichte  erwiesen.  Der  Verachter  aller  Ideologic  ist 
heute  eine  Beschaftigung  fur  den  Geist. 

Alles,  was  menschlich  zuhdchst  gilt:  Liebe,  Treue,  Edelmut,  Rein- 
heit,  lebendige  Innerlichkeit,  Produktivitat  — ist  bei  Napoleon  gar 
nicht  oder  kaum  merklich  vorhanden,  nur  ein  grofter  Verstand  und 
unermudliches  Wollen  imponieren,  Gaben,  die  in  der  Welt  helfen, 
aber  unsere  Bewunderung  nur  sehr  eingeschrankt  geniefien.  Die 
grofle  Klugheit  Napoleons  hat  absolut  nichts,  was  an  Genialitat 
erinnerte,  wenn  sie  auch  zu  hoher  organisatorischer  Kraft  gesteigert 
ist/  der  Verstand  hat  kein  Genie,  so  wenig  wie  die  Muskelkraft. 
»Genie  ist  Fleift«  hat  dieser  Ruheloseste  gesagt.  Die  Moglichkeit 
des  Irrsinns,  die  fur  jeden  geniafen  Menschen  am  Horizonte  steht, 
existiert  fur  ihn  zu  keiner  Stunde  des  Lebens.  Sein  klarer,  fiber- 
legener  Verstand  ist  so  fest  gegrundet,  daft  er  durch  nichts  erschuttert 
werden  kann,  Und  er  hat  sich  niemals  betrunken. 

Der  Verstand  Napoleons  unterscheidet  sich  im  Prinzip  nicht  von 
dem  des  Alltagsmenschen.  Wenn  wir  annehmen  wollen,  daft  ein 
kleiner  Kaufmann  etwa  drei  oder  vier  Faktoren  fibersehen  mufl, 
von  denen  seine  geschaftlichen  Erfolge  abhangen  <den  Bedarf  seiner 
Kundschaft,  die  Qualitat  seiner  Waren,  den  Kredit,  den  ihm  der 
Fabrikant  gewahrt,  die  Hdhe  seiner  Spesen)/  wenn  der  Leiter  eines 
groflen  Unternehmens  zwanzig  bis  dreiftig  Faktoren,  der  erste  Minister 
eines  modernen  Staates  eine  noch  groftere  Anzahl  in  Betracht  zu 
ziehen  hat,  wobei  wieder  von  jedem  Hauptfaktor  andere  Faktoren 


ii  voi,  m/i 


156  Em/f  Lucia  • Die  PsgSofogie  Napoftons 

zweiter  Ordnung  abhingen:  so  darf  man  sagen,  daB  diese  Fahig- 
keit,  zu  uberschauen  und  daraus  Folgerungen  zu  ziehen,  bei  Napoleon 
nodi  weiter  ausgebildet  ist  <wobei  er  ubrigens  von  einem  auBer- 
ordentlicben  Spionagesystem  und  seiner  tatsacfalichen  Madit  unter- 
stutzt  wurde).  Aber  etwas  prinzipieil  anderes  — wie  es  doth  in  der 
Intuition  eines  echten  Erfinders  iiegt  — eine  sdiopferisdie  Synthese 
ist  dabei  nidit  im  Spiel,  nur  h odist  gesteigerter  gesunder  Mensdien- 
verstand.  »Veranderungen  der  Landkarte,«  die  mandiem  so  sehr 
imponieren,  sind  nidits  Sdiopferisches,  das  sind  Versdiiebungen  vor- 
handener  Dinge,  diplomatisdie  und  militarisdie  Zuge,  die  auf  der 
scharfsinnigen  Erwagung  aller  Umstande  und  auf  Gluck  beruhen 
<wie  dies  Napoleon  selber  genau  gewuBt  hat>.  Diese  innere  Ver- 
wandtsdiaft  mit  dem  Alltagsmenschen  ist  ja  audi  der  Grund,  daft 
alle,  deren  Kraft  Verstand  und  Ausdauer,  deren  Gott  Erfolg  und 
Gluck  heifit,  in  Napoleon  ihr  Idol  seben.  Der  kleine  Beamte,  der 
junge  Offizier,  die  entsdilossen  sind,  etwas  zu  werden,  fuhlen  eine 
Gemeinsamkeit  mit  dem  Welteroberer . Und  das  ist  nidit  Tauschung, 
sondem  Wahrheit. 

Der  Verstand  kann  nidit  ladieln.  Er  ist  immer  emsthaft  und  weiB 
nidits  von  Freiheit.  Der  alltaglidie  Verstandesmensdi  wie  die  hohere 
Form  des  Sdiidcsalsmensdien,  — sie  vermogen  keinen  Standpunkt  zu 
gewinnen,  von  dem  aus  ihnen  ein  freier  Blidt  uber  Welt  und  Mensch- 
heit  vergonnt  ware.  Sie  haben  kein  Gefuhl  fur  das  Komisdie 
<allenfalls  fdr  den  Witz),  und  an  Napoleon  gibt  es  wirklidi  nidit 
den  kleinsten  humoristisdien  Zug,  kein  ladielndes  Wort,  kaum  ein 
Bonmot  ist  unter  der  grofien  Menge  der  uberlieferten  Aussprudie 
zu  linden.  Niemals  hat  er  wie  andere  groBe  Herren  beim  Wein 
gesessen,  um  einmal  Diener  fur  Freunde  anzusehen/  er  ist  immer 
der  ernsthafte,  auf  Wurde  und  Ruhm  bedadite  Romer.  »Idi  habe 
das  GefQhl  fur  das  Ladierlidie  nidit !«  sagt  er  selbst.  >Die  Madit 
ist  niemals  ladierlidi.c 

Vielleicht  kennt  aber  audi  der  Sdiicksaismensch  — denn  er  ist  dock 
Mensdi!  — Augenblicke,  da  wie  ein  pldtzlidies  Grauen  seine  Un» 
freiheit  vor  ihm  aufsteht.  Konnte  er  sein  Wesen  einmal  jah  als  ein 
Etwas  begreifen,  das  heiBt:  nidit  als  Das,  afs  das  Selbstverstand* 
lidie  und  Letzte  t wenn  er  seines  ganzen  Seins  in  einem  Augenblick 


Emit  Ludla  • Die  PsgSofogie  Napofeons  157 


nidit  mehr  als  etwas  Fraglosen,  sondem  als  etwas  FragwOrdigen 
bewuftt  werden  konnte  — dann  ware  eine  neue  Kraft  in  ihm  er- 
standen,  eine  so  ungeheure  Kraft,  daft  sie  der  Grofte  seiner  sdiicksal- 
haften  Natur  die  Wage  hielte!  Ein  Bewufitsein  tiefster  Damonie 
ware  eingetreten  — der  Sdiicksalsmensdi  ware  zum  Genie  gewor* 
den.  Und  so  ist  der  wahrhaft  grofte  Sdiicksalsmensdi  vielleidit  nur 
urn  eines  Haares  Breite  vom  wahren  Genie  getrennt  — aber  dieser 
Raum  birgt  den  Sinn  der  ganzen  Mensdiheit  und  ist  wohl  nodi  von 
keinem  Sterblidien  ubersprungen  worden.  Hier  lage  ein  Vorwurf 
hodister  Art  fur  den  tragisdien  Diditer.  Als  Napoleon  vor  Goethe 
stand  und  in  diese  Augen  sah,  ist  er  von  einem  ratselhaften,  bisher 
niemals  gekannten  Grauen  angefaflt  worden.  Er  ist  erstarrt.  Und 
er  hat  diesen  Bann  mit  dem  Ausruf  abgeschGttelt:  Voili  un  homme! 
Sieh  da!  Ein  Mensdh! 


158 


HtinricB  Mann  • Der  B ruder 


HeinricB  Mann: 

DER  BRUDER 

NO  VELLE 

PETER  Scfieibcl  blieb  nacb  dem  Tod  seiner  Eltern  zurfidc  als 
ganz  verarmter  Siebenzehnjahriger  und  mit  einer  kleinen  Sdiwester, 
die  niemand  hatte  als  nur  ihn.  Er  sagte  sidi,  daft  er  auf  der  Scbule 
und  spater  auf  der  Hocbscbule  wohl  sich  selbst  nodi  wfirde  durdi- 
bringen  konnen,  unmoglidi  aber  ein  heranwadisendes  Maddien/  und 
ohne  Saumen  ging  er  auf  die  Suche  nadi  einer  bezahlten  Arbeit. 
Er  fand  sie  bei  Fulle  ® Sohn,  Haute,  zuerst  als  Ausgeher/  aber 
bald  lieBen  sie  ihn  Briefe  schreiben.  Nadi  adit  Jahren  war  er  Budi- 
halter  und  hatte  ein  Zimmerdien  far  sidi  allein,  auf  einen  Hof  hin- 
aus,  das  nidit  hell  war/  aufier  im  Hodisotnmer  mufite  man  immer 
das  Gas  brennen.  Luft  und  Lidit  fand  er  zu  Hause,  ihm  dunkte  es 
oft,  kein  Mensdi  konne  zu  Hause,  die  kurzen  Stunden,  in  denen 
dies  erlaubt  ist,  so  viel  Sonne  und  frohes  Herz  linden.  Sie  wohnten 
hodh  fiber  einem  weiten  Platz,  mit  elektrisdien  Bahnen,  Obstkarren, 
Soldaten.  Ihr  kleiner  Balkon  trug  Blumen,  und  Anne  drinnen  sang. 
Andere  horten  sie  nidit  von  draufien,  ihre  Stimme  war  nicht  stark/ 
der  Bruder  aber  blieb  auf  der  Treppe  stehen  und  horte  sie. 

Sie  war  erwadisen  in  den  adit  Jahren,  unter  seiner  Pflege,  seinem 
steten  Gedenken,  als  Lohn  fur  alle  seine  Mfihen/  aber  nodi  blieb 
sie  zart  und  unsidier,  nidit  nur  von  Gesundheit,  audi  in  ihren  For- 
men,  Farben  und  in  ihrer  Art,  das  Leben  zu  nehmen  oder  es  vor- 
auszuahnen.  Bei  ihren  wenigen  Bekannten  gait  sie  fur  langweilig 
oder  hodimfitig,  mandimal  argwohnten  sie  Bosheit.  Nur  ihr  Bruder 
kannte  sie  wirklidi,  er  war  stolz  darauf,  wie  auf  eine  treu  erworbene 
Vertrauensstellung.  Ihr  ward  es  nur  leidit  bei  ihm.  Nur  bei  ihr  war 
er  gluddidi.  Am  Abend  mitunter  und  dann  wenn  sie  ihm  Gute 


HeinridB  Mann  • Der  B ruder 


159 


Nacht  wunsdite,  sah  er  auf  zu  ihr,  staunte  eine  Weile,  und  nanntc 
sic  Beatrix.  So  hatte  eine  Prinzessin  geheifien,  in  einem  Budi  mit 
bunten  Bildem,  das  sic  zusammen  lasen,  als  er  zwolf  und  sic  funf 
Jahrc  alt  war.  Damals  sdwitt  cr  ihr  aus  Papier  den  goldenen  Gurtel, 
wic  cr  von  den  Huften  der  Prinzessin  ficl.  Wenn  sie  fiber  ihrem 
langcn  Hcmdchen  den  Gurtel  hatre,  hiefi  sie  Beatrix.  Ob  sie  ihn 
uberzeugte?  Ob  er  es  entdeckte?  Ihr  eigentlidier  Name  und  ihr 
Wesen,  das  nur  er  sah,  waren  Beatrix.  Ihm  blieb  nidus  ubrig,  als 
ihr  die  Rechte  zu  erobern,  die  ihr  naturlich  waren. 

Aber  nodi  wollte  sie  nidits/  sie  lachelte  schwadi  und  wegwer- 
fend  zu  seinen  Versprediungen  von  Kleidern  und  Schmudc,  fur 
kunftig,  wenn  sie  reich  sein  wfirden,  wenn  seine  Ersparnisse  den 
Nutzen  getragen  haben  wfirden,  auf  den  er  sann.  Es  kam  unbe- 
merkt,  sie  war  damals  zwanzig,  — und  als  er  es  dann  dodi  sah, 
wie  gem  sie  jetzt  ihren  besdieidenen  Tand  trug,  begriff  er  nodi 
immer  nidit,  dafi  etwas  verging.  Ihre  Kopfhaltung  machte  ihn  auf- 
merksam,  das  freiere  Auftreten,  die  erwadite  Anmut,  und  dann  dies 
Ladieln,  das  stolz  einlud:  Sieh  dodi!  Was  er  aber  sah,  ward  dem 
Bruder  nidit  frfiher  klar,  als  bis  er  Fremde  es  nennen  horte.  Sie 
sagten:  >Die  Anne  Scheibel  ist  aber  sdion  gewordenc.  Er  horte  es 
und  ward  von  einer  solchen  Freude  erfafit,  dafi  er  in  der  winter- 
lichen  Strafie  plotzlidi  eine  laue  Luft  spiirte  und  Rosen  rodi.  Beim 
Betreten  des  Hauses  fand  er  cndlidi  Worte.  >Jetzt  haben  sie  es 
herausU  sagte  er.  Jetzt  sahen  alle  ihre  wahre  Natur,  und  nicht 
mehr  nur  fur  ihn  war  sie  eine  Prinzessin.  Freilich  verlor  er  dadurdi 
einen  Vorzug  und  einen  grofien  geheimen  Stolz.  Ihr  aber  tat  die 
Bestatigung  so  wohl!  Unter  den  Blicken,  die  sie  bewunderten,  ent- 
faltete  ihre  Schonheit  sidi,  ihm  sdiien,  ins  Ungemessene.  Ihn  blendete 
sie  nur  noch.  Hiervon  hatte  er  trotz  allem  keinen  Begriff  gehabt: 
ein  Gesidit,  so  klar,  als  sei  es  Fleisdi  gewordener  Edelstein!  Und 
aufgebluht  das  Gold  der  Haare,  in  den  herangereifien  Gliedern 
irgendein  ungeahnter  Saft,  — die  Hand  aber,  man  konnte  sie  un- 
mdglidi  noch  nehmen  ohne  Demur,  sie  konnte  sie  unmoglidi  anders 
geben,  als  mit  Herablassung.  Sie  spiirte  es  selbst,  denn  sie  lachte 
manchmal  auf  dabei,  ubermutig  und  wie  zum  Spotr  auf  ihn  und 
sidi,  weil  alles  sidi  nun  auf  diese  theatralisdie  Art  gewendet  hatte. 


160  He  in  rich  Mann  • Der  Bruder 

Er  zahlte  ihre  Kleider,  die  teurer  wurden,  aber  nicht  sie  hatte  jetzt 
zu  danken,  sondern  er.  Dazwisdten  zeigte  sie  ihm  unversehens  ein 
ernstes,  vertrauliches  Auge,  das  sagte:  »Du  verstehst  natfirlich,  es 
ist  meine  Rolle.  Im  Grund  bist  Du  alles,  was  ware  ich.  Gluddich 
bin  idi,  weil  Du  nun  be'iohnt  bist.c 

Aber  sie  hatre  durchaus  den  Widen  zu  ihrer  neuen  Rolle.  Sie 
ging  aus,  trat  auf,  und  trug  Siege  heim.  Sie  besuchte  eine  Sdhau- 
spielschule,  kannte  Kavaliere,  schlug  Heiraten  aus,  die  ihr  nicht  an- 
gemessen  waren.  Er  mufite  haufig  warten  auf  sie  am  Abend,  und 
kam  sie  heim,  brachte  sie  Unbekanntes  mit,  Erlebnisse,  Moglich- 
keiten  und  Fragen  an  das  Schicksai,  in  die  er  nicht  immer  wagte 
hineinzuhorchen.  Sie  afi  reichlich,  wie  ihre  Schonheit  es  erforderte/ 
es  geschah  aber,  dafi  sie  den  Teller  fortsthob,  die  Arme  weiB  auf 
den  Tisch  stellre,  und  zwischen  ihnen  kurz  den  Kopf  ruckend  fiber 
das  zu  geringe  Zimmer  hinsah,  die  dfirre  Hangelampe,  und  auch 
fiber  ihn  — gereizt  hinsah,  auch  fiber  ihn,  und  doch,  als  sei  sie  ab» 
wesend.  Da  ersdirak  er  so  tief  wie  nodi  nie.  Sein  alter  Rode  brannte 
ihm  plotzlidi  auf  dem  Rudcen,  und  leise,  aber  angestrengt  sdiob  er 
sich  mitsamt  seinem  Stuhl  vom  Tisch  fort,  damit  sie  ihn  nicht  mehr 
rieche.  Denn  ein  wenig,  trotz  aller  Vorsidit,  roch  er  wohl  nadi 
Hauten.  Dafi  er  es  nicht  bedacht  hatte,  kurzlich,  als  ihre  Freunde 
sie  besuditen!  In  einer  entsetzten  Sdiam  ward  es  ihm  ffihlbar,  dafi 
er  zu  viel  da  sei,  und  dafi  er  Anspruche  madie,  unberechtigte  An- 
sprfiche,  indem  er  da  sei.  So  begann  er  ins  Cafe  zu  gehen,  safi 
einsam  und  grubelte,  weil  in  diesem  Augenblick  die  Damen  und 
Herren,  die  mit  ihr  einen  heiteren  Abend  verbraditen,  sie  in  dem 
mifiverstandlichen  Rahmen  des  zu  geringen  Zimmers  sahen.  Konnte 
dadurch  nicht  ihre  Ehrfurcht  leiden?  Adi  es  war  klar,  dafi  dies 
nicht  mehr  weiterfuhrte,  und  dafi  er  selbst,  nur  er  die  Schuld  daran 
trug.  Er  hatte  eine  Prinzessin  bei  sich  aufgezogen  und  zeigte  sich 
nun  unfahig,  die  Mittel  zu  besdiaffen  ffir  ihre  Hofhaltung.  Seine 
Ersparnisse,  die  bisher  ihre  Toiletten  bezahlt  hatten,  waren  schon 
dahin,  was  nun?  Sie  wartete,  und  die  Jahre  vergingen,  die  ihre  Jugend 
waren.  Er  stahl  sie  ihr,  er  war  ihr  Feind!  Einst  bekam  er  im  Ge» 
schaft  eine  unerhort  grofie  Summe  in  die  Hand  und  behielt  sie  eine 
Nacht  lang,  obwohl  sie  schon  Abends  ware  abzuliefern  gewesen. 


Heinri<6  Mann  • Der  Bruder 


161 


Es  war  die  Nadit,  in  der  er  mehrmals  starb  und  mehrmals  lebre 
wie  noch  nie.  AJs  es  Morgen  ward,  war  er  dem  Abgrund  ent- 
ronnen,  und  was  er  fuhlte,  war  Erbitterung  gegen  sie,  die  Glaubi- 
gerin,  die  ihn  so  sdiwer  bedrangte.  Er  wolle  sie  einem  braven 
Mann  geben,  besdiloB  er  hart,  — aber  wie  flehentlidi  bat  sein 
Herz  es  ihr  ab,  als  sie  am  Abend  vor  der  Tiir  seines  Gesdiaftes 
stand  und  ihn  abholte.  Sdion  und  vomehm  wie  keine,  ging  sie  den- 
noth  an  seiner  Seite  durch  die  glanzendsten  StraBen.  Hinter  der  er- 
leuchteten  Glastur  eines  Friseurladens  sah  man  eingeseifte  Herren 
sitzen,  streng  wGrdig,  aber  doch  abgerGstet.  Im  Vorbeigehen  beugte 
die  Sch wester  sidi  vor  das  Gesicht  des  Bruders.  »Da  sitzen  sie,c 
sagte  sie,  und  hatte  um  ihren  karminroten  Mund  zwei  Zuge  von 
HaB  und  Hohn.  Nodi  beim  Abendessen  dadite  sie  wohl  daran, 
denn  unvermittelt  ladite  sie  auf,  und  wie  er  hinsah,  war  es  wieder 
dies  Gesidit.  Da  sie  merkte,  er  sah  hin,  verwandelte  es  sidi,  und 
ihre  Augen  tauchten  in  seine,  mit  einer  soldien  Kraft  von  Mirleid, 
Dankbarkeit  und  Wissen,  daB  er  fuhlte:  *Gesdiehe  was  immer  — .« 
»Wir  wollen  dodi  nodi  unsere  Partie  spielen,c  sagte  sie,  da  ward 
ihm  sdion  wieder  bang,  denn  es  klang  wie  ein  fetztes  Mai.  Dann 
gab  sie  die  Karten,  mit  ihren  Handen,  von  denen  Duft  wehte.  >Du 
sdhwindelst  wohl?«  sagte  sie  heiter,  da  er  gewann/  und  langsam, 
mit  verlorener  Miene  in  die  Lampe  starrend:  »Adi  nein.  Am  sdiwer- 
sten  wird  man  die  AnstJndigkeit  los.« 

Kunftig  zeigte  er  sidi  nodi  seltener,  er  durfte  nidit  langer  sidi  da- 
zwisdiendrangen  in  den  Lebenskampf,  dem  er  sie  nidit  hatte  entheben 
konnen.  Was  sie  fortan  erlebte,  gehorte  nur  ihr  — und  wohl  noth 
einem,  aber  nicht  ihm.  Sein  waren  die  Angst,  die  Sehnsudit  und  der 
Zorn,  dies  gehetzte  Herz,  das  anbetete  und  verwunsdite  in  einem. 
Er  wuBte  gleidiwohl  immer,  was  verging/  ihm  sdirien  es  Dinge  zu, 
die  kaum  waren,  ein  Haudi  in  der  Luft,  ein  Sthatten  in  zwei  Augen. 
Er  kannte  den  Mann  — hatte  ihn  nie  mit  ihr  gesehen,  war  ihm  un» 
bekannt,  und  stand  dodi  unter  einem  Haustor,  um  ihm  entgegenzu* 
blicken,  der  Gestalt  des  Sdiidtsals,  um  ihm  nadizublidten,  dem  Gang 
des  Sdbidtsals,  unerbittlidi  wie  es  ging,  und  ganz  fremd,  Einmal  aber 
verlieB  er  das  Geschaft  zu  einer  ungewohnten  Zeit,  ein  hohes  Fieber 
notigte  ihn/  und  zu  Haus  nahm  er  wahr,  sie  waren  da.  Er  stand. 


162 


Heinrich  Mann  • Der  B ruder 

atmete  nicht  und  horte.  Ein  entzuckter  Klang  drang  hervor,  und  ja, 
dieser  Klang:  Beatrix.  Da  ging  er  fort,  fiebernd,  aber  seine  schnellen 
Pulse  klopften  wie  ein  Gluck  — ein  Gluck,  sei  es  wie  immer.  Sie  hatte 
von  dem,  den  sie  liebte,  genannt  werden  wollen  wie  von  ihm! 
Wenn  sie  sich  von  Liebe  verklart  fuhlte,  ging  sie  in  das  Marchen* 
wesen  ein,  das  sein,  sein  war.  Er  fuhlte:  Meine  Sch wester! 

Tage  zogen  vorbei,  da  sie  ihn  wohl  ganz  vergessen  hatte,  und 
Tage,  an  denen  sie  ihn  nicht  fortlassen  wollte/  aber  er  wufite,  wann 
es  aus  Gute  und  ruhigem  Sinn  kam,  und  wann  er  sie  retten  sollte. 
Er  rettete  sie  nie/  sie  mufite  allein  an  sich  tragen,  er  konnte  ihr  nur 
stumm  und  treu  wie  ein  Hund,  bedeuten,  daft  er  Bescheid  wisse  um 
ihre  gekrampften  Mienen,  die  Trennung  hiefien,  bevorstehender  Zu» 
sammenbrucb,  Angst  des  Endes,  um  ihr  Umherirren  und  Seufzen, 
worin  schon  neue  Hoffnungen  sich  meldeten,  ein  anderer  Mann,  und 
wieder  Leichtsinn  und  wieder  Schmerz.  Ihm  schien  die  Zeit  stillzu* 
stehen,  in  allem  Hin  und  Her,  das  nur  ablief  und  zu  nidits  fuhrte, 
und  dem  er  beiwohnte  in  immer  gleicher  Demut  und  Ergriffenheit. 
Dennoch  erschien  ein  Abend  — sie  hatte  ihn  nicht  fortgehen  lassen 
und  war  selbst  nicht  vorbereitct  zum  Ausgehen,  setzte  sich  hin  bei 
ihm,  fand  keine  Ruhe,  hatte  schon  ihr  Zimmer  aufgesucht  und  kam 
noth  zurQck.  Er  sah  auf,  erstaunt  wie  von  jeher,  wenn  die  Gunst 
des  Augenblicks  ihm  ihren  Anblick  schenkte.  In  ihrem  Gesicht  aber 
entstand  nichts  von  der  kleinen  Freude,  die  sein  Staunen  sonst  ihr 
schenkte.  Seltsam,  sie  hatte  ein  Gesicht,  als  sahe  sie,  nun  sie  zu  ihm 
sprach,  nicht  sich,  sondem  wie  vor  Zeiten,  wirklich  ihn.  Sie  sagte: 
»Hast  du  denn  eigentlich  nie  daran  gedacht,  zu  heiraten?*  Er  be* 
dachte,  was  ihr  denn  einfiele.  Um  Zeit  zu  gewinnen,  sah  er  an  sich 
nieder  und  er  murmelte:  »Jetzt  doch  wohl  nicht  mehr.«  Dies  war  es 
aber  nicht,  in  ihm  stammelte  es  anders.  »Wer  wie  ich  — € Und: 
»Beatrix!«  Ihr  Blidc  zog  sich  schon  zuruck,  sie  sah  nicht  w eg,  und 
sah  schon  nicht  mehr  ihn.  »Hattest  du  geheiratet,«  sagte  sie,  »viel* 
leicht  wiirde  ich  dann  ein  Asyl  gehabt  haben,  wenn  es  mit  mir  aus 
ist.c  Er  schrak  auf,  fassungslos:  »Mit  dir!«  Da  schwieg  sie  zuerst 
gramvoll  und  sagte  dann,  mit  einer  Stimme  wie  eine  Kranke:  »Sieh' 
mich  doch  an!  Sieh'  mich  doch  nur  wirklich  an!«  Und  weil  sie  es 
wollte,  sah  er  sie,  sah  mit  einem  Schiag  alles.  Sie  hatte  die  Lippen 


Hein  rid  Mann  • Der  B ruder  163 


heute  nidit  gefarbt,  die  Haut  des  Gesidites  gelassen  vie  sie  var, 
dem  Blick  nidit  nachgeholfen,  das  Kletd  umgehangt  vie  um  irgend- 
eine  Nebenperson,  und  stand  auf  einmai  da,  als  sei  sie  entblofit  von 
einem  goldenen  Nebel  und  in  den  Allrag  versetzt.  Die  Augen  er- 
kaltet  von  Enttauschungen  und  geschvacht  von  Verlusten,  der  Zug 
des  Hohnes  eingevurzelt  um  den  Mund,  umgewuhlt  die  Stirn  vie 
ein  Feld  mit  Leichen,  und  mude  dies  mensdilidie  Wesen  nacb  gc- 
tragenen  Lasten,  entstellt  das  Antlitz  und  der  Leib  durdi  Kampf, 
den  taglidien  Kampf  um  das  Brot  der  Seele  und  um  ihr  Dasein, 
den  nie  entschiedenen  Kampf:  so  stand  sie  vor  dem  Bruder,  der  die 
Hande  erhob,  langsam  aufhob  und  sie  faltete.  Da  sie  sah,  er  habe 
begriffen,  sagte  sie:  »Diese  adit  Jahre  varen  eine  lange,  lange  Zeit.c 
Und  vahrend  ihre  Stimme,  kranke  Kinderstimme,  nodi  nadiklang, 
stridi  sie  tastend  uber  ihre  Huften,  als  seien  sie  vund,  oder  als 
sudite  sie  nacb  ihrer  verlorenen  Form.  Da  riB  er  sie  an  sidi,  und 
hinsinkend  veinten  sie. 

Das  Gesidit  nodi  trocknend,  eilte  sie  sdion  fort.  Unter  der  TOr, 
zurGdtgevendet,  sagte  sie:  »Morgen  gehe  idi  auf  eine  Reise.  Du 
kannst  unbesorgt  sein,«  — sagte  es  instandig,  als  setzte  sie  hin- 
zu:  »Glaub  mir,  oder  dodh,  lab  midi  es  glaubenlc  Morgen  kam, 
und  sie  var  fort,  und  er  in  seinem  Hofzimmer  beim  Gaslidit  er- 
diudtte  mit  beiden  Handen  in  seinem  Herzen,  vas  er  vufite,  sein 
ungeheures  Wissen.  ZveiTage,  da  rief  man  ihn  in  die  Frauenklinik: 
tot  sei  sie,  tot  sei  seine  Sdiwester.  Er  ging  und  beugte  nodi  einmai 
seinen  grauen  Kopf  vor  ihrer  unverganglichen  Sdionheit. 

Der  Sarg  sdivankte  hinaus,  da  var  ein  Mensdi  da  und  hielt  dem 
Bruder  die  Hand  hin.  Es  var  ihr  erster  Geliebter,  jener,  der  an 
Gestalt  und  Gang  dem  Sdiicksal  geglichen  hatte.  Armes  Sdiicksal, 
verstort  und  bleidi.  Trotz  der  truben  Friihe  standen  drauRen  Leute, 
um  den  Sarg  zu  sehen.  Der  Bruder  horte  sagen:  »Sie  var  nur 
eine  — «.  Er  sah  sidi  njcht  um  nach  dem  Wort,  er  dadite:  »Wifit 
ihr  denn  gar  nichts?c  und  er  ftihlte  Veraditung  und  Mitleid. 


Bertbofd  Viertef  • Die  SSfacSt 


BertBofcf  Viertef-. 

ZWEI  GEDICHTE 
DIE  SCHLACHT 

Unbesorgt,  ob  die  Holle  brullt  auf  dem  Hflgel  — 

Ja  der  Mensdi,  der  Mensch  nur  hat  die  Holle  erfunden  — 
Geht  im  Tal  der  Bauer,  fuhrt  seinen  Pflug  vor. 

Unbekummert  um  den  Triumph  der  Minen  — 

Hodiauf  quirlen  die  schwarzen  Saulen  Jehovas  — 

Lauft  im  Tal  das  Bauernkind,  wo  der  Pflug  geht. 

Unbesorgt  um  den  tanzenden  Ekrasitberg  — 

Martyrer  schwebten  ohne  Hande  und  Fufle  — 

Grabt  der  Pflug  seine  Furdie  — der  Bauer  ein  Kreuz  schlagt. 

Unbekummert  um  die  zerworfenen  Puppen  — 

Droben  am  Berghang,  buntverkleidete  Leidien  — 

Trabt  im  Tal  die  Stute,  froh  sdireit  das  Fohlen. 

Unbesorgt  um  die  giftige,  rotbraune  Wolke  — 

Wo  seit  Nachten  der  Wald  brennt,  riesige  Esse  — 

Kreist  urns  Fohlen  eifersuditig  die  Stute. 

Rosige  Wolkdien  seh  ich  gemalt  und  sdiwarzes  Gewolke, 
Breit  am  Firmament  die  brandige  Glorie 
Und  der  braunen  Halse  Spiel  in  den  Grasem. 


Bert Botd  Viertef  • BauemftuB* 


BAUERNSTUBE 

Ewig  s&wingt  die  Wiege, 
Holzgehohltes  Trogiein. 

Auf  dem  Ofenlager 
Altvergilbte  Ahnin 
Zieht  das  Wiegenzugband 
Stetig  wie  die  Wanduhr. 
Und  die  Katze  warmt  sidt 
Weidigeknault  beim  Ofen. 


Weifles  Kleid  ist  Sonntag! 

Zopfe,  eingefloditen 
In  die  bunte  Qiiaste. 
Blankgewidiste  Stiefel. 

Die  Ruthenenmutter 
Lehnt  beim  Fenstergucklodi. 
Eisbeblaute  Sdbeibe, 
Schneebegrabnes  Bergdorf. 


Aufgewadit  das  Kindlein, 
Heifi  und  runde  Wange. 
Halt  mit  beiden  Fausten 
Mtitterlidie  Brust  fest. 
Saugt  mit  guter  Lunge 
Mutterliche  Labe. 

Softer  Milchdunst  dammert 
In  der  iauen  Stube. 


Bauer  ist  versdiollen 
Wo  im  wirren  Kriege. 
Baurin  in  der  Scheune 
Fugt  sidi  den  Soldaten. 
Wohlig  spinnt  die  Katze, 
Wohlig  gludtst  das  Kindlein. 
Bald  bewegt  die  Wiege 
Ihre  Welle  wieder. 


Eduard  Bern  fit  in  • Vdfier  tu  House 


Eduard  Bernjiein: 

vOlker  zu  hause 

ERINNERUNGEN 

II*>. 

VOR  DREI  JAHRZEHNTEN  IN  UND  UM  LUGANO 

~K  LS  ich  im  verhangnisvollen  Monat  Juli  1914  nach  einer  Pause 

einem  Vierteljahrhundert  Lugano  einen  kurzen  Besuch  ab- 
stattete,  war  mein  erster  Eindruck  eine  ziemlidhe  Enttauschung.  Wohl 
war  ich  darauf  vorbereitet,  die  Stadt,  die  1878  erst  ein  paar  Tausend 
Einwohner  gezahlt  hatte,  erheblich  groBer  und  in  hoherem  Grade  als 
Fremdenstadt  wiederzufinden,  und  nahm  es  als  selbstverstandlich 
hin,  dafl  nun  eine  um  ein  Vielfaches  groBere  Reihe  Hauser,  als  da- 
mats,  die  Budit  des  Sees  umrahmt,  daB  eine  elektrische  StraBenbahn 
die  Stadt  durchzieht  und  sie  auf  beiden  Seiten  mit  Vororten  ver- 
bindet,  und  daB  Laden  und  Wirtsdiaften  sich  in  sehr  viel  groBerer 
Zahl  und  vielfach  auch  groBerer  Eleganz  darbieten.  Audi  wuBte  ich 
manches  des  Neuen,  insbesondere  die  inzwischen  erstandene  schat- 
tige  Promenade  am  See  mit  ihren  Schmuckanlagen,  durchaus  zu  wur- 
digen.  Durch  sie  erhalt  Lugano  den  Anstridi  eines  Luzern  in  ver- 
kleinertem  Mafistabe. 

Aber  noth  in  einem  andera  Sinne  konnte  und  kann  man  von 
einem  kleinen  Luzern  sprechen.  Die  vielen,  vielen  palastartigen  neuen 
Hotels  und  Pensionen,  die  sidi  den  See  entlang  aneinander  reihen, 
sie  konnten,  stattlich  wie  sie  sind,  ebenso  gut  wie  Lugano  auch  Lu- 
zern angehoren.  Oder  auch  jedem  andern  Fremdenort.  In  dem  MaBe, 
wie  sie  raumlich  gewachsen  ist,  hat  die  Stadt  an  Charakter  verloren. 
Die  Eigenart  ihres  einstigen  Wesens  ist,  wenn  auch  nicht  vollig  ver- 

v)  Siehe  das  Dezemberheft  der  Weifien  Blatter,  2.  Jahrgang  1915. 


167 


Eduard  Berttftein  • Voffor  zu  Hause 

schwunden,  so  doch  arg  zusammengesdirumpft  und  wird  erdruckt 
von  eincm  Zuwadis,  der  alles  Mogliche  darbietet,  nur  das  nidit,  was 
dicser  Eigenart  entspredien  wtirde. 

Im  Jahrc  1878  war  Lugano  in  Bauart  und  im  Wesen  seiner  Be* 
vdlkerung  nodi  eine  vollig  italienisdie  Stadt.  Da  die  Gotthardbahn 
noch  vor  ihrer  Vollendung  stand,  ward  es  vom  Norden  her  fast 
nur  von  Auserwahlten  besudit,  die  kein  groBes  Heer  bildeten,  Vier 
oder  funf  Hotels  mit  nidit  ubergroBer  Zimmerzahl  genugten,  die 
zahlungsfahigen  Besudier  unterzubringen,  der  Rest  der  Unterkunfis- 
stellen  waren  Herbergen  — alberghi  — italienisdien  Stils  fiir  Arbeiter 
und  sonstige  wenig  bemittelte  Elemente.  Italienisdi  im  Stil  gaben 
sicb,  wie  die  StraBen,  so  die  Wohnhauser,  die  Laden  und  die  Wirt* 
sdiaften.  Audi  die  Bedienung  in  diesen  war  mit  wenigen  Ausnahmen 
rein  italienisdi.  Die  Ausnahmen  in  den  Laden  wurden  durdi  In* 
sdhriften  bekannt  gegeben,  die  mitteilten,  daB  man  franzosisdi  oder 
englisdi  oder  beides  spredie,  von  deutsdi  war  nodi  kaum  die  Rede. 
Selbst  in  dem  einzigen  Cafe  etwas  besserer  Gattung,  dem  Cafe 
Terreni  an  der  Nordostecke  des  Regierungsgebaudes  — des  jetzigen 
Stadthauses  — radebredite  nur  der  eine  der  beiden  Kellner  neben 
dem  Italienisdien  nodi  ein  paar  Satze  Franzosisdi  und  Englisdi, 
wollte  man  gut  verstanden  sein,  so  mufite  man  audi  mit  ihm  die 
Landessprache  spredien. 

Ganz  italienisdi  war  audi  das  kleine,  ostlidi  vom  Regierungs- 
gebaude  erridhtete  Theater,  von  dessen  Existenz  heute  kein  ubrig 
gebliebener  Stein  mehr  erzahlt.  Da  gerade  eine  Truppe  dort  Vor* 
stellungen  gab,  ging  idi  an  einem  der  ersten  Abende  nadi  meiner 
Ankunft  hinein.  Fur  ein  sehr  besdheidenes  Eintrittsgeld  ward  idi  in 
den  Raum  eingelassen,  den  man  bei  uns  Parkett  nennt.  Hatten  nidit 
ganz  in  dessen  Vordergrund  drei  rohgezimmerte  Banke  Sitzplatze 
dargeboten,  deren  Benutzung  einen  kleinen  Aufschlag  kostete,  so 
ware  dieser  ganze  Raum  Stehplatz  gewesen.  Und  wie  ward  er  be- 
nutzt!  Das  Theater  war  an  dem  Abend  nur  maBig  besudit,  und  in 
ungeordneten  und  gar  nicht  sehr  still  sidi  verhaltenden  Gruppen 
stand  das  Publikum  im  Saal  herum.  Ja,  zu  meinem  Entsetzen  be* 
merkte  idi,  daB  einer  der  Besucher  seinen  Hund  mit  hatte,  dem 
er  von  Zeit  zu  Zeit  mit  einem  zugeworfenen  Bissen  die  Lange* 


168  Eduard  Bemftein  • Vofktr  zu  House 


r~w-  ^r  wrrr  T T r r r r -r  1 r ' r ' ' ^ TT  r ' ^ 


weile  vertrieb.  Fast  nodi  vollig  des  Italienisdicn  unkundig,  konnte 
idt  nicht  feststellen,  ob  man  auf  der  Buhne  ein  Drama  oder  cin 
Lustspiel  auffuhrte.  Kundige  unterriditeten  midi  spater,  dafi  dies  fur 
das  Benehmen  des  Publikums  grundsatzlich  gleidigultig  gewesen  sei. 

Der  ganze  untere  Zusdiauerraum  war  fQr  die  armeren  Bevolke- 
rungsklassen  bestimmt.  Was  sidi  zur  burgerlidien  Gesellsdiaft  im 
KlassenbegrifF  des  Wortes  zahlte,  hielt  nur  die  Benutzung  der  Logen 
fur  passend.  Diese  zogen  sidi  die  ganzen  Range  entlang,  offene 
Rangsitze,  wie  man  sie  bei  uns  hat,  konnte  idi  nidit  entdedken.  Die 
Logen  wurden  von  Burgerfamilien  fur  die  ganze  Zeit,  wo  die  Truppe 
spielte,  gemietet,  man  ging  abends  in  seine  Loge,  um  sidi  zu  unter- 
halten,  wobei  die  Auffuhrung  auf  der  Buhne  oft  die  Nebenrolle 
spielte.  Die  Familien  besuditen  einander,  ward  mir  erzahlt,  im 
Theater  von  Loge  zu  Loge  und  sdiwatzen  dabei  nadi  Herzenslust/ 
nur  wenn  oder  solange  es  den  Sdiauspielern  gelang,  das  Publikum 
in  nennenswerte  Spannung  zu  versetzen,  herrschte  jene  vollige  Ruhe 
im  Zuhorerraum,  an  die  man  bei  uns  wahrend  der  Vorstellungen 
gewohnt  ist.  Als  idi  einige  Jahre  spater  einmat  jemand,  den  idi  in 
Lugano  kennen  gelernt  hatte,  in  Zurich  ins  dortige  Theater  mitnahm, 
geriet  er  fast  aufier  sidi  daruber,  daft  man  sidi  dort,  solange  der 
Vorhang  hoch  war,  »still  wie  bei  einer  Predigt«  verhielt.  Dieser  je- 
mand war  kein  Geringerer,  als  der  franzosisdie  Sozialist  Benoit 
Malon,  einst  Mitglied  der  Pariser  Kommune  und  nun  auf  dem  Wege, 
einer  der  Begrunder  der  soziaidemokratisdien  Arbeiterpartei  Frank- 
reidis  zu  werden. 

Verweilen  wir  indes  zunadist  nodi  etwas  bei  der  Stadt  Lugano 
und  ihrer  Einwohnerschaft.  So  itafienisdi  viele  der  Sitten  hier  an- 
muteten,  so  wenig  entspradi  der  allgemeine  Volkstypus  dem  Bilde 
des  Italieners.  Sonnabends  und  Sonntags  sammelte  sidi  viel  Arbeiter- 
volk  auf  dem  groflen  Platz  vor  dem  Regierungsgebaude,  der  heutigen 
Piazza  della  Riforma,  aber  nidit,  um  zu  demonstrieren,  sondern  um 
zu  sehen  oder  zu  horen,  was  es  Neues  gabe,  oder  sonst  der  Ab- 
wedislung  halber.  Da  fiel  mir  erstens  auf,  wie  ruhig  es  dabei  im 
ganzen  zuging,  und  zweitens,  wie  wenig  sidi  die  grofte  Mehrheit  der 
Arbeirer  in  bezug  auf  Hautfarbe  und  Physiognomic  vom  Durdh- 
sdinitt  unserer  deutschen  Arbeiter  untersdiied.  Man  war  nidit  um- 


Eduard  Bern fie  in  • Vo  (tier  eu  Hause  169 

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sonst  im  Gebiet  der  scit  dcm  letzten  Jahrhundert  vor  unserer  Zeit- 
redinung  von  germanischen  und  anderen  nordischen  Stammen  uber- 
fluteten  Lombardei.  Im  ubrigen  mul)  die  Ruhe  der  Masse  audi  ihrer 
groBen  MaBigkeit  im  Trinken  zugeschrieben  werden. 

Es  ist  eine  allgemein  gemachte  Erfahrung,  die  zum  Teil  aus  kli- 
matischen  Grunden  sidi  erklart,  daB  in  den  eigentlidien  Weinlandern 
die  Bevolkerung  sehr  viel  groBere  MaBigkeit  im  Trinken  ubf,  als 
dort,  wo  Bier  und  Branntwein  den  Wein  ersetzen.  Und  im  sudlichen 
Tessin  war  damals  wenigstens  Wein  nodi  vollig  das  Volksgetrank. 

Dies  wurde  mir  in  drastisdier  Weise  einige  Tage  vor  meiner  Ab- 
reise  von  Lugano  im  FrOhjahr  1879  veransdiaulicht.  Fur  die  Be- 
forderung  unseres  ziemlicb  umfangreichen  Gepacks  — neben  mehreren 
Koffem  nodi  ein  halbes  Dutzend  ziemlicb  groBer  Kisten  mit  Budiern 
— zur  Guterannahme  hatte  ich  mit  einem  Sdiiffer  und  dessen  Ge- 
hilfen  akkordiert,  und  nachdem  sie  diese  Arbeit  besorgt  hatten  und 
von  mir  abgelohnt  waren,  lud  idi  sie  gebuhrenderweise  ein,  mit  mir 
nodi  in  eine  Wirtschaft  einzukehren.  Meinem  heimatlidien  Volks- 
getrank treu,  wahlte  idi  eines  der  inzwisdien  von  mir  ausgekund- 
sdiafteten  drei  Lokale,  wo  man  neben  Wein  ein  in  Bellinzona  ge- 
brautes  Bier  erhalten  konnte,  bestellte  fur  micb  ein  Glas  davon  und 
fragte  meine  Begleiter,  ob  sie  Bier  oder  Wein  haben  wollien.  Beide 
erklarten  sidi  fur  Wein.  Als  wir  aber  dann  beim  Trinken  waren, 
bemerkte  ich,  daB  beider  Augen  immer  wieder  sidi  dem  Bier  zu- 
wandten.  >Ihr  hattet  wohl  dodi  lieber  Bier  getrunken?«  fragte  ich. 
»0  nein,€  ertonte  es  wie  verwahrend  aus  beider  Munde,  »fur 
uns  ist  Wein  gut  genug  — basta  per  noi  il  vino.«  Ob  wohl  nidit 
gerade  ubermaBig  teuer  <das  Glas  kostete  dreiBig  Centesimi)  war 
das  Bier  nadi  ihren  Begriffen  offenbar  das  vornehmere  Getrank,  ein 
Luxus,  der  nur  den  oberen  Klassen  zukam. 

Lugano  war  der  eleganten  Welt  fur  einen  Winteraufenthalt  nidit 
warm  genug,  die  Hotels  wiesen  daber  im  Oktober  1878  nur  noch 
vereinzelte  Gaste  auf,  und  so  waren  die  Strafien  der  Stadt  und  der 
Weg  den  See  entlang  jedenfalls  menschenleerer,  als  es  in  der  eigent- 
lidien  Saison  der  Fall  sein  muBte.  Dodi  wurde  mir  versidiert,  daB 
audi  wahrend  dieser  das  Fremdenelement  wenig  auffallig  hervortrete, 
der  Grundzug  des  Lebens  der  Stadt  vielmehr  unverandert  derselbe 
12 


170 


Eduard  Bernfiein  • Vofktr  zu  Ha  us* 


bleibe.  Das  war  nun  jetzt  grundlich  anders  geworden.  Ein  rastfoses 
Treiben  herrscbte  vor,  und  das  uberflutcnde  Element  der  Fremden 
aus  alien  Landern  — jetzt  vor  allem  Deutsche  — nimmt  dem  Ort 
vollig  seine  Besonderheit.  Die  ruhige  Via  Nassa  mit  der  alten,  sdhone 
Fresken  Luinis  darbietenden  Klosterkirche  Santa  Maria  degli  Angioli 
war  jetzt  eine  vom  Tram  durdifahrene  modeme  Avenue,  in  der  die 
maditigen  Hotel-  und  Pensionsbauten  die  besagte  Kirdie  vollstandig 
erdrucken,  Ebenso  verandert  ist  die  nach  Osten  sidi  hinziehende 
Via  Canova,  sowie  der  Platz,  in  den  sie  einmundet,  und  der  da- 
mals  den  ostlidien  AbschluB  der  Stadt  bildete.  Zu  jener  Zeit  groBer 
als  heute,  aber  ungepflastert,  war  er  an  der  Westseite  von  Werk- 
statten  begrenzt,  vor  denen  meist  im  Freien  gearbeitet  wurde,  wah- 
rend  gegenuber  auf  Gestellen  aufgehangte  unverarbeitete  Gewebe 
vom  Dasein  einer  kleinen  Weberei  oder  Bleidierei  erzahlten.  Von 
ihm  ab  fuhrte  eine  sdimale,  die  Mauer  des  Gartens  der  Villa  Ciani 
hohlwegartig  entlang  laufende  StraBe  zum  wdt  ausgedehnten  Campo 
Marzio  und  eine  dieses  durdisdineidende  Baumallee  zu  dem  am 
FuBe  des  Monte  Bre  gelegenen  Weiler  Cassarato,  der  nur  erst 
einige  wenige  Arbeiterhausdhen  aufwies.  Jetzt  ist  die  Via  Canova 
nur  nodi  GesdiaftsstraBe,  die  alten  einfadhen  Laden  italienisdien  Cha- 
rakters  haben  modernen  groBstadtisdien  Laden  Platz  gemadht,  aus 
der  urwuchsigen  Arbeitsstatte  ist  die  wohlgepflegte  Piazza  dell'Inde- 
pendenza  und  aus  dem  Hohlweg  die  Viale  Carlo  Cattaneo  gewor- 
den.  Hier  wie  in  Cassarate  wiegt  der  Villendiarakter  vor  — alles 
sdimudt  und  gefallig,  aber  ohne  jede  Farbe. 

Indes  diese  und  die  vorerwahnten  Veranderungen  muB  man  als 
unvermeidliche  Folgen  des  Wadistums  und  des  so  gewaltig  gestiegenen 
Fremdenbesudis  in  den  Kauf  nehmen  und  ihnen  die  beste  Seite  ab- 
zugewinnen  suchen.  Woruber  icfa  mich  aber  gar  nidht  hinwegsetzen 
konnte  und  kann,  das  ist  die  mit  den  sdion  bewaldeten  Anhohen 
um  Lugano  vorgegangene  Wandlung,  Das  ehedem  so  harmonische  Bild 
dieser  Umrahmung  ist  durch  die  Fulle  der  uberall  in  wiister  lln- 
systematik  emporgesdiossenen  Riesen-Hotels,  Pensionen  und  Private 
Kauser  entsetzlidi  verunziert.  Ein  Blidt  auf  die  Anhohen  vom  See 
oder  vcn  dessen  Lifer  aus  fallt  auf  ein  jeden  Sdionhcitssinn  belei- 
digendes  Chaos.  Einzeln  fur  sidi  und  aus  der  Nahe  betraditet  mag 


Eduard  Bern  fee  in  • Vofker  zu  Ha  use 


171 


jedes  von  ihnen  seine  Schonheit  haben,  auf  das  Gesamtbild  aber, 
das  sie  den  von  ihnen  besetzten  Anhohen  verleihen,  pafit  nur  das 
Wort:  absdieulich.  Ein  wahres  Gluck,  dafi  weiter  nach  Osten  hin  dieser 
Segen  aufhort,  wie  er  auch  den  der  Stadt  nach  Sudosten  zu  gegen- 
uberliegenden  Monte  Caprino  und  dessen  Fortsetzung  bis  jetzt  noth 
verschont  hat. 

★ 

Um  die  Mitre  des  neunzehnten  Jahrhunderts  war  Lugano  ein 
wahres  Fluchtlingsnest  gewesen.  Die  Rebetlen  gegen  Ostreichs  Herr- 
schaft  uber  die  Lombardei  fanden  hier  einen  Zentralpunkt,  von  dem 
aus  sie  mit  Leichtigkeit  ihre  Brandschriften  und  unter  Umstanden 
Waffen  in  das  Ostreich  unterstellte  Gebiet  einschmuggeln  konnten. 
Nach  einem  der  beruhmtesten  italienisdien  Rebellen  ist  die  Viale 
Carlo  Cattaneo  benannt.  Von  Lugano  aus  ward  1853  der  Mazzi- 
nianische  Mailander  Putsch  ins  Werk  gesetzt.  Aber  nicht  nur  Italiener 
sondern  audi  Revolutionise  anderer  Nationalitaten  wahlten  gem  das 
stille,  so  romantisch  am  Ufer  des  Ceresio  gelegene  Lugano  zum  zeit- 
weiligen  Sdilupfwinkel.  In  dem  kleinen  Flecken  Besso  oberhalb  Lu- 
gano steht  oder  stand  noch  zu  meiner  Zeit  ein  einstockiges  Haus, 
in  dem,  wenn  auch  nicht  unmittelbar  nacheinander,  so  doch  der  Zeit- 
folge  nach  hintereinander  der  Italiener  Guiseppe  Mazzini,  der  llngar 
Lajos  Kossuth,  der  Pole  M.  Langiewicz  und  der  Russe  Michael  Baku- 
nin gewohnt  haben.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daB  ich  eine  mir 
gebotene  Gelegenheit  gern  ergriff  und  mich  eines  Tages  von  einer 
Freundin  der  Familie  Bakunin  in  diesen  heiligen  Revolutionsraumen 
herumftihren  lieB. 

Jedoch  auch  von  Fiuchtlingsleben  merkte  man,  als  ich  nach  Lugano 
kam,  nur  noch  wenig.  Die  Zeit  der  national-politischen  italienisdien 
Konspiration  war  eben  vorbei,  wer  von  Mazzinianem  noch  in  Lugano 
lebte,  war  dort  geblieben,  weil  er  daselbst  seinen  Unterhalt  gefun- 
den  hatte,  und  verhielt  sich  still.  Ein  Exemplar  dieser  Spezies  lernte 
ich  in  der  Person  eines  Mannes  — ich  glaube,  er  war  Buchhandler  — 
namens  Imperatori  kennen,  der  nur  noch  fur  das  vom  Volk  mit 
Leidenschaft  betriebene  Kugelspiel  »alle  boccec,  in  der Luganer  Mund- 
art  alle  botsch  ausgesprochen , Interesse  zu  haben  schien.  Indes 
wurde  mir  doch  auch  die  Bekanntschaft  mit  einem  Vertreter  einer 


12  voi.  m/i 


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Eduard  Bern  fie  in  * Vdfier  zu  Ha  use 

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ganz  andem  Gattung  italienisdier  Revolutionare  nicfat  vorenthalten. 
Id)  war  gluddid)  genu g,  nod)  den  groBen  Ippolito  P...i  in  Lugano 
zu  finden. 

Das  war  dn  Typus,  den  es  lohnte  kennen  zu  lernen.  Ein  Mann, 
wie  geboren,  der  erste  zwar  nicfct  in  Rom,  aber  doth  — anderswo 
zu  sein.  Von  Statur  und  Antiitz  ein  wahrhaft  schoner  Mann,  groB, 
statdid)  gebaut,  mit  dunkiem  Kopfhaar  und  Bart  und  blitzenden 
Augen,  kam  der  »professore«  Ippolito  P . . . i in  seinetn  AuBern  ganz 
und  gar  den  Anforderungen  nach,  die  man  an  einen  seriosen  Bas- 
sisten  der  italienisdien  Oper  zu  stellen  berecfatigt  ist.  Aber  er  war 
kein  Opernsanger,  und  serios  . . . nein,  sends  war  Ippolito  P . . . i 
audi  nidit,  so  gern  er  serios  genommen  werden  wollte.  Von  Beruf 
Gymnasiallehrer,  unterhielt  er  ein  kleines  Lehrinstitut  und  gab  neben- 
bei  ein  radikales  Halbwochenblatt  >11  Republicanoc  heraus,  dessen 
Spezialitat  fulminante  Sdiimpfartikel  auf  die  katholisch-konservative 
Partei  waren,  die  damals  im  Kanton  Tessin  regierte.  Und  fQrwahr, 
an  Vehemenz  und  Kraftworten  konnten  diese  Artikel  schwerlich  uber- 
boten  werden.  »Die  Viper  verliert  ihr  Gift  nidit«,  »Klerikale  Infa- 
mienc,  >Die  Niedertraditigen  am  Werk<  — diese  Titel  seiner  Ar- 
tikel lassen  auf  ihren  Inhalt  sdtlieBen.  Warum  er  Italien  hatte  ver- 
lassen  mussen,  weiB  id)  nicht.  DaB  er  kein  reditglaubiger  Mazzinianer 
war,  verriet  seine  demonstrativ  zur  Sdiau  getragene  Gegnersdiaft 
gegen  den  »Iddio«.  Demonstration  war  sein  Lebenselement,  sein 
Auftreten  so  theatralisd)  wie  nur  mdglich.  Wenn  er  vom  Marktplatz 
her  gehobenen  Schrittes  in  das  Cafe  Terreni  kam,  gab  er  in  seiner 
lauten  Weise  dort  sofort  der  Unterhaltung  den  Ton  an.  Kein  Gast 
entging  seinen  Augen,  keinem  blieb  die  Kundgabe  seines  Atheismus 
und  Materialismus,  wie  seines  politisdien  Radikalismus  vorenthalten. 
Als  im  November  1878  die  78  Berliner  Sozialdemokraten,  die  auf 
Grund  des  soeben  verhangten  kleinen  Belagerungszustandes  plotzlid) 
ohne  jeden  AnlaB  in  einem  Schub  aus  Berlin  ausgewiesen  wurden, 
einen  Aufruf  an  ihre  zuruckgebliebenen  Genossen  veroffentlichten, 
worin  sie  diese  aufforderten,  unerschuttert  zur  gemeinsamen  Sache 
zu  halten,  aber  sidi  zu  keinen  unuberlegten  Streichen  hinreiBen  zu 
lassen,  legte  id)  ein  mir  ubersandtes  Exemplar  dieses  Manifests 
unserem  P...i  vor,  da  er  zwar  nid)t  deutsd)  sprad),  aber  es  leid- 


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Eduard  Bern  fie  in  • Vo  flier  zu  House 

lich  lesen  konnte.  Mit  einer  unnachahmlichen  Geste  gab  er  es  mir 
zuruck:  *Troppo  moderato,  caro  amico,  troppo  moderato!*  Mit 
uns  deutschen  Sozialdemokraten  war  er  ganz  und  gar  nicht  zufrieden. 

Ich  habe  ihm  das  gelegentlich  in  meiner  Wieise  zurudcgegeben.  Ob* 
wohl  auch  ich  der  materialistischen  Weltauffassung  anhing,  war  seine 
Art,  sie  zu  manifestieren,  ganz  und  gar  nicht  nacfa  meinem  Ge» 
sdhmatk.  Er  bekam  es  fertig,  vor  dem  Cafe  Terreni  mit  lauter 
Stimme,  dafi  man  es  uber  den  ganzen  Platz  horen  konnte,  auszu* 
rufen:  >Io  sone  una  bestia,  non  riconosco  che  il  mangiare,  il  bevere 
e le  donne.c  Als  ich  mich  erst  im  Franzosischen  einigermafien  mit 
ihm  unterhalten  konnte,  erklarte  ich  ihm  eines  Tages  rund  heraus, 
die  Lekture  seines  Blattes  madie  es  mir  verstandlich,  warum  <was 
damals  der  Fall  war)  die  klerikale  Partei  selbst  in  Lugano  an  An- 
hang  gewinne.  Er  wollte  midi  darauf  katechesieren. 

»Eh  bien,  citoyen  Berenstein,*  rief  er  aus,  »vous  socialiste  alle- 
mand,  vous  n'etes  peut-etre  meme  pas  athee?« 

Urn  ihm  etwas  aufzugeben,  erwiderte  ich,  das  sei  in  der  Tat 
der  Fall. 

Nun  war  er  doch  erstaunt.  >Et  vous  croyez  en  Dieu?« 

*Non  plus*,  gab  ich  zuruck, 

•Comment  done?  Vous  pretendez  n'etre  pas  athee,  et  en  meme 
temps  vous  declarez  ne  pas  croire  en  Dieu.  Que  veut  dire  cela?« 

Ich  kannte  die  klassische  Antwort  nodi  nicht,  die  der  beriihmte 
La  Place  einst  Napoleon  I.  auf  die  Frage  gab,  weldie  Rolle  Gott 
in  dessen  Weltsystem  erfiille,  und  entbehrte  fur  meine  Auffassung 
sehr  der  wissenschaftlidien  Grundlagen,  uber  die  der  grofie  Astro* 
nom  und  Naturphilosoph  verfugte,  Aber  ein  ahnlidier  Gedanke,  wie 
der,  welcher  in  den  Worten  lag:  »Sire,  je  n'avais  pas  besoin  de 
cette  hypoth£sec  hatte  dodi  meine  Antwort  diktiert,  und  so  erwi* 
derte  ich  trodeen:  »CeIa  veut  dire,  que  cette  question  metaphysi* 
que  ne  m' occupe  pas.« 

P . . . i fand  sidi  mit  dieser  positivistischen  Antwort  ab,  Aber  be- 
friedigt  hat  sie  ihn  sdiwerlidi,  Der  Kampf  gegen  das  Konigtum  war 
in  der  republikanisdien  Schweiz  selbst  nur  Metaphysik,  eine  soziale 
Volksbewegung  von  tiefgehender  Bedeutung  gab  es  im  Tessin  nicht, 
so  war  in  diesem  katholisdien  Kanton,  wo  die  Parteiganger  des 


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Eduard  Bern  fee  in  • VSffier  zu  Hause 

Klerus  In  der  Tat  das  Heft  In  der  Hand  hatten,  der  Kampf  ge gen 
die  Kirche  fur  den  Radikalismus  des  Mannes  der  einzige  reale 
Kampf.  An  Anlafi  zu  scharfer  Kritik  der  klerikalen  Machthaber  hat 
es  nun  sicherlich  nicht  gefehlt.  Das  renommistische  Zurschautragen 
eines  ohnehin  ziemlich  oberflachlidien  Atheismus  und  Materiallsmus 
war  indes  zuletzt  geeignet,  die  Volkselemente,  auf  die  es  ankam, 
dem  Klerus  zu  entfremden. 

Ganz  anders  afs  der  brave  P . . . i fQhrte  sidi  ein  italieniscber 
Anarchist  auf,  der  damals  unfreiwillig  in  Lugano  sein  Heim  hatte.  Da 
er  hoffentlich  noth  unter  den  Lebenden  weilt,  wird  man  mir  gestatten, 
seiner  hier  nur  unter  einem  Pseudonym  zu  gedenken.  Filippe  Mar- 
zottl,  wie  wir  Ihn  nennen  wollen,  war  keine  so  auffallige  Ersdiei- 
nung  wie  P...I,  aber  gleichfalls  von  hoher  Statur  und  schon  g e- 
schnittenen  Gesiditszugen,  und  da  er  junger  und  schlanker  war  als 
jener,  lieD  er,  obwohl  nur  ein  einfadier  Friseurgehilfe,  den  burger- 
lichen  Politiker  an  Eieganz  der  Bewegungen  weit  hinter  sidi.  Dabel 
war  an  ihm  nichts  Erkunsteltes,  sein  Auftreten  so  ungesucht  und 
bescheiden,  wie  nur  moglich,  Als  sehr  hubsch,  wenn  auch  nidit  ge- 
rade  als  eine  blendende  Schonheit,  konnte  audi  seine  Frau  Marietta 
gelten,  von  der  er  zwei  Kinder  im  Alter  von  7 und  5 Jahren  hatte. 
Das  Ehepaar  lebte  in  proletarischen  Verhaltnissen  und  erhohte  das 
Einkommen  aus  dem  sehr  mafiigen  Arbeitslohn  des  Mannes  unter 
anderem  durch  Abvermieten  eines  Zimmers.  Bei  ihnen  hatten,  bevor 
ich  nach  Lugano  kam,  zeitweise  die  damals  durch  ihren  ProzeB  wegen 
des  Attentats  auf  den  Polizeichef  Trepoff  zu  europaisdier  Beruhmt- 
heit  gelangte  russische  Sozialistin  Vera  Sassulitsch  und  deren  nur 
erst  in  engeren  Kreisen  russischer,  franzosischer  und  italieniscber  So- 
zialisten  bekannt  gewordene  hochbegabte  Landsmannin  Anna  Kuli- 
schoff  gewohnt. 

So  ruhig  Filippo  Marzotti  fur  gewohnlicfa  in  seinem  Benehmen 
war,  so  lebhaft  war  sein  politisches  Empfinden.  Er  war  dem  Anar- 
chismus  mit  Leib  und  Seele  ergeben,  wobei  man  jedoch  nicht  ver- 
gessen  darf,  dafl  der  Anarchismus,  oder  besser:  was  sidi  so  nannte, 
in  Italien  die  urwuchsige  Form  des  Sozialismus  war  und  in  den 
ganzen  Qberlieferungen  des  Volkes  wurzelte.  Die  anardiistisdie  Be- 
wegung  war  indes  nach  dem  MiBglOdcen  verschiedener  Aufstands- 


Eduard  Bernftein  * Voffier  zu  House 


175 


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versuche  schon  in  das  Stadium  einer  Krise  eingetreten,  die  ihr  schwere 
Verluste  zufugen  sollte. 

Fragte  man  in  der  zweiten  Halfte  der  siebziger  Jahre  nach  den 
hervorragendsten  Verfechtem  des  Anarchismus  in  Italien,  so  konnte 
man  sicher  sein,  an  erster  Stelle  die  Namen  Andrea  Costa,  Carlo 
Cafiero  und  Enrico  Malatesta  zu  horen.  Nur  der  Letztgenannte  ist 
noch  am  Leben  und  halt  auch  wohl  noch  immer  zur  alten  Fahne. 
Cafiero,  der  nach  einem  hochst  opferreichen  Leben  in  geistiger  Um» 
nachtung  gestorben  ist,  hat,  bevor  er  in  Wahnsinn  verfiel,  am  Anar- 
chismus selbst  Kritik  geiibt,  ohne  indes  einer  anderen  Bewegung 
als  Propagandist  sich  zuzuwenden.  Anders  Andrea  Costa.  Er  kehrte  urn 
das  Jahr  1879  der  anarchistischen  Bewegung  den  Rucken,  erklarte  sich 
fur  die  sozialdemokratische  Politik  der  Beteiligung  an  Wahlen,  Ein* 
tritt  in  Parlamente  usw.  und  hat  spater  sowohl  als  Burgermeister 
seiner  Vaterstadt  Imola  wie  als  Mitglied  des  italienisdien  Parlaments 
lange  Jahre  im  Vordergrund  des  offentlichen  Lebens  in  Italien  ge* 
standen,  Ehe  sich  die  politische  Wandlung  in  ihm  vollzog,  war  er 
mit  der  obengenannten  russischen  Sozialistin  Anna  KulischofF  eine 
freie  Ehe  eingegangen,  und  der  Einflub  dieser  geistig  bedeutenden 
und  mit  der  Literatur  des  deutsdhen  Sozialismus  wohlvertrauten 
Frau  soli  nicht  wenig  dazu  beigetragen  haben,  dab  aus  dem  toll- 
kuhnen  Anarchisten  Costa  ein  umsichtiger  sozialistischer  Politiker 
wurde.  Jedenfalls  schob  unser  guter  Marzotti  die  Abkehrung  Costas 
vom  Anarchismus  ganz  auf  Rechnung  der  Frau  KulischofF.  Als  ihn 
die  Kunde  zuerst  erreichte,  dab  Costa  fiir  die  anarchistische  Sache 
verloren  sei,  streckte  er  erregt  die  Hande  nach  oben  und  rief  ein 
uber  das  andere  Mai  fast  verzweifelnd  aus:  »Anna,  Anna,  Anna!* 

Etliche  Jahre  spater  sollte  indes  auch  die  Stunde  seiner  Bekehrung 
schlagen.  Schon  als  er  im  Jahre  1880  auf  einige  Tage  nach  Zurich 
kam,  wohin  wir  mittlerweile  iibersiedelt  waren,  gab  er  mir  im  Ge- 
sprach  zu,  da0  an  cinen  unvermittelten  Obergang  von  der  kapitali- 
stisch-burgerlichen  zu  einer  anarchistisch-kommunistischen  Gesellschaft 
nicht  zu  denken  sei,  und  dab  die  tlbergangsepoche  wahrscheinlich 
Generationen  beanspruchen  werde.  Von  dieser  Auffassung  bis  zum 
Abfinden  mit  Grundgedanken  des  sozialdemokratischen  Programms 
war  aber  kein  sehr  weiter  Schritt. 


176 


Eduard  Bern  fie  in  • Vdfker  zu  House 


V/4 


Bei  Gelegenheit  des  vorerwahnten  Besuchs  machte  midi  Marzotd 
mit  eincr  ihn  und  wahrscheinlidi  audi  andcrc  seiner  Landsleute  be- 
herrsdicnden  Leidensdiaft  bekannt,  von  der  idi  bis  dahin  nodi  nie 
gehort  hatte.  Wir  gingen  an  einem  Dienstagvormittag  durch  die  Bahn- 
hofstrafie,  wo  gerade  Wochenmarkt  abgehalten  wurde.  An  den  Ran- 
dern  des  Burgersteigs  hielten  Handler  ihre  aufgeschiditeten  Waren 
feil.  Unsere  Unterhaitung  war  bis  dahin  sehr  lebhaft  gewesen,  jetzt 
aber  wurde  sie  dadurdi  immer  matter,  dal)  Marzotti  meine  Be- 
merkungen  fast  unbeantwortet  lief),  was  naturlidi  audi  meinen  Rede- 
flul)  dampfte.  Sie  drohte  vollig  einzuschlafen,  als  mein  Begleiter  plotz- 
lidi  zu  mir  sagte:  >Sie  mussen  entsdiuldigen,  wenn  idi  die  letzte  Zeit 
etwas  zerstreut  war,  aber  meine  Aufmerksamkeit  wurde  durdi  einen 
Anblick  abgelenkt,  dessen  Zauber  idi  midi  nidit  entziehen  konnte.« 

»Und  darf  man  wissen,  weldies  dieser  Anblick  war?<  fragte  idi. 

»0  ja,«  antwortete  er,  »nur  durfen  Sie  nidit  ladien.e 

Und  er  entwickelte  mir,  daft,  was  seinen  Blick  gefangen  genommen 
hatte,  die  Bundel  — Knoblaudi  gewesen  seien,  weldie  fast  nirgends 
bei  den  ausgestellten  Waren  der  Gemuse-  und  der  GewOrzhandler 
fehlten.  Fiir  den  Genul)  von  Knoblaudi  habe  er  eine  sdiier  unbe- 
zahmbare  Leidensdiaft.  Sie  sei  so  grol),  dal)  er  in  jungeren  jahren 
manchmal  so  lange  Knoblaudi  gegessen  habe,  bis  sein  Gesidit  uber 
und  uber  ergluht  und  er  selbst  wie  berausdit  gewesen  sei, 

Zwei  italienisdie  Sozialisten  kamen  wahrend  des  Winters  1877/78 
aus  Italien  selbst  zu  kurzem  Besudh  nadi  Lugano.  Professor  Os- 
valdo  Gnocchi-Viani,  der  damalige  Redakteur  des  Mailander 
sozialistisdien  Blattes  >La  Plebe«,  machte  auf  der  Hodizeitsreise  mit 
seiner  jungen  Frau  in  Lugano  zum  erstenmal  halt,  und  idi  lemte 
in  dem  kleinen,  fein  gebauten  Mann  einen  ruhigen,  sehr  objektiv 
urteilenden  Denker  kennen.  Von  ganz  anderem  Kaliber  war  der 
andere  Besucher,  Paolo  Valera,  der  von  Varenna  her  als  Aus- 
flugler  nadi  Lugano  kam.  Ein  lebhafter,  bluhender  junger  Mann, 
dem  man  es  anmerkte,  dal)  fiir  ihn  der  Kampf  Lebenselement  war. 
Als  idi  in  den  neunziger  Jahren  meine  Zelte  in  London  aufgesdilagen 
hatte,  traf  idi  dort  Valera  wieder,  der  mittlerweile  Korrespondent 


eines  groDen  Mailander  Blattes 


idi  glaube  des  >Secoloc 


ge- 


worden  war.  Wir  trafen  einander  wiederholt  bei  einem  gemeinsamen 


ft 


Eduard  Bemfteitt  • Voder  zu  House 


177 


Freund,  und  da  fiel  mir  auf,  wie  stark  Valeras  Urteil  von  Stim- 
mungen  beherrsdht  war.  Ziemlich  um  dieselbe  Zeit,  wo  ich  von 
London  fortging,  kehrte  audi  er  nach  Itaiien  zuruck,  wo  er  in  Mai* 
land  das  Blatt  »La  Fol(a«  (Die  Menge)  grundete,  das,  glaube  ich, 
beute  nodi  besteht.  Sein  mandhmal  unbandiger  Radikalismus  bracbte 
ihn  des  Ofteren  in  Konflikt  mit  den  leitenden  Vertretern  der  Mai- 
lander  Sozialdemokratie  und  trug  seinem  Blatt  den  mit  Umstellung 
der  Buchstaben  leidit  zu  bildenden  bosen  Spottnamen  »I1  Follo«  ein. 

Beide,  Gnocchi-Viani  und  Valera,  sind  mir  in  Lugano  durch 
Benoit  Malon  vorgestellt  worden,  den  sie  dort  aufgesudit  hatten. 
Und  damit  komme  ich  zu  demjenigen  auslandischen  Sozialisten,  der 
im  Winter  1878/1879  vor  alien  anderen  unseren  Umgang  bildete, 
und  an  den  sidi  audi  das  groBere  allgemeine  Interesse  knGpft. 

Zunachst  einige  Worte  fiber  die  Person  des  Mannes.  Benoit  Malon, 
lange  Jahre  als  Verfasser  einer  umfangreichen  Geschichte  des  Sozialis- 
mus  und  versdiiedener  sozialistisdier  und  soziahethisdier  Schriften 
wie  als  Grunder  und  Herausgeber  der  *Revue  Socialistec  einer  der 
geaditetsten  Vertreter  des  zeitgenossischen  Sozialismus  in  Frankreicb 
— er  hat  unter  anderem  viel  dazu  beigetragen,  Jaures  fur  die  so* 
zialistisdie  Partei  zu  gewinnen  — gehort  zur  Kategorie  der  erfolg* 
reidien  Autodidakten.  In  der  Nahe  von  Lyon  geboren  und  als 
edites  Proletarierkind  aufgewadisen,  kam  er  gegen  Ende  des  Kaiser* 
reidis  nach  Paris  und  schloB  sich  dort  den  Organisationen  der  Inter* 
nationalen  Arbeiter*Association  an.  Er  war  einer  der  Mitangeklagten 
in  dem  groBen  ProzeB  gegen  Mitglieder  der  Internationale,  der  An* 
fang  1870  sich  abspielte,  und  saB  mit  seinen  Mitverurteilten  im  Ge* 
fangnis  von  St.  Pelagie,  als  der  deutsch-franzosische  Krieg  ausbrach. 
Der  Sturz  des  Kaiserreichs  nach  Sedan  brachte  ihm  die  Freiheit, 
Im  belagerten  Paris  betatigte  er  sich  bei  der  Organisation  der  Ver* 
teidigung  und  ward  Beisitzer  in  der  Burgermeisterei  des  Stadtviertels 
Les  Batignolies  im  nordwestlichen  Paris.  Bei  den  Wahlen  zur  Na* 
tionalversammlung  Anfang  1871  ward  er  zu  einem  der  Abgeord* 
neten  fur  Paris  gewahlt,  trat  aber  mit  Rochefort  und  anderen  aus 
der  »Kammer  der  Landjunker«  wieder  aus,  als  diese  in  die  Ab* 
tretung  von  ElsaB*Lothringen  einwilligte.  Trotzdem  gehorte  er  mit  den 
Theiss,  den  Varlin  usw,  zu  denjenigen  Vertrauensmannem  der  Pa* 


178 


Eduard  Bemfiein  ■ Vofter  zu  House 


riser  Arbeiter,  die  im  Marz  1871  alles  versuchten,  urn  es  zwisdien 
Paris  und  der  Regierung  in  Versailles  nidit  zum  aufiersten  kommen 
zu  lassen.  Als  diese  Bemuhungen  gescbeitert  waren  und  in  Paris 
die  Kommune  proklamiert  wurde,  ward  er  zum  Mitglied  gewahlt, 
gehorte  in  ihrem  Rat  zur  sozialdemokratisdien  Minderheit  und  war 
bei  der  Niedermetzelung  der  Kommune  in  den  blutigen  Maitagen 
von  1871  Verteidiger  einer  der  letzten  Barrikaden  von  Paris.  Dann 
fanden  sidi  Freunde,  die  ihn  verbargen,  er  entkam  nadi  Genf  und 
schlofi  sidi  dort  beim  Konflikt  der  westsdiweizerischen  Autonomisten 
mit  dem  Londoner  Generalrat  der  Internationale  jenen  an.  Er  ward 
Mitglied  des  von  Michael  Bakunin  gegrOndeten  Bundes  der  Sozia- 
listischen  Demokratie  und  einer  der  Vertrauten  des  genannten  russi- 
sdien  Revolutionars,  zog  sidi  aber  einige  Jahre  spater  von  der  ba- 
kunistiscben  Bewegung  zuriidc,  lebte  langere  Zeit  an  versdiiedenen 
Orten  in  Italien  und  siedelte  sdiliefilich  nadi  dem  Tessin  fiber,  wo 
er  in  dem  Dorf  Castagnola  bei  Lugano  sein  sehr  besdieidenes  Heim 
aufschlug. 

Sdion  in  Paris  hatte  Maion  viel  an  seiner  geistigen  Ausbildung 
gearbeitet,  im  Exil  erfuhr  er  durdi  gebildete  Frauen,  die  sich  fur 
ihn  interessierten,  allerhand  Anregung  und  Forderung  in  diesem  Be- 
streben  und  gait  bald  in  Kreisen  seiner  Parteifreunde  als  ein  haiber 
Gelehrter.  Eine  Reihe  von  Jahren  lebte  er  mit  der  unter  dem  Namen 
Andre  Leo  bekannten  sozialistisdien  Romandiditerin  zusammen,  die 
Mitarbeiterin  angesehener  Pariser  Zeitungen  war,  und  blieb  audi 
mit  ihr  in  sdiriftstellerischem  Briefwechsel,  als  sie  das  personlidie 
Verhaltnis  gelost  hatten  und  er  in  einer  gebildeten  Russin,  Katerina 
Katkoff,  eine  treue  Lebensgefahrtin  gefunden  hatte,  die  ihm  eine 
ebenso  fursorgende  Hausfrau  wie  unermfidliche  Helferin  bei  seinen 
literarisdien  Arbeiten  wurde.  Der  Bund  mit  dieser  ausgezeidineten 
Frau  ward  fur  Maion  in  literarisdier  Hinsidit  nodi  dadurch  ganz 
besonders  vorteiihaft,  daB  sie  der  deutschen  Spradie  ziemlidi  gut 
maditig  war  und  ihn  mit  Erzeugnissen  der  deutschen  Literatur  be- 
kannt  madite,  die  sonst  seiner  Kenntnis  entgangen  waren.  An  ihrer 
Hand  hat  er  ubrigens  eine  Zeitlang  audi  selbst  deutsdi  getrieben. 

Merkwiirdig,  Benoit  Maion  hatte  in  seiner  Ersdieinung  gar  nidhts 
Bestediendes.  Bau  und  Bewegungen  waren  eher  bauerisdi,  und  seine 


Ecfuarcf  Bemftein  • Voflter  zu  House 


7 r r r 7 4 77  r 77  7 7 r j 


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77-77 


Physiognomic  war  durchaus  neutral.  Nidits  verriet  an  ihm  den  Sud- 
franzosen,  Der  mittelgrofie,  etwas  breit  gebaute  Mann  mit  seinem 
bedachtigen  Wesen  konnte  ebenso  gut  aus  irgendeinem  Teile  Deutsch- 
lands  stammen.  Breit  geformt  war  auch  sein  Gesidit  und  geradezu 
unschon  seine  ziemlich  dicke  Nase.  Und  doch  hatte  er  von  jeher 
Gluck  bei  Frauen,  hat  er  Frauen  zu  fesseln  gewufit,  denen  es  nidit 
an  andern  Verehrern  fehlte.  Diese  Erfolge  trugen  ihm  sogar  von 
einer  Seite  den  Ruf  eines  coureur  de  femmes  ein,  der  er  nun  sidierlich 
nicht  war.  Die  Frauen,  mit  denen  er  in  ein  intimes  Verhaltnis  trat, 
waren  gebildete  Sozialistinnen  und  ihm  an  Jahren  iiberlegen.  Was 
ihnen  an  ihm  liebenswert  sdiien,  war  offenbar  das  ernste  Streben 
dieses  Proletariers  nadi  Wissen  und  die  Gemutstiefe,  mit  der  er 
sich  der  sozialistisdien  Bewegung  hingegeben  hatte.  Dem  Sozia- 
listen  Malon  gait  insbesondere  die  aufopfernde  Zuneigung  Katerina 
Katkoffs. 

Um  1878  hatte  Malon  eine  Halbmonatssdmft  *Le  Socialisme 


Progressif«  ins  Leben  gerufen.  In  ihr  veroffentlidite  er  seine  Ge- 
sdhidite  des  Sozialismus  in  ihrer  ersten,  nodi  sehr  skizzenhaften  Ge- 
stalt. Bei  der  geringen  Kraft  der  eben  erst  wieder  erwachenden 
sozialistisdien  Bewegung  Frankreidis  war  an  einem  nennenswerten 
finanziellen  Ertrag  des  Unternehmens  nicht  zu  denken.  Seinen* 
Lebensunterhalt  gewann  unser  Freund  vielmehr  als  Buchhalter  und 
Korrespondent  eines  wohlhabenden  franzosischen  Seidenzuditers, 
Mr.  d'Arces,  der  in  Castagnola  eine  herrlich  am  See  gelegene  Villa 
bewohnte.  Dies  die  Ursadhe,  weshalb  Malon  selbst  in  dem  ge- 
nannten  Dorfe  Wohnung  genommen  hatte.  Und  da  dem  sehr  ner- 
vosen,  an  hochgradiger  Sdilaflosigkeit  leidenden  Karl  Hochberg  das 
stille  Lugano  nodi  immer  nidit  genug  Sidierheit  gegen  stdrende  Ge= 
rausche  bot,  sudite  und  fand  Malon  audi  fur  uns  ein  Quartier  in 
Castagnola.  Es  war  ein  zwisdien  dem  oberen  und  unteren  Teil  des 
nur  erst  wenig  bebauten  Dorfes  still  gelegenes  Hauschen,  Casa  in 
Valle  genannt.  Vom  Ende  Oktober  1878  bis  Anfang  April  1879 


haben  Hodiberg  und  ich 


als  die  einzigen  mensdilichen  Insassen  es 


bewohnt,  so  dafi,  streng  genommen,  unser  Winter  in  Lugano  ein 


Winter  in  Castagnola  war. 


Vom  Dorf  Cassarate  fuhrt  ein  ziemlich  ebener  Weg  nach  dem 


180  Eduard  Bemfiein  • Vdfter  zu  House 

untcren  Teil  von  Castagnola,  der  aus  einer  maBigen  Anzahl  am 
See  gelegener  Villen  und  einer  an  deren  Rfidcseite  sidi  hinziehenden 
sehr  schmalen,  im  Sommer  und  Winter  von  keinem  Sonnenstrahl 
besdiienenen  DorfstraBe  bestand.  Ein  anderer,  von  Cassarate  aus* 
gehender  Weg  fuhrt  in  erst  maBiger  und  dann  starkerer  Steigung 
und  mit  versthiedenen  Windungen  aufwarts  zum  Dorfe  Bre  und 
dem  Gipfel  des  gleidinamigen  Berges.  In  etwa  zweihundert  Meter 
fiber  dem  See  gelegenen  Hohe  zweigt  sidi  von  ihm  ein  Weg  zur 
Kirdie  des  Fledcens  ab.  Dort  standen  rechts  und  links  von  ihm  je 
ein  einstodciges,  jeden  Ausputzes  entbehrendes  Hausdien.  Das  eine 
war  von  einer  Arbeiterfamilie  bewohnt,  das  andere  war  unsere  Casa 
in  Valle.  Es  gehorte  der  Sch wester  des  Dorfpriesters,  einer  etwa 
funfzigjahrigen  unverheirateten  Matrone,  Prudenza  Prati  benannt. 
Von  ihr,  die  beim  Bruder  im  Pfarrhaus  neben  der  Kirdie  wohnte, 
oder  ihrer  hodibetagten  Magd  empfingen  wir  morgens,  mittags  und 
abends  die  unumganglidie  Bedienung.  Sonst  hatten  wir  bei  Tag  und 
bei  Nadit  keinen  menschlidien  Hausgenossen,  nur  in  einem  unter 
dem  eigentlidien  ErdgesdioB  zu  ebener  Erde  gelegenen  dunklen  Stall 
fuhrte  ein  Muttersdiaf,  das  eines  Tages  einem  Lamm  ein  sehr  kurzes 
Leben  gab,  ein  nodi  einsameres  Dasein.  Zum  Gluck  lag  der  Stall 
gerade  unter  der  Kuche,  sonst  hatte  das  Bfoken  des  Sdiafes  dem 
armen  Hodiberg  audi  dieses  Wohnquartier  verleidet. 

Viel  verloren  hatte  er  zwar  an  ihm  nidit.  Das  Haus  war  so  ein* 
fadi  wie  nur  moglidi  hergerichtet  und  das  Mobiliar  auf  das  aller- 
notwendigste  beschrankt.  Eine  geraumige  Kuche  auf  der  einen  Seite 
und  ein  mafiig  grofies  Wohnzimmer  auf  der  anderen  Seite  des  Ein- 
gangs  bildeten  die  unteren,  zwei  oder  drei  Sdilafzimmer  die  oberen 
Raume.  Nur  das  Wohnzimmer  unten  hatte  einen  heizbaren  Kamin, 
der  obendrein  so  wenig  ausgebaut  war,  dafi  man  wirklich  die  Obung 
unserer  Prudenza  und  ihrer  Magd  haben  mufite,  um  mit  dem  uns 
zur  Verfugung  stehenden  Heizmaterial  — nur  ungenfigend  getrocknetes 
oder  wieder  feucht  gewordenes  Reisigholz  — ein  Feuer  in  Gang  zu 
bringen.  So  hatte  denn  namentlich  Hodiberg  viel  unter  dem  Mangel 
an  auBerer  Warme  zu  leiden,  die  er  um  so  mehr  braudite,  als  der 
Winter  ganz  ausnahmsweise  kalt,  von  innerer  Heizung  durch  Nah* 
rungszunahme  aber  bei  ihm  so  gut  wie  keine  Rede  war.  Wie 


181 


Eduard  Bemfiein  • Vofcer  zu  Ha  use 

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er,  der  als  der  alteste  Sohn  eines  sehr  wohlhabenden  Frankfurter 
Kaufmanns  mitten  im  burgerlichen  Komfort  aufgewachsen  war,  und 
der  uber  die  Mittel  verfugte,  sein  Leben  ganz  nach  seinen  Wunschen 
einzurichten,  sich  monatelang  mit  diesem  Zustand  abfand,  kann  nur 
verstehen,  wer  den  seltenen  Charakter  und  den  Lebenslauf  dieses 
eigenartigen  Mannes  kennt. 

Karl  Hochberg  hatte  die  Mutter  sehr  fruh  und  auch  den  Vater  in 
sehr  jungen  jahren  verloren,  Dieser  war  ein  Mann  von  weitem, 
geistigen  Horizon t gewesen,  in  dessen  an  der  Bodcenheimer  Land- 
straRe  gelegenen  Villa  Gelehrte  aller  Art,  darunter  auch  der  beruhmte 
Naturforscher  und  Nordpolreisende  Payer,  verkehrten.  Als  Frank- 
furt a.  M.  1866  zwangsweise  preuRisch  geworden  war  — wahrend 
der  Besetzung  hatte  der  befehlshabende  General  Manteuffel  in  der 
Hdchbergsdien  Villa  gewohnt  — erwarb  der  Vater  Hodibergs,  wie 
das  damals  viele  Frankfurter  Demokraten  taten,  fur  seine  Sohne  das 
Scfaweizer  Burgerredit,  um  ihnen  das  Dienen  im  preufiisdien  Heer  zu 
ersparen.  Die  preuBisdie  Regierung  beantwortete  dieses  Auskunfts- 
mittel  damit,  daR  sie  die  jugendlichen  Neuschweizer  kurzerhand  aus 
PreuRen  auswies.  Um  den  Sohn  in  moglidister  Nahe  zu  haben,  gab 
der  Vater  Hodibergs  diesen  in  Darmstadt  in  Pension,  und  zwar, 
was  fur  die  Denkart  des  Mannes  bezeichnend  ist,  bei  dem  als  Demokrat 
und  philosophischen  Materialist  bekannten  Dr.  Ludwig  Buchner,  dem 
Verfasser  von  » Kraft  und  Stoff«  und  ahnlidien  Schriften.  Unter  dessen 
geistigen  Einflufi  verlebte  Karl  Hochberg  die  letzten  Jahre  seines  Gym- 
nasiastenlebens  und  forderte  in  seinen  Aufsatzen  durch  den  Radikalis- 
mus  der  darin  entwickelten  Ansichten  nicht  selten  den  Widerspruch 
seiner  Lehrer  heraus,  wenngleidi  er  fur  Aufbau  und  sachlichen  Inhalt 
gewohnlich  die  Note  1 erhielt.  Auch  sein  Abiturientenzeugnis  fiel 
glanzend  aus,  seinem  FleiR  und  seiner  Begabung  wurde  die  groRte 
Anerkennung  ausgesprochen.  Mittlerweile  hatte  Hochberg  auch  den 
Vater  verloren  und  war  nun  als  Student  vollig  sein  freier  Herr.  Zu 
seinem  Unheil,  denn  ohne  Rudcsicht  auf  seine  ohnehin  zarte  Gesund- 
heit,  zerruttete  er  diese  durch  Oberarbeit  und  Unterernahrung.  Er 
hatte  sich  als  Hauptstudium  Philosophic  gewahlt,  beschrankre  aber 
sein  Arbeiten  nicht  auf  die  speziell  zu  dieser  Disziplin  gehdrenden 
Wissensgebiete,  sondern  dehnte  es  auch  auf  alle  moglichen  anderen 


182  Eduard  Bern ft  ein  • Vdfker  zu  House 


Disziplinen  aus,  weil  fur  ihn  die  Philosophic  zugleich  die  Soziologie 
in  ihren  versdiiedenen  Verzweigungen  umfaBte.  Wahrend  er  sich  unter 
dem  Einflufl  Friedrich  Albert  Langes  und  anderer  in  der  Philosophic 
vom  Materialismus  ab«  und  einem  erkenntnistheoretiscb  fundierten 
Idealismus  zuwandte,  ging  er  in  der  Soziologie  uber  Buchner  und 
Genossen  hinweg  zum  entschiedenen  Sozialismus  uber,  wobei  ihn 
allerdings  in  erster  Linie  ethische  Momente  bestimmten.  Ethisdie  und 
naturphilosophisdie  GrOnde  fGhrten  ihn  zugleich  zum  Vegetarianismus, 
der  ihm  um  so  verhangnisvoller  wurde,  als  seine  durch  Oberarbeit 
verursadite  Nervensdiwache  ihn  audi  jeder  kraftigen  vegetarisdien 
Nahrung  sich  enthalten  lieB,  weil  sie  ihm,  wie  er  behauptete,  Magen- 
drucken  verursadite.  Es  ist  unglaublich,  wie  wenig  Nahrung  er  in 
den  Monaten  unseres  Zusammenlebens  zu  sich  nahm.  Alles  Zureden 
und  alle  Kniife,  die  ich  anwandte,  um  ihn  von  dieser  verderblichen 
Lebensweise  abzubringen,  schlugen  fehl,  bis  ich  schliefilidi  im  Fruh- 
jahr  1879  durch  einen  Staatsstreich  eine  nicht  mehr  aufzusdiiebende 
Veranderung  herbeifuhrte.  Einstweilen  aber  nahmen  als  Folge  der 
von  Hochberg  sich  selbst  auferlegten  Hungerkur  — denn  so  kann  man 
es  nennen  — seine  Korperkrafte  und  mit  ihnen  seine  Widerstands- 
kraft  gegen  Kalte  immei  mehr  ab. 

So  emst  die  Sadie  war,  so  sorgten  die  Umstande  dodi  auch  fur 
eine  gewisse  heitere  Beigabe.  Es  war  unmoglidi,  unserer  Wirtin  Ver- 
standnis  dafur  beizubringen,  was  es  mit  dem  Vegetarianismus  Hodh- 
bergs  auf  sich  hatte.  Dafi  jemand  sich  den  GenuB  des  Fleisches  von 
VierfuBlern  und  Vogeln  untersagte,  konnte  die  fromme  Katholikin 
verstehen,  obwohl  eine  so  strenge  Enthaltung  nicht  einmal  mehr  fur 
die  Fastenzeit  den  Glaubigen  von  der  Kirche  als  unbedingte  Ver* 
pflichtung  auferlegt  wurde.  DaB  aber  die  Entsagung  sich  audi  auf  den 
Genufi  von  Fischen  erstrecken  sollte,  wollte  ihr  absolut  nicht  in  den 
Kopf.  Immer  wieder,  wenn  wir  uns  uber  die  geringe  Emahrung 
Hochbergs  unterhielten,  kam  sie  darauf  zuruck,  ob  sie  dem  >Signor 
Carlo*  nicht  wenigstens  etwas  Fisch  bringen  durfe.  Und  wenn  ich 
dann  antwortete,  das  ginge  absolut  nicht,  Hochberg  esse  grundsatzlich 
audi  nicht  Fisch,  dann  ergriff  die  gute  Prudenza  Prati  ein  Sdiauder 
und  kopfsdiutlelnd  rief  sie  ein  uber  das  andere  Mai:  >0  che  penitenza! 
die  penitenza!*  Dieser  Signor  Carlo,  der  so  sanft  sich  benahm,  muBte 


Eduard  Bern  fie  in  • Vo  flier  zu  Ha  use  183 

nadi  ihrcr  Meinung  wahrsdieinlidi  irgend  ctwas  Entsetzlidies  auf  dem 

Gewissen  haben,  daB  er  cine  soldhe  BuBe  auf  sidi  nahm. 

★ 

Mir  personlidi  war  die  brave  Prudenza  Prati  ubrigens  von  groBem 
Nutzen.  Sie  war  langere  Zeit  die  einzige  Person,  mit  der  ich  ita- 
lienisch  zu  radebrechen  wagte,  sozusagen  meine  unbewuBte  Repeti- 
torin.  Mit  ganz  wenigen  Worten  Italienisdh,  aber  ohne  jede  nahere 
Kenntnis  der  Spradhe,  war  idi  nadi  Lugano  gekommen/  einen  Lebrer 
zu  nehmen,  war  mir  zu  umstandlich,  so  besorgte  ich  mir  einen  Spradi- 
fuhrer  und  eine  Grammatik,  machte  mich  mit  den  Formen  der  Zeit- 
worter  usw.  bekannt,  lemte  jeden  Abend  vor  dem  Auslosdien  des 
Lichts  eine  Anzahl  Vokabeln  auswendig,  und  als  ich  es  auf  150  bis 
200  Worte  gebracht  hatte,  begann  idi  mutig  mit  Frau  Prudenza  linter- 
haltungen  anzuknupfen.  Nadi  und  nadi  kamen  wir  audi  ganz  gut 
dabei  zustande,  dodi  gab  sie  zum  Ungluck  fur  mein  Eindringen  in 
die  italienisdie  Spradie  leider  bei  uns  nur  Gastrollen.  Fur  gewohn- 
lich  sdiickte  sie  uns  die  Speisen  usw,  durdi  die  alte  Magd,  und  mit 
dieser  armen  Person,  die  an  alien  moglicben  Gebresten  des  Alters 
litt,  war  eine  leidlidie  Unterhaltung  unmoglidi. 

Im  Malonsdien  Kreis,  der  unseren  eigentlidien  Verkebr  bildete,  war 
die  vorherrsdiende  Spradie  franzosisdi.  Der  Kreis  bestand  aus  Malon 
und  Frau,  einer  Sdiwester  und  Kusine  der  letzteren  auf  der  einen 
Seite  und  dem  Mr,  d'Arces  und  Frau  und  einigen  zu  deren  Haus- 
halt  gehorenden  Personen  auf  der  anderen  Seite.  In  der  von  Malons 
Chef  bewohnten  Villa  haben  wir  manche  sehr  gesellige  Abende  ver- 
lebt,  wobei  die  Gesellsdhaft  sozial  ebenso  bunt  gemisdit  war,  wie 
national. 

Mr.  d'Arces  hatte  auf  midi  von  Anfang  an  keinen  gunstigen  Ein- 
druck  gemacht,  und  was  ich  in  spateren  Jahren  von  ihm  erfuhr,  redit- 
fertigte  das  Urteil  der  ersten  Stunde.  Der  Mann  war  in  jiingeren 
Jahren  ein  Lebemensdi  von  riditigem  Kaliber  gewesen  und  soil  dann 
sidi  als  ein  recht  rudcsiditsloser  Gesdiaftsmann  gezeigt  haben.  Aber 
in  seinem  Haus  ging  es  gastlidi  und  auch  redit  patriardialisdi  zu  — 
dies  vielleidit  unter  dem  EinfluB  der  Madame  d'Arces,  die  eine  ge- 
borene  Ungarin  war  und  viel  Zutrauliches  in  ihrem  Wesen  hatte. 
Sowohl  ihr  Dienstmaddien  wie  ihre  Kochin  nahmen  fast  immer  an 


184  Eduard  Bern  fit  in  * Vo  f ter  zu  Ha  use 

******************************************  * ***************************************************************** m r rr  ere  **********  r nr  rmrr  fw  r mvwMw 

unsercn  Abenden  teil,  und  haufig  gcnug  kamcn  auch  noch  zwei  Ar- 
bciterinnen  hinzu,  die  Mr.  d'Arc^s  in  seincm  Hause  mit  dem  Ausmustern 
der  Eier  der  Seidenraupen  beschaftigte.  Eine  der  Arbeiterinnen  war 
einige  Jahre  in  Lyon  in  Dienst  gewesen  und  sprach  daher  franzosisch, 
ebenso  die  aus  der  Champagne  geburtige  Kochin,  die  wegen  ihrer 
stattlidien  Figur  und  ihres  fast  eleganten  Benehmens  in  unserem  Kreis 
den  Beinamen  La  Marquise  erhalten  hatte.  Groft,  aber  nicht  uber- 

srark  gebaut,  wuftte  diese  einfache  Frau  in  der  Tat  in  jeder 
Lage  eine  so  ruhig  vomehme  Haltung  an  den  Tag  zu  legen,  daft, 
wenn  z.  B.  die  kleine,  unscheinbare  Madame  d'Arces  mit  ihr  ein- 
kaufen  ging,  der  ihnen  Begegnende  unbedingt  sie  fur  die  Dame  und 
jene  fur  deren  Begleiterin  genommen  hatte. 

Alte  Rouds  sind  in  der  Regel  gewandte  Gesellschafter,  und  Mr. 
d'Arces  hatte  kein  Franzose  sein  mussen,  wenn  er  es  nidit  in  hohem 
Grade  verstanden  hatte,  den  liebenswurdigen  Wirt  zu  machen.  So 
gab  es  viel  Stherz  bei  unseren  Zusammenkunften.  Ganz  besonders 
geschickt  zog  der  Biedermann  sich  aus  der  Affare  und  wuftte,  um 
mit  Schiller  zu  reden,  als  guter  Franke  jedem  etwas  Zierliches  zu 
sagen,  als  wir  bei  Beginn  des  Karnevals  1879  ihn  auf  Anstiften  einer 
unserer  Damen  mit  einer  kleinen  Maskerade  Oberfielen. 

Man  mufl  indes  nicht  denken,  daft  unser  Leben  in  Castagnola 
nur  aus  Unterhaltung  und  Geselligkeit  bestand.  Die  Abende  in  der 
Villa  Riva  waren  im  Gegenteil  nur  Oasen  in  einem  Dasein,  das 
unter  verschiedenen  Gesidhtspunkten  des  Truben  genug  bot,  ganz 
(iberwiegend  von  emsten  Gedanken  und  ernster  Arbeit  erfullt  war. 

Daruber  in  einem  andern  Zusammenhang.  Hier  noch  einiges,  was 
ins  Gebiet  der  Oasen  gehort. 

Eines  Tages  erfuhr  ich  von  Prudenza  Prati,  daft  fm  Dorf  Mario- 
nettenspieler  abends  Theatervorstellungen  gaben.  Sofort  besdilofi  ich, 
sie  aufzusuchen.  Erstens  aus  Interesse  am  Volksleben  und  zweitens, 
weil  man  als  Zuhorer  vielleicht  auch  sprachlich  Nutzen  ziehen  konnte. 
Ich  lieft  mir  das  Haus  beschreiben,  wo  an  dem  Tage  gespielt  wurde, 
und  tappte  abends  durch  das  unerleuchtete  Dorf  meinen  Weg  zum 
»Theater«.  Dieses  bestand  aus  einer,  noch  nicht  einen  Meter  im  Ge» 
viert  messenden  Puppenbuhne,  die  in  der  Wohnstube  eines  einfadien 
Bauernhauses  aufgestellt  war/  die  Vorstellung  selbst  fand  beim  Schein 


Eduard  Bemjhtn  • Vdfter  zu  Ha  us* 


185 


****** 


eincr  mafiig  grofien  Petroleumlampe  statt.  Programm:  una  traggedia, 
gefolgt  von  una  farsa,  an  die  sidi  Tanz  sdilieflen  wfirde.  Unter  dem 
Gesiditspunkt  des  Lembegierigen  kam  ich  trotz  sehr  biliigen  Ein- 
trittspreises  nidit  auf  meine  Kosten.  Von  der  Tragodie  verstand  ich 
berzlich  wenig,  der  Dialog  wurde  for  midi  so  undeutlidi  gesprodien, 
dafl  nur  gewisse  Ausrufe,  wie  »0  traditrice,  tradi trice!*  und  Ahn- 
licbes,  sowie  der  unvermeidlidie  Mord  am  SdiluB  micfa  den  Vorgang 
ahnen  lieflen,  und  die  Posse,  im  Dialekt  gespielt,  ward  mir  audi  nur 


dann  verstandlidi,  wenn  die  komisdie  Person  — Menegino 


irgend 


jemand  durdiprugelte,  was  zur  Erbauung  des  Publikums  alle  Augen- 
biicke  gesdiah.  Zum  Tanz  spielte  ein  Knabe  aus  einer  kieinen  Dreh- 
orgel  auf.  Jeder  Tanz  kostete  10  Centimes,  d.  h.  nidit  for  jeden 
Tanzer,  sondem  for  die  ganze  Runde.  Dabei  bestand  die  Regel, 
dafi  wer  den  Tanz  bezahlte,  jedesmal  for  diesen  damit  das  Monopol 
for  sidi  und  seine  Freunde  erwarb,  in  das  einzubredien  streng  ver- 
pont  war.  Was  mir  eines  Tages  redit  deutlidi,  wenn  audi  mit  an* 
erkennenswertem  Takt  zu  verstehen  gegeben  wurde. 

So  urwudisig  diese  »Vorstellungen  mit  Tanz*  waren,  so  bedeu- 
teten  sie  immerhin  Unterbrediungen  *im  ewigen  Gleidimafi  der  Tage*. 
Audi  durfte  ich  hoffen,  da0  mein  Ohr  sidi  an  die  Ausspradie  des 
Marionettenfahrers  gewohnen  werde.  Ich  ging  also  wiederholt  bin 
und  veranlafite  unsere  Gesellsdiaft,  das  gleidie  zu  tun.  Wer  von 
uns  jung  war  oder  sicb  so  fohlte,  sdiwang  sogar  audi  beim  Tanz 
das  Tanzbein.  Unbekannt  mit  der  vorerwahnten  Regel,  leistete  ich 
mir  dies  ohne  Rdcksidit  darauf,  ob  jemand  von  uns  oder  einer  der 
Dorfbursdien  gerade  den  Tanz  bezahlt  hatte,  forderte  wohl  audi 
hier  und  da  eine  Dorfsdione  auf.  Da  rief,  als  ich  wieder  einmal 
10  Centimes  auf  die  Drehorgel  gelegt,  demonstrativ  eine  Stimme: 
»I  Francesi!*  Und  kein  einziges  Tanzerpaar  stellte  sidi  zum  Tanz 
auf.  Denn  wir  Auslander  hatten  gerade  eine  Pause  gemadit,  die 
Bursdien  vom  Ort  dagegen  tanzten  nicht,  urn  uns  dadurdi  zu  sagen : 
»Jetzt  seid  ihr  an  der  Reibe,  nadiher  miscbt  eucb  nidit  in  unser 
Spiel.*  »Franzosen«  aber  war  in  Hinblick  auf  Malon  und  d'Arcih 
der  Sammelname  for  uns. 

Einer  hoher  stehenden  Auffuhrung  wohnten  wir  etwas  spater  im 
sdhon  am  See  gelegenen  Dorfe  Gandria  bei.  Toditer  der  oberen 

13 


Eduard  Bern  fie  in  * Vofier  zu  House 


186 

asm****** **********************  ********  • ***  ******  —*■****+*++— ******************** 

Zehntausend  des  Ortes  gaben  in  der  Karnevalszeit  eine  Theater- 
vorstellung,  die  ihnen  der  Ortsgeistlidie  einstudiert  hatte.  Audi  da 
ward  — in  einem  speidierartigen  Raum  — erst  ein  emstes  StCck 
und  hinterher  ein  Sdiwank  gegeben,  bei  weldi  lefzterem  es  ohne 
Menegino  und  Arlequino  lustig  genug  zuging.  Der  Priester  erwies 
sich  als  guter  dramatischer  Einpauker.  Die  darstellenden  Madchen 
hatten  hubsdie  Kostume  und  bewegten  sidi  mit  viel  natGrlidier 
Anmut, 

Audi  dem  wirklichen  Theater  in  Lugano  statteten  wir  eines  Tages 
einen  Besudi  ab  und  sahen  von  den  Banken  des  Parterre  aus  einige 
Akte  einer  italienisdien  Dramatisierurg  vcn  Sues  Ewigem  Juden 
mit  an.  Qber  die  mannlichen  Schauspieler  will  idi  sdiweigen.  Aber 
die  Darstellerin  der  Adrienne  de  Cardoville  schien  ihrer  Rolle  ge» 
wadisen  und  verkundete  namentlich  Fouriers  Lebensphilosophie  recht 
ausdrucksvoll. 

In  den  Ddrfern  der  Umgegend  gab  der  Namenstag  des  Orts- 
heiligen  — und  weidier  Ort  hat  in  diesen  Landern  keinen  Schutz- 
heiligen!  — jedesmal  Anlafi  zu  einem  Fest,  verbunden  mit  einer  Art 
Messe.  Einige  davon  besuchten  audi  wir.  Das  sdionste  davon  war 
das  idi  glaube  auf  den  8.  Marz  fallende  Fest  des  heiligen  Provino 
in  dem  am  westlidien  Fufie  des  Monte  Salvadore  gelegenem  Dorfe 
Agno.  Es  erfreut  sidi  grofier  Beliebtheit  und  wird  von  der  ganzen 
Umgegend  stark  besudit.  Fur  Hodiberg  und  die  Familie  Malon  war 
der  Weg  von  Castagnola  zu  weir,  urn  ihn  zu  Fufi  zuruckzulegen, 
und  so  hatte  ich,  als  idi  hinauspilgerte,  einzig  die  eine  franzosisch 
sprechende  Arbeiterin  des  Mr.  d'Arces  und  deren  jiingere  Biuder 
zur  Begleitung.  Als  wir  am  Ort  waren,  bemerkte  idi,  dafi  neben 
verlcckenden  Waren  aller  Art  audi  kunstlicbe  Blumen  feilgeboten 
wurden,  und  daB  fast  alles,  was  jung  war,  soldie  Straufie  trug.  So 
erstand  denn  audi  idi  einen  Sfraufi  und  uberreichte  ibn  meiner  Be- 
gleiterin.  Sie  nabm  ihn  mit  Dank  an,  brachte  mir  aber  bald  darauf 
audi  ein  Straulkhen  und  bestand  darauf,  daB  sie  es  mir  anstecken 
durfe.  Andern  Tags  erfuhr  idi  von  Malon  den  Sinn  des  Vorgangs. 
Das  Blumenspenden  am  Fest  des  San  Provino  hat  eine  bestimmte 
Symbolik.  Lehnt  das  Madchen  den  ihr  vom  Burschen  dargebotenen 
StrauB  ab,  so  heiBt  das:  »Sudi  dir  eine  andre,  idi  will  nidits  vcn 


Eduard  Bern  fie  in  • Vdfker  zu  House  187 

e+e+e+e+s***  ***************  ^+*r0**0^*v++++0m*++*+***vr+++**9+**++v9*M*+vww**m*+*MM*wm+0B+*€*m*m**+**mmme+g*m**+m*miww++9* 

dir  wissen.«  Nimmt  sie  ihn  an  und  macht  sie  dem  Bursdien  ein 
Straufidien  zum  Gegengeschenk,  so  gibt  sie  ihm  damit  zu  verstehen : 
»Icfa  sdiatze  didi  sehr,  aber  mein  Sdiatz  kannst  du  doch  nidit  sein.c 
Nimmt  sie  die  Blumen  aber  einfacb  ohne  Gegengabe  an,  so  erklart 
sie  damit  den  Bursdien  zu  ihrem  Auserwahlten. 

Idi  hatte  es  also  bei  Angiolina  nur  zum  Aditungserfolg  gebradit. 
Bald  erfuhr  idi  audi,  wer  der  Glucklidiere  war.  Wie  nocfa  einige 
andere  weibliche  Personen  unseres  Verkehrs  war  die  arme  Kleine 
damals  bis  fiber  die  Obren  in  Karl  Hodiberg  verliebt.  Dodi  ging  es 
ihr  bei  ihm  nidit  besser  als  mir  bei  ihr.  Audi  er  hatte  einen  Straufi 
von  ihr  lediglidi  mit  einer  symbolisdhen  Gegengabe  beantwortet. 

In  Agno  fiel  mir  wieder  auf,  wie  ruhig  sich  bei  aller  Hingabe  an 
die  dargebotenen  GenOsse  und  Belustigungen  das  Volk  verhielt.  Und 
als  wir  abends  nach  Hause  zogen,  sind  wir  auf  der  recht  belebten 
Landstrafie  nidit  einem  einzigen  Betrunkenen  begegnet.  Ich  selbst  war 
in  frohlidister  Stimmung,  die  selbst  dann  nidit  beeintraditigt  worden 
ware,  wenn  idi  den  Sinn  von  Angiolinas  Blumenspradie  sdion  ver- 
standen  hatte.  Denn,  obwohl  meine  Begleiterin  redit  niedlich  war, 
ware  es  mir  damals  nidit  im  Traum  eingefallen,  mit  einem  jungen 
Maddien  eine  Liebsdiaft  ohne  »emste  Absichtenc  anzuknupfen. 
Meine  Anschauungen  fiber  freie  Liebe  blieben  in  der  Anwendung 
auf  die  eigene  Gegenwart  nur  Theorie.  »Ernste  Absiditenc  zu  haben 
erlaubte  mir  aber  der  Ernst  der  Stunde  nidit.  Im  Kreise  frohlidier 
Mensdien  konnte  idh  ihn  auf  Augenblidte  wegscherzen,  midi  fiber 
ihn  hinwegzusetzen  war  jedoch  eine  Unmoglidhkeit. 

Die  Madit,  die  hiergegen  ihr  Veto  einlegte,  hie0:  Ausnahme- 
gesetz  gegen  die  deutsche  Sozialdemokratie. 


13  Vol. 


Kasimfr  EdsSmid  • Der  Gott 


Kasimir  KdscBnud: 

DER  GOTT 

EINE  NOVELLE 

SEINE  Mutter  verliefi  ihn,  nachdem  sie  ihn  ein  halbes  Jahr  vorher 
geboren  hatte.  Er  schlug  die  festen  Arme  in  die  Luft  und  rief 
zweimal:  »Ma«  — Dann  losdi  sie,  die  ein  grofles  Segelboot  von 
Honoruru  entfernte,  aus  seinem  Gedachtnis.  Seine  franzosische  Gou- 
vemante  nannte  ihn  Jean  Francois  und  lieh  ihm  wenig  Zeit  und 
MOhe.  Seine  drei  ersten  Jahre  volizogen  sich  am  Strand.  Gespielen 
waren  ihm  Natives,  Chinesen  und  Maiaien.  Er  krodi  auf  dem  Baud) 
und  sdirie  aus  gebraunter  Kehle  langgedehnte  Vokale  und  wurde 
ein  gesundes  Kind. 

Nad)  drei  Jahren  kehrte  die  Mutter  zuriidt.  Sie  sud)te  ihn  im 
ganzen  Haus,  den  Gebauden  der  einzigen  Faktorei  auf  der  Insel, 
lief  durdi  den  Garten  und  fand  ihn  im  Sand  am  Meer  zwisdien 
Muscheln  und  Farbigen.  Sie  gab  der  franzosischen  Gouvemante 
eine  Ohrfeige  und  nahm  ihr  Kind  auf  den  Arm. 

Sie  fragte  ihn  in  englisdher  Rede  schluchzend,  wie  er  sid)  befinde. 
Der  Junge  aber  schwieg,  denn  er  verstand  sie  nidht.  Er  sprad)  nur 
polynesisd)  und  minderes  Franzosisd).  Die  Mutter  war  eine  feurige 
Frau.  Sie  weinte  und  glaubte,  das  Kind  sei  vertauscht.  Das  Kind 
sah  sie  stumm  mit  grofien  Augen  an.  Sie  wies  es  zurfidc  und 
sdhenkte  ihm  einen  Monat  lang  keinen  Blick.  Kurz  darauf  verfiel  es 
einer  Krankheit,  und  a!s  sie  nun  besorgt  und  gluddid)  es  pflegte 
sagte  es  an  einem  Morgen:  »Ma«. 

Nad)  geringer  Zeit  vermochten  sie  sich  in  der  Rede  zu  verstan- 
digen.  Da  zwang  ein  ausbrediendes  Leiden  die  Mutter,  die  begonnen 
hatte,  in  Ruhe  ihre  schweifende  Seele  an  das  Kind  anzulehnen,  ins 
Weite.  Sie  sdiifften  sich  auf  dem  Segler  Bounty  ein,  als  die  Sonne 


Kasim ir  Eds  dm  id  * Der  Gott  189 

einen  riesigen  Kranz  um  die  Insel  legte  und  in  dunklem  Blau  ver- 
ging. Ein  Krater  raucfate  nodi  dunn  in  die  Dammerung.  Dann  sdioll 
das  unendlidie  Meer  in  ihr  Ohr. 

Sie  erlebten  am  dritten  Tage  einen  Sturm,  der  das  Sdiiff  liber 
die  Wellen  sdileuderte,  dafi  die  Kajiitenwande  sprangen.  Jean  Fran- 
cois hieit  verzuckt  den  Stofien  stand.  Der  Kapitan  lieft  Stagsegel 
aufziehen,  Sie  rissen  sofort.  An  den  Marquesasinseln  warfen  sie 
Anker.  Der  Meerboden  war  Muschelgrund  und  Kalkgries,  der  Anker 
hieit  nidit. 

Da  stiefi,  wahrend  sie  lavierten,  ein  Kanoe  mit  rotem  Holz  und 
Perlmutter  in  der  Schnitzung  aus  einer  Budit.  Zwei  Wilde  hielten 
kupferfarbene  Binsen  hodh  und  winkten.  Folgend  busrsierten  sie  die 
Bounty  in  eine  Bay. 

Der  eine  Malaie  stieg  herauf,  seine  Glieder  hatten  wunderbaren 
Anstand.  Sie  bedeuteten  ihm,  sie  brauditen  Wasser,  da  sdirie  er 
sofort,  indem  er  die  Hand  wie  eine  Sdiale  unter  den  Mund  legte, 
ins  Meer  hinaus.  Der  Strand  bevolkerte  sicfi  mit  Booten,  die  in 
breiten  Gefafien  Wasser  und  Geflugel  braditen,  denn  viele  der  Ma- 
trosen  litten  am  Sdiarbock.  Jean  Francois,  auf  dem  Arm  seiner 
Mutter  an  einen  Mast  gelehnt,  rief  ihnen  einige  Satze  zu.  Da  er- 
staunten  sie  und  verbeugten  sich  vor  ihm.  Ihr  Oberhaupt  aber  legte 
ein  Messer  vor  ihn  hin  und  sagte:  *Rono  . . . Rono «. 

Bald  horten  sie  es  donnern.  Vogelschwarme  rausditen  iiber  sie. 
In  leichter  Brise  liefen  sie  gegen  eine  Kuste  an.  Es  war  Peru.  Sie 
ankerten  im  Hafen  von  Callao.  Zwanzig  Matrosen  desertierten  in 
der  Nadit  Sie  stellten  Spanier  ein.  Langsam  trieben  sie  die  Kiiste 
hinunter,  bis  sie  Antufugasta  erreiditen. 

Dort  stiegen  sie  aus.  Sie  blieben  wenige  Tage,  aber  das  Klima 
versdilediterte  die  Gesundheit  der  Frau.  Sie  zog  in  die  Berge  hinauf 
zu  einer  Sdiwefelquelle,  in  der  sie  badete.  Jean  Francois  jedoch  ver- 
trug  die  Luft  der  Hohe  nidit  und  wurde  bleidi.  Deshalb  gab  ihn 
die  Mutter  mit  einiger  Dienerschaft  hinunter  nach  Valparaiso. 

Als  die  Mutter  zuriickkam,  war  Jean  Francois  sechs  Jahre  alt, 
hatte  blonde  Haare  und  braune  Haut  und  sprach  nun  spanisdi  und 
polynesisdi  <den  Dialekt  von  Taheiti  und  der  hawaiisdien  Eilands), 
aber  kein  Wort  englisdi.  Da  besdiloB  die  Frau,  den  Sohn,  der  ihr 


r.V.V.V.V.V 


190 


Kasimir  Edsdbmid  • Der  Gott 


bis  zur  Hufte  reichte,  und  mit  dcm  sic  kein  Wort  zu  wechseln 
wufite  aufier  dcm  Gcfuhl,  das  von  Auge  zu  Auge  stromend  rcdctc, 
nie  wieder  zu  verlassen  in  seiner  Jugend,  schifFte  sich  mit  ihm  ein, 
und  an  cincm  Morgen  karri  ihnen  wieder  unter  dem  Himmei  die 
groBe  Kuste  Oahus  entgegen. 

Sie  fanden  dort  bei  ihrem  Bintritt  in  das  Haus  die  Nachrlcht, 
daB  Jean  Francois'  Vater  gestorben  sei,  der  die  Jahre  in  Rom  und 
in  einer  Mission  des  Papstes  in  Skandinavien  verweilt  hatte.  Die 
Mutter  ward  still  und  nachdenklich,  obwohl  ihre  Seele  getrennt  von 
dem  Schidcsal  dieses  Mannes  lag.  Jean  Francois  begriff  dagegen 
keineswegs,  um  was  es  ging,  und  lehnte  ab,  als  sie  es  ihm  deutlich 
madien  wollte.  Sein  Gefuhl  verbreiterte  sich.  Er  lebte  sein  Dasein 
bis  zum  sedizehnten  Jahre  rund  herum  aus  im  Kreis  der  Begriffe 
und  Dinge,  die  ihn  umgaben.  Die  Gedanken  waren  sdilidit.  Die 
Dinge  gestalteten  sidh  einfach,  nur  im  Verkehr  mit  primitivem  Da- 
sein. Selten  nur  brachten  anlegende  Schiffe  Europa  in  sein  Blickfeld. 
Aber  seine  Seele  saugte  sich  fest  an  Kuste,  Meer  und  Land. 

Dann  sandte  ihn  die  Mutter,  die  noch  vier  Jahre  die  Welt  durch- 
schweifen  wollte,  von  sich,  damit  er  in  den  europaischen  Dunstkreis 
eintrete.  Sie  stellte  ihm  grofle  Wechsel  aus,  und  sie  verplauderten 
den  letzten  halben  Abend. 

Darauf  ging  er  hinaus  in  den  Garten.  An  der  groBen  Hecke  der 
weissen  Himbeeren  stand  Kalekua,  die  dem  Gesdilecht  der  Konige 
verwandt  war,  sang  vor  sich  hin  und  schaute  uber  ihren  Garten 
hinauf  zu  ihrem  hellen  schonen  Haus.  Jean  Francois,  die  Brust  von 
Weite  erfullt,  rief  ihren  Namen,  mit  der  er  die  anfanglichen  Spiele 
erster  Jugend  geteilt  hatte.  Sie  wandte  sich  um. 

In  diesem  Augenblick  hob  sich  das  Gefuhl  abenteuerlidier  Feme, 
in  die  er  verlangte,  zu  einer  groBen  Welle,  und  er,  dessen  Hande 
noch  keine  Frau  beruhrt  hatten,  uberstromte  den  Korper  des  Mad- 
chens  mit  Liebkosungen.  Ihre  dunnen  Gewander  schwanden  unter 
seiner  Hand,  und  er  fuhlte  ihre  weichen  und  wunderbar  gerundeten 
Glieder  ihm  entgegenfliegen.  Da  faBte  er  sie  auf  die  Arme  und  trug 
sie  noch  tiefer  in  den  Garten  in  die  Mulde  einer  Platane. 

Ganz  umhangt  von  ihrem  Duft  hob  er  sich  in  den  Morgen,  schiflte 
sich  ein  und  fuhr  nach  England. 


<* 


191 


Kasim  ir  Ecfs&mid  * Der  Go  a 


Nadi  zwei  Jahrcn  sdion  zog  seine  Mutter  ihm  nadi.  Sie  nahmen 
cin  Haus  in  der  Nahe  des  Hydeparks.  Sommers  zogen  sie  auf  ein 
Landgut  in  Schottland.  Sie  empfingen  viele  Menschen,  gaben  grofie 
Gesellsdiaften  und  hatten  ausgewahlte  Freunde.  Aus  ihren  Be- 
sitzungen  flossen  gewaltige  Mittel  immer  erhoht  ihnen  zu,  spater 
verkauften  sie  Anwartsdiaft  und  Faktoreien  und  breiteten  das  Kapital 
in  englisdien  Anlagen  aus.  Vor  der  Wirklidikeit  dieses  fest  gegrun- 
deten  Daseins  sank  die  Jugend  der  Sudsee,  fast  vergessen,  im  Traum 
zuruck.  Jean  Francois  studierte  in  Cambridge,  zuditete  Hunde  und 
hatte  Ansprucfa  auf  die  diplomatisdie  Laufbahn.  Mit  neunzehn  Jahren 
hatte  sidi  die  Luftschidit  weltmannisdier  Beherrschung  didit  urn  ihn  gelegt. 

An  dem  Tage,  wo  er  den  groften  Preis  im  Ballspiel  fur  das  west- 
lidie  England  errang,  starb  seine  Mutter.  Er  erfuhr  es,  als  er,  den 
Kopf  zuruckgelegt,  sidi  von  der  Riditertribune  wendend,  nadi  der 
Seite  ging  und  den  Diener  sah,  der  ihm  den  Brief  uberreidite. 

Er  war  einundzwanzig  Jahre,  hatte  einen  glanzenden  Korper  und 
gute  Zukunft,  wie  viele  sagten. 

Er  kehrte  nadi  London  zuruck,  versdilofi  die  Fenster  und  nahm 
am  brenrtenden  Kamin  das  Bild  seiner  Mutter  vor  und  besdiaute 
es.  Sein  Herz  offnete  sidi  nidit,  sie  heftig  zu  beweinen.  Kaum  ward 
ihm  die  eingetretene  Leere  bewuBt.  Eine  Unbegreiflichkeit  waltete 
uber  seinen  Gefuhlen,  daft  sie,  ihn  dem  Sdiwung  erhohter  Seelen- 
lagen  fernhaltend,  alle  Empfindungen  nur  von  der  Oberfladie  dik- 
tiert  und  durdh  etwas  von  seinem  inneren  Dasein  getrennt  erleben 
lieften.  Er  zog  in  der  Folge  roten  Dreft  an  und  jagte  Fudise  und 
legte  die  Sachen  der  Mutter  beiseite.  Beim  Jagen  und  raschen  Leben 
kam  ihm  geringer  das  Gefuhl,  in  leichter  Betaubung  sidi  zu  befinden. 

Bei  einem  ausgesuchten  Diner  saft  ihm  eine  Sangerin  gegenuber, 
deren  zarte  Haut  und  grofte  Augen  seinen  Blick  anzogen.  Urn  sie 
besser  zu  sehen,  nahm  er  eine  breite  Blumenattrape  und  setzte  sie 
auf  den  Boden  hinter  seinen  Stuhl.  Ihr  Blick  begann,  entgegenkom- 
mend,  gleichfalls  auf  ihm  zu  ruhen.  Ihr  Reden  war  sdinell  und  heift. 
Unmerklidi  hob  sie  ein  spitzes  Glas,  als  sie  mit  einem  Nachbar  an- 
stieft,  heruber  zu  ihm.  Als  nach  Tisch  alles  in  den  Musiksaal  stromte, 
stellte  er  sidi  hinter  ihren  Fauteuil  und  redete  zu  ihr.  Sie,  ohne  sidi 
umzudrehen,  sagte:  >Ich  kenne  Sie  nicht«. 


’—S 


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V 


>V/iV>y 


192  Kasim ir  Edsdmid  * Der  Gott 

»Sie  sollen  es  Iemen,«  sagte  er.  Verbeugte  siA  kurz  und  berGhrte 
knapp  ihr  Knie  im  Gehn  mit  dem  seinen. 

Sie  trug  an  diesem  Abend  eine  gelbe  Robe,  und  ihre  sAonen 
Bruste  standen  voll  und  fest  in  dem  sAmalen  AussAnitt.  LeiAter 
Puder  maAte  die  LoAen  grau,  die  tief  in  ihren  Kopf  hinein- 
hingen. 

Sie  liel)  ihn  zweimal  durA  ihren  Diener  abweisen,  bis  er  eindrang 
und  sie  ihm  Geliebte  wurde. 

In  einer  NaAt  fragte  sie  ihn,  als  sie  ihn  ubermaBig  ihrer  siAer 
glaubte,  wie  alle  Frauen  fragen:  naA  denen,  die  vorausgingen. 

Es  seien  einige,  doA  niAt  allzuviel,  denn  dies  sei  billig,  sagte  er. 
Sie  fragte,  wie  lange  es  her  sei,  dafi  er  die  letzte  gehabt  habe,  und 
er  zuAte  die  AAseln. 

»Was  waren  sic,  Lieber?« 

»Was  soil  die  Frage,  die  niAt  sAon  ist?«  sagte  er  langsam. 

*Mein  Herz  sturmt,  dafi  iA  es  weifl.  Um  Sie  mehr  zu  lieben.c 

Da  druAte  er  die  Ampel  aus  und  sagte:  »Eine  Blumenverkauferin 
von  den  DoAs,  eine  Dame,  ein  MadAen,  eine  Tanzerin,  eine  liebe 
Frau  . . .« 

Sie  sAlofi  die  Augen  und  offnete  sie  verwirrend  vor  den  seinen: 
>Keine  hielt  Sie  in  dieser  Reihe?« 

Sie  sah  an  seinem  starken  Korper  hinunter,  und  im  Gefuhl,  dal) 
in  solAen  Erlebnissen  siA  das  WeibliAe  in  seiner  ganzen  Art  er* 
sAopft  habe,  legte  sie  sanft  ihre  Bruste  an  seine  Wange  und  fragte 
das  GleiAe  ein  weiteres  Mai. 

Da  warf  er  siA  hoA,  und  indem  es  sAien,  dal)  er  sie  ganz  in 
siA  sAlinge,  sagte  er  ihr,  dal)  er  auA  sie  verlasse,  wenn  der  Nebel 
vor  den  Fenstern  heller  werde.  Er  blieb  noA  einige  Stunden  bei 
ihr,  indem  er  sie  streiAelte  und  ihr  Wesen  ein  letztes  Mai  einsog, 
denn  sie  war  sAon  und  edel  und  weinte,  die  Hande  vor  die  Augen 
gesAlagen.  Dann  verliefi  er  sie, 

Er  ging  den  Morgen  in  die  Themse  und  badete. 

Dann  ging  er  naA  Hause,  lief)  paAen  und  fuhr  naA  den  sAotti- 
sAen  Gutern.  Aber  am  ersten  Tage  der  dritten  WoAe  glitt  er, 
jagend  an  einem  BergruAen,  aus  und  braA  das  linke  Bein.  Sein 
HoAlander  trug  ihn  ins  Tal. 


Kasimir  EdsSmicf  • Der  Gott 


193 


Sie  taucfaten  immer  tiefer  hinunter,  wo  die  Dunkelheit  ihnen  ent- 
gegenkam,  und  je  mehr  sie  in  die  verdidhtete  Landschaft  hinein- 
sdiritten,  Gberfiel  ihn  Beklemmung,  deren  Sinn  er  nidit  begriff.  Sie 
eireichten  ein  Lidit,  ein  geoltes  Haus.  Sie  sdirieen  nadi  dem  Besitzer 
und  befahlen  ihm,  mit  dem  Pferd  in  die  Finstemis  hineinzureiten, 
damit  er  Hilfe  bringe.  Erst  am  Morgen  kam  er  mit  einem  weifi- 
bartigen  Mann,  der  das  Bein  einrenkte,  Als  die  Knodien  wieder 
aneinanderstieOen,  sdirfe  Jean  Francois  vor  Sdimerz,  so  sehr  lahmte 
der  Alp  seine  Brust. 

Der  Hochlander  schaute  abgewandt  durchs  Fenster,  und  Jean 
Francois,  der  fiihlte,  wie  jener  sich  fltkr  ihn  sdiame,  sdirie  ihn  an 
und  wurde  ungeredit.  Am  nachsten  Tage  aber  sdienkte  er  ihm  das 
Elengeweih  seiner  Sammlung,  damit  dieser  beides  vergafie,  die  Scham 
und  den  Schrei. 

Da  er  (ange  lag,  haderte  er  mit  dem  Gesdikk.  Denn  er  fiihlte, 
daB  der  Druck  uber  ihm  blieb.  Er  wollte  ihn  vertreiben.  Er  fuhr 
mit  dem  Auge  die  Berge  hinauf  und  lieB  den  Blidc  herabfallen  in 
die  Wiesen,  fiber  denen  Kuhgebrull  erdwarm  donnerte.  Er  trieb 
Studlen,  er  las.  Er  farbte  Stoffe.  Er  fodit  zwei  Stunden  des  Mor- 
gens angesdinallt  ans  Bett  mit  einem  groBen  Fechter  des  Elans, 
damit  seine  Muskeln  hart  blieben.  Aber  es  half  nichts. 

Nadi  sechs  Wochen  zog  er  wieder  in  London  ein. 

Sein  seitheriges  Leben  kam  ihm  in  gleicher  Form  entgegen. 

Er  griff  es,  nahm  es  und  lebte  weiter. 

Eines  Abends  reizte  ein  Maddien  sein  Gefiihl,  die  mit  einer 
herrischen  Kopfbewegung  aus  dem  Nebel  ihm  entgegenkommend  in 
den  Latemensdhein  hineintrat.  Sie  war  untersetzt  mit  gesdimeidigen 
Lenden  und  trug  einen  auslandisdien  Pelzhut  Er  drehte  um  und 
folgte  ihr.  Sie  gingen  durch  Strafien  und  Gassen,  es  war  eine  ganze 
Stunde,  dafi  er  sie  verfolgte/  da  kamen  sie  in  die  Gegend  des  Hafens. 
Die  Gassen  verwirrten  sidi  immer  verzogener  ineinander.  Da  bog 
sie  zur  Seite  und  versdiwand.  Das  Haus,  in  das  sie  getreten  war, 
hatte  einen  wusten  Eingang  voll  Winkeln.  Ein  grunes  Lidit  flammte 
davor.  Die  Fenster  waren  aus  Olpapier  und  erleuchtet. 

Jean  Francois  trat  ein.  Im  Flur  schon  horte  er,  wie  Musik  be- 
gann.  Er  trat  in  einen  Saal.  Links  safien  die  Musikanten.  Sie  spielten 


Kasimir  Eds  dm  id  • Der  Gott 


194 

Fioten  und  irische  Dudelsacke.  Ein  einzelner  Hagerer  hieb  wild  auf 
eine  Pauke. 

Im  Hintergrund  hob  sich  dcr  Saal  im  Rauch  und  Qualm  zu  Ter- 
rassen  von  StGhlen  und  Ban  ken  in  die  Hohe  und  vergrofierte  sich 
ungewiB.  Vorne  schwankten  Paare  durch  die  dichte  Luft.  Schreien 
und  Gestampf  durchbrach  die  Musik. 

Auf  einem  der  Tische  stand  eine  der  Vorstadtkoniginnen,  wunder- 
bar  wild  im  Bau,  hatte  eine  rote  Mutze  fiber  den  Haaren,  die  Bluse 
voll  herabgestreift  und  schwang  die  Arme  singend,  den  Kopf  im 
Rausch  gerotet,  durch  den  Raum.  Der  Rauch  umwallte  sie  manch- 
mal  ganz,  dann  riB  er  sie  wieder  in  die  Blicke.  Ihre  Augen  glanzten 
wie  feuchte  Steine,  der  Mund  stand  often,  derb  und  gluhend. 

Ein  Matrose  schwankte  mit  groflen  Sprungen  fiber  die  Diele  und 
suchte  im  Vorbeisprung  Jean  Francois  zu  umarmen.  Doch  der  schob 
ihn  weit  zur  Seite  und  arbeitete  sich  durch  die  Tanzenden  quer 
hindurch  zu  den  Stuhlkolonnen  und  setzte  sich  an  einen  leeren  Tisch. 
Das  Gesicht  eines  Graubartigen  bewegte  sich  neben  ihm  auftauchend 
und  brachte  ihm  Punsch,  der  scharf  nach  Essig  roch. 

Plotzlich  ging  die  Saaltur  weit  auf  und  schloB  sich  rasch,  frische 
Luft  stromte  herein  und  warf  den  Rauch  auseinander,  die  Olfenster 
knallten  unter  der  Luft,  die  wie  helle  Nester  eines  fiber  dem  an- 
deren  hodeend  die  ganze  StraBenfront  gliederten  ...  da  sah  er  in 
der  Ludce,  dafi  am  anderen  Ende  des  Tisches  ein  Mann  safi,  dessen 
Blidt  ihn  kuhl  abmaB.  Er  hatte  grune  Augen,  Brauen,  die  sich  roma» 
nisch  fiber  die  Stirn  spannten  und  ein  bleiches  Gesicht.  Er  trug  die 
Kleidung  eines  vomehmen  Mannes,  eine  flandrische  Krause  als  Ein- 
satz,  aber  hohe  Stiefel. 

Der  Mann  erhob  sich  und  setzte  sich  ihm  naher  gegenuber. 

Die  Musik  brach  jah  ab.  Vom  Nebentisch  sprang  die  Tanzende 
herunter  und  warf  ihre  Arme  von  hinten  her  dem  Fremden  fiber 
die  Schulter  und  drangte  ihre  schweren  BrGste  um  seinen  Nacken. 
Sie  hatte  den  Kopf  an  sein  Ohr  geschmiegt  und  lachte,  uber  ihn  w eg 
kokettierend,  zu  Jean  Fran<;ois  hinuber.  Im  gleichen  Augenblidc  aber 
stedete  ein  Matrose  seine  Hand  in  des  Gegenfibers  Tasche  und  zog 
mit  zwei  spitzen  Fingem  ein  funkelndes  seltsames  Stuck  Borse  wie 
einen  Wurm  heraus. 


Kasimir  Eds&mid  • Der  Gott 


195 


Jean  Francois  erheiterte  dieser  Fall  sehr,  allein  er  nagelte  trotz- 
dem  den  Kerl  sofort  mit  gezogener  Handpistole  auf  den  Platz  fest. 
Der  Bursdie  ward  bleich,  von  einigen  Tischen  scholl  Geschrei. 

Der  Fremde  lachelte,  nahm  die  Borse  zuruck,  um  sie  dem  Ma- 
trosen  mit  einem  Kompliment  wieder  zu  iiberreichen.  Dann  dankte 
er,  indem  er  den  ausbrechenden  Tumult  des  Lokals  mit  einer  Hand- 
bewegung  dampfte,  durcb  eine  leichte  Verbeugung  Jean  Francois  fur 
seine  Giite. 

Das  Madchen  hatte  sidh  auf  seine  Knie  gesetzt. 

Seine  Hand  spielte  nebensachiich  mit  ihr,  indem  er  Jean  Francois 
bat,  als  einen  Ausgleidi  und  um  — zumal  als  Auslander  — hof- 
lidier  Handlung  mit  edelmannischer  Genugtuung  zu  begegnen,  eine 
Bitte  an  ihn  zu  richten. 

Allein  Jean  Francis  lachelte  nur,  denn  ihm  schien  nichts  wun- 
schenswert,  was  er  nicht  selbst  hatte  erreichen  konnen. 

Doch  auch  der  Fremde  lachelte. 

Und  wiederholte  eindringlich,  daft  er  bate,  ihn  nicht  zu  verkennen, 
sondern  ins  uferlos  Blinde  uber  ihn  zu  verfugen,  denn  es  sei  morgen 
bereits  schon  zu  spat,  und  das  wurde  ihn  schmerzen,  wo  ihn  eine 
Flotte  nach  Indien  fahre.  Dann  lachelte  er  wieder,  Jean  Francois' 
Ersfaunen  erwartend. 

Der  aber  durchdrang  mit  dem  Blick  den  Rauch  des  Zimmers, 
schweifte  einige  Sekunden  in  Entferntem,  das  ihn  betaubte  mit  der 
Unendlichkeit  der  Bilder,  und  sagte,  dem  Traum  der  Jugend  nahe 
gebradht,  dunkel  aufgewuhlt  und  Unbekanntem  willig  folgend  <ob- 
wohl  er  erstaunte  uber  Sinn  und  Klang  der  eigenen  Stimme),  er 
bate  um  ein  Patent,  wenn  dies  in  der  Macht  liege  . . . »Wurden 

Sie  . . .« 

Der  Fremde  jedoch  zog  ein  Papier,  bemalte  es  mit  wenigen  Zeidien 
und  uberreichte  es  ihm.  Es  war  ein  Diplom  als  erster  Leutnant  und 
zweiter  Supracargo  auf  einem  Schiff,  das  » Santa  Cruz«  hiefi. 

Jean  Francois  sah  ihn  scharf  an.  Dann  verbeugte  er  sich. 

Der  Fremde  hielt  ihm  die  damenhaft  schmale  Hand  bin,  in  die 
das  Madchen  auf  seinem  Knie  einige  Tropfen  Wein  schnidcte.  Aber 
eh  Jean  Francois  einschlug,  sagte  er,  daft  er  wohl  wisse,  wie  eng 
dies  ihn  binde,  daft  er  aber  innerlich  keine  Verpflichtungen  auf  sich 


196 


Kasimir  Eds  dm  id  ■ D*r  GoU 


nehme,  denn  er  sel  gewohnt,  die  Stunden  zu  treiben,  wie  er  wolle, 
zu  weilen,  wie  ihm  passe  und  der  zu  sein,  der  er  beliebe,  Doch 
der  mit  den  grflnen  Augen  ihm  gegenOber  sab,  gab  hierauf  keine 
Ant  wort,  empfing  den  Handschlag  und  wies  hinaus,  wo  Pferde 
stampften. 

Sie  erhoben  sich  und  verlieben  den  Raum.  Das  Madchen  zerrte 
an  ihren  Rodcschoben.  Sie  acbteten  nicht  darauf.  Ein  Wagen  mit 
weiben  Pferden  hielt  in  der  Gasse.  »Sie  werden  alles  finden,«  sagte 
der  Fremde,  >aber  Sie  diirfen  nicht  zogern.«  Er  verabsdiiedete  sich, 
da  er  noch  einiges  zu  verhandein  habe  und  sagte,  sie  wurden  sich 
bald  wiedersehn.  Der  Wagen  fuhr  bis  zum  Hafen.  Eine  Ruder- 
barkasse  brachte  ihn  ans  SchifF. 

Sie  zogen  die  Nacht  noch  den  Flub  hinunter.  Am  Morgen  bob 
England  hinter  ihnen  zusammen  wie  grauer  Schaum. 

Als  die  Weite  des  Meers  vor  ihnen  lag,  fullte  sich  Jean  Francois' 
Herz  mit  tosenden  Takten.  Er  nahm  seine  Equipierung  auf  dem 
Schiff.  Als  er  sich  umzog,  trat  ein  Offizier  in  seine  Kabine,  er  wech- 
selte  gerade  die  Hosen,  und  bat  um  die  Aushandigung  des  Patents. 
Jean  Francois  reichte  es  ihm: 

*Sie  werden  erstaunt  sein,  mich  aus  einer  schwarmerischen  Nacht 
in  diese  Fahrt  und  Stellung  sturzen  zu  sehen,  im  Abendanzug,  Leut- 
nant  Vaudricourt.  Allein  es  trieb  mich  so.« 

Der  Leutnant  griibte  hoflich  und  erwiderte,  dies  wolle  nichts  sagen. 
denn  er  habe  die  Fregatte  lediglich  mit  einer  Nachtkleidung  und 
einem  Damenstrumpfband  aus  weiber  Seide  erreidit.  Er  legte  die 
Papiere  zusammen  und  sagte:  >Ich  sehe,  wer  Sie  sind.c 

Er  war  hoHich.  Er  war  Franzose,  wie  viele  auf  diesem  Schiff 
Qbergetretener,  und  von  guter  Erziehung. 

Am  Abend,  als  er  die  Offiziere  zu  einem  groben  Diner  einlud, 
erfuhr  Jean  Francois,  dab  sie  sich  mit  fiinf  anderen  Schiffen  ver- 
einigen  wurden,  bestimmt,  Brotbaume  in  der  Siidsee  aufzunehmen 
und  sie  zur  Verpflanzung  nach  Westindien  zu  schaffen.  Die  Ver- 
dedce  waren  schrag  aus  Blei  aufgelegt  mit  Rinnen  zur  Bewasserung. 
Zwischen  den  oberen  Verdecks  waren  hohe  Raume,  und  in  einem 
falsdhen  Boden  standen  hunderte  Kubel. 

Nach  vier  Tagen  trafen  sie  auf  eine  Flotte,  Signale  riefen  die 


Kasimir  Edsdimid  * Der  Gott 


197 


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Offiziere  auf  das  Admiralschiff,  Sic  steflten  sidi  im  Halbkreis  auf 
dcm  Hinterdeck  auf. 

Dann  ersdiien,  begleitet  von  groBem  Stab,  ein  Mann,  edel  und 
vornehm.  Er  hatte  griine  Augen,  Brauen,  die  sidi  romanisch  iiber 
die  Stirn  spannten  und  ein  bieidies  Gesicht.  Die  Augen  funkelten. 
Die  Offiziere  verbeugten  sicb  tief. 

Er  senkte  iangsam  den  Kopf.  Qber  seiner  Brust  sdiwebte  nodi 
das  Ludwigskreuz.  Sein  Degen  war  von  wundervoller  Arbeit.  Es 
war  der  Admiral. 

Er  ging  auf  Jean  Francois  zu,  nachdem  er  die  Befehle  ausge* 
geben  hatte,  nannte  leise  seinen  Namen:  »D'Adie,«  und  bat  ihn, 
mit  ihm  zu  kommen.  Sie  stiegen  ubcr  einige  Treppen  tief  hinunter. 
Dann  traten  sie  in  einen  breiten  Raum.  Der  Vicomte  hob  einen 
Leuditer  und  deutete  auf  einen  Kafig,  in  dem  ein  Mann  geduckt 
saB:  Der  Kafig  hing  an  Seilen  hodi  von  der  Decke  herunter,  Er 
lieB  mit  einem  Griff  ihn  sidi  senken.  Jean  Francois  sah,  daB  es  der 
Matrose  war,  dem  er  vor  sedis  Abenden  seinen  Pistolenmund  auf 
die  Magengrube  gerichtet  hatte,  und  der  Graf  sagte  ladielnd: 

»Junger  Mann,  idi  sdiatze  Ihre  Liebe  fur  andere  Atmospharen,  in 
denen  das  Leben  derber  und  inbriinstiger  geht,  als  in  den  uns  an- 
gemessenen.  Ich  liebe  dies  audi.  Sie  werden  dariiber  sdiweigen,  horen 
Sie.  Idi  habe  Sie  verpfliditet,  weil  idi  aus  dieser  Anlage  GroBes  und 
Wildes  von  Ihnen  erwarte. 

Doch  das  mit  der  Pistole  war  toridit.  Sie  miBverstehen  den  Stil. 
Sie  flatten  uns  in  Fetzen  gescblagen.  Man  muB  das  anders  madhen. 
Den  hier  habe  idi  mir  spater  selbst  und  allein  nodi  geholt.  Fragen 
Sie  ihn.« 

Der  Matrose  wimmerte,  aber  sdiwieg  . . . 

Jean  Francis  fuhr  mit  seinen  Offizieren  zu  seinem  Schiff. 

Wahrend  der  Fahrt  betrat  er  das  Admiraisdiiff  nidit  mehr, 

Sie  waren  drei  Leutnants  auf  der  Fregatte,  er,  Vaudricourt  und 
Jules  Labe.  In  den  Naditen  seufzte  Vaudricourt  nach  dem  Mond 
und  erlebte  die  Verse  groBer  Diditer,  wenn  das  Meer  in  ziellosen 
Spiegelungen  ergliihte.  Labe  hatte  eine  Kreolin  mit,  die  in  einer 
Matte  unter  dem  grofien  Segel  lag  und  rauchte. 

Oft  spielte  Vaudricourt  auf  einer  langen  silbernen  Flote  ihr  vor 


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198  Kasfmtr  Edsdmkt  • Dtr  Gott 


und  sang  mit  warmem  Tenor.  Sie  schloB  die  Augen  wieder,  dffnete 
sie  zu  Jean  Francois  und  bat  ihn,  ihren  Windhund  zu  hoien,  damit 
sie  mit  diesem  spiele.  Sie  hetzte  ihn  fiber  das  Verdedc,  und  seine 
wilden  Laute  schoben  sich  zwischen  die  Schwingungen  der  FIdte. 
Vaudricourt  blB  sich  die  Lippen  und  sagte: 

»Madame,  wenn  Sie  das  Spiel  nicht  lieben,  will  i<h  die  FIdte  ins 
Meer  werfen,  obwohl  sie  Richelieu  meinem  Vatersbruder  gab.c 

Die  Kreolin  bog  sich  in  ihrer  Matte  und  sagte;  9Aber  ich  liebe 
das  Spiel.« 

Der  Hund  sprang  fiber  die  Matte  hin  und  zurfidc,  und  sie  sah 
Vaudricourt  so  lange  an,  bis  er  verzweifelt  ans  Heck  ging  und  ins 
Weite  stierte. 

Abends  legten  sie  eine  Pharaobank  auf  und  spielten. 

AIs  sie  urn  Kap  Horn  fuhren,  griff  ein  Wind  sie  von  der  Seite 
und  warf  sie  grgen  eine  Bank.  Da  das  Steuer  aus  Zufall  quer  stand, 
glitten  sie  scharf  vorbei.  Wieder  flogen  sie  in  den  blauen  Spiegel 
der  Winde. 

An  einem  Morgen  lag  Land  vor  ihnen,  Sie  hoben  die  Kopfe. 
Sie  begriffen  erst  langsam,  dafi  es  Land  sei.  Sie  fuhren  Wodien  sdion. 

Steil  erhob  sich  eine  dunkie  Kfiste,  die  ohne  Jede  Einschnfirung 
war.  Sie  suditen  zwei  Tage  lang  eine  Einfahrt  an  der  westlichen 
Kfiste,  sie  trafen  nichts  als  einen  Wall  schwarzen  Gesteins,  aus  dem 
Flfisse  ins  Meer  spien.  Da  gab  das  Admiralschiff  das  Zeichen,  und 
sie  fuhren  nach  der  ostlidien  Seite.  Da  hob  sich  der  Nebel  und 
schwebte  in  einer  gleichen  Lage  wie  ein  mystisches  Tuch  in  die  Hohe. 
Berge  in  tausend  Gipfeln,  die  weifi  waren  wie  Schnee,  stellten  sich 
gegen  den  Himmel,  der  in  unsaglichem  Blau  an  ihren  Linien  herab- 
rann.  Vor  ihnen  offneten  sich  geschwungene  Buchten,  saftig  und  grfin 
heranschwellend  ans  Meer. 

Sie  warfen  Anker. 

Dann  schifften  sie  aus.  Da  brack  aus  Gebfisch  weiter  hinten  eine 
Masse  fetter  eingeborener  Weiber  mit  Geschrei.  Doch  liefen  sie  nidit 
nach  vom,  sondern  bewegten  sich  in  gleichbleibender  Erregung  am  Platz. 

In  der  Mitte  zwisdien  der  Kfiste  und  den  Tobenden  stand  eine 
Zeder  mit  Olivenblattem.  Neben  ihr,  allein,  war  ein  Eingeborener, 
braungelb,  und  hob  die  Hand.  Er  naherte  sich  nicht  und  lieB  sie 


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Kasimir  Eds  dim  id  • Der  Gott  199 

+**+++****+++*****w*++*9**m*9r++*****9*9*»++  wm*s  w 

herankommen.  Die  Offiziere  gruflten  ihn  hoflich,  so  viel  Wurde  war 
an  ihm.  Jean  Francois  sprath  ihn  an,  Da  wuthsen,  ais  er  die  eigene 
Sprache  vemahm,  seine  Augen  ins  Ungemessene,  er  beruhrte  seine 
Nase  und  vemeigte  sidi  tief.  Sie  verabredeten  zum  folgenden  Tag 
eine  Expedition.  Durch  Boden  aus  Bims  und  schwarzem  Glas 
brachen  sie  vor,  bis  sie  in  ein  Tal  kamen,  das  viele  Brotbaume 
hatte.  Jean  Francois  befahl,  sie  auszupflanzen  und  auf  das  Schiff  zu 
bringen. 

Der  Anfuhrer  vemeigte  sich,  sprach  kein  Wort  und  lie!)  den  Blick 
nicht  von  ihm. 

Rutkwarts  durthquerten  sie  einen  Sumpf,  in  detn  viel  Pappeln 
standen.  Am  letzten  Rande  des  Moors,  wo  das  Gelande  sith  nacfa 
dem  Meer  abbaute,  sal)  eine  Frau,  die  eine  Farrenwurzel  kaute,  die 
Fasem  loste  und  einem  Saugling  in  den  Mund  schob.  Es  war  hoher 
Mittag  und  die  Sonne  fiel  steil  auf  die  Frau. 

Sie  hob  den  Blick,  lie!)  ihn  an  Jean  Francois  hangen  und  hob  das 
Kind  hoch  in  die  Luft,  drehte  sith  dreimal  im  Kreis  und  lief  rufend, 
die  Arme  kreisend,  davon. 

Das  Land  war  Neu-Seeland. 

In  der  Nadit  ging  Jean  Francois  auf  Deck.  Schlaf  kam  ihm  nidit. 
Er  sah  die  weidhe  Kuste  sich  gegenQberliegen.  Er  sann  nadi.  Er 
war  nie  an  dieser  Insel  gewesen.  Er  sthaute  den  Himmel  ab.  Der 
Mond  rollte  hoth  fiber  den  Bergen  des  Westens.  Er  ffihlte  sith  sehr 
leitht  und  umgeben  von  einer  unerhorten  Wallung.  Er  hordite  lange, 
schnitkte  Wassertropfen  von  seinem  Armel  und  ging  hinunter. 

In  der  Nacht  fiel  Frost. 

In  den  drei  folgenden  Tagen  fQllten  sie  die  Halfte  der  Sthiffe  mit 
Baumen.  Am  vierten  fuhren  sie. 

Sie  fuhren  nordlith. 

Die  Schiffe  glitten  voll  Musik  zwisthen  wunderbaren  Eilanden 
durch,  an  Buditen  voruber,  die  voll  Pinguinen  safien  und  von  Bachen 
durthstromt  waren.  Sie  lagen  den  ganzen  Tag  auf  dem  Vorderdeck 
und  rauthten.  Das  Meer  war  leitht  und  kaum  bewegt,  und  die  Inseln 
formten  sith  mit  gtanzenden  Farben  und  Vogelruf  aus  ihm  heraus 
wie  Wasserblumen,  Als  sie  zwisthen  einem  Gemisch  suber  Buthten 
lavierten,  suthte  die  Kreolin  Jean  Francois  zu  verffihren,  indem  sie 


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Kasim {r  EdsSmid  • Dtr  Gott 


abends  nacb  dem  An  kern  ihr  Bein  aus  der  Matte  glriten  IieB  und 
ihren  FuB  langsam  fiber  seine  Hand  ffihrte. 

Docb  er  stellte  das  Windlkht  sdhrager,  daB  die  Matte  ganz  in 
Vaudricourts  Blickfeld  blieb. 

Sie  ankerten  nod)  einmal  in  Guam,  urn  Wasser  zu  nebmen  und 
den  Rest  der  Ladung.  Sie  blieben  zwci  Wodien  in  dem  Hafen,  der 
vor  vier  Winden  schfitzte.  Die  Bucbt  war  morgens  rot  von  Seegras, 
Meerwolfen  und  Seenesseln.  GroBe  Schildkroten  scbwammen  lang« 
sam  vorfiber. 

Den  Mittag  gingen  sie  in  die  Stadt,  die  auf  Pfahlen  stand.  Der 
spanisdie  Gouvemeur  Dorn  Simon  de  Auda  IieB  die  Wache  an- 
treten  und  ging  ihnen  jeden  Tag  in  groBer  Uniform  entgegen.  Auf 
seiner  Veranda  nahmen  sie  Scbokolade  und  lange  Zigaretten,  die  er 
ohne  Pause  selber  drehte.  Dann  ritten  sie  ins  Innere,  das  voll  Sa- 
vannen  lag,  die  tief  in  den  Urwald  hineinreiditen,  auf  denen  wrifle 
Odisen  mit  dunklen  Ohren  gingen.  Am  letzten  Abend  gab  er  ihnen 
ein  Fest.  Die  Eingeborenen,  deren  Reste  die  Spanier  auf  diese  Insel 
gepferdit  hatten,  da  sie  revoltierten  und  aus  Verzweiflung  ihre  Frauen 
zwangen,  die  Kinder  nidit  mehr  auszutragen,  bewegten  sidi  mit  Lid)- 
tern  und  Stieren  auf  einer  weichen  Rasenebene,  urn  die  der  Wald 
aufwudis.  Im  Gezuck  der  Bodenfeuer  und  dem  Krdstben  der  Manner 
kampften  zwei  Hahne.  Der  Spanier  saB  unbeweglidi  und  stolz  davor. 
Sie  nahmen  groBen  Absdiied.  Aber  im  letzten  Augenblidk,  noth  am 
Strand,  kam  cine  Schar  aus  dem  Inneren,  die  Weiber  mit  roten 
Hummersdieren  in  den  Ohren  und  legten,  die  Offiziere  umringend, 
Gaben  hin  und  in  die  Nahe  von  Jean  Francois.  Jean  Francois  ver- 
zog  nid)t  den  Mund. 

Letztmals  legten  sie  bei  den  Philippinen  an.  Der  Gouvemeur  sandte 
eine  Einladung  durdi  seinen  Minister,  einen  Native  in  Hosen  aus 
roter  Seide  und  weiBem,  chinesisdiem  Hemd,  Er  bat,  ungezahlt  lang 
zu  bleiben.  Seine  Langeweile  wiege  seine  Orden  nicht  auf.  Er  ver- 
spradi  gestimte  Hirsdie  und  Eingeborene  mit  Schwanzen. 

Jules  Lab£  sagte  ladielnd,  ein  Wunder  sei  eines  Wunders  wert 
und  sah  auf  Vaudricourt.  Die  Kreolin  trug  eine  ironische  Falte  und 
bat,  ihr  den  weiBen  Stoff  zu  besorgen,  den  der  Minister  trage.  Jules 
Labe  zog  ihn  in  eine  Edte  und  kaufte  das  Hemd  um  eine  Pistole. 


201 


Kasimir  EcfsSmid  • Dzr  Gott 

Nur  seine  Hosen  gluhten,  als  er  halbnackt  vom  Ufer  zuruAwinkte. 
Die  ganze  Nadit  sAwammen  die  Insein  unter  weiAen  Mandolinen- 
tonen. 

Morgens  flaggte  das  Signal  zur  Abfahrt. 

Mittags  hob  siA  ein  Strudel  aus  dem  Meer,  wuAs  an  den  Himmel 
und  sprengte  wie  ein  GesAoB  die  SAiffe  auseinander. 

Sie  fuhren  auf  seiner  Fregatte  WoAen  irr  und  im  Sturm. 

Als  sie  glaubten,  daB  sie  sterben  wollten  und  alles  gleiA  sAien, 
senkte  siA  ein  linder  Abend  herab.  Die  Wellen  sAoben  siA  in- 
einander,  der  Wind  lief  gering  und  zart.  Wie  ein  SAaumnest  quoll 
der  Horizont  auseinander.  Im  letzten  LiAt  streAte  siA  eine  sAmale 
Bay  vor  ihnen  aus.  Sie  wuBten  niAt,  wo  sie  waren.  Der  Sturm 
hatte  die  Kompasse  zerhauen.  Sie  fanden  nur  aus  dem  Sonnenstand, 
dafi  sie  westliA  fahren  miiBten  und  beluden,  die  GesiAter  aufgehellt, 
das  SAifif  mit  Lein  wand,  dafi  es  gut  davonstriA.  Sie  warfen  keine 
Anker  in  der  Dammerung,  da  die  Lotung  gftnstig  war. 

Sie  lieBen  die  Fregatte  gleiten.  Dammerung  sAob  siA  raubend 
zwisAen  das  SAiff  und  das  Land.  Sie  glitten  in  leiAter  Brise  selt- 
sam  gesAwellt  in  das  warme  Meer. 

Da  liefi  Jean  Francois,  wahrend  die  anderen  alien,  die  Hande 
vom  Reeling.  Sein  Herz  hob  siA.  Er  taumelte  fast.  Von  einem  Ge- 
stiegensein  getragen,  ging  er  ans  HeA.  Sein  Herz  sprang.  Er  uber- 
striA  das  SAiff  mit  dem  Auge.  Er  wufite  niAt,  was  er  tat.  Aber 
er  liefl,  stolz  und  strahlend,  das  kleinste  Boot  herunter,  sprang  hinein 
und  stiefi  ab  von  der  Fregatte  in  die  Dunkelheit,  die  ihn  anzog, 
daB  seine  Pulse  brannten.  Er  ging  ohne  AbsAied,  die  Hande  leer, 
das  Ohr  ungeheuer  gefuilt  vom  sAwaAen  GerausA  femer  Brandung. 

Allein  die  Ebbe  war  ihm  entgegen.  Er  ruderte  mit  alien  Muskeln. 
DoA  er  kam  niAt  vorwarts,  und  das  erziirnte  ihn,  daB  er  das  Ruder 
drohend  in  die  NaAt  hinein  hob. 

Er  arbeitete  weiter.  Er  ruderte  mit  alien  Muskeln/  allein  die  Ebbe 
war  entgegen  und  warf  ihn  zuruA.  Es  war  eine  lange  NaAt.  Sturz- 
seen  Qberfielen  ihn.  Riffe  turmten  siA  auf.  Sein  Kiel  streifte  oft  an 
Madreporen.  Allein  er  barst  niAt. 

Sein  GesiAt  strahlte,  daB  die  Dunkelheit  um  ihn  wiA.  Seine  Augen 
hefteten  siA  an  das  Land  und  zogen  siA  hin  an  dieser  Kette.  Gegen 
14 


202 


Kasimir  Edsdmid  • Der  Gott 


Morgen  umfuhr  er  eine  Budit  Korallen  und  schob  sidi  in  helles  Wasser. 

Als  sein  Boot  Sand  unter  sich  erknirschen  machte,  wich  die  Dam* 
merung.  Die  KOste  lag  frei.  Er  sprang  mit  einem  riesigen  Satz  hinfiber. 

Es  wurde  Morgen,  und  Helligkeit  sturzte  uber  ihn. 

Vor  ihm  standen  Eingeborene,  die  Musdieln  suditen.  Als  er  aber 
unter  ihnen  ersdiien,  erstarrten  sie.  Einer  allein  sprang  in  die  Luft, 
drehte  sich  im  Wirbel  und  sdirie  wie  in  hitzigem  Gelachter. 

Die  anderen  aber  fielen  zur  Erde.  Sie  lagen  wie  gefallt.  Die  Frauen 
sahen  hodi  und  zogen  die  Haare  fiber  den  Mund.  Dann  riefen  sie: 


»Rono 


Rono 


und  weiter  kein  Wort. 


Er  befiahl  ihnen  aufzustehen.  Sie  wi<hen  zurfidt. 

»Welche  Insel?c  rief  er  mit  der  Spradie  von  O-Taheiti. 

Allein  sie  antworteten  mit  dem  rechten  Dialekt: 

»Oahu«,  sagten  sie  und  starben  sdiier. 

Er  aber  hatte  diese  Spradie  lange  nidht  gehort.  »Oahu«,  sagte  er 
und  sah  sidi  urn.  Seine  Augen  sdifossen  sidi.  Das  Blut  zog  hinauf 
in  den  Kopf.  Dann  fiel  es  zurfidt.  Die  Blidte  faflten  alles. 

Zugleidi  vergafi  er  alles  Vorherige.  Es  hatte  keinen  Wert  mehr, 
es  fiel  wie  eine  Kulisse.  England  stromte  aus  seinem  Bewufltsein. 
Vaudricourt,  die  Kreolin  flogen  sdiemenhaft  von  ihm.  Alles  Seit- 
herige  ersdiien  ihm  nur  geheimnisvoll  <audi  im  Unbegreiflidien)  na<h 
dieser  KOste  geriditeter  Wille.  So  begriff  er  alles  im  Fallenlassen 
und  Heben  der  Lider,  Nahm  den  Fall  des  Strandes  in  sidi  auf,  das 
Erbrausen  der  Brandung,  die  Demut  des  Natives  und  einen  zarten 
Maiabaum,  der  ganz  allein  auf  der  Kuste  stand. 

Wie  alles  hinter  ihm  zurGcksank,  kein  Gedanke  das  Sdiiff  mehr 
sudite,  das  zwisdien  fernen  Wellen  segelte  und  nidits  mehr  aus  ih 
her  daran  rGhrte,  stieg  eine  Zartlidikeit  in  ihm,  der  folgend  er  nieder- 
kniete.  Legte  das  Gesicht  in  den  weifien  Sand,  erhob  sidh,  den  Kopf 
drehend,  und  sdirie  wie  ein  Tier  in  das  Land. 

Da  stoben  die  Eingeborenen  in  den  Wald. 

Nadidem  er  die  alte  Welt  aus  seiner  Seele  getilgt  hatte  und  gierig 
den  Einzug  der  neuen  spurend,  folgte  er  ihnen. 

Es  war  still.  Die  Baume  sdilossen  sidi  didit  fiber  ihm.  Er  ging. 
Eine  Fledermaus  spannte  sidi  vor  ihm  auf  und  flog.  Wurzeln  krall- 
ten  sidi  fiber  den  Weg.  Der  Tag  stieg.  Ein  Trogu  ldetterte  in  den 


203 


Kasim ir  Edsdmid  • Der  Goff 

Palmen.  Er  segnete  ihn.  ZwisAen  SAaAtelhalmen  rausAte  ein 
Wiedehopf.  Es  wurde  stiller.  Sein  Herz  klopfte  bis  in  die  Kokos- 
kronen  und  breitete  sicfa  uber  sie.  Sein  Herz  sAwoll  Ober  den  Wald 
und  versdilang  siA  mit  ihm,  dafl  jedes  GerausA  der  Blatter  in  seinen 
Kammern  mitscboll.  Er  empfand  ZartliAkeit  fur  alles.  Am  Mittag 
sah  er  einen  langen,  spitzen  Kopf  mit  steilem,  hohem  Ohr.  Es  war 
ein  wildes  SAwein.  Es  sah  ihn  an.  Er  streichelte  es. 

Er  ging. 

Dann  kam  er  in  ein  kleines  Tal.  Bergwande  warfen  si  A herunter, 
es  war  eng  und  diAt.  PlotzliA  verliefl  er  das  DiAiAt  und  braA  ins 
Freie.  Die  Enge  war  paradiesisA,  Palmen  sAwankten  in  der  Sonne 
tiber  einer  Hutte. 

Vor  der  Hutte  stand  ein  MadAen. 

Als  er  kam,  kniete  sie  nieder  und  flusterte:  *Rono.e 

Er  trat  an  sie  heran  und  sagte:  »Liebe  miA.« 

Sie  war  weiB  wie  eine  Franzosin  mit  einem  metallisAen  SAimmer 
der  HauL  Ihre  Glieder  waren  sAlank  und  weiA.  Sie  stand  auf. 

Sie  hob  die  Arme.  In  den  AAselhohlen  saB  kupferner  Flaum. 
Ihre  Haare  waren  tiefrot  und  glatt. 

Sie  hob  die  Arme  und  legte  sie  urn  seinen  Hals.  Er  trug  sie  in 
die  Hutte  voll  Erleben  des  zartliAen  DruAes,  mit  dem  sie  siA  an 
ihn  lehnte,  so,  als  sturbe  sie  an  ihm. 

Er  fragte  sie,  wie  sie  heiBe. 

Sie  wagte  ihren  Namen  vor  ihm  niAt  zu  sagen.  Da  nannte  er  sie 
Kalekua,  weil  sie  dieser  ahnliA  war, 

Aber  naA  wenigen  Tagen  bedrOAte  es  ihn,  daB  er  deren  Er- 
lebnis  noA  ungelost  und  sAwingend  hinter  siA  trage.  Er  braA  auf 
und  ging  zwei  WoAen  durA  den  Wald  mit  ihr  bis  Honoruru  zur 
sudliAen  Kuste.  Dort  horte  er,  Kalekua  sei  gestorben,  und  dies  er- 
fGllte  ihn  mit  Freude,  denn  nun  sAien  ihm  alles  auf  diese  Frau  ub er- 
gegangen  zu  sein. 

Er  baute  zwei  Tage  von  der  kleinen  Stadt  der  Natives  ein  Haus 
auf  einem  sAwarzen  Lavafelsen,  der  die  Bay  uberragte. 

Morgens  sahen  sie  gleiA  aufs  Meer,  in  dem  Kanoes  liAte  SAaum- 
streifen  hinter  siA  zogen  und  silberne  Rollen  an  den  Madreporen 
rannten.  Einmal  lag  ein  SAiff  lang  drauBen  unbewegliA,  das  ameri- 

14  Voi.  m/i 


Kasim {r  Edscbmkf  • Dtr  Gott 


204 

kanischen  Kaufleuten  gehdrte,  die  Sandelholz  nach  China  brachten, 
wo  es  a(s  Weihrauch  durch  die  Pagoden  stieB.  Sonst  kamen  keine 

Schiffe. 

Oft  regnete  es.  Aber  der  Himmel  bfieb  strahlend  blau  und  die 
Tropfen  hingen  wie  tanzende  Seile  in  die  See. 

An  einem  Morgen  nahm  Kalekua  ihn  bei  der  Hand  und  fuhrte 
ihn  stundenweit,  Sie  bahnten  sidi  durch  Farrengestrupp  und  Unter- 
holz  einen  Weg.  Spat  kamen  sie  in  eine  Schludit  Kalekua  lieB  seine 
Hand  nicht  frei.  Plotzlich,  nachdem  sie  unter  fiberhangenden  Felsen 
lang  gegangen  waren,  traten  sie  hinaus. 

Qber  ihnen  war  ein  Brausen.  Sie  hoben  die  Kopfe.  Er  sah  auf 
der  einen  Seite  der  Schludit  einen  Strom  herabfallen,  aber  in  der  Mitte 
der  Luft  fing  ihn  ein  Windstrom,  der  strudelnd  gerade  vor  ihnen 
hochsturzte,  und  trug  ihn  auf  die  andere  Seite  hinfiber.  Der  Wind 
stand  wie  eine  blaue  Spirale  in  dem  Tal. 

Kalekua  sah  fragend  zu  ihm  auf. 

Da  herrschte  er  sie  an,  stellte  sie  und  firagte:  »Was  willst  du?c 

Sie  sagte:  »Rono!«  und  sonst  nidits.  Aber  ihre  Augen  fragten. 
Sie  kehrten  zurudt. 

Manchmal  kamen  Natives  an  den  Rand  des  Waldes  und  sahen 
nadi  der  HOtte  und  gingen  scheu  zurfidc. 

Die  Luft  war  klar  und  hell  Gerausche  spannten  sich  unendlich 
aus.  Klang  entfernter  Fisdierboote  halite  lang  herauf.  Selten  wurden 
die  Nachte  kuhf.  Drei  Kokosbaume  standen  um  ihre  HOtte.  Kam 
Sturm,  bogen  sie  sich  wie  Glas  tief  hinunter  nadi  dem  Meer.  Es 
wurde  heiB,  aber  eine  leichte  Brise  schob  die  Luft  klar  zusammen 
und  machte  das  Klima  wie  aus  Seide  glatt  und  kfihl 

Kalekuas  Wesen  war  durcfasiditig  und  glanzend,  und  ihre  Haut 
glidi  geblaBtem  Bernstein.  Manchmal  erzitterte  sie,  wenn  sie  Jean 
Francois  sah  und  schien  unter  seinem  Blick  aufzugehen  und  sich  zu 
entfalten,  und  in  immer  steigender,  unirdischer  Hingabe  ihn  mitzu* 
fuhren  und  nach  seiner  Seele  wiederum  hinaufzuwachsen,  daB  er  in 
den  Umarmungen  ihrer  Nachte  sich  wie  schwebend  empfandL 

Einmal  traf  er  sie,  als  er  durch  den  Wald  streifte.  Sie  saB  neben 
einem  Ohiobaum,  spielte  mit  den  roten  Fruchten  und  hielt  eine 
zwischen  den  Knien,  Ihr  rotes  Haar  fiel  straff  zuruck.  Sie  sang: 


Kasimir  Eds  dm  id  • Der  Gott 


205 


Inoa  o Mauae  a Para, 

He  aha  matou  auanei? 

0 Mauae,  te  wahine  horua  nui, 

Wahine  maheai  pono. 

Tuu  ra  te  Ravaia 

1 ta  wahine  maheai, 

I pono  wale  ai  te  aina  o orua. 

I ravaia  te  tane. 

I mahe  ai  te  wahine. 

Mahe  te  ai  na  te  ohua, 

I ai  na  te  puari. 

Sie  hatte  eine  Verklarung  in  ihr  Gesicht  gesammelt,  dafi  er  nicht 
wagte,  sie  anzureden.  Er  schlofi  die  Augen.  Dann  zog  er  wie  ein 
Fudis  den  Kopf  ins  Dickicht  zuruck. 

Ein  paar  Tage  regnete  es  hintereinander.  Dann  kam  die  Luft  ge- 
strahnt  frisch  herauf.  Jean  Francois  lag  auf  seinem  Betl  und  kaute 
gelangweilt  an  den  Limonenblattern.  Kalekua  trat  ein.  Sie  war  noth 
feudht  vom  Bad.  In  ihren  Haaren  staken  vier  weifie  Federn. 

»Du  hast  die  weiBen  Federn  . . .« 

»Es  ist  das  Konigszeichen.*  Sie  strich  fiber  sie. 

Ihre  Brust  bebte.  Sie  nickte.  Dann  ging  sie  allein  hinunter  den 
langen  Weg  nach  Honoruru  zu  den  Zeremonien  der  Konigin,  der 
sie  verwandt  war  in  der  dritten  Reihe.  Jean  Francois  lief  den  Tag 
durch  den  Wald. 

Die  Fledermause  stoben  auf.  Sie  reizten  ihn  nicht.  Kein  Trogu 
entzuckte  seine  Augen.  Er  warf  mit  Fruditen  nach  den  wilden 
Schweinen  und  brullte  aus  breiter  Brust,  dab  sie  verstoben.  Er  kam 
heim,  als  die  Sterne  sich  uber  den  Wald  wolbten  und  lag  eine 
Nacht,  das  Gesicht  verzerrt  gegen  den  Himmel,  schlaflos. 

Am  Morgen  wusch  er  sich,  nahm  ein  Kanoe,  stieb  ins  Meer, 
sang  heifi,  kam  des  Nachts  in  die  Stadt  und  durchschweifte  die 
Gassen.  Gegen  Morgen  kam  er  an  die  groBe  Bay.  DrauBen  lagen 
im  fahlen  Silbergrau  sieben  Schiffe.  Er  begriff  nicht.  Er  visierte.  Es 
waren  sieben  Schiffe.  Es  waren  nicht  die  seinen. 

Drei  waren  Sandelholzfahrer.  Amerikaner.  Die  anderen  hatten  die 
plumpe  Bauchlinie  und  das  Grau  der  Walfischfahrer  der  sudlichen 


r.V.V.V.V.V 


206  Kasimir  EdscBmid  • Der  Gott 


Meere,  Er  verstand  diese  groBe  Flotte  nicht,  wo  sonst  nur  einzelne 
in  Mon  a ten  Pause  ankerten. 

Er  ging  zurQck  und  trat  In  eine  erleuditete  HOtte.  Matrosen  Johlten 
darin.  Sie  hatten  Rumfasser  aus  den  Schiffen  herQbergewalzt.  Er 
ging  auf  den  Besitzer  zu  und  nahm  ihn  zur  Seite.  Es  war  ein  alter 
Chinese,  er  kannte  ihn.  Der  sah  ihn  an  von  unten  und  sagte,  seit 
vier  Wochen  sammelten  sich  Schiffe  und  Matrosen  am  Strand.  Jean 
Francis  erstaunte,  ahein  seine  Sehnsucht  ging  nach  Kalekua.  Er 
vergaB  alles  darQber. 

AIs  er  aber  im  grofien  Garten  von  Ananas  bei  ihrem  Oheim 
Kuakini  saB,  begannen  die  Amerikaner  das  Haus  der  Kdnigin  zu 
beschleflen.  Sie  speisten  gerade.  Jean  Francois  sprang  hinaus.  Zwi- 
schen  den  verankerten  Sdiiffen  und  der  Kuste  wimmelten  Boote. 

Ein  Weifler  kam  ihm  entgegen.  Er  trug  den  dGrftigen  Taillenrock 
um  die  eherneBrust,  ein  starres  Gesicht,  urn  das  sich  Locken  krauselten. 
Es  war  ein  Missionar  von  den  Sdiiffen. 

»Warum  tun  sie  das?« 

Der  Missionar  spradi  von  Christ!  Wunden  und  hob  sein  Bib  el- 
buch.  Da  schlug  ihm  Jean  Francois  die  Hand  voll  ins  Gesicht. 

Die  Natives  flohen  aus  alien  Hausern,  Die  Matrosen  stellten 
Espingoles  am  Strand  auf  und  sdiossen  einpfQndige  Kugeln.  Hauser 
brachen  knallend  zusammen.  Das  Haus  der  Kdnigin  brannte.  Jean 
Francois  ging  in  den  Garten  zurQck,  nahm  Kalekua  und  floh  mit 
ihr.  Qberall  in  breiter  Kette  stromten  Menschen  in  den  Wald,  wo 
die  Matrosen  nicht  mehr  folgen  konnten.  Einige  blieben  stehen, 
hoben  die  Arme  und  machten  demutige  Gebarden,  »Ronoc  rufend. 

Allein  er  umarmte  Kalekua  und  fragte  nadi  nidits. 

Sie  zogen  zwei  Tage  durch  den  Wald.  Am  Abend  nodi,  da  sie 
ihre  Hutte  erreiditen,  fuhr  er  hinaus  aufe  Meer.  Er  sah  sein  dunkles 
Lavariff  in  den  Himmel  aufwarts  stoBen  und  sein  Haus  wie  auf 
einem  WellenrQcken  hodi  tragen.  Er  sah  die  gesdimeidige  Flanke 
der  Bucht  ausgedehnt  nadi  den  beiden  Seiten,  Sah  darQber  gewolbt 
die  Unendlichkeit  des  Waldes,  den  hellen  Sand,  die  Muscheln,  die 
Sonne  . . . er  sang,  er  spurte  in  einer  heiBen  Gehobenheit,  wie  dies 
alles  zu  ihm  gehore  und  er  sich  wieder  darein  zurQckergieBe  wie  an 
die  weiBen  Glieder  Kalekuas. 


<* 


Kafekua  aber  irrte  verwirrt  amher.  Glanz  zog  aus  ihrem  Auge 
Sie  sprach  nidit,  sie  sah  ihn  lange  an.  Es  war  einsam  um  die  Hutte. 
Selten  tauchten  Eingeborene  auf.  Das  Klima  wurde  kostlidier  und 
von  Bluten  durthzogen. 

Einmal  wagte  Kalekua  zu  reden  und  bat,  er  solle  das  Ungluck 
bedenken.  Er  verstand  sie  nidit.  Sie  meinte  die  Stadt  und  sagte  es. 
Jean  Francis  hatte  es  vergessen,  als  er  den  Abend  in  die  See 
stiefi,  denn  es  war  an  der  GroBe  seines  Gefuhls  hinabgeglitten  und 
beiseite  geblieben.  Wenn  er  die  Hohe  der  Seele  empfand,  was  war 
es  ihm,  daB  Matrosen  Kokos  plunderten!  Und  er  lacbte  und  sagte 
es  ihr. 

Dock  sie  setzte  einen  FuB  vor  den  andem  wie  spielend  und  sagte : 
»Sie  sind  nodi  da,  streifen  und  sudien  die  Konigin.* 

>Was  wilfst  du  — .« 

Da  wies  Kalekua  auf  ihre  weiBen  Federn  und  bat  zu  ihr  gehen 
zu  durfen,  die  versteckt  sei,  und  zitterte  vor  ihm. 

Sdimerz  wOhlte  sidi  kurz  in  seine  Brust,  wie  er  dadite,  daB  sie 
gehe,  aber  er  sah  in  ihre  Augen  und  lieB  sie  gehn. 

Am  vicrten  Tage  ihrer  Abwesenheit  taudite  eine  Floite  aus  dem 
Horizont.  Jean  Francois  lag  auf  dem  Baudi  uber  den  Rand  der 
Klippe  gebeugt  und  erwartete  sie.  Sie  sdiaukelte  weidi  getragen 
heran.  Plotzlidi  riB  er  den  Kopf  zurudt  und  sdiQttelte  ihn.  Dann 
sprang  er  auf  und  lief  ins  Haus. 

Es  war  kein  Zweifel.  Es  waren  seine  eigenen  Sdiiffe. 

Er  schrieb  sofort  einen  Brief.  Er  schrieb,  fette  Walkahne  hatten 
die  Kuste  besdhmutzt,  an  der  er  lebe.  Man  solle  sie  zerschieflen, 
obwohl  es  veraditliches  Handwerk  sei.  Er  habe  sidi  vom  Sdiiff  ent* 
fernt  wie  er  gekommen  sei.  Er  habe  darauf  vorbereitet,  auch  ohne 
zu  wissen,  warum.  Darum  unterlasse  er  es,  Entsdiuldigung  zu  er- 
sudien,  denn  allein  das  Verstandnis  erklare  sein  Tun/  daB  so  sein 
Drang  und  seine  Art  sei. 

Als  die  Sdiiffe  Anker  warfen  in  der  Dammerung,  sdiwamm  er 
hinuber  und  warf  ihn  ins  Admiralschiff. 

Die  Nadit  lag  er  sdilaflos.  Er  bedadite  Vergangenes,  wo  die  alte 
Welt  ihn  wieder  uberspulte.  Sein  Him  fand  keine  BrQcke  zu  ihr. 
Sein  Herz  staunte  uber  sie.  Sein  Leben  schien  nur  nebensacfaliche 


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Kasimir  EdsSmid  * Der  Gott 

Vorbereitung  fur  den  Zustand,  in  dem  er  nur  die  hdchste  Gleidi* 
gewichtslage  seines  Daseins  empfand.  Er  hob  eine  Musdiel  und 
schlOrfte  sie  voli  Andacht.  Er  streichelte  den  Boden  des  Hauses  und 
empfand  Erschutterung.  Er  lachelte,  hob  die  Hand,  und  unter  dieser 
Bewegung  schwang  das  Vergangene  ins  Uferlose  zurGck. 

Morgens  wechselte  das  Admiralschiff  Signaie  nach  dem  Strand. 
Graf  d'Ache  stand  auf  der  Brftcke  in  groBer  Uniform,  das  Band 
des  Ludwigskreuzes  Qber  der  Brust.  Er  kommandierte: 

*Mein  Herr,  Sie  sind  desertiert.  Ich  wGrde  Sie  in  Eisen  schlagen, 
trafe  ich  Sie.  I<h  werde  den  Strand  absuchen  lassen  mit  funfzig 
Mann.  Man  wird  Sie  wie  einen  Hasen  fangen.  Ihr  Wunsch  um 
Hilfe  sei  aus  Sachlichkeit  gewahrt.  Ich  werde  morgen  fahren.  Neh- 
men  Sie  von  einem  Gentleman  am  SchluB  die  Versicherung  bewun- 
demder  Freunds<haft.« 

Kurz  danach  kam  Kalekua. 

Am  Mittag  such  ten  fbnfzig  Mann  mit  Bajonetten  die  Kuste  ab. 
Jean  Francois  floh  nicht.  Er  wuBte,  daB  sie  die  Wege  zu  ihm  nicht 
fanden,  und  sie  fanden  sie  aud»  nicht.  Anderen  Morgens  losten  sie 
eine  metalfene  Kanone,  begaben  sich  kreuzend  unter  Wind  und 
trieben  aus  der  Bucht  nach  Honoruru  zu. 

Kalekua  hatte  eine  neue  Weise  zu  gehen,  sie  beruhrte  den  Boden 
weniger  wie  frQher,  ihre  Hande  hatten  einen  eigenen  Takt  und  ihre 
Augen  sahen  durch  die  Dinge  hindurch,  die  sie  umgaben.  Die  Feier- 
lichkeit  reizte  Jean  Francois,  und  er  bat  sie,  ihn  zur  Konigin  zu 
ftihren,  wenn  sie  wieder  zu  ihr  ginge.  Und  sah  sie  fest  an. 

Sie  erschrak  und  wurde  braun  im  Gesicht  und  sagte  stodcend  vor 
Freude  und  Angst:  »Ich  will,* 

Sie  speisten  auf  dem  Tisch  vor  dem  Haus.  Sie  brachte  eine  Ka» 
rabasse  mit  Teig,  gebratenes  Schwein  und  suBe  Kartoffeln.  Als  sie 
die  Holzschale  mit  Wasser  reichte,  sah  er  wieder,  wie  schon  sie  war. 

Sie  setzte  sich  ihm  gegenuber,  eine  yameswurzel  leicfat  zerkauend, 
die  Palmen  bogen  sich  in  der  Luft,  das  Meer  scholl  herauf. 

Da  wies  er  hinunter  und  sagte  ihr,  daB  er  fremde  Schiffe  gesandt 
gabe  gegen  die  Chinafahrer  und  verzog  keine  Miene.  Sie  aber,  un- 
glaubig,  QbermaBig  erbebend,  sprang  auf,  wandte  sich  wie  zum 
Fliehen,  kehrte  um  und  kuBte  ihn  zwisdien  die  Warzen  seiner 


Kasim ir  Eds c£ mid  • Der  Goff 


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Brust,  wagte  den  Blick  nicht  aufzuheben  zu  ihm  und  flusterte:  *Rono«. 
Jean  Francois  erzumte  iiber  das  Wort,  das  wieder  auf  ihn  traf, 
ohne  daft  er  es  fafite,  drohte  ihr  und  fragte,  was  sie  damit  sage. 

Sie  hob  wieder  den  Blick.  Aber  sie  brachte  das  Auge  nur  bis 
dahin,  wo  sie  ihn  gekufit  hatte,  und  fast  vergehend  sagte  sie: 

»Du  wolltest  zur  Konigin.  Sie  will  dick  sehen.c 

Ihre  Haltung  war  schwach.  Die  Sdiultern  hingen.  Sie  kehrte  um 
in  das  Haus,  kam  zuruck  und  trug  die  weiften  Fedem.  Sie  nahm 
seine  Hand  und  sagte:  »Komm.« 

Dann  gingen  sie  in  den  Wald  hinein  und  lieften  das  Haus  hinter  sich. 

Die  Tur  stand  often. 

Das  Meer  brauste  blau  hinein. 

Kalekua  sah  sich  noch  einmal  um. 

Nachts  schliefen  sie  in  ciner  Platane.  Morgens  wanderten  sie 
weiter.  Als  die  Sonne  steil  stand,  kamen  sie  an  einen  Pafi,  der  in 
Windungen  sich  aufwarts  drehte.  Sie  gingen  lange.  Mit  einem  Male 
endete  der  Weg.  Hinter  einem  Busch  trat  ein  Mann  hervor,  der  mit 
dem  Firnis  der  Gumminuft  im  Gesicht  gezeidinet  war.  Er  neigte  sich. 
Kalekua  winkte  mit  der  Hand.  Da  ging  er  vor  ihnen  her.  Sie  schrit- 
ten  durch  den  Busch  und  gingen  iiber  eine  Gegend,  die  verbrannt 
war,  diirrer  als  Wiiste.  Erdhaufen  bogen  sich  wie  Wellen.  Risse 
durdhfuhren  den  Boden.  Trockene  Biische  klebten  am  Rand  der 
Steigung.  Kalekua  padste  seine  Hand.  Sie  kletterten  iiber  eine  Lava® 
dune,  bogen  und  stiegen  eine  kleine  Terrasse  hinunter. 

Der  Bogen  senkte  sich  tief  und  lief  in  machtigen  Kurven  sich  ver® 
schlingend  um  einen  Streifen  Wasser,  der  sich  tief  ausdehnte,  den 
wieder  Zungen  und  Wellen  Landes  durchstiefien  und  sich  so  zum 
Horizont  verloren. 

Aus  dem  Wasser  bracken  Kegel  wie  spitze  Maulwurfshiigel.  Aus 
ihren  Rohren  stieg  lautlos  weifter  Dampf.  Es  waren  Hunderte  von 
Kegeln.  Einer  spritzte  Gelbes  aus  seinem  glasdiinnen  Schlund, 

Kalekuas  Hand  fuhrte  ihn  weiter.  Vor  ihnen  ging  der  Gezeichnete. 
Sein  Rucken  zitterte. 

Jean  Francois  schritt  federnd  und  leicht.  Sein  Herz  sturmte  in  eine 
grofie  Erwartung.  Seine  Augen  streiften  ein  grofles  Erlebnis  iiber  den 
Tag  und  hungerten  danach. 


Kasim  ir  EdsSmid  * Dir  Gott 


210 

Sie  sriegen  wieder,  Es  wurde  glflhend  vor  Sonne.  Die  Erde  tat 
den  Sohlen  weh.  Nirgendwoher  kam  ein  Wind. 

Dann  taudite  eine  Mauer  auf,  die  den  Bergrucken  herunter  lief  in 
einem  lan gen  und  leeren  Bogen.  Auf  ihr  war  ein  Holzstamm  rund 
gehauen  aufgestellt  mit  vieien  schmalen  Rinnen,  die  nadi  unten  liefen. 
Darauf  hodcte,  halb  stehend,  eine  Figur.  Sie  war  in  die  Knie  ge- 
beugt  mit  einer  Knickung,  daB  die  Sdienkel  wollQstig  und  breit  an- 
sdiwollen.  Die  Arme  waren  dQnn  und  verkQrzt  leblos  nadi  der  Erde 
gehangt.  Die  BrGste  waren  klein  und  saBen  dicbt  unter  dem  Hals. 
Der  Kopf  bestand  aus  einem  einzigen  wflsten  Radien  und  trug  einen 
Helm,  dessen  Schweifung  sich  in  einer  Raupenfahne  bis  zum  Becken 
hinabzog. 

Sie  maditen  einen  Bogen  und  traten  dicht  an  der  Bergwand  in 
einen  Gang.  Zuerst  war  es  dunkel.  Dann  sonderten  die  Wande  ein 
Lidit  aus,  das  mit  einem  matten  gelben  Sdiein  die  Hohlung  durdi- 
drang.  Die  Luft  war  weich.  Kalekuas  Daumen  stridi  uber  den  Ballen 
seiner  Hand.  Das  gelbe  Licht  aus  den  Mauern  verdidhtete  sith  zu 
phosphorisdiem  Glanz. 

Eine  Stimme  sdioll  ihnen  entgegen,  die  seinen  Sdiritt  hemmte. 
Aber  Kalekua  trat  vor  ihn.  Er  fragre:  »Kalekua?  Am  Ziel?«  Sie 
drehte  sidi  halb  und  sagte:  »Der  Priester,  der  das  Kommende  weiB,< 
und  zog  an  seiner  Hand.  Sie  waren  in  einem  runden  Saal  voll  von 
dem  Lidit.  In  der  Mitte  stand  ein  Gehause,  oval  und  derb  gesdinitzt» 
mit  Gitterung  in  der  Halfte  der  Hohe. 

Kalekua  deutete  auf  ihre  Federn,  wies  mit  beiden  Handen  darauf 
und  sagte:  »Zur  Konigin.* 

Als  ein  dumpfer  Laut  zurGdtkam,  wollte  sie  vorgehen.  Allein  Jean 
Francois  trat,  sicfi  von  ihr  losend,  an  das  Gehause  und  erfragte 
streng  den  Sinn  des  Wortes,  das  ihn  Gberall  traf  und  das  sein  Be- 
wufitsein  qualte.  Er  fragte:  >Was  ist  Rono?« 

Ein  Kopf  sthob  sidi  aus  dem  Gitter,  pergamenten  die  Wangen, 
mit  geflochtenem,  weifiem  Bart,  starrte  ihn  an  und  erschrak.  Dann 
zog  sidi  der  Kopf  zurudc,  und  eine  demutige,  zitternde  Stimme  fragte 
aus  dem  Inneren  des  Gehauses,  warum  er  sdierze.  Doth  Jean  Francois 
befahl  laut  die  Antwort. 

Da  begann  die  Stimme  wieder.  Sagte  — wenn  er  Bekanntes 


Kasim  ir  Eds  <6 mid  • Der  Gott 


211 


wiederholen  musse  — , dafi  Rono  ein  Gott  gewesen  sei,  der  die  Insel 
bewohnte,  dann  Menschen  die  Erlaubnis  gab,  sie  zu  besiedeln,  die 
ihn  aber  sdilecht  ehrten.  Da  brack  er  los,  totete  viele  und  verlieB 
die  Insel . . . Und  daB  er  wiederkomme  ubermachtig  in  einem  Schiff, 
der  Gott,  der  Gott sagte  er,  und  heulte  erbarmlich. 

Kalekuas  Gesidit  war  starr.  Der  Priester  wimmerte  und  bewegte 
sein  Gehause,  daB  es  urn  die  Achse  sdmellte  und  ein  haliendes  Ge- 
rausch  gab. 

Nun  wufite  Jean  Francis  Kalekuas  tiefste  Gedanken. 

Sie  drangen  weiter  vor.  Das  schwebende  Lidit  horte  auf,  die  Be- 
leuchtung  ward  mehr  die  des  Tages,  blau  und  durchsichtig. 

Plotzlich  widi  die  Wand  auf  der  einen  Seite  tief  in  die  Dunkelheit 
hinein,  die  anbrach.  Am  Ende  des  finsteren  Raumes  jedodi  sahen 
sie  hellen  Himmel  hereinkommen.  Als  sie  die  Augen  senkten,  offnete 
sich  das  Meer  vor  ihnen,  und  vertiefter  nodi  dann  die  Stadt  und 
die  Bay. 

Jean  Francois  gewohnte  sein  Auge  an  das  straMende  Lidit.  Da 
sah  er  die  Budit  voll  von  Booten,  die  vom  Strand  zuruckeilten.  Um 
die  Klippe  aber  sdiwammen  fremde  Sdiiffe,  von  denen  weiBe  Wolken 
sich  hoben. 

Kalekua  druckte  ihn  gegen  die  Wand. 

Ein  feiner  Larin  kam  von  unten  heran.  Zehn  junge  Manner  gingen 
vor  einem  Zuge.  Sie  bliesen  Horner  aus  weiBen  Knodien,  die  spitz 
gleidh  Sdhaferpfeifen  klangen.  Ihnen  folgten  andere,  die  Besen  hatten, 
die  brannten  und  einen  Moschusduft  ausspannten.  Dann  kamen  stamp- 
fend,  die  Beine  wirbelnd,  Madchen  in  gelben  Manteln.  Sie  hatten  in 
der  linken  Hand  kleine  und  dicke  Stocke,  in  der  anderen  grofle  ge- 
sdialte  hohle  und  sdilugen  quirlende  Takte  darauf.  Zwei  hatten 
Trommeln  aus  Haifisdihaut.  Sie  rasselten  knatternd  und  dumpf. 

Sie  rannten  voruber  nadi  dem  Felsausblick,  und  ihr  Geschrei  er- 
hob  sidh  heftig  und  monotoner,  wahrend  sie  die  Schfadit  besdiauten, 
Kalekua  faBte  ihn.  Sie  gingen  weiter.  Es  wurde  wieder  dunkel. 
Dann  aber  kam  von  neuem  Luft  zart  und  mild  herauf.  Sie  blieben  stehen. 

Ein  Teidi  lag  vor  ihnen.  Ein  schmales  Stuck  Land  schloB  ihn  am 
Ende  rund  ein.  Dariiber  stand  die  groBe  Offnung  des  Berges  gegen 
den  Himmel  hin. 


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Kasimir  EdsSmid  • Der  Goto 


77777777.  .7:71. . 7177 7 77 1 7717 L 


Aus  dem  Wasser  stiegen  langsam  Frauen.  Eine  kam  zuerst  Sie 
trugen  alle,  ohne  diese,  Helme  mit  roten  Papageienfedem.  Eine  nur 
trug  einen  Wedel  aus  Palmenfachem. 

Die  erste  aber  schwang  in  leichtem  Spiel  die  Arme  zum  Trocknen 
durch  die  Luft  Das  Blau  zog  dick  hinter  ihr  zusammen.  Sie  war 
sdilank  mit  wunderbaren  hohen  Beinen  und  nackt. 

Ibre  Knodiel  trugen  Ringe  von  Gardenien. 

Ihre  Haut  war  gefarbt/  gelblicb  braun  wie  eine  reife  Olive. 

So  trat  sie  vor  ihn,  das  Haupt  zurudcgelehnt,  und  sah  ihn  starr  an. 

Ihr  Blick  aber  streifte  die  Welt  um  ihn  hinweg.  Er  sah  ihren 
Kopf,  ihre  Nadctheit,  die  weich  und  einfach  auf  ihn  strahlte.  Ihr 
Blick  weilte  auf  ihm  mit  stolzer  und  demutiger  Klarheit,  und  dies 
erhob  sein  GefQhl,  dafi  sie  ihm  wie  ein  Ausgleidi  sdrfen  zwischen 
seiner  Kraft  und  ihrer  Hohe,  sein  Blut  stromte  gesteigert  bis  an 
Grenzen,  die  er  selbst  nidit  mehr  erreichte,  sein  Him,  unirdisdi  ge» 
worden,  schrie:  Konigin. 

Er  begehrte  sie. 

Er  loste  Kafekuas  Hand  von  sich  ohne  Empfindung.  Dann  warf 
er  mit  einem  Schrei  den  Stolz  der  Konigin  nieder. 

Ihr  Blick  fiel.  Sie  wurde  bleich. 

Von  den  Stromen  seines  Ich  durchschwellt  erhob  er  die  Hande 
nach  ihr:  »Liebe  mich«. 

Seine  Stimme  schuf  ein  Sdiweigen,  in  dem  die  anderen  erstarrten 
und  Kalekua  niederfiel.  Er  sah  ihr  Gesicht,  als  er  die  Konigin  auf 
seine  Arme  legte,  versteint  und  still  zu  ihm  aufsehn  von  der  schmutzigen 
Erde.  Aber  so  sehr  kreiste  dieses  Erleben  in  ihm,  dafi  es  seinem 
BewuBtsein  vorbeischwamm  wie  ein  rascher  Mond. 

Er  nahm  die  Konigin  hoch,  kQBte  sie  und  trat  mit  ihr  in  das 
Wasser,  das  bis  zu  seinen  Huften  stieg.  Dann  wurde  es  seichter. 
Er  bog  in  den  Seitengang  und  kam  in  ein  Nebengewolbe,  das  voll 
stand  von  kleinen  Geraten,  Waffen  und  Figuren  aus  Jade.  Sie  alien 
grGnes  Harz  zusammen,  das  ihre  Adern  tosend  erhitzte  und  er  kufite 
sie,  die  verging. 

Als  am  Morgen  sein  erwaditer  Blick  gegen  das  Blau  des  Hori- 
zonts  prallte,  sturzte  das  Bild  Kalekuas  von  alien  Wanden  gegen 
sein  Gesicht  und  verstorte  sein  Gefuhl. 


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Kasimir  EdscBmicf  * Der  Gott 

Er  riditete  sidi  auf,  bis  er  kniete.  Er  sah  auf  die  Konigin.  Sie 
war  schon.  Ihre  Lippen  lagen  fest  zusammen  und  zitterten.  Er  ver- 
glidh  ihre  Glieder.  Er  beruhrte  ihr  braunes  Haar  und  den  sdimalen 
Ansatz  des  Augenschlitzes,  er  fuhr  uber  ihre  jungen  Briiste.  Er 
hielt  die  beiden  gegeneinander.  Aber  Kalekua  stieg. 

Er  stand  auf,  trat  bis  zur  Offnung,  wo  der  Berg  hinuntersauste, 
sdiwang  die  Arme,  sah  noth  einmal  auf  die  Konigin  und  ging.  Das 
Wasser  nahm  ihn  kuhl  auf.  Am  anderen  lifer  schiittelte  er  sich  wie 
ein  Hund,  die  Tropfen  spritzten  gegen  die  Mauem.  Er  wuBte,  daB 
er  eine  grofie  Hohe  erlebt  habe,  aber  daB  er  sie  wegtun  musse  aus 
der  bleibenden  Erinnerung.  Es  war  nicht  viel,  eine  Nacht  aus  dem 
Leben  zu  streidien.  Er  sdiob  sie  zuriick. 

Im  Gang  standen  in  Nischen  groBe  Figuren  aus  Holz  und  Stein. 
Sie  hatten  aufgebiasene  Baudie  und  grune  Augen. 

Am  Ausgang  lag  Kalekua,  zusammengekrummt.  Sie  sdhlief.  Tau 
hatte  ihr  rotes  Haar  verwirrt  und  feudit  geballt. 

Er  bezahmte  sich.  Er  sturzte  nidit  auf  sie.  Er  wagte  nidit  sie 
anzureden.  Er  sah  sie  lange  an  und  ging  voriiber. 

Nadi  fiinf  Sdiritten  holte  ihre  Stimme  ihn  ein,  sie  sdiuttelte  sidi, 
stand  auf  und  kam.  Er  senkte  den  Kopf  ein  wenig.  Sie  aber  nahm 
seine  Hand  wie  immer.  Sie  gingen  zusammen,  wie  sie  kamen,  den 
PaB  hinunter.  Sie  stieBen  durdi  die  Dampfe  der  aufgespitzten  VuU 
kane.  Sie  sdiliefen  die  Nadit  in  der  Platane.  Mittags  erreiditen  sie 
das  Meer. 

In  der  ersten  Nadit  glaubte  er,  daB  Kalekua  ihn  toten  werde. 
Dodi  sie  zeigte  Andacht  und  Liebe.  Er  grcibelte,  warum  sie  sidi 
mit  Freundlidhkeit  verstelle.  Dann  stellte  er  sie  zur  Rede.  Er  sagte 
ihr,  dafi  sie  unehrlidi  sei  und  Masken  uber  ihr  Empfinden  ziehe. 
Sie  weinte  darauf  und  erbleichte  in  Sdimerz.  Da  stieB  er  roh  in  den 
Mittelpunkt  des  Gefiihls: 

»Hast  du  nicht  Schmadi  uber  mich?  Ich  lieB  didi  bei  Seite  und 
nahm  andere  Glieder  an  die  Brust.« 

Da  ladielte  sie  ihn  an,  verstandnislos,  und  sah  unsidier  nadi  der 
See,  iiber  der  die  Brandung  aufschwang.  Am  Abend  begann  sie 
langsam  zu  weinen,  und  als  er  ihr  die  Haare  grade  legte,  fragte 
sie,  ob  sie  bleiben  durfe.  Da  lieB  Jean  Francois  sein  Mifitrauen  vor 


Kasimir  Edsdbmkf  • Der  Gott 


soldier  Liebe,  deren  Quellen  er  nidit  begriff,  und  Qberstromte  sic 
mit  Zartlichkeit. 

Als  sie  spater  aufbrach  zur  Konigin,  blieb  er  allein  auf  seinem 
Peisen  sitzen.  Die  ganzen  langen  Stunden  sann  er  ihr  Bild  in  die 
Luft,  dafl  er  am  Abend  des  dritten  Tages,  halb  verstort  von  Liebe 
und  heifier  Luft,  in  die  Hutte  taumelte,  um  die  Kalekua  in  unzah- 
ligen  Formen  und  Haltungen  sdiwankte.  Jede  Linie  schob  sidi  zu» 
sammen  mit  anderen  und  wurde  ihr  Bein,  ihr  Arm,  ihre  Brust,  ihr 
Winken.  Seine  Augen  wurden  rot.  Im  Fieber  sdilief  er  ein.  So 
wartete  er  auf  sie. 

Sie  kam  des  Nachts  und  trat  nidit  ein.  Als  er  unruhig  erwadite 
und  Kuhlung  begehrend  hinaustrat,  sah  er  sie  leblos  vor  der  Tiir. 
Das  Stemlicht  Gbersdiwankte  sie,  und  sie  fror.  Er  trug  sie  auf 
Armen  hinein.  Das  Herz  ging.  Aber  es  sdilug  nidit  nadi  dem  seinen 
hin,  es  fief  durdi  den  Takt  des  seinen  ohne  Sinn  und  Ziel. 

Er  blies  ihr  seinen  Atem  in  den  Mund.  Sie  stohnte.  Er  stieg 
auf  das  Bett  und  legte  sidi  auf  sie,  dafi  sie  erwarme.  Ihr  Blick  traf 
ihn.  Er  war  ausdrudcslos.  Ihre  Fedem  hatte  sie  aus  den  Haaren 

genommen. 

•Kalekua. « 

Die  Pupilfe  bog  sidi  nadi  oben. 

Sie  bekam  einen  kleinen  Ausdrudk  auf  der  Oberfladhe.  Es  war 
Angst. 

•Die  Konigin  . . .« 

»Was  — c Seine  Stimme  fuhr  sdiarf  auf. 

Doch  sie  antwortete  nur  mit  einer  leeren  Geste,  auf  die  keine 
Frage  gesetzt  werden  konnte.  Kalekua  war  affein  zuruckgekommen, 
sie  hatte  die  Konigin  nidit  gefunden.  Grauen  hatte  sidi  in  ihr  Him 
gesturzt.  Die  Konigin  war  fort. 

Nidit  mehr  stridi  Kalekua  an  sein  Lager  und  durchduftete  das 
Zimmer  mit  Liebkosung.  Die  Welle  ihrer  erregten  Bruste  sdilug 
nidit  mehr  an  seine  Brust.  Ihr  Auge  mied  den  Meerkreis.  Kein  Blick 
segelte  auf  den  Horizont.  Echos  sdilug  ihre  Stimme  nie  mehr  aus 
dem  Riff. 

Jean  Francois  trostete  sie  mit  Streidiefn  und  mit  Worten.  Dodi 
ihre  Haut  zudcte  nidit.  Worte  fielen  von  ihr  ab.  Da  befahl  er  ihr. 


Kasimir  Eds  dim  id  ■ Der  Gott 


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sich  zu  freuen,  aber  sic  sagte:  »Die  Konigin  . . .«  und  vertiefte 
das  Auge  zum  Boden. 

Sie  ging  zielios  durch  die  Gegend,  fOrchtete  etwas  Entferntes  und 
hielt  die  Haare  in  Verwirrung.  Einen  ganzen  Morgen  lief  sie  an 
der  Kuste  auf  und  ab  ohne  Laut.  Sie  wich  den  Wellen  aus,  die 
kamen,  und  bog  in  die  zuruckflutenden  ein  in  einem  erschredcenden 
Zickzadtlauf.  Mancbmal  hielt  sie  erstarrt  einen  Augenblidc  die  Arme 
senkrecht.  Jean  Francois  sah  es  stundenlang  an,  bis  es  ihn  tief  be- 
sturzte  und  er  hinunteriief  und  sie  holte.  An  diesem  Morgen  begriff 
er,  daB  sie  ein  fremdes  Gefuhl  in  sich  trug,  das  von  seiner  Seele 
wild  hinwegwuchs.  Denn  sie  glaubte,  daB  sie  ihn  der  Konigin  ent- 
zogen  habe,  und  daB  diese  ihr  furchtbar  ziirne,  und  ihre  Liebe  ging 
scheu  geworden  von  der  seinen  zurtick,  die  ubermaditig  iiber  sie 
hing.  Er  aber  glaubte,  daB  sie  Schmach  triige,  weil  er  ausbiegend 
vom  graden  Sinn  seiner  Liebe  die  Lust  der  Konigin  empfand. 

Er  suchte  dies  aus  ihrer  Seele  zu  werfen  und  sie  mit  Funkeln- 
dem  zu  erfullen.  Er  fuhr  mit  dem  Kanoe  sie  tief  hinein  ins  Meer, 
bis  der  aufgliihende  Abend,  als  sie  selbst  schon  vom  Dunkel  ver- 
zehrt  waren,  die  Bucht  brandrot  entflammte.  Er  fing  kleine  Sthweine 
im  Wald,  damit  ihr  Quitschen  bis  zu  ihrem  Geladiter  vordringe. 
Drei  Wocben  fertigte  er  an  einem  Haken,  mit  dem  er  einen  Hai- 
fisth  fing,  den  Bau<h  vom  Boot  aus  aufriB  mit  dem  Messer,  und 
aus  dessen  Zahnen  er  cine  Kette  madite,  damit  der  Stolz  daruber 
ihre  zu  Traurigkeit  zusammengesdblossene  Seele  lotkere.  Er  log  zu 
ihr  eines  Abends,  als  ein  femes  Lacheln  hinter  ihren  Augen  saB, 
von  einem  Bruder,  den  er  nidit  besafi,  der  mit  Schiffen,  wie  mit 
BauchBossen  von  Fisdien  gestalteten,  fahre. 

Als  er  an  einem  Morgen  spat  hinaufkam  von  der  Bucht,  lungerte 
um  sie,  die  schweigend  und  nichtachtend  saB,  ein  Chinese.  Er  er- 
schlug  das  gelbe  Tier,  das  ihr  Bein  mit  Beriihrung  befleckte,  sdiabte 
nadi  der  Sitte  der  Stamme  das  Fleisch  von  den  Knodien  und  schenkte 
ihr  diese,  auseinandergelegt  und  gebleicht  von  der  Sonne,  in  einem 
gebeizten  Kasten  mit  gelbem  Tuch. 

Allein  sie  farbte  sich  die  Lippen  schwarz  mit  Beerensaft  aus  Trauer 
und  fehlte  zwei  Nachte,  den  Wald  stumm  durchsuchend,  in  seinem 


216  Kasim  ir  Eds<£mid  ■ Der  Gott 

Die  Welt  war  jedodi  so  ma&tig  und  grofi  in  ihm,  da 6 er,  sidi 
heftiger  an  sie  verstridcend,  nadi  dem  Fafibaren  das  Unmoglidie 
verspradi:  Giraffen,  Tiger  und  den  Mond. 

Dodh  ihr  Auge  blieb  dunkel.  Ihre  Seele  verehrte  ihn  sdieu  und 
entfernt.  Dock  je  tiefer  sie  in  ihre  Angst  taudite,  um  so  wilder 
umfafite  sein  Begehr  ihr  Entweichen. 

Als  sie  wieder  einmal  fortblieb,  dadife  er  ihr  Bild  nidit  mehr  in 
den  Raum.  Es  genugte  nidit  mehr.  Seine  Hande  zeidineten  ihren 
RiB  an  die  Wand.  Seine  Fauste  sdilugen  den  Kopf  in  Ton,  in  zwei 
Tagen,  bis  sie  toten  Blidts  zuriickkam  aus  dem  Wald. 

Damit  er  sidi  verkleinere,  ihre  Leidensdbaft  aber  aufwarts  hebe, 
tat  er  das  Obermafiige  von  sich,  ftihrte  sie  in  das  Haus  und  sagte: 
»I(h  bin  nidit  Rono.  Fiihl  den  Muskel,  der  didi  mandie  Nadit  hielt. 
Greif  in  den  Riicken.  Idi  bin  nidits  als  Mann.  Jeder  konnte  midi 
ersdilagen.  Deine  Liebe  ist  mehr  wertend,  als  meine.  So  gering  bin 
idi,  daB  niemand  midi  begehrt,  es  sei  denn  eine  wilde  Sau  zum  Frafl.« 

Dodi  sie  wies  auf  die  Stelle,  wo  die  fremden  Sdiiffe  die  Wal- 
fisdifanger  der  Sudmeere  gesdhlagen  hatten,  erinnerte  ihn  daran  und 
ladielte  und  glaubte  ihm  nidit. 

Da  griff  er  die  Dumpfheit  ihrer  Seele  von  der  anderen  Seite  an, 
die  sidi  zwisdien  ihre  Liebe  schob,  packte  das  Bild  der  Konigin, 
demutigte  den  Triumph  und  das  Genossene  in  sidi  und  sagte: 

»Was  ist  sie?  Es  ist  geringes  nur.  Idi  hatte  sie  in  der  Hand  wie 
ein  Ei.  Sie  gab  wenig  zuruck.  Ihr  Korper  ist  gut,  wenn  deine  Haut 
audi  heller  ist.  Aber  ihr  Sinn  ist  der  einer  Sdinecke.« 

Allein  ihre  Seele,  die  an  das  Nahe  und  Einfadie  angelehnt  stand 
und  nidit  vordrang  in  das  Entfemte  und  Aufbauende  seiner  Satze, 
hielt  fest  an  der  Konigin.  Sein  Hebei  zerbrach  an  dem  einen  Wort. 

Denn  der  Gedanke  an  sie  und  das  Maditige,  was  sie  umgab, 
lag  zaher  und  fester  in  ihrem  Blut  und  vererbter  den  Rinnen  ihres 
Gehims,  als  das  Erdonnemde  seines  Namens  fflr  ihr  irdisdies  Ge» 
fiihl  und  selbst  als  die  in  seinem  Korper  verankerte  Liebe  des 
Mannes,  die  nur  durch  Umarmung  und  Umarmung,  in  Pausen  ge- 
spalten,  sidh  erlebt. 

Sie  stellte  sidi  hoch  und  sah  ihn  sdiarf  an.  In  dem  Blick  war 
wenig  von  Liebe,  aber  dumpfe  Erwartung,  die  ihm  die  Gurgel  zer» 


Kasimir  Eds  dm  id  * Dtr  Gott 


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sdinurte,  denn  er  wuBte  kein  Mittel  mehr,  wie  er  die  Angst  vor 
der  Konigin  Rache  von  ihr  nahme. 

Hr  versuchte  nodi  eines:  sudite  tagelang  die  Konigin,  sdirie  ihren 
Namen  in  die  Taler.  Aber  fand  sie  nidit. 

Kalekua  sah  ihn  hart  an,  als  er  eintrat,  widi  die  Nacht  aus  dem 
Haus.  Er  aber  sab  in  der  Platane  und  erwartete  den  Morgen,  in 
dem  seine  Liebe  sidi  nodi  tddlicher  vertiefte. 

Oft  sah  er  sidi  um  und  erstaunte  sekundenlang.  Denn  was  ihn 
sonst  trieb,  die  Kuste,  die  Wellen,  die  Flut  der  Palmen,  was  seinem 
Leben  und  Dasein  Ausgleidi  gegeben  hatte  und  seine  Seele  defer 
emahrt  und  bewegt  hatte,  wie  jedes  vorherige  Dasein  — es  sdirumpfte 
zusammen  vor  dem  Gefuhl  zu  Kalekua,  das  alles  ubertraf  und 
niditig  machte  neben  sidi. 

Seine  Liebe  schwoll  an,  daB  er  sie  nidit  mehr  in  dem  GefaB 
seines  Wesens  halten  konnte,  und  daB  sie  ausstromend  Kalekua 
adelte,  ihren  Gang  erhob  und  ihr  Dasein  ins  Unbegreiflidie  steigerte. 
Seine  Umsdilingungen  wurden  heftiger.  Sie  begnugten  sich  nidit 
mehr  mit  dem  Errafifen  des  letzten  Mensdilidien  in  ihr,  das  sie  ihm 
in  wunderbarem  Rhythmus  entgegengesdilagen  hatte  und  mit  der 
absdiwingenden  Gliickseligkeit  gleidigefuhlten  Daseins,  seine  Um- 
armungen  vielmehr  ersdegen  eine  Hohe,  wo  er  ihr  irdisches  Dasein 
nidit  mehr  erkannte,  sondern  sie,  dies  alles  zuruddassend,  nur  nodi 
erkannte  und  empfand  verbunden  und  anheimgegeben  uber  das 
Erkennbare  hinausgehenden  Rauschen  und  Gefuhlen. 

Ihr  Blidt  erschauerte  unter  seiner  Umsdilingung,  die  furditbar  sidi 
uber  ihrer  Seele  erhob,  die  nur  in  Sorge  und  Abwehr  gespannt 
war.  Er  jedoch  kuBte  ihre  FuBe,  lauschte  ihren  Atemzugen  und  er* 
sdhrak,  wenn  ihr  Puls  sprang. 

Voll  fessellosen  Erlebens  umgab  er  ihr  geringes  Dasein  mit  In- 
halt. Er  folgte  ihr  in  der  Entfemung,  verlieB  sie  das  Haus.  Er 
setzte  sidi  neben  sie,  wenn  sie  die  Augen  furditsam  gegen  die  Hohe 
des  Berges  erhob.  Nadits  beugte  er  sidi  uber  ihr  Bett  und  sah  ent- 
ferntes  Lidit  des  Mondes  darubergehn. 

Er  suchte  eine  groBe  Musdiel  und  hielt  sie  lange  vor  ihr  Gesidit, 
weil  die  wechselnden  Spiele  in  der  Farbe  des  Perlmutter  ihre  Ziige 
zum  Lacheln  zu  vermisdien  schienen. 


<* 


218 


Kasimir  EdsSmid  • Der  Gott 


Kalekua  ging  jeden  Tag  durth  die  Taler,  die  Kfisten  und  die 
Baume.  Sie  sah  sie  nidit,  Ihr  Auge  saB  nadh  innen  gedreht  und 
lauscfate  auf  Ungeheures,  das  sie  unsiditbar  umsdioll. 

Er  aber  war  so  voll  von  Liebe,  dab  er  die  Insel  nun  <die  ihn  frfiher 
beseelte)  damit  umfing,  so  dab  der  Gerudi  des  Meeres,  das  Kost- 
lidie  des  Horizonts,  Sturm  und  Ersdiwanken  der  Palmen  wie  aus 
seinem  Leben  herauszustromen  sdiien.  So  gewaltig  wudis  seine  Liebe 
fiber  das  Land,  dessen  Sehnsucht  lange  vorher  uber  ihm  stand,  dab, 
wenn  er  es  gewollt  hatte,  die  Insel  begonnen  hatte,  wahrend  die 
Winde  sdiwiegen,  sidi  in  Kreisen  um  sidi  selbst  zu  drehen. 

Kalekuas  Gefuhl  aber  wandte  er  damit  nidit. 

Ihr  wudis  alles,  Luft  und  Erde,  zusammen  zum  Bild  der  Konigin, 
die  mit  gierigen  Lippen  Rathe  heisdite.  Und  au<b  den  Geliebten 
zog  es  in  diesen  Schlund.  Sie  bekam,  von  dem  unabwendbaren 
Scbicksal  bedroht,  eine  Ergebenheit,  die  ihr  Gesicbt  bleidite  und  im 
Erwarten  des  SchreAens  leu<htend  madite  wie  eine  Qualle. 

In  einer  Nacbt  erscholl  der  Berg  hinter  ihrem  Haus,  ein  Rib  zog 
sidi  durtb  die  Mauer,  Die  Klippe  barst  zur  Halfie  ab  und  raste 
ins  Meer.  Die  andere  trug  sdiaukelnd  ihre  Hutte.  Ein  Donner  warf 
sidi  aufsturzend  gegen  den  Himmel. 

Kalekua  erwadite,  und  aufsdireiend  erhob  sie  sidi,  gfaubend,  dab 
durch  die  vertausendfadite  Stimme  die  Konigin  sie  rufe.  Sie  sturzte 
zur  1 ur. 

Aber  Jean  Francois  ergriff  sie  bei  der  Taille  und  hielt  sie.  Sie 
sah  sidi  um  und  bliAte  ihn  an  als  wie  ein  sdiledites  Tier.  Ihr  Mund 
wurde  zornig.  Sie  sdirie: 

»Lab  midi!4  — und  als  er  den  zuAenden  Leib  fester  fabte:  »Die 
Konigin  . , . die  Konigin  . . .«  Dann  hob  sie  die  Hand  und  stieb 
ihn  unter  das  Kinn. 

Aber  sie  madite  seine  Liebe  nur  grofter,  und  er  band  sie  auf  das 
Bett  vor  Sehnsudit.  Der  Boden  beruhigte  sitfa,  und  gegen  Morgen 
beruhigte  sicb  Kalekua,  als  er  sidi  uber  die  Zitternde  neigte  und 
seinen  Namen  sagte.  »Rono«,  sagte  er. 

Als  sie  sdhlief,  band  er  die  Sdinure  ab  und  ging  hinaus.  Der 
kalkweibe  Kegel  des  Bergs  hatte  eine  tiefe  Wunde.  Der  Krater 
dampfte  leidit.  Er  lag  in  der  gleidien  Hohe  wie  sein  Haus,  und  fiber 


Kasimir  EdsSmid  • D*r  Gott 


219 


9 f******S++*+*S*»S*SS*S*+**+*+ **+***+*++  **  **++0++++*++W***+*+WW****9**M*40++++++  *++*******+*+**+++*0++++*M*+*+****+**09*+**++***+*  *+  * ***** 

das  Riff  verband  sie  eine  Felswand  miteinander.  Das  Meer  war 
grun,  wo  die  sausende  Lava  sich  hineingebohrt  hatte.  Weifie  Fisdi- 
baudie  blitzten  unzahlig  herauf.  Er  setzte  sich  vor  die  Hutte. 

Gegen  Mittag  aber  ward  der  Schreck  fibermaditig  in  ihm  und  warf 
ihn  nieder.  Er  stieg  fiber  den  schmalen  Grat  zu  dem  Vulkan. 

Da  am  Rande  schleuderte  es  ihn  auf  die  Knie.  Sein  Gefuhl,  aus- 
quellend  unendlidi,  stieg  uferlos  und  stiefi  an  Gott.  Das  Meer  ver- 
farbte  sich  weit  hinaus  fast  gelb  und  silbrig  zu  einer  unbewegten 
glanzlosen  Fladie,  auf  der  zwei  Kanoes  wie  gefroren  schliefen,  Er 
hob  die  ganze  Inbrunst  zu  Gott  hinauf  und  herrschte  ihn  an,  dafi 
druben  fiber  der  kleinen  Bucht  Kalekua  aus  der  Hutte  heraustrete 
und  gelost  von  ihrer  Angst  und  zurudcgeformt  zur  Liebe  ein  Ladieln 
unter  den  Augen  truge. 

Aber  Gott  war  taub. 

Der  Tag  ging.  Kalekua  schlief  bis  in  die  Dammerung.  Dann  er- 
wachte  sie  und  blieb  still  sitzen. 

In  der  Nacht  begann  der  Boden  zu  schwanken.  Mond  schien. 
Da  stand  sie  auf. 

Ihr  Gesidit  glich  dem  ihres  ersten  Tages,  als  ihm  der  Trogu  nodi 
die  Seele  entzudcte,  die  jetzt  ganz  nur  Liebe  war.  Sie  stridi  ihr  Haar, 
das  gluhend  den  Rucken  hinunterbrannte.  Dann  nahm  sie  die  vier 
weifien  Fedem  und  tat  sie  in  ihr  Haar.  Aber  eh  sie  ging,  zog  sie 
aus  dem  hohlen  Balken  am  Eingang  die  Kette  der  Haifisdizahne 
und  kufite  sie. 

Es  war  fast  hell.  Er  sah  ihren  reidien  Leib,  der  straff  und  zart 
nadi  den  Brusten  hinaufwudis,  sidi  mit  den  spitzen  Zahnen  gfirten, 
Sah  den  Schwung  ihres  Beines,  die  Achsel,  die  Biegung  ihres  Nadcens, 
die  er  mehr  liebte  als  wie  Gott.  Er  sah  alles.  Er  weinte  nidit. 
Aber  er  hatte  nicht  die  Kraft,  sie  zu  halten. 

Er  nahm  das  Schidcsal  in  sich.  Er  konnte  nidit  hoher  als  Gott. 

Plotzlidi  ertoste  der  Berg.  Da  sprang  sie  hinaus.  Sie  lief.  Einmal 
nodi  horte  er  ihre  Stimme.  >Sie  ruft,«  rief  sie. 

Da  hielt  es  ihn  nidit  mehr.  Er  lief  ihr  nadi.  Aber  sie  war  zu  weit. 

Da  warf  er  sich  mit  dem  Rucken  gegen  die  erdrohnende  Hfitte. 
Er  sah  sie  fiber  den  Halbkreis  des  Grates  fiber  der  Kuste  her  hin- 
laufen,  schmaler  und  blasser  werdend  im  entfernteren  Monde  und 


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220 


Kasim/r  EufscBmid  • Der  Gott 


beschwingt  voll  Licht  weiterellend  wie  von  Unirdischem  getragen 
gleich  einer  silbcmen  Tanzerin  in  den  Krater  verschweben. 

Er  aber  hatte,  todlich  verwirrt,  ni<bt  die  Kraft  ihr  zu  folgen.  Noch 
jagte  ein  Strudel  von  Gefuhlen  sein  vergangenes  Leben  uber  ihn 
hin.  Aus  der  Kette  der  Gesidite  warf  sitb  eines  vor  ihn,  an  das 
er  nie  mehr  gedachf  hatte,  und  uber  ein  Bild,  das  sich  unter  seinem 
Bewudtsein  formte,  sdiluchzte  er,  sich  wie  an  ein  Letztes  daran 
klammernd,  dafi  es  ihn  entwirren  solle:  »Ma  , . . Ma  — * 

Aber  audi  dies  war  taub. 

Da  raste  und  sdirie  er  gegen  Gott.  Und  dann  besdiwor  er  die 
Erde  urn  ihn,  dad  sie  ihn  hielte.  Aber  so  tief  war  er  als  in  das 
Hodiste  an  Kalekua  verstridet,  dad,  wahrend  er  schrie,  die  Dinge, 
die  er  anflehte,  sadit  aus  ihm  entwichen.  Ruhiger  werdend  sah  er 
nicht  mehr  Stern,  kein  Haus,  kein  Meer.  Seine  Augen  lausditen 
nach  innen.  Unendlidie  Stille  umflutete  sein  Geiiihl. 

Er  warf  sich  mit  dem  Bauch  auf  den  Boden  und  blieb  wie  ein 
Holz.  Erst  als  die  Stimme  des  Abgrunds  heisdiender  heraufscholl, 
erhob  er  sidi  und  folgte  ihr. 


221 


R.  Sefigmann  * Einsamhit  und  Gem  e insam  6 e it 

**+*****]t+m**++s***i**4A*lt+*+***+  *•  ********  +**++************+wr*******+********+******r******r***9*m**m***********+****s+*********9T ****** 


R.  Sefigmann: 

EINSAMKEIT  UND  GEMEINS  AMKEIT 

A US  der  ganz  besonderen,  exklusiven  Stcllung,  die  das  mensch- 

liche  Bewufttsein  inmitten  seiner  anders  gearteten  nicht-be- 
wufiten  Umgebung  einnimmt,  geht  unmittelbar  das  psychologische 
Phanomen  der  Einsamkeit  hervor,  das  wir  somit  in  diesem  Zusam- 
menhange  nid\t  ausschliefllich  als  eine  psychologische  Kategorie,  als 
eine  gewisse  Manifestation  des  menscbiichen  Gefiihlslebens,  sondern 
eher  als  eine  metaphysisebe  Kategorie,  als  eine  im  Urgrunde  der 
Dinge  wurzelnde  Ersdieinung  verstanden  wissen  wollen.  Das  Gefuhl 
der  Vereinsamung,  das  in  gewissen  Augenblicken  sich  jeder  menscb- 
iichen Seele  zu  bemachtigen  vermag,  und  das  bei  gewissen  Geistern 
zum  permanenten  Begleiter  ihres  ganzen  Innenlebens  wird,  dieses 
Gefuhl  der  Vereinsamung,  das  unter  Umstanden  sich  zu  dem  einer 
absoluten  Verlassenheit  steigern  kann,  ist  mit  seinen  tiefsten  Wur- 
zeln  schon  in  jener  elementaren  Fahigkeit  des  Empfindens  verankert, 
das  samtliche  Dinge  um  sich  her  auf  einen  einzigen  in  einem  ge- 
gebenen  Momente  ausschliefilich  an  dieser  und  keiner  anderen  Stelle 
des  Raumes  weilenden  Punkt  sammelt  und  konzentriert.  Die  Lage 
des  BewuDtseins  bringt  es  also  mit  sich,  daft  die  Ersdieinung  der 
Einsamkeit  sich  notwendig  bei  ihm  einstellen  mull/  mit  dem  Auf- 
keimen  einer  bewuftten  Reagierbarkeit  auf  die  Einfliisse  der  aufteren, 
nidit-bewufiten  Umgebung  ist  schon  die  oberste  Bedingung  after 
Vereinsamung  gegeben,  denn  der  Prozeft  des  Bewufttwerdens  besteht 
eben  in  nichts  anderem,  als  in  dem  des  fortwahrenden  Sichisolierens. 

Fur  das  unmittelbar  wahrnehmende  Subjekt,  das  schlichten  und 
offenen  Sinnes  an  die  Dinge  der  Aufienwelt  herantritt,  unterliegt  es 
nicht  dem  geringsten  Zweifel,  daft  beispielsweise  dieser  harte  Gegen- 
stand  hier,  den  es  mit  seinen  Fingern  betastet  und  gegen  dessen 


222  R.  Stfigmann  ■ Einsamftit  und  Gtmtinsamfieit 


Flache  es  die  Fingerspitzen  druckt,  auch  auBerhalb  seiner  tastenden 
und  driickenden  Hand  einen  bestimmten  Platz  im  Raume  einnimmt, 
daB  er  also  auBerhalb  seines  Leibes  ein  unabhangiges,  reales  Da- 
sein  fQhrt.  Und  doth  wird  dieses  Subjekt  ungeacbtet  seiner  tiefsten 
Qberzeugung  von  der  absoluten  Unabhangigkeit  des  ihm  gegen- 
uberstehenden  materiellen  Gegenstandes,  in  dem  Akte  des  Wahr- 
nehmens,  also  im  Akte  des  Betastens  und  DrGdtens  den  volien  Ge- 
halt  des  betasteten  materiellen  Partikelchens  in  jenen  engen  Bezirk 
seines  Leibes  hineinverlegen,  den  seine  Fingerspitzen  darstellen.  Und 
je  intensiver  und  langer  es  diese  Fingerspitzen  gegen  den  Gegen- 
stand  drucken  wird,  um  von  seiner  massiven  Materialitat  sich  immer 
fester  und  sicfaerer  zu  iiberzeugen,  desto  scharfer  und  eindringlidier 
wird  es  den  von  auBen  auf  seine  Handfladie  ausgeubten  Drutk  nur 
als  den  Ausdruck  seiner  eigenen  Muskeltatigkeit  empfinden,  als  ein 
Etwas  also,  das  im  gegebenen  Momente  sich  ausschlieBlich  hier  in 
dem  von  seinem  Arm  eingenommenen  Teile  des  Raumes  befindet. 
Wenn  ich  ein  Gewicht  vom  Boden  in  die  Hohe  hebe,  so  zweifle 
ich  gewifl  keinen  Augenblick  daran,  daB  dieses  Gewidit  auBerhalb 
meiner  hebenden  Hand  ein  reales,  von  meinem  Ich  vollstandig  un- 
abhangiges Dasein  fuhrt,  und  niditsdestoweniger  werde  ich  den 
ganzen  und  volien  Gehalt  des  Gewichts  als  Schwere  in  meinen 
Muskeln  empfinden,  und  so  geschieht  es  mit  alien  anderen  Empfin- 
dungen  und  Wahmehmungen.  Die  blaue  Farbe,  die  ich  in  dieser 
Entfernung  vor  mir  erblidce,  existiert  fiir  mein  BewuBtsein  ganz 
gewiB  gerade  an  dem  Orte,  an  dem  ich  sie  sehe,  und  doch  wird 
diese  Farbe  als  Wahrnehmung  des  Blauen  an  der  Oberflache  meines 
Sehorgans  haften  bleiben.  Der  soeben  von  mir  vernommene  Klang, 
von  dem  ich  wohl  weiB,  daB  er  von  einer  weiten  Ferae  an  mein 
Ohr  herankommt,  wird  trotzdem  von  mir  genau  an  der  Stelle  fixiert, 
an  der  sich  mein  Gehdrorgan  in  gegebenem  Momente  gerade  be- 
findet. Und  so  schlupft  die  ganze  Fulle  des  Daseins  in  den  ver- 
haltnismaBig  eng  bemessenen  Raum  meines  Leibes  unmerklich  und 
muhelos  hinein,  wie  die  fetten  Kuhe  in  den  Schlund  der  durren  und 
mageren  in  dem  bekannten  Traum  des  biblischen  Pharao.  Und  in- 
dem  ich  auf  diese  Weise  die  realen  Dinge  der  AuBenwelt  an  der 
Oberflache  meines  Leibes  festnagele,  komme  ich  im  Verlaufe  meines 


R.  Se fig man n * EinsamReit  und  Gem einsamfte it  223 

individuellen  Lebcns  allmahliA  dazu,  meine  Umwelt  von  dem  Orte, 
den  mein  Leib  augenbliAfiA  im  Raume  einnimmt,  fernzuhalten  und 
auszusAlieBen  und  gleiAzeitig  damit  den  ersteren  von  der  Ge- 
meinsdjaft  mit  den  Dingen  abzusAneiden  und  zu  isolieren.  Trotz- 
dem  icb  den  Bestand  der  aufierhalb  meiner  befindliAen  Welt  ebenso- 
wenig  anzuzweifeln  vermag,  wie  die  lebendige  Existenz  meines 
eigenen  Leibes,  so  kann  iA  doA  niAt  umhin,  diese  meine  Umwelt 
in  einem  fort  in  Gedanken  zu  vemiAten,  denn  alles  das,  was  idi 
von  dieser  je  zu  wissen  vermag,  erweist  siA  notwendig  als  irgend 
welche  Empfindung  und  Wahrnehmung,  und  da  doch  mein  Leib 
der  einzige  Trager  von  Empfindungen  und  Wahmehmungen  ist,  so 
bleibt  eben  fur  die  reale  AuBenwelt  eigentfiA  niAts  ubrig.  Aber 
diese  immense  Bereidierung  meines  Leibes  wird  eben  urn  den  Preis 
seiner  ganzlichen  Isolierung  von  den  Dingen  erkauft,  denn  aufier- 
halb  der  Grenzen  meines  Leibes  beginnt  das  unermeBlidie  Reich 
des  Nicht-Idi,  das  unendliche  Reich  alles  dessen,  was  mein  Leib 
fortwahrend  verneint,  indem  er  es  auf  sicfi  selber  fortwahrend  kon- 
zentriert. 

Aber  wiewohl  mein  Leib  diese  unverrudcbar  feste,  zentrale  Stel- 
lung  gegenuber  alien  anderen  Dingen  der  AuBenwelt  immer  be- 
hauptet,  so  wird  es  ihm  auf  die  Dauer  kaum  gelingen  konnen, 
seinen  rcalen  Bestand  mit  Sicherheit  aufrecht  zu  erhalten,  denn  der 
ProzeB  des  Isolierens  schreitet  unaufhaltsam  weiter,  je  praziser  und 
sdiarfer  sich  mein  Denken  gestaltet.  Habe  iA  einmal  begonnen,  die 
reale  AuBenwelt  in  all  ihrer  UnermeBliAkeit  auf  meinen  eigenen 
Leib  einzusAranken,  was  auf  das  gleiAe  hinauslauft,  daB  iA  meine 
reale  Umgebung  in  Gedanken  verniAte,  ungeaAtet  dessen  iA  von 
ihrer  Existenz  die  unersAiitterliAste  Qberzeugung  von  der  Welt 
hege,  so  muB  einmal  unbedingt  der  Moment  kommen,  wo  mir  auA 
die  voile  Realitat  meines  Leibes  unter  den  Handen  zerrinnt,  indem 
iA  mi  A namliA  frage,  ob  denn  mein  Leib  etwas  anderes  als  bloB 
den  jeweiligen  Ort  meiner  Empfindungen  und  Wahrneh- 
mungen  zu  bedeuten  habe.  Und  so  mag  es  kommen,  daB  mein 
fuhlender  und  begehrender  Leib  fur  miA  ins  NiAts  versinkt  und 
zu  einem  bloBen  Symbol  wird,  das  jedesmal  die  jeweilige  Stelle  im 
Raume  kennzeiAnet,  an  der  siA  diese  oder  jene  Empfindungen  und 


224  R.  Stfigmann  • Einsam&tit  und  Gemtmsamfitit 


Wahrnehmungen  abspielen.  An  diesem  Stadium  des  Denkens  an* 
gelangt,  beginne  id)  meinen  Leib  als  Ding  unter  Dingen  zu  be* 
trad) ten,  das  unbes<badet  seiner  absoiuten  Bedeutung  ftlr  meine 
ganze  Existenz  meinem  eigentlidien  Subjekt  nidit  angehort  und  ihm 
firemd  bfeibt.  Nun  hat  mein  Subjekt  seinen  Sitz  in  der  EmpfSndung 
gewahlt,  aber  seines  Bleibens  dort  ist  nidit  von  (anger  Dauer,  denn 
bei  etwas  scbarferem  Zusehen  werde  id)  nicht  umhin  konnen,  die 
Beobaditung  zu  machen , daB  der  eigentliche  Quellpunkt  melnes 
Id)  nid)t  in  dieser  oder  jener  einzelnen  Empfindung  enthalten  sein 
kann,  daB  er  irgendwo  jenseits  der  Sphare  alter  einzelnen  Empfin* 
dungen  und  Wahrnehmungen  liegen  muB.  Denn  mag  id)-  in  dieser 
Hinsidit  irren  oder  nid)t,  aber  Tatsadie  ist  es  ein trial,  daB  sid)  mein 
Subjekt  immer  und  uberall  als  der  eigentliche  Empfinder  und  Wahr* 
nehmer  all  seiner  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  ftihlt/  daB 
wenn  idi  uberhaupt  von  einem  Ich  oder  einem  Subjekt  reden  darf, 
idi  darunter  aussd)lieB(id)  diesen  Empfinder  und  Wahrnehmer  meinen 
kann,  oder  wie  man  sidi  in  einer  ailgemeinen  und  abstrakten  Weise 
auszudrucken  pflegt,  daB  das  Ichbezeidinete  immer  und  uberall  als 
der  Trager  von  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  auftritt.  Von 
der  einzelnen  Empfindung  und  Wahrnehmung  aber  kann  id)  ebenso* 
wenig  behaupten,  daB  sie  empfindet  und  wahmimmt,  wie  von  dem 
auBeren  materiellen  Gegenstand  meiner  realen  Umgebung,  die  Emp* 
findungen  empfinden  nicht,  die  Wahrnehmungen  nehmen  nidit  wahr, 
die  Gefuhle  fuhlen  nidit,  sondem  alles  das,  was  empfindet,  wahr- 
nimmt  und  fuhlt  stedct  irgendwo  dahinter,  in  irgendeinem  verbor* 
genen  Urgrunde  meines  Wesens,  der  bewirkt,  daB  bei  dieser  oder 
jener  Gelegenheit  diese  oder  jene  seiner  AuBerungen  als  Empfin* 
dung  und  Wahrnehmung  auftritt.  Und  auf  diesem  Wege  komme 
idi  wieder  dazu,  meine  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  aus 
ihrem  gesidierten  Sitze  zu  vertreiben,  um  sie  irgendwo  weiter  und 
tiefer  zu  verlegen,  in  genau  derselben  Weise,  wie  idi  vorhin  mit 
den  realen  Dingen  der  AuBenwelt,  und  dann  mit  meinem  eigenen 
Leibe  getan  habe,  was  auf  dasselbe  hinauskommt,  daB,  indem  id) 
meine  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  gedanklich  vemidite,  idi 
die  Kreise  um  mein  Subjekt  immer  enger  ziehe  und  midi  immer 
mehr  isoliere.  Aber  wo  kann  eigentlidi  dieses  mein  Subjekt  stedcen? 


R>  Stfigmann  * Einsamfait  und  Gemeinsamfait 


225 


vm 


AuBerhalb  der  Grenzen  mdnes  Leibes  ist  es  gewiB  nicht  enthaltcn, 
aber  aucb  fnnerhalb  dieser  Grenzen  wird  es  mir  niemals  gelingen, 
es  mit  Sidierheit  anzufassen  und  zu  bestimmen,  aus  dem  sehr  ein- 
fadien  und  durdisiditigen  Grunde,  daB  das  Angefaflte  und  Be- 
stimmte  nie  und  nimmermehr  identlsdi  mit  dem  Anfasser  und  Be- 
stimmer  sein  wird,  als  den  idi  micb  immer  und  uberall  fuhle,  solange 
ich  ein  Wares  BewuBtsein  von  meinem  Idi  besitze.  Mag  dieses  Be- 
wuBtsein stammen  woher  auch  immer,  aber  einmal  empfinde  idi 
midi  als  den  Betaster  und  Beschauer  aller  Dinge,  so  wird  mein  Idi 
in  eben  dem  Momente,  wo  idi  es  irgendwie  bestimmt  zu  haben,  es 
also  irgendwie  gedanklidi  angetastet  und  angesebaut  zu  haben  glaubte, 
als  Getastetes  und  Gesdiautes  von  mir  in  die  Feme  rucken  und 
zu  etwas  mir  ganz  Fremdem  werden. 

Es  wird  mir  uberhaupt  niemals  gelingen,  mein  Idi  in  dem  Welt- 
ganzen  irgendwo  punktuell  zu  bestimmen,  denn  mein  Idi  ist  ProzeB 
seiner  inneren  Veranlagung  nadi,  und  das  Fixieren  wurde  jedenfalls 
besagen,  daB  der  ProzeB  irgendwo  zum  AbsdiluB  gekommen,  daB 
die  Bewegung  irgendwo  an  einem  End-  und  Haltepunkt  angelangt 
ist.  Mein  Icb  oder  mein  individuelles  BewuBtsein  besteht  eben  in 
nidits  anderem,  als  in  einer  konzentrisdi  verlaufenden,  spiral formigen 
Bewegung,  die  um  einen  unsidit-  und  unfaBbaren,  imaginaren  Mittel- 
punkt  immer  engere  Kreise  zieht,  ohne  jedodi  irgendwo  Halt  zu 
madien  und  stehen  zu  bleiben.  Sieht  man  von  dieser  fur  das  Bewuflt- 
sein  so  diarakteristisdien  konzentrisdien  Bewegung  ab,  und  will  man 
dieses  BewuBtsein  irgendwo  im  Raume  als  fixen  Punkt  anfassen,  so 
wuBte  idi  wirklidh  nicbt,  welcben  annehmbaren  Sinn  es  dann  nodi 
hatte  von  einem  Unterschiede  zwisdien  Sein  und  BewuBtsein  zu 
reden,  trotzdem  dodi  dieser  Untersdiied  jeder  unbefangenen  An- 
sdiauung  unmittelbar  einleuditet  und  von  jedem  unvoreingenommenen 
Verstande  auf  das  sdiarfete  und  deutlicbste  von  der  Welt  empfunden 
wird.  Fasse  idi  beispielsweise  die  Tastempfindung  »Hart«  ins  Auge 
und  suche  sie  in  ihrer  Isoliertheit  fur  sidi  zu  betraditen,  so  wird  mir 
die  Frage  daruber,  ob  sie  zur  Welt  des  BewuBtseins  oder  der  des 
Seins  angehort,  die  groBte  Verlegenheit  bereiten,  Dieser  Tastempfin- 
dung »Hart«  als  soldier  ist  es  ebensowenig  anzusehen,  ob  sie  in 
die  Sphare  des  Seins  oder  die  des  BewuBtseins  hineingehort,  wie 


226 


R.  Stftgmann  ♦ E(nsam6*it  und  Gemeinsam&eit 


********************************** 


diesem  vcreinzclten,  isolierten  Punkte  hier  auf  diesem  vor  mir  liegen- 
den  Stuck  Papier  anzusehen  ist,  ob  er  zu  einer  krummen  oder  ge- 
raden  Linie  gehort.  Der  einzelne  Punkt  als  soldier,  in  seiner  Iso- 
liertheit,  kann  ebensogut  einer  krummen,  wie  einer  geraden  Linie 
angehoren,  denn  Geradheit  oder  Krummung  konnen  unmoglich  in 
dem  einzelnen  Punkte  stecken,  sondern  entstammen  einem  unerklar- 
lidien  spontanen  Schwunge,  der  aus  der  Linienhaftigkeit  je  nadi  Urn- 
standen  eine  gerade  oder  eine  krumme  Linie  macht.  Und  genau  so 
verhalt  es  sich  mit  der  einzelnen  Empfindung.  Die  isolierte  Emp- 
findung  als  soldie  kann  mit  demselben  Erfolge  und  demselben  Rechte 
als  Sein  oder  Bewufitsein  diarakterisiert  werden,  und  wenn  etwas  da 
ist,  was  ihr  den  Stempel  der  BewuBtheit  in  unverkennbarer  Weise 
aufzudrucken  vermag,  so  ist  es  eben  diese  konzentrisdie  Bewegung, 
die  sick  ihrer  bemaditigt  und  in  ihren  FIuB  hineinzieht. 

Denn  der  tief  empfundene  Untersdiied  zwisdien  BewuBtsein  und 
Sein  kann  eben  unmoglidi  in  dem  Inhalte  eines  Wirklidhkeitsfaktums 
(iegen,  sondern  muB  einzig  und  allein  in  der  diesem  Faktum  an- 
haftenden  Tendenz  zur  AussdilieBlidhkeit  und  Zentripetalitat  gesudit 
werden.  Pruft  man  namlidi  die  Wirklidhkeit  auf  ihren  inneren  Gehalt, 
so  erweist  sie  sidi  immer  und  iiberall  als  eine  und  dieselbe,  mag 
man  sie  sonst  Materie  oder  Empfindung  oder  was  audi  immer  nennen, 
und  nur  wenn  man  sie  von  der  Seite  einer  an  ihr  auftretenden 
Tendenz  sidi  immer  mehr  ein-  und  auszuschlieBen,  betraditet,  gewinnt 
sie  diesen  Charakter  der  BewuBtheit,  der  von  jedem  unmittelbaren 
Verstande  auch  unmittelbar  empfunden  wird.  BewuBtsein  — ist  Aus- 
sdilieBIidikeit,  und  mithin  nimmt  BewuBtheit  notwendig  die  Form 
des  individuellen  BewuBtseins  an.  Diese  AussdilieBlidikeit  des  indi- 
viduellen  BewuBtseins  findet  ihren  pragnantesten  Ausdrudt  in  dem 
auf  den  ersten  Blick  so  einfachen,  im  Grunde  seines  Wesens  jedodi 
so  wunderbaren  und  ratselhaften  Umstande,  daB  in  jedem  gegebenen 
Zeitmomente  es  im  unendlidien  Weltaif  nur  eine  einzige  Stelle  gibt 
und  geben  kann,  innerhalb  deren  sich  alles  das,  was  idi  zu  meinem 
eigentlidien  Subjekte  redine,  abspielt  — namlidi  die  Stelle,  die  mein 
Leib  momentan  im  Raume  einnimmt.  AuBerhalb  dieser  Stelle  mag 
es  unendlidi  viele  Subjekte  geben,  die  genau  so  wje  ich  empfinden, 
wahrnehmen  und  fuhlen,  aber  alle  diese  Empfindungen,  Wahmeh- 


R.  5 e fig  man  n - Einsamfieit  und  Gemeinsamfoit  227 

mungen  und  Geffihle  kann  idi  eben  als  die  meinigen  nlcht  aner- 
kennen,  was  mit  anderen  Worten  auf  dasselbe  hinauslauft,  daB  idi 
mein  eigentlidies  Subjekt  als  etwas  ganz  Apartes  und  Aussdiliefl- 
lidies  weiB,  das  unbeschadet  seiner  innigen  Beziehungen  zu  alien  anderen 
Dingen  und  Subjekten  ein  ewig  Ffirsichseiendes  bleibt.  Und  wenn 
es  im  Weltall  einen  sidieren  Sdieidepunkt  gibt,  so  ist  es  eben  diese 
Stelle,  die  mein  Leib  momentan  im  Raume  behauptet.  Der  jeweilige 
Ort,  den  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  die  Funktion  meines  Leibes 
einnimmt,  gibt  das  einzig  feste,  absolute  Zentrum  ab,  von  dem  aus 
alle  sonstigen  Raumbestimmungen  mit  Sidierheit  unternommen  werden 
konnen.  Weldie  Reflexionen  man  sonst  uber  das  innere  Wesen  der 
Raumlidikeit  anstellen  mdge,  ob  man  diese  als  eine  in  den  Dingen 
selber  enthaltene  Eigenschaft  betraditet,  oder  ob  man  sie  blob  als 
eine  Funktion  des  vorstellenden  Subjekts  auffaBt,  so  bleibt  es  dodi 
eine  allem  Zweifel  enthobene  Tatsadie,  daB  derjenige  Teil  der  Aus- 
gedehntheit,  innerhalb  dessen  sich  mein  ganzes  Geffihls-  und  Emp- 
findungsleben  abspielt,  der  einzige  im  unendlicben  Raume  ist,  der 
sidi  in  absolut  eindeutiger  und  objektiver  Weise  gegen  alle  anderen 
Raumteile  abgrenzen  laBt  und  von  dem  man  mit  Sidierheit  behaupten 
kann:  es  ist  >dieser«  und  kein  anderer.  Denn  wahrend  es  eine  von 
Natur  aus  gegebene  Tatsadie  ist,  daB  meine  Empfindungs-  und 
Geffihlsfunktionen  die  Peripherie  meines  Leibes  nicht  fibersdireiten, 
so  dafi  die  Grenzlinie  zwischen  meinem  Leib  und  den  an  ihm  sich 
unmitfelbar  anschlieBenden  Raumteilen  sidi  willkfirlich  nidit  versdiieben 
lafit,  bleiben  die  Begrenzungen  der  sonstigen  Raumteile  der  indivi- 
duellen  Willkfir  unterworfen,  ohne  daB  ein  festes  Gesetz  darfiber 
entscheiden  sollte,  weldher  Raumteil  als  »dieser«  und  welcher  als 
»anderer«  zu  betraditen  ware, 

Allein  das  Charakteristisdie  und  zugleich  Verwunderlidie  an  der 
ganzen  Sadie  ist,  daB  mein  eigentlidies  Subjekt  bei  all  seiner  Selbst- 
herrlidbkeit  die  absolute  Abhangigkeit  von  den  Dingen  und  Subjekten 
seiner  Umgebung  auf  das  lebhafteste  empfindet,  und  daB  es  nur  im 
untrennbaren  Zusammenhange  und  unzerreiBbaren  Verwobensein 
mit  diesen  Dingen  und  Subjekten  sidi  seiner  Idi-  und  Selbstheit 
bewuBt  zu  werden  vermag,  und  daB,  sobald  es  den  Versuch  madit, 
von  allem  »AuBeren«  und  »Gegebenen<  abzusehen,  um  ungestort 


228 


R.  5 e fig  man  n • Einsamfeit  und  Gemeinsamftit 

be i seinem  elgenen  Selbst  zu  verweifen,  es  sofort  ins  Leere  greift 
und  an  sidi  irre  zu  werden  beginnt  Immer  und  Qberall,  wo  idi  mein 
eigenes  Subjekt  auf  das  sicherste  erfaBt  zu  haben  glaube,  erweist 
es  sidi  bei  naherem  Zusehen  nidit  mehr  ais  mein  Ich,  sondern  a(s 
etwas  ihm  ganz  AuBeres  und  Fremdes,  denn  da  idi  midi  immer  und 
uberall  ais  den  Erfesser  und  Ergreifer  empfinde,  so  mufi  es  mir  im 
Momente  des  ErfaBt-  und  ErgrifFenwerdens  notwendig  entsdilupfen 
und  aufhoren  Idi  zu  sein.  Und  daher  kommt  es  eigentlidi,  daB  ich 
meine  Idiheit  nur  in  ihrer  engen  Verstrickung  in  irgendeinem  Dinge 
der  Aufien- und  Innen  welt  empfinden  kann,nur  solange  idi  midi  in  irgend- 
weldier  realen  Beziehung  zu  irgendweldiem  »Objektec  befinde,  ganz 
gleidi  in  weldier  Gestalt  dieses  Objekt  vor  meinem  BewuBtsein  auf- 
treten  mag,  ob  ais  materieller  Gegenstand,  oder  ais  Nebenmensdi, 
oder  ais  Phantasie-  und  Erinnerungsbild,  oder  ais  Gedanke,  — und 
daB  an  die  Stelle  meiner  Idiheit  sofort  ein  leerer  Platz  tritt,  sobald 
idi  es  versudie,  von  all  diesen  Objekten  Abstand  zu  nehmen,  um 
midi  nur  auf  mein  eigenes  Selbst  zu  konzentrieren. 

Wir  haben  also  gesehen,  daB  das  mensdilidie  BewuBtsein  von  der 
unausrottbaren  Tendenz  beherrsdit  wird,  sidi  immer  weiter  zurfidt- 
zuziehen,  sidi  immer  enger  einzusdilieBen,  sidi  immer  tiefer  zu  ver- 
graben,  sidi  immer  mehr  zu  konzentrieren,  um  in  moglidist  voll- 
standiger  Beziehungslosigkeit  und  Unabhangigkeit  bei  sidi  selbst  zu 
verharren,  wahrend  es  anderseits  nur  in  Beziehungen  und  Abhangig- 
keiten  aller  Art  seiner  selbst  bewuBt  zu  werden  vermag,  oder  kurzer 
ausgedrQckt,  daB  das  mensdilidie  BewuBtsein  sidi  immer  absoluter 
gestalten  modite,  wahrend  es  sidi  anderseits  nur  in  Relativitaten  aller 
Art  zu  behaupten  und  auszuleben  imstande  ist.  In  dieser  wider- 
sprudisvollen  Situation  stecken  die  tiefsten  und  verborgensten  Wurzeln 
der  Einsamkeit.  Hatte  das  mensdilidie  Idi  die  Moglidikeit  vor  sidi 
gesehen,  diese  ihm  innewohnende  Tendenz  zur  AussdilieBlichkeit  und 
Zentralitat  inmitten  all  seiner  realen  Umgebung  zum  endgultigen 
Durdibrudi  zu  bringen,  ware  es  je  in  der  Lage  gewesen,  diese  von 
ihm  so  sdiarf  empfundene  Einzigkeit,  Alleinigkeit,  Aufsidigestelltheit 
und  Unersetzlidikeit  in  ganzlidier  Unberuhrtheit  von  den  unzahligen 
Eingriffen  der  AuBenwelt  zu  wahren  und  aufredit  zu  erhalten,  ware 
es  ihm  je  vergonnt  gewesen,  sein  eigenes  Selbst  mit  Sicherheit  zu 


229 


R.  Stfigmann  • E ins  am /tea  und  Gtmeinsamftit 


erfassen,  ohne  immer  wieder  sich  darauf  ertappen  zu  mussen,  dafi 
ihm  dieses  Selbst  im  Momente  des  Erfassens  unter  den  Handen  zer- 
ronnen  und  bereits  zu  einem  Anderen  geworden  ist  — es  lage  kein 
Grund  zu  irgendwelcfaer  Einsamkeit  vor,  da  doth  Einsamkeit  not- 
wendig  irgend welch e Abhangigkeit  und  Unfireiheit  voraussetzt,  wah- 
rend  dann  das  menschliche  BewuBtsein  als  eine  ganz  in  sich  abge- 
schlossene,  bei  sich  und  fur  sich  seiende  Welt,  in  vollem  Besitze 
seiner  Freiheit  und  Unabhangigkeit  gelebt  hatte.  Ware  aber  ander- 
seits  das  menschliche  BewuBtsein  von  Natur  aus  uberhaupt  nicht  mit 
der  verhangnisvollen  Gabe  ausgestattet,  sich  immer  schroffer  gegen 
die  reale  AuBenwelt  abzuschlieBen,  konnte  es  restlos  und  mit  seinem 
ganzen  Wesen  in  seiner  unmittelbaren  Umgebung  aufgehen,  wie  es 
der  Fall  mit  einem  materiellen  Atome  ist,  das  sich  in  lauter  Be- 
ziehungen  aufldst  und  in  voller  Angepafitheit  an  die  Dinge  seiner 
Umgebung  nur  fur  ein  Anderes  und  von  einem  Anderen  da  ist,  es 
konnte  erst  recht  nicht  zu  irgendwelcher  Einsamkeit  kommen,  da 
doch  Einsamkeit  anderseits  irgendwelche  Ab-  und  Aussonderung 
notwendig  voraussetzt.  Und  nur  auf  dem  psychischen  Boden  eines 
zwitterhaften  Wesens,  wie  das  menschliche  Ich  eines  ist,  kann  die  Ein- 
samkeit gedeihen,  auf  dem  geistigen  Boden  eines  Wesens,  das  seiner- 
seits  die  Existenz  der  AuBenwelt  mit  absoluter  Sicherheit  bejaht  und 
gleichzeitig  damit  in  einem  Atem  die  AuBenwelt  gedanklich  vemeint, 
indem  es  diese  durch  diese  Empfindung  auf  sich  selbst  zuruckfuhrt 
und  sammelt. 

Es  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  fur  die  vom  einzelnen  Indivi- 


duum  so  scharf  empfundene  Unersetzlichkeit  und  Einzigkeit,  wenn 
dieses  sich  nicht  zu  erfassen  vermag,  ohne  dadurch  zugleich  sich  selber 
entfremdet  zu  werden/  denn  es  muB  jedermann  ohne  weiteres  ein- 
leuchten,  daB,  wenn  ich  beispielsweise  jemals  in  die  Lage  kame,  mein 
eigenes  Ich  in  seiner  vollen  Unmittelbarkeit  und  Lebendigkeit  zu  er- 
fassen, will  sagen,  daB,  wenn  ich  mich  in  dem  dermaBen  Erfafiten 
nicht  als  Objekt,  sondern  als  voiles  und  reines  Subjekt  zu  fiihlen 
vermdehte,  diese  meine  beiden  Ich  beliebig  einander  ersetzen  und 
fiireinander  eintreten  konnten,  und  mit  meiner  Einzigartigkeit  und 
Unersetzlichkeit  ware  es  aus.  Aus  demselben  Grunde,  aus  wel- 


chem  ich  mein  eigenes  Selbst  als  etwas  Unwiederholbares  und 


230  R.  5 e fig  man  n • Einsamfett  und  Gem  einsamHeit 

Absolutes  empfinde,  aus  eben  demselben  Grunde  ist  es  mir  ganz 
unmoglidi  gemadit,  in  dem  ergriffenen  und  erfafiten  Idi  midi  selber 
je  wiederzufinden,  denn  ware  das  letztere  der  Fall  gewesen,  so 
wurde  ich  doch  erstens  wiederholbarer  geworden  sein  und  zwei- 
tens  wflrde  dodi  mein  zweites  Ich  zu  meinem  ersten  in  einer  Re- 
lation gestanden  haben.  In  jedem  Augenblidt  meiner  Lebensdauer, 
an  jedem  Punkte  meiner  Lebensoberfladie  fuhle  idi  diese  meine 
Einzigkeit  und  Ausschliefilidikeit,  dies  sagen  mir  meine  elementar- 
sten  Empfindungen  und  Gefuhle,  die  im  gegebenen  Augenblick  an 
dieser  und  keiner  anderen  Stelle  des  Raumes  auftauchen,  und  die 
idi  eben  deshalb  gedanklidi  als  die  meinigen  bezeidine,  will  sagen, 
als  Manifestationen,  die  von  Natur  aus  mit  dem  Charakter  der 
Einzigkeit  und  Alleinigkeit  behaftet  sind.  Anderseits  aber  weifl  idi 
mit  derselben  untriiglidien  Sidierheit,  daft  dieser  mein  Leib,  der 
adaquate  Reprasentant  meiner  Empfindungen  und  Gefuhle,  und  mit- 
hin  alles  dessen,  was  idi  als  Einziges  und  Aussdiliefilidies  empfinde, 
sich  in  fortwahrendem  StofFwedisel  mit  den  Bestandteilen  meiner 
materiellen  Umgebung  befindet,  derselben  Umgebung,  die  meinem 
personalen  Bewufitsein  als  etwas  absolut  Indifferentes  und  Fremdes 
gegenubersteht,  und  dafi  auf  diese  Weise  sidi  von  meinem  uner- 
setzlidien  und  unwiederholbaren  Idi  fortwahrend  Ringe  ablosen  und 
im  Weltenraume  hangen  bleiben,  wo  sie  als  materielle  Bewegungen 
ein  mir  vollstandig  fremdes  und  gleidhgultiges  Dasein  fuhren.  Irgend- 
wo  im  unendlichen  Raum  ist  das  Ich  meiner  fruhesten  Jugend  mit 
all  seinen  Reizen  und  Freuden  hangen  geblieben,  irgendwo  im  un- 
endlichen Raum  wird  mein  gegenwartiges  Idi  mit  all  seinen  Traumen, 
Sehnsuchten  und  Hoffnungen  hangen  bleiben,  irgendwo  im  unend- 
lidien  Raum  wird  dies  alles  zu  leblosen  Atomen,  die  in  absoluter 
Teilnahmslosigkeit  an  meiner  Seele  voruberziehen , und  die  von 
meiner  Seele  in  absoluter  Verstandnislosigkeit  angestarrt  werden. 
Alles,  was  idi  an  meiner  Person  als  etwas  Absolutes  und  Fursidi- 
seiendes  empfinde,  erweist  sich  mir  bei  naherem  Zusehen  als  in 
lauter  Beziehungen  aufgelost,  alles  was  idi  in  dieser  Person  als  Un- 
wiederholbares  und  Unersetzliches  fuhle,  wird  fortwahrend  wieder- 
holt  und  ersetzt,  und  alles,  was  sidi  in  meinem  Bewufitsein  an  ihr 
als  etwas  Unfafi-  und  Ungreif bares  darstellt,  wird  unaufhorlidi  von 


R.  Sefigmann  • EinsamUtit  und  Gemtinsamieit 


231 


den  materiellen  Bewegungen  ergriffen  und  in  ihren  Strudel  hinein- 
gezogen. 

Es  ist  nun  sehr  naturlidi,  wenn  sich  die  menschliche  Seele  nadi 
einem  Stutzpunkte  sehnt,  um  in  dieser  unhaitbaren,  widerspruchs- 
vollen  Situation  einen  sidieren  Halt  zu  gewinnen.  Aus  derselben 
W urzel,  aus  der  die  Einsamkeit  stammt,  wachst  audi  die  Sehnsucht 
nach  einem  Ausweg  aus  ihr  hervor.  Da  stdfit  die  Seele  innerhalb 
ihrer  Umgebung  auf  das  fremde  Idi,  das  zunadhst  und  auf  den  ersten 
Blick  sich  ihr  gegenikber  als  ein  Ding  unter  Dingen  gebardet  und  als 
solches  auftritt,  in  welchem  sie  aber  bei  etwas  naherem  Zusehen  eine 
voile  W esensahnlichkeit  errat  und  herausspurt.  An  den  beiden  Ein- 
samkeiten  entzundet  sich  das  Ineinander  und  die  Gemeinsamkeit,  ohne 
da6  die  Seele  dabei  an  ihrem  Eigensein  und  an  ihrer  Selbstandig- 
keit  irgend welch en  Schaden  nimmt.  Denn  das  Fursichsein  der  Seele, 
das  in  einer  Welt  von  iauter  Relationen  sich  nicht  zu  behaupten 
vermag  und  nicht  zur  Geltung  kommen  kann,  findet  hier  seine  voile 
Bestatigung  und  Sanktionierung.  Dieses  Fur-  und  Beisichsein  der 
Seele  kann  unmoglich  vollkommen  sein,  solange  das  individuelle  Icfa 
in  seiner  Gesondertheit  nur  bei  sich  allein  verbleiben  will,  da  es  in 
einer  Welt  des  Fureinander  gar  nicht  imstande  ist,  sich  abseits  von 
Relationen  auszuleben/  es  wird  aber  gesichert,  sobald  es  diesem  Ich 
gelingt,  mit  einem  fremden  Ich  in  eins  zu  verschmelzen,  da  in  diesem 
Falle  das  Fureinander  und  das  Fursichsein  in  einem  einzigen 
Punkte  koinzidieren. 


232  Part  Beyer  ♦ Mdd<£engesc6k£te 


Paul  Beyer: 

mAdchengeschichte 

SIE  waren  satt  vom  ersten  Abend  aufgestanden  und  safien  scbal 
in  die  Nadit.  Gedanken  kamen  so,  als  stande  nicbts  vor  ihnen. 
Sie  hangten  klingende  Dinge,  die  sie  spradien,  an  die  sdiwarze  Tafel, 
die  zukunftsdunkel  vor  dem  Fenster  lehnte.  Und  dodi  ruckte  die  Uhr 
unkend  ihr  Haupt  und  scblug  bedachtsam  an  die  Sdiale,  aus  welcher 
die  Zeit  steigt.  Verstohlen  gahnten  die  roten  Mahagonisdiranke.  Augten 
in  das  warme  Streicheln  des  Feuers,  das  auf  den  grunen  Tisdi  <mit 
krausem  Mehl  der  Stickerei  kreisrund  bepudert)  bieder  herabsah. 

»Sie  blakt  ein  wenig,<  sagte  Henni  und  hob  die  Hand  vom  blau- 
geblumten  Kleid. 

Mandimal  waren  sie  ganz  still,  weil  eine  Brudce  zwisdien  ihnen 
FlQgel  spannte,  auf  der  einsame  Gedankenganger  sidi  ansprachen. 
»Weiter,«  tonte  er  so  hin. 

>I<h  hab'  dodi  gar  nicbts  gesagt.c 

Er  sdtrak.  Sie  versucfate  ein  Ladieln.  Dann  kniete  sie  vor  ihm, 
grub  ihr  Gesicht  in  seinen  SdboB:  »Mein  Gotf,  idi  habe  Angst  um 
didi  wie  ein  Madcben.c 
Sie  weinte  ganz  laut. 

Er  stemmte  sidi:  »Icb  muB  nun  fort.« 

Sie  Qberstromte  an  ihm,  der  ihren  Sdieitel  leise  bestridi. 

>Wein'  nicbt,  Henni.  LaB  all  meine  Bucher  liegen.  Denn  wenn 
ich  wieder...* 

Da  riB  das  Dunkel.  Licht  brach  grell  herein.  Und  sein  Mund  war 
voll  ihrer  stammelnden  Kiisse. 

Nodi  einmal  sah  er  den  kleinen  Schreibtisdi , wo  Werke  offen 
warteten.  Dann  wurde  er  fest:  »Glaub'  mir,  Henni,  daB  dein  Sohn 
einst  ganz  groB  wird,  weil  er  aus  dieser  Zeit  und  unserer  Liebe 
zum  Leben  kommt.« 


Pauf  Beyer  • MM<£enges(£{(6te  233 


Sie  aber  ftihlte,  dafi  ihr  Leib  nackt  Tar.  Und  ihr  Kieid  Turde 
durchsichtig. 

* 

Sie  erschrak  heftig,  als  er  die  stiirzende  Stiege  ohne  Blidt  pochend 
zu  Ende  klomm. 

»Du  bist  vie!  weiter,  als  du  bist,«  scfaluchzte  sie  leise. 

Er  drehte  sidb  um,  sah  sie  oben,  vertrat  den  FuB,  fiel  auf  die 
Knie.  Ganz  unten.  Der  Degen  rasselte. 

Sdinell  eilte  er  laut  durdi  den  dunlden  Flur  und  verbiB  die  Lippen, 
dafi  seine  Sdilafen  hervorquollen,  als  Turden  hier  Augen  nach  den 
Seitenenden  der  Zeit.  >Was  mag  dort  liegen?«  Eine  metaphysische 
Frage  nach  der  mehr  dimensionalen  Zeitlichkeit  umsurrte  ihn:  ein 
quSlendes  Insekt. 

Die  Nacht  stfirzte  uber.  Er  straffte  sich  und  sdiritt  weit  aus  durdi 
die  nGtzlicben  Gebirge  der  Hauser,  die  von  den  Monden  der  Bogen- 
iampen  viel  zu  hell  und  viel  zu  dunkel  waren.  Er  schlug  die  Hand 
weit  durdi  die  Luft.  Es  pfiff.  Sie  zitterte  wie  endende  Films.  *Wedisel- 
strom.  < Davon  kam  er  nidit  los.  Spater  bog  er  in  Gassen,  wie  Cations 
der  Wagenflusse,  vorbei  an  Maddien,  weldie  zisdiend  gegen  Hauser 
lehnten.  »MeinVater  Tar  Ingenieur.<  Und  veiter.  Rasdier.  »Warum 
mufi  idi  nadi  Osten  kampfen,  wo  meine  Mutter  geboren  ist.  Und 
gegen  die  Sonnenbahnlc 

Er  sah.  Tie  Henni  in  irgendeinem  Haus  stand.  Hodi  an  den 
Stufen.  Jetzt  erst.  Tie  lange  er  fort  Tar,  merkte  sie,  dafi  unten  ein 
gelber  Dodit  oligen  Sdileim  blahte,  der,  die  Zadcen  der  Treppe  be- 
nutzend,  bis  zu  ihrem  verTunderten  Kieid  Tinselte,  to  ihn  die 
kleinen  Augen  bedauerten. 

Dort  verbarg  er  sich  ebenso  in  den  Falten,  Tie  Hennis  Gesicht 
im  Taschentuch. 

★ 

Langsam  setzte  sie  am  Nahtisch  einen  hellblauen  Brief  an  ihn  zu- 
sammen.  Darin  stand:  >Du  bist  so  groti,  daB  keine  Kugel  dich  treffen 
kann.  Ich  habe  gar  keine  Maddienangst  mehr.  Denn  zum  grofien 
Mann  gehort  auch,  daB  er  von  Kugeln  versdiont  Tird.  WeiBt  du 
denn  noch  gar  nidit,  daB  Kugeln  auch  Ehrfurdit  und  eine  Seele 
haben?  Sieh  mal,  du  hast  noch  nidus  geleistet.  Aber  ich  TeiB,  daB 


234  Pauf  Beyer  - Madc£enges<£ic6te 

eeeeeeeeee/teeeeeeteeeetreeeeee  #/  ret  re  eeteeeeeeeeeree  r err  4 eeeeeeeeeeeeeeeeeeee  eereerejwteeeeetreeee+eeeeeeeeeteeteee*******,*  eeeeeeeeeeeeeewm 

du  cinmal  grofi  in  dcr  Welt  wirst,  so  wie  du  jetzt  schon  bei  mir 
bist.  Und  iiberhaupt,  wozu  solltest  du  denn  sonst  geboren  sein. 
Mein  kleiner  Junge  bist  du,  und  idi  mufi  dich  betreuen.  Du  mufit 
mir  aber  sdireiben,  Idi  weifi  nodi  gar  nidits  von  dir,  seitdem  du  fort 
bist.  Idi  bin  ja  so  leidit  zu  trosten,  denn  idi  bin  einfadi,  und  an 
mir  ist  nidits  Besonderes.  Du  sagst  immer,  ich  bin  dein  Polares.  Und 
jetzt  bist  du  am  femsten  . . .« 

A!s  sie  fertig  war,  faltete  sie  ihn  ein  und  sdilofi  ihn. 

Dann  sang  sie  ein  Lied. 

* 

Sie  saB  und  las  und  spann  sidi  um  ein  Budi.  Darin  waren  die 
Sagen  der  bunten  Blume  von  Lhassa.  Es  war  so  tief,  wie  einer 
sdirieb,  der  den  Geist  nodi  nidit  kannte.  Nun  war  es  alt.  Und  der 
Gott,  weldicr  alles  von  sidi  am  besten  wufite,  ladite  dariiber. 

Gem  versdiwand  sie  in  dem  weidien  Rot  von  Lotos,  das  daraus 
zog,  und  horte  durdi  den  Wind  am  helleren  Strom  das  wadie  Hallen 
rollender  Gonge  bald  nadi  Mitternadit. 

Es  klopffe,  daB  sie  ersdirak.  Die  Stubentiir  sprang  bastig  auf.  Ein 
Wind  stieB  tief  ins  Zimmer,  hob  die  Gardinen  wie  Rocke  und  stridi 
mit  unsiditbarer  Hand  die  losen  Blatter  vom  Sdireibtisdi.  Henni  erblaBte 
und  biitkte  sidi  sdinell.  Ein  Peitsdienknall  im  Sdirank  madite  sie  hodi» 
taumeln.  Alle  Sdiubfadier  streckten  die  Zungen  heraus  und  knarrten 
leer.  Aus  der  Sdiranktiir  wuchs  wedelnd  <der  Saugarm  eines  Poly~ 
pen)  ein  angstlicher  Gedanke  und  sdinappte  nadi  ihrem  Knie,  das  knickte. 

»Nanu,«  sprach  Hill  dick  vom  Turrahtren  und  trat  ins  Zimmer. 
»warum  ist  alles  offen?« 

»Icb  wollte  den  Brief  fortbringen.«  Ihre  Stimme  zitterte. 

>Haben  Sie  an  Wilhelm  gesdirieben?  Wie  geht's  ihm  denn?« 

»Es  ist  nodi  kein  Brief  da.«  Sie  hatte  einen  Kinderkopf,  und  ihre 
Augen  blickten  treuherzig. 

»Idi  bin  gekommen,*  er  legte  Hut  und  Stock  auf  den  griinen  Tisch 
<sie  glaubte,  daB  sein  Kinn  versdiwand : er  sah  aus  wie  ein  Geier), 
»idi  bin  gekommen,  um  seine  letzten  Sachen  auf  Drudcbarkeit  hin 
durdizusehen.« 

Plotzlidi  haflte  sie  ihn:  »Warum  sind  Sie  nidit  im  Krieg?«  Sie 
trat  ganz  didit  zu  ihm. 


Pauf  Bayer  • MddcBengesc6ic6te  235 

Er  lacfate:  »Wei(  ich  keine  behaarten  Arme  habe.« 

Henni  fiel  in  einen  Stuhf.  Hill  blatterte  in  Papieren.  Einmal  sah 
er  auf:  »Qbrigens  wissen  wir,  dafi  es  auf  Psycbologie  nicbt  mehr 
ankommt.  Und  ob  alle  Mutter  von  grofien  Mannern  Marien  waren, 
ist  bezweifeibar.  Fest  steht  nur,  dafi  Kausalitat  die  herrlidiste  Dicb- 
tung  ist  und  dieses  Zeitalter  politiscb.  Naturlidi  ist  der  Individu- 
monismus  scbuld  an  den  Kartoffelpreisen.  Jetzt  stofien  wir  alle  in  ein 
Horn  und  sdhreiben,  dafi  Sdireiben  nicbts  wert  sei.«  Henni  stand  auf. 

»Gehn  Sie  fort,  Sie  sind  ein  Intellektueller.* 

»Da  irren  Sie.«  Er  zog  die  Brauen  hocb  und  stiefi  den  Zeige- 
finger  steif  durdi  die  Decke.  »Les  intellectuelles  se  sont  intellec-tues. 
Dies  soil  der  Grabstein  meiner  Gallizismen  bleiben.« 

Aus  den  Tapeten  sprangen  Vogel  und  sangen,  die  Sonne  drehte 
sidi  auf,  und  alle  Blumen  am  Fensterbrett  leuditeten.  Da  offnete  sie 
ihr  Gesidit  wie  ein  Budi  und  las:  »I<b  gfaube  an  den  Osten.c  — 

»Ja,  gewifi,  man  darf  an  die  Kultur-Futura  nicbt  den  Mafistab 
der  Kanalisation  legen.  Und  sicber  haben  Sie  viel  SdilegeUFriedricb 
gelesen.*  Er  stand  auf. 

Aber  da  war  sie  sdion  lange  im  Schlafzimmer  und  band  ihren 
Sommerhut  um. 

Hill  nahm  den  Stock  und  staubte  unwissend  den  Hut  mit  dem 
Mittelfinger  ab. 

★ 

Bronzene  Gongs  von  Gescbutzen  scbutteln  das  Fruhlicbt  wadi. 
Aus  Erdhohlen  hebt  sidi,  fiber  Flacben  gefegt,  die  Sturmtrompete 
blank  wie  ein  Strahl  und  walzt  Scbladitenscblangen  quer  vor  sidi  hin. 
Raketenbaume  flitzen  Flugzeuge  ins  Ungewisse.  Ketten  entsdinattem 
den  Zahnen  der  Walder.  Attacken  prasseln,  Hagel,  an  die  Hfigel, 
die  dort  sidi  aufbaumen. 

Und  bronzene  Gongs  von  Gesdifitzen  scbutteln  ein  Lied  wadi  in 
Brusten.  Heben  es  sdiwer  in  die  kfihle  Blaue. 

Da  — vorn  unter  vielen  der  Eine.  Den  Degen  himmeldurdi- 
bohrend,  reifit  er  mit  sdiarfem  Sdirei  Gebrfill  aus  dem  Chaos,  das 
vorspritzend  Winddunen,  zur  Tiefe  fliegt. 

Und  er  sdireit  wieder  — ob  er  gleicb  fiel. 

Gleidiviel  wer  siegt. 

* 

16  VoL  m/1 


>V/iV>y 


236  Pauf  Beyer  • M&f<£enges<6i&te 

********************  *r*f ******************************************** 

Wie  der  Morgen  die  grauen  Barte  von  den  Dachern  nahm,  stand 
Henni  auf  aus  ihrein  Bett.  Sie  zog  sorgsam  den  gestreiften  Morgen* 
rock  an  und  ging  in  die  Kuche,  um  Malzkaffee  zu  kochen.  Der  kleine 
Gashahn  zisdhte,  eine  blaue  Flamme  spreizte  erwachend  die  Krone. 
Es  war  kalt.  Darum  ging  sie  zum  Fenster,  schlofi  es  und  nestelte 
sich  enger  in  das  Kleid  ein. 

»Guten  Morgen,*  sagte  der  graue  Kiichenschrank  hinter  ihr  und 
verbeugte  sich  tief.  Sie  fuhr  herum,  so  quirlte  sie  der  Ton.  Heifies 
Eisen  goB  von  den  Schlafen  in  ihren  SchoB.  Und  aus  Angst,  der 
Schrank  konnte  fallen,  stutzte  sie  ihn.  Doch  er  with  schlammig  unter 
ihrer  Hand  wie  Gallert. 

Eilig  lief  sie  ins  Schlafzimmer  und  zog,  zitternd  vor  dem,  was 
kommen  sollte,  das  grune  Kleid  mit  gelben  Punkten  an.  Wusch  sidi 
kalt  und  steckte  das  Haar  auf. 

Der  Spiegel,  ein  simpler  Voyeur,  nidcte:  »Sieh,  welch  sch&ne 
Hande  sie  hat.« 

»Wie  ungebildet,*  dachte  die  beteiligtere  Bettdedce,  *sie  hat 
Hande  wie  Magdalenen.* 

Da  wurde  sie  rot  bis  unter  die  Brust,  warf  sich  ladiend  aufs 
Bett  und  drfidcte  die  warme  Dedte  an  sidi.  Wie  froh  sie  war,  ange> 
kleidet  zu  sein.  Sie  stand  gleich  wieder  verlegen  auf.  Ging  ins 
Wohnzimmer.  Aber  wie  erstaunte  sie,  als  der  Sdireibtisch  ihr  half, 
indem  er  sagte:  *Ich  kenne  einen,  der  wurde  meinen,  deine  Hande 
sind  auf  dem  Kleid,  wie  Mandelbluten,  die  im  April-Regen  von 
Li*leis  schlanken . . .« 

Schnell  nahm  sie  eine  Photographic,  kuBte  sie  mit  nassen  Augen 
und  fliisterte:  >Wilhelm«.  Wie  ein  Vorwurf. 

Von  der  Kiiche  her  rief  das  kochende  Wasser  schrill.  Sie  stellte 
das  Bild  hastig  hin,  daB  es  umfiel,  und  lief  hinaus. 

Um  den  Herd  quirlte  Dampf.  Sie  meinte,  daB  Wilhelm  darin  stand. 
Er  war  weifl  und  blutete.  >Bist  du  zurtickU  schrie  sie  und  schlug 
die  Arme  um  ihn.  Ihr  Kopf  drdhnte  — 

Als  sie  zu  sich  kam,  war  es  Abend,  Sie  klemmte  zwisthen  Eimer 
und  Herd.  Miihsam,  zerbrohen  stand  sie  auf.  Brauner  Geruch  lag 
zottig  von  den  Wan  den. 

Es  knallte.  Der  Kochtopf  war  zersprungen  uber  der  Platte,  die 


Pauf  Beyer  • Mad<£enges<£i<£te 


237 


von  den  Flammen  gluhte.  Sie  drehte  das  Gas  aus,  goB  Wasser  auf 
die  Glut.  Bs  schrie  sie  an:  »Henni!«  Zischend  zersprang  das  Eisen. 

So  sdmell  sie  konnte,  floh  Henni  ins  Sdilafzimmer.  Doch  aus  Angst, 
der  Spiegel  nidge  sie  verfuhren,  sprang  sie  uber  das  Bett  zum  Wohn- 
zimmer.  Ihr  Haar  flog  wirr.  Die  Nadeln  zerplatzten  zu  Boden.  Es 
wurden  mehr.  Sdion  wudis  ihr  Klingeln  zu  hohnischer  Musik.  Hinter 
ihr  prallten  Geladiter  von  den  Wanden.  Sie  lief.  Das  Zimmer  nahm 
kein  Ende.  An  den  Seiten  standen  Schreibtisdie,  unter  denen  hervor 
weifie  Pferde  glotzten,  die  den  Kern  der  Zahne  aus  ihren  Lippen 
scfaalten.  Sie  schrie.  Die  Geladiter  rasselten  gepanzert  dicht  hinter 
ihr,  wie  eine  Herde  riesiger  Kellerasseln.  Plotzlich  senkte  sich  der 
Boden,  wurde  absdiussig  und  steil.  Sie  stolperte.  Senkrecfat  fiel  sie 
durdi  bronzene  Sdiadite.  Ihre  Kleider  zersplitterten.  Hart  schlug  sie 
auf  grofle  Gewinde  von  Sdiiflistauen,  die  sidi  in  halbhellem  Raum 
unabsehbar  hinlagerten.  Die  regten  sich.  Redtten  sidi  hoch  wie 
Schlangen/  zisditen  sie  an.  Umwanden  sie  kosend.  Sie  schlug  um 
sich.  Aber  die  Taue  krochen  unbeirrbar  um  ihren  Leib.  Fesselten 
ihn.  Ringelten  Bruste  und  die  geklemmten  Schenkel  ein.  Legten  sich 
sanft  um  Hals  und  Ohr.  Jetzt  fuhlte  sie,  dab  sie  nackt  war.  Da 
lagerte  sie  sich  breit  zuruck  auf  kiihle  Kissen,  die  warm  wurden, 
loste  den  SchoB  und  lieB  es  leise  rausdiend  mit  sich  geschehen. 


238 


JoBanrtts  R.  BtStr  ■ VtrBr&tftrung 


JoBannes  R.  BacBeri 

VERBRUDERUNG 

NEUE  GEDICHTE 

I 

DER  ENTFERNTE.  Georg  Trakl. 

Er  geht  durcfa  Wilder.  Lautlos  unbewegt. 

Wo  gar  kein  Raum  1st  in  der  Luft:  zum  Schrein. 

. . . und  wGrgt  und  wfirgt!  Da  gem  es  sdilafend  tragt 
Ihn,  hangt  er  skh  ins  Horn  des  Hirsches  ein. 

Betaute  Wiege.  Dodi  erwadit  er  grell. 

Matt  gieDen  Mond  und  Sonne  sidi  herein. 

Ein  wenig  platsdiert  er  im  sdvwarzen  Quell. 

Er  sdiiurft  berauscht  vom  bitteren  Abendschein. 

Seltsam  durchmischt  verblieben  die  Gerausche 
Aus  jener  Stadt,  die  knospet  auf  im  Blut._ 

Von  zweien  Kindem  ausgebrochenes  Kreischen. 

Wie  Blasen  steigend  Boiler  Festsalut. 

Auf  einmal  dann  — : gestreckte  Schlote  zlschen. 
Andante-Bafi  der  Strafte  bunter  Ton. 

Wo  Brullen  . . . Haufen  schleifen  an.  Lang  Wisdien  . . . 
Am  Ende  schlGpft  heraus  ein  Grammophon. 

Er  geht  durdi  Wilder.  Lautlos  unbewegt. 

Wo  gar  kein  Raum  ist  in  der  Luft  zum  Schrein. 

. . . nur  manchmal  wie  umarmend  sdilagt 
Den  Kopf  er  bruderlidi  ins  Moosgestein. 


Johannts  R.  BtSer  • VtrSrMemmg 


239 


n 

sOhne 

FQr.  Alfred  Woifautein 

Der  auf  Kotfaurnen  naA  Gestirnen  stampft . . . 

Die  Mutter  kreisAend  siA  a us  der  Veranda  bQ  Ate : 

Da  zieiut  du  weg  ob  blauen  DiAern  Aoben! 

Verkohlte  Stidte  um  das  Haupt  Am  dampfen. 

SAeinwerfer  Auge  to  die  Runde  zOAt. 

Parierst  mit  PalmenfeAer  aller  Ungeheuer  steiferen  Tatzenhieb. 


Der  Sohn  wird  krumm  in  StraBen  kollerndem  Ged&rme  hflngen 
Gekreuzigt  wirbelt  er  to  Mondes  Fin  gen. 

Es  sAwimmen  um  ihn  tausend  Sdhne  breit. 

Von  Freunde  SAultem  sAwtogt  er  siA:  zur  Fahne! 

Urns  Handgelenk  er  quirk  der  Strdme  Bahn. 


Ein  Kandelaber. 


Auf  Gehirn  sdireit: 


». . . Sdhne!  O Sdhne!  Anditz  zerpflQgtes  trauft  Moor. 

Frafl  euA  bald  Finsternis?!  Fratze  der  Vater  sAnell?! 

AA,  niAt  Gefilde  lelAt  tanzend  kommen  euA  hell. 

Mit  Eiter  besprengt  nur.  SASumen  Blut-Leims  durAgoren. 

Hah!  Als  uns  sAoB  ins  weiAeste  Profil 
Maigarten-MadAens  duster,  o dOster  ein  Grand. 

Lila-SAatten,  Quadrate  SpdliAt.  Zu  viel  — 

Fetzen  FrOhling  brdAeln  SAmetterlinge  in  den  Massensund. 

Die  Lehrer  sAreiten  unsiAtbar  im  Zug. 

DaB  jener  heulend  vom  Gerttste  sprang. 

Die  BrQder  fallen.  Ungeflbt  im  Flug. 

BesAnitten.  DennoA  steil  und  QbersAwang. 

Ja — : tddliA  siA  Tyrannen  spalten  vor  dem  Bug  der  AttentSter, 
VerkroAen  in  der  Menge.  Eingespannt  und  sAmal. 

Einst  sie  enorm  gen  Ae  Azure  fedem. 

Dann  fern  wo  bog  siA  firei  ein  Tal! 


Z40  Johannes  R.  Esther  • VerhrQderung 

fiametaamiaammmtmmnmmmmeammmmamamammaimanmiwmmmmaimnemjmmmmmmtmmmmmmBmmmmmmmiammmmmmmnmmmmmmmmHmMmmm  * 

Wer  aber  stemmt  entzwei  die  Throne  der  Gesandten?! 
Zerreifit  die  aufgeblahte  Brust,  der  Orden  gottlos  Firmament?! 
1st  nodi  die  Sdiar  zu  klein?!  Und  mQfiten  neue  landen?! 

Dafi  unser  Hauf  der  Feinde  Sdiutzdamm  Qberrennt. 

Fugt  Strophen  selben  Baus!  Uns  heimlichste  Kokarde. 

Ein  Platz  sdiwelgt  rasend  Im  Trompetenmund. 

Durch  Haare  Waldung  kammt  der  Morgenstund 
Gelaut.  Saum  kohlster  Engel  nadi  verquoUener  Fahrt. 

So  zundet  an  eudi!  Lafit  die  Hande  spielen 
Signale  endlos  durch  den  Ather  hingestreckt ! 

Aus  dem  Gymnasium  flammt  gleich  Sonn  der  Schuler 
Geaug.  — Ein  langster  Windflor  fegt 

Aus  Spitzen  euerer  Finger  Manifeste. 

Die  kurbeln  an.  Sie  sdilagen  gell  Alarm. 

Millionen  kehrend  heim  vom  Schlachterfeste, 

Versammeln  sich  im  aufgeworfenen  Arm. 


in 

BEILIS.  DEN  JUDEN 

<>,  . . du  Heiliger  gerissen  fort,  gequalet, 
Gepadcet  ein  in  spitziger  Widcel  Mampf . . ,t> 
Das  runde  Angesidht  <ein  Apfel)  schalt 
Sidi  in  dem  Bad  aus  sengender  Gifte  Dampf. 

Der  Rudcen  trieft,  ein  Acker  voll  Geblute, 

Und  Schwulstelocher  bohren  am  Gesail. 
Kosaken  zuditigen  ihn  mit  steifer  Rute, 

Audi  haufend  Fladen  auf  des  Hauptes  Sdinee. 

Ein  Sack  ihm  Polster/  dodi  in  schwarzer  Zelle 
Zucket  ein  Sdiein  Jehovas  Blitzeslidit ! 


w 


Johannes  R.  SedSer  ■ VerBr&derung 


DurA  Traume  spult  von  Duften  einc  Welle 
Ein  Balsamumwurf  seiner  nagenden  GiAt. 


Der  Reihe  naA  ihm  winken  die  Propheten, 
Ja  Moses  tont  ein  Horn  vom  Sinai. 

Es  weilt  am  Libanon  Gesang  der  Zedern. 
Du  Zionsvolk  ringshin  den  Garten  ziehst. 


Jerusalem  er  sAaut  im  Aug  der  Henker, 

Der  hingesAleudert  auf  der  Folter  Bank. 

In  jedem  StreiA  Rosinenbrot  empfangt  er. 
Manna  und  Wein.  Die  heilige  Lade  sAwankt! 

Aus  firemden  Stadten  winseln  die  Gewurgten. 
Ihr  ZeiAen  um  den  Hals  der  Kette  Ring. 

Die  Strome  offnen  siA.  Gen  die  Bezirke 
Der  Vater  lenkt  Beilis  sie.  Die  Wuste  sAlingt 

Gluhende  Haut  Rasende  BriiderAristen, 

Brut  Sarazenen  draun  im  Hinterbalt. 

Die  Popen  sAwenken  heulend  Kruzifixe. 

Des  Nebels  SAleier  um  den  Feind  siA  ballt. 


Von  Hugeln  gleiBt  dies  Heimattal  umsAwungen, 
Der  Palme  SAwall  streut  harzenen  MyrrhenhauA. 
Die  rostigen  Nagel  in  sol  A FleisA  geAungen 
Ein  armer  Heiland  er  am  SuBhofz  kaut! 


Und  leAt  die  Steine  sAlurfender  SpeiAelkusse. 

Die  RiAter  ob  dem  langen  TisAe  sArein. 

Ein  Fliegen-SAwarm  stiebt  aus  gesAwollenen  FuBen. 
Aus  Brust  und  Nabel  dunne  BaAe  speien. 

Beilis!  Beilis!..  . Ein  Laut  s Are  At  ihn.  Jetzt  heben 
Die  von  den  TisAen  siA.  Er  hoAt  ein  Lamm. 

Beilis ...  In  seinen  Adern  Engel  sAweben. 

Der  Hiobleib  AuAt  aus,  ein  SAimmelsAwamm, 


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241 


242 


JoBannts  R.  Bt<£tr  • VtrBrM'mmg 


Beilis  . . . den  Namen  tragen  Botenwinde, 

Ihn  wiegend  sanft,  siA  vdlbend  zum  Azur. 

Beilis  . . . es  sduillt!  Die  grflnen  Knedite  winden 
Den  Klumpen  SAaAer  aus.  Auf  Treppenflur 

a 

Der  liegt  Er  rSAelt  niAt.  Er  rauAt!  Bin  Peuer 
Dem  Heim  zum  WohlgeruA  auf  dem  Altar 
Des  Blodcs.  Der  Herbste  n 5 A tiger  Regen  sdieuert. 

Aus  spitz em  Hut  v§Ast  sidi  verdltes  Haar. 

IV 

SANG  DEN  FRAUEN 

Fflr  Else  Hadwiger 

Aus  Abendr&ten  kreisen  wir.  Ob  bunterer  Lauben. 
Die  Fldte  spQlt  herein  mit  weiAem  Klang. 
GesAwarztes  MadAen.  Steife  Haare  rauAen. 
ZersAlissenes  Hemd.  Geknetet  Brfiste  lang. 

Um  durre  Halse  Spur  des  Lila- Strangs. 

Wir  tollen  SAvungs,  der  Reden  sO0  entzaubert! 
Gespreitzt  zur  Harfe  knoAeme  Griffelhande. 

Bin  Fistelton  . . . Im  Antiitz  Mortelwande. 

Wo  ragst  du  Mann  ob  schaukelnder  Tribflne?! 

Die  Pyramiden-Stadt  sAirirrt  jab.  Sie  loht 
Was  gilt  uns  heut  noA  ein  Libellenboot? ! 

FlaAen  von  Satnt,  gen  unsere  Lippen  grflnend. 

Kein  Hugel  labt  mehr.  Tief  die  blanken  SAienen 

Gebohrt  durAs  StoAverk  unseres  Leibs.  Das  Lot 
Wir  sAwinden  fort  in  hollisAen  Krawallen. 

SAutzleute  wogen.  Haupter  Fahnen  krallen. 

Geist!  Unser  Retter!  So  im  Bludauf  sAGrt! 

Gehirn  zuspitzt  DafiViadukten  gleiA  siAMuskeln  spannen. 
< . . . an  GrifFen  euerer  DolAe  blOhen  Tannen- 
Walder . . .>  — Geist  der  uns  ballt.  Der  ftxhrt. 


w 


Johannes  R.  B ether  • VerhrUderung  243 


Dai)  unsere  Sohne,  die  Heroen,  sammeln 
Nationen.  Gberstrahlt.  Und  wir!  Und  wir!! 
KartatsAt  die  Reih!  Von  Luften  Bleis  zemagt! 
Die  Wenigen  sind!!  O ungeheuerer  Tag!!! 


Ja  — : Hirtinnen  wir  grofi  in  Stadten  walten. 
Wir  Chore.  EuA  besAwingend  zu  dem  Bau. 
Wo  Ofen  Blitz  entzwei  den  Himmel  spaltet, 
Der  niedersAuttet  Berge  AsAentaus. 

Die  wir  in  Wusten  Haine  Zedern  falten. 

EuA  zerrten  krieAend  weg  vom  Drahtverhau. 
Zu  Prozessionen  wir  Plakate  sAwenken. 

O — : Pauken  bliihn  aus  unseren  Kniegelenken. 


Wie  Fahnen  streuen  vor  wir  Manifeste. 
Trompete  klafft  der  Mund.  Es  brullt  Alarm. 
Aus  eueren  Gruften,  feuAten  To  ten -Nes  tern 
LiAtsaulen  steigt  ihr:  dunkler  Bruder  SAwarm. 
Die  jungen  DiAter  schleudern  weite  Gesten. 

Sie  sAufen  Staat.  Ein  neuer  Ton  sAleift  warm. 
Auf  Platzen  weinen  Burger.  Tatowierte  Huren, 
Die  Engeln  gleiA  mit  PuppAen  niederfuhren. 


Hah!  Rhythmus  wollen  wir,  der  zu  Nationen 
Ein  mystisAer  Strom  versAmelzend  ubersAlagt. 

In  Auges  Winken  no  A die  Kruppel  wohnen. 

Europa  unseren  Stirnen  eingepragt! 

DaB  der  GesAutze  Tempo,  einst  Aonen 
DurAhammernd  knurrend,  wolb  zum  HauA,  der  tragt 
— auf  Flammen  Rost  erbaut  und  blitzumrandert  — 
Uns  an  die  BuAt  geturmter  F reiheits  - Lander ! 


244 


JoBannts  R.  Btt6*r  • VtrSr&derung 

V 

DURCHHELLUNG 

R.  S.  gewidmet 

H6I1  reiBen  durA  sic  — : aus  Granit  die  Stflrme. 
Ja,  Palmcn  peitsAen.  SArei  wie  nie  zuvor. 

Posaune  bruilt.  Zerprasseln  der  Gevurme. 

. . . und  fugtet  euA  umsonst  zum  KlageAor  . . . 

Bh  solAer  Braus  euA  niAt  vom  Aussatz  sAor  — 
ZcrsAmcttemd  LiAt  aus  Hauptem,  Kegeln!,  gor  - 
Dann  hissen  wir  uns  Segel  selbst  den  Turmen: 
Heiliger  Fahne  straffster  Flor. 

WelA  jubilierend  Zueinandereilen! 

Ein  in  siA  SAieben!  DurA  und  durA  Zerwenden! 
Wie  neuen  Fruhjahrs  sAeint  der  Raum  verwOrzt. 

Der  Sterne  DusAe  trifft  uns  aileron. 

Die  StraBe  baumt  Stahleme  Saite  Idiot's. 
Umarmend  Aeroplane  siA  im  Steilen. 


VI 

MELODIEEN  AUS  UTOPIA 

Sie  dringen  langsam  sAon  heran,  bald  gleiten 
Sie  milde  Stofie  auf  und  ab  im  Blut. 

Die  Adem  tonen,  Netz  gespannter  Saiten. 
Moorsee  des  Cellos  zwisAen  Bergen  ruht. 

Darob  die  Inseln  der  Gestime  hangen. 

Verweste  Tiere  bluhn  in  Waldern  auf. 

Es  steigen  Prozessionen  nieder  in  Gesangen. 

Der  FluB  beleuAtet  selnen  sAwarzen  Lauf. 


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JoBannts  R.  Be<£tr  • VtrBrtidtrung 


O Mutterstadt  im  freien  Morgenr aum ! 

Es  flugeln  Fenstcr  an  den  Hauserfronten. 
Aus  jedem  Platz  erwadhst  ein  Brunnenbaum. 
Veranden  segeln  mondbeflaggte  Gondeln. 


Sie  kunden  Manner  an,  elastisch  sdiwingen 
Die  durdi  der  Straflen  ewig  blaue  Scblucbt. 

Ja  — : Frauen  scbreitende!  Mit  Palmenfingern. 
Geoffnet  weit  wie  Kelcbe  sufiester  Frucbt. 


Und  Freunde  strahlen  an  dem  Tor  zusammen. 
Wie  hymnisdi  sdiailt  purpurener  Lippen  Braus. 
Nicbt  Sohne  mehr,  die  ihre  Vater  rammen. 
Umarmte  ziehen,  Sonnen,  sie  nadi  Ha  us. 

Zu  wekhestem  Park  verscfamolzen  die  Gefilde. 
Die  Armen  sdiweben  bunte  Falter  dort, 
Goldhimmel  sickert  durch  der  Wolken  Filter 
Ob  Volkern  hin.  — Lang  drohnender  Akkord. 


246  G fosse n 

*****!§*************************  **********************************************************************  ****************************************** 


GLOI 

Die  Landsdaji 
des  Mafers  Tram  Marc 

Wie  treib  ich  unbehelligt  von  den  Schweren 
sinkenderNadit,  und  schweige!  Ichempfinde 
den  weichen  Fernendrudc  der  neuen  Winder 
an  Ufem  brGllt  cs  auf  a us  niedem  braunen 

Her  den. 

A us  schwarz  von  Rauch  umstobenen  Bahn* 

hofen, 

crhellt  als  schon  das  Tor  des  Paradieses, 
erstehn  zuWoIkcn,sto6en,schreien  Mowen. 
Idi  zittre  vor  dem  Huschen  eines  Wiesels  — 

Zu  Ungeheuem  ausgeweitet,  bauen  Ar* 

beitskihne 

die  Horizonte  meines  Kupferbootes. 
dicht  schlieBt  die  Luft,  nur  Sdiatten  sind 

die  SchwSne, 

blau  im  Gesang  des  Friedens  und  des 

weiteo  Todes, 

Was  jagt  vorbei:  flammendes  Pferd?  ge* 

fleckter  Sdiatten  eines  Hundes? 
SGBe  Erinnerung  des  Tages  und  vergeB* 

nen  Lasters  — 

da  fiberweht  die  Muskeln  meines  Mundes 
GeruchderTiefe,  fauligerHaudi  des  Wassers. 

EntrGdct  der  Zeit,  zerstoben  schon  die 

Stunden 

sdiwerfarbig  hin.  Und  aber  kommt  ge* 

wohntes 

Anschaun  blutender  Nacht  im  Licbt  des 

schweren  Mondes. 

Rudoff  Leonhard. 


i S E N 

Der  Sinn  des  Kampfes. 

(Geschrieben  1906.) 

Neue  Erobcrer,  der  Menge  nicht  be* 
kannt,  doth  fortschreitend  in  alien  Werken 
der  Erde,  sind  unter  die  Volk er  getreten,  un* 
sichtbar  und  af  fgegen  wirtig  / ihre  Sdbiffe  be* 
gegnen  tin  an  der  in  alien  Hafen  undMeeren/ 
wie  Qber  Plane  von  Schlachtfeldern  ncigen 
sich  ihre  Blidce  Qber  die  Festlander  zwi- 
schen  den  Ozeanen  / sie  schatzen  die  kGnf* 
tigen  Emten  unter  den  sengenden  Sonnen 
aller  Zonen/  sie  kennen  die  ReichtQmer 
alier  Kohlenlager,  Eisenberge,  goldhaltigen 
Gewasser,  die  Mengen  von  Kupfer  und 
Zinn/  bis  in  die  Urwaider  und  WQsten 
hailt  das  SchieBen  des  ununterbrochenen 
Krteges,  den  sic  erhalten  wie  Jiger,  die 
eine  Schlinge  legen/  ohne  es  zu  wissen, 
sind  allc  Volker  ihnen  tributpflichtig/  un* 
sichtbar  wirken  sie  im  Rate  der  FQrsten,- 
ihre  Gberwundenen  sterben  unauffallig  wie 
von  einer  ratselhaften  Krankheit  gezeichnet, 
die  (eise  das  Leben  aufsaugt/  doch  ihre 
feinsten  Siege  sind  jene,  bei  denen  un* 
sichtbare  Schflsse,  aus  den  lichten  Unend* 
Hchkeiten  des  Geistes  und  Gedankens  fai* 
lend,  mit  Leichen  alle  Femen  bedecken. 
Jeden  Schritt  ihres  Weges  und  ihrer  Traume 
begleiten  geheimnisvolle  Skiaven  auf  bei- 
den  Haibkugeln  dcr  Erde.  Selbst  die  geisti* 
gen  Sdiopfer,  E Hinder,  Besieger  der  Ele* 
mente,  KQnstler  sind  gedungen  auf  ihren 
Feldern.  Dem,  der  die  Erde  beherrsdite, 
scheint  auch  die  Sonne  zu  dienen  als  eifer* 


r\  ? 

i 


Gfossen  247 

i4///////  //  *****  ************************************************************************  m*  ***************************************************** 


suchtiger  Hu  ter  des  Werkes  der  Wolken 
und  Winde. 

Aber  jede,  wie  ein  Aufschrei  in  die 
Tiefen  des  Lebens  drohnende  Kraft  er- 
wedkt  tauseode  triiumende  Krafte.  Gegen 
diese  Macht,  daran  durdi  Aonen  die  Hande 
der  Toten  arbeiteten  und  deren  einzige 
tragisebe  Schonheit  die  ist,  dafi  in  ihr  der 
Mensdi  zum  ersten  Male  die  gesamte  Erd- 
kugel  mit  dem  glfihenden  Netze  seines 
Wilfens  umspannte,  tritt  gerade  der  so 
geheimaisvoiie  allgegenwartige  Feind  auf. 
Die  Massen,  durch  Jahrtausende  demfitige 
Teilhaber  der  Pracht  und  des  Brotes,  haben 
sich  geruhrt.  Im  ersten  Frostschauer  des 
Entsetzens,  der  einer  jeden  neuen  Wahr- 
heit  Begleiter  ist,  beginnen  wir  zu  ahnen, 
daft  an  unseren  Scbmerzcn  und  Freuden 
Wesen  den  groBten  Anteil  haben,  die  wir 
im  ganzen  Leben  nicht  erblicken,  und  daB 
wir  von  Schlagen  betroffen  werden,  ohne 
die  Hand  zu  kennen,  die  sie  uns  versetzt. 
Das  Geheimnis  der  Ein  heit  strahlt  aus 
den  Tiefen  des  Stoffes/  die  Wcite  hort  auf, 
Weite  zu  sein/  das  Leiden,  das  sich  sei- 
ner Allgegenwart  auf  Erden  bewufit  wird, 
verwandelt  sicb  in  eine  Naturkraft,  die  an 
der  Umwandlung  alles  Lebens  mitwirkt. 
Der  Geist,  im  Dienste  der  Sieger  gefangen, 
erhebt  sicb  gegen  sie.  Im  gluhendsten 
Feuerherd  des  wirtsebaft lichen  und  sozia- 
len  Kampfes  handelt  es  sicb  um  geistige 
Dinge,  um  ein  anderes  Verhaltnis  des 
Herzens  zu  Millionen  von  Herzen,  um 
eine  andere  Betrachtung  der  Freude  und 
Schonheit.  Ein  neuer  Mensch  kundigt  sicb 
auf  Erden  an.  Der  Landwirt,  der  von 
Grenzstein  zu  Grenzstein  sein  Gefilde 
uberbliett,  sieht  alle  Ebenen  und  Gebirgs- 
zflge  vor  sicb,  mit  alien  Meeren,  Reich- 
tflraern,  Brudervolkern  und  Stadten.  In 
den  Tiefen  der  Geister  ist  sebon  sein  Reich 
und  eine  andere  Ordnung  der  Dinge  vor- 


bereitet/  und  daraus,  daB  die  innere  Wahr- 
heit  in  Millionen  Menscben  eine  andere 
ist  als  die  Wahrheit  der  sichtbaren  Wirk- 
licbkeit,  entsteht  die  Trauer  und  beun- 
ruhigende  Schonheit  der  gegenwartigen 
Zeit.  Der  Mensch  hebt  vor  den  Horizon- 
ten,  die  bei  jedem  Schritte  vor  ihm  sicb 
erschlieBen  gleidi  Halluzinationen/  er  ist 
erschreckt  durch  das  majestatisebe  Schwei- 
gen,  darin  sein  Entsetzensscbrei  sicb  ohne 
Ant  wort  veiliert/  er  zittert,  ungewohnt, 
vor  den  Winden,  die  Gesang  von  alien, 
plotzlicb  erschlossenen  Meeren  zu  ihm  tra- 
gen,  von  alien  Landungsplatzen  und  Werk- 
statten,  und  die  Dufte,  die  den  Urwaldern 
entrauchen  und  tiber  Aquatorialsecn  ziehen. 
Wie  bei  heftigem  Aufstieg  stock t sein 
Atem  im  sQflen  Weben  des  Athers,  der 
von  der  fliegenden  Erde  Bewegung  an 
sein  Gesicht  scblagt.  Durch  Aonen  zu  Mifl- 
trauen  und  Kampf  erzogen,  bebt  er  vor 
den  unerwarteten  Beruhrungen  von  Mil- 
lionen Geistern,  deren  gluhende  Gegcn- 
wart  er  selbst  in  jenen  Tiefen  seines 
Wesens  zu  verspuren  beginnt,  wo  sein 
geheimster  Gedanke  allein  zu  sein  ver- 
meinte.  Er  scblieBt  sein  Auge,  aber  gegen 
seinen  Willen  dringt  die  aufreizendc  Sonne 
durch  die  gesdblossenen  Lider  zu  ihm.  Wo 
den  Horizont  seiner  Vater  die  Ho  hen  der 
Heimat  begrenzten,  sieht  er  die  funkeln- 
den  Spiegel  ferner  Flusse  und  Festlander 
hinter  Ozeanen.  Sturme,  die  um  die  Erd- 
kugel  kreisen,  schutteln  Funken  aus  ver- 
brannten  fernen  Stadten  auf  das  Dach 
seines  Hauses.  Das  Schweigen  der  Ge- 
fangnisse  und  Hinrichtungsstatten  dringt 
zu  ihm  von  der  anderen  Seite  der  Erde 
durch  den  brodelnden  Glutkern  ihres  In- 
nern.  Der  Aufschlag  der  Balken  aus  dem 
fallenden  Geruste  des  geheimnisvollcn 
Baues  und  die  Hiebc  der  Axte  rauben 
ihm  den  Schlaf.  Verwandelt  hat  sicb  die 


248 


Gfosstn 


t 


NaAt  in  fare  SAreic  von  Fragenden  and 
aus  unermeBUAer  Feme  Antwortendco. 
Aber  Ac  Lebensleidens Aaft  war  niemafs 
so  tragisA  gewaltig,  mit  heftigen  Wellen 
dieVdlker  verrQckend  / niemals  offenbarte 
si  A Ac  Illusion  dcs  Lebcns  den  Enterb- 
ten  blendendcr,  das  GesAenk  des  Ordens 
und  der  Lust  kostbarcr,  der  KSrper  reiAer 
und  bewunderungswOrdiger,  die  in  der 
Sonne  reifenden  Trauben  sGBer  und  be- 
gehrliAer.  AIs  ob  alter  Glanz  die  Erde 
strahlend  Qberflutetc  und  Funken  sAlftge 
aus  Gewlssern,  Blflten,  Wolken  und 
BliAen.  Aber  mit  der  gleiAen  Starke,  mit 
der  in  den  Volkern  die  LeidensAaft  fQr 
die  Erde  w2Ast,  wiAst  das  BewuBtsein, 
daB  ohne  die  Mitarbeit  von  Millionen  nie- 
mand  die  FrOAte  aus  Aren  verborgenen 
Glrten  verkostet.  Die  hdAste  Wollust 
der  Erde,  Ae  BerausAung  am  Siege  der 
Bruderkraft,  Ae  Freude  Qber  die  Frcudc 
der  BrQder,  bleibt  unbekannt  und  unzu- 
gingliA.  Der  Kdrper  dcs  MensAen  1st 
von  der  Vergangenheit  geformt  worden/ 
ganze  Gebicte  in  seinen  Sinnen,  die  der 
NaAt  des  Kosmos  zugewendet  sind,  sind 
bis  jetzt  von  unserem  LiAte  niAt  erreiAt 
worden/  Ae  EmpfindliAkeit  fQr  hdhere 
Formen  der  Liebe,  Ae  siA  der  Freude 
alter  als  ihrer  eigenen  bewuBt  wflrdc,  1st 
unentwiAelt  geblieben.  Mit  Bangigkcit  wie 
vor  Wesen  aus  einer  andern  Welt  sind 
Ae  Massen  vor  dem  sQBen  Willen  der 
Heiligen  zurfldgewiAen,  deren  Herzen 
gteiA  FrQAten  an  der  Sonnenseite  des 
Gartens  frQher  gereift  sind,  als  die  Herzen 
der  Qbrigen  Mehrheit.  Dem  Kinde,  der 
Frau  und  dem  Volke  wenden  si  A die  Hoff* 
nun  gen  der  Rassen  zu.  Es  ist  notig,  den 
Kdrper  im  unterbewuBten  Gebiete  zu  er- 
weitem,  zu  vergeistigen,  reiner,  wider- 
tonender,  hellsiAtiger  zu  gestalten.  Und 
mit  einem  sAraerzliAen  Instinkt,  der  das 


gehdmnisvolie  Gesetz  des  Reifens  auf  Er- 
den  ausdrQAt,  beginnt  siA  der  MensA 
bewuBt  zu  werden,  daB  alles,  was  auf  doe 
Umwandtung  unserer  WirtsAaft  mit  stoff- 
liAen  Dingen  abzieft,  auf  Kraft,  ReinliA- 
keit,  Einhdt  und  Frciheit  der  Sinne,  dne 
geistige  Anstrengung  ist,  der  Kampf  urn 
Ae  SAdnheit,  der  letzte,  in  dne  unabseh- 
bare  Zukunft  weisende  Kampf  auf  Erden. 

An  dieser  Arbeit  am  neuen  MensAen 
ist  die  Kunst  auf  ewig  betdligt/  sQB  und 
selbstverstindliA  wie  die  Sonne,  dieWoll- 
lust  und  der  Tod.  Was  dem  sAdpferisAen 
Geiste  siAtbar  wird,  ist  es  nur  im  LiAte, 
das  dem  hoheren  Leben  im  Kosmos  ent- 
strdmt.  In  den  MarAen  der  Urzdt,  in 
MyAen,  in  der  geheimen  Wissensdiaft  and 
in  so  zarten  und  unglaubliAen  TrSumen, 
daB,  sie  von  ferae  deuten  zu  konnen,  dne 
besonderc  SpraAe  von  Symbolen,  Musik 
und  Formen  gesAaffen  werden  mufite,  cr- 
hielt  die  Kunst  jahrtausendelang  die  Hoff- 
nung  an  die  BehcrrsAung  der  Elemente 
durA  die  gQtige  MaAt  des  Geistes  auf- 
reAt.  Allgegenw5rtig  in  tiefer  SehnsuAt 
naA  PraAt,  iegtc  sic  wie  cin  Gartner 
untcr  alien  Sonnen  G5rten  an  fQr  die  Lie- 
benden  und  spann  an  dnerld  Webstflblen 
das  Kleid  der  Frauen  und  gottesAenst- 
liAe  Gcwlnder,  NiAt  einmal  vor  dem 
Tode  hielt  sie  inne  und  strebte,  aus  dem 
SAweigen  seiner  gesAlossenen  Lippen  Ae 
Antwort  zu  erraten.  Sie  war  der  allgegcn- 
wartige  AnkQndiger  der  Fciertagc,  der 
ArAitekt  der  Lebensillusion,  der  Meister 
der  Stifle,  darii.  das  RausAen  der  Gestirne 
zu  hSren  ist,  der  SAopfer  h6herer  SAmcr- 
zen  und  der  Erde  bitterer  RiAter. 

Aber  die  SA6pfung  der  SA5nheit  ist 
niAt  bloB  auf  Werkc  bcsArankt,  die  In 
BQAern,  Bildera,  Statuen  und  GebSudcn 
erhaften  sind.  Sie  liegt  ira  ganzen  Plane 
des  Lebens/  sic  ist  die  allgegenwirtige 


i 


Gfossen 


249 


Empfindlichkeit  far  die  magnetischen  Pole  durdi.  Die  sOfte  Heftigkeit  der  Frflhlfnge, 


der  geistigen  Erde,  und  ein  Kunstwcrk  ist 
sowchl  die  Scbopfung  einer  Sprache  wie 
die  Grundung  eines  Reiches.  Unausgesetzt 
ist  in  jedem  Menschen  ein  verborgener 
Kunstler  wirkend/  im  Funkeln  der  Augen- 
blicke  wie  unter  den  Blitzen  des  schfipfe- 
rischen  Meiflels  arbeitet  er  an  der  Einheit 
der  Personlichkeit  Das  Leben  des  Helden 
und  des  Heiligen  erwachst  wie  ein  jedes 
Kunstwerk  aus  der  Inspiration/  die  die 
Entscheidung  in  einer  hoheren  Sphare  des 
Lebens  bedeutet,  wo  mit  dem  Tode  nicht 
mehr  gerechnet  wird,  und  aus  dem  harten 
Wege  des  vom  Glanze  des  Zieles  hypno- 
tisierten  Willens.  DerTraum  dcs  Lieben- 
den,  des  Gefangenen,  des  Schiffers,  des 
Nordianders  und  des  Glaubigen  ist  ein 
Gedicht  und  hort  nicht  auf,  eines  zu  sein, 
da  es  im  Scfaweigcn  verklang.  Ein  ununter- 
brochener  Fruhling  der  Liebe  verwandelt 
dieBewegungen  der  Madchenkorper  in  Mu- 
sik,  und  unzahlige  namenlose  Schauspieler 
und  Schopfer  neuer  Gesten  finden  unbe- 
wuflt  neue  plastische  Symbole  far  die  kos- 
mische  Sprache  des  Willens.  Unbekannte 
Musiker  formen  die  Sprache  um,  und  fiber 
das  Bett  ihres  Kindes  sich  neigende  Frauen 
suchen  immer  vollkommenerc  Kfisse  in  der 
schopferischen  Unzufriedenheit  ihrer  Liebe. 
Ein  jedes  Starke  Geffihl  ist  immer  und 
Qberall  kfinstlerisch  schdpferisch  und  laftt 
uns  im  Inncm  Gegenden  von  bislang  un- 
erreichter  Pracht  ahnen. 

Aber  nichts  ist  nebensachlich  fur  den 
schopferischen  Geist/  die  Dinge  und  Wesen 
dringen  mit  threm  unsichtbaren  Odem  bis 
in  die  verborgenen  Orte,  wo  unser  Werk 
keimt.  Unsere  Gedanken  farben  sich  mit 
der  Zartheit  der  weiBen  Wolken,  mit  alien 
Blumen  der  Wiesen,  mit  dem  Blute  der 
Rosen,  und  sie  gehen  wie  Komer  durdi 
das  glfihende  Sicb  der  Sonnenstrahlen  hin- 


die  bewegte  Reinheit  des  Azurs,  die  ge- 
heime  Sprache  der  Farben,  die  Weihc  der 
Gewasser,  Hohen,  der  Unendiichkeit,  ar- 
beiten  ununterbrochen  in  unserem  Unter- 
bewuBtsein  und  nahren  ubermensch  liebe 
Sehnsfichte  in  uns.  Der  geringste  atheri- 
sche  Bestandteil  jedes  unsres  Atemzuges  cr- 
frischt  die  Wurzeln  des  Herzens,  die  ge- 
schwacht  sind  durch  der  Erde  allzu  schweren 
Salt.  Jedes  Wort,  das  bis  in  die  lebcndigen 
Tiefen  unsres  Innern  gefallen  ist  <und  oft 
dauert  dieser  Fall  Jahre),  kampft,  not- 
wendig,  nach  einem  Gesetze,  das  uralt  ist 
wie  der  Anbeginn  der  Welten,  um  seine 
Korperwerdung.  Doch  der  Weg  von  dem 
neuen  Traum  zu  seiner  Verwandlung  in 
die  Geste  und  in  die  Opferung  des  Lebens 
ist  schwer  und  schmerzlich,  denn  es  ist 
notwendig,  ihn  fern  von  den  hundert- 
jahrigen  Bahnen  einzuschlagen,  und  in  dem 
Brote,  womit  wir  uns  nahren,  schlummert 
die  Sonne  des  Vorjahrs.  Aber  selbst  der 
bebende,  sdiwache  und  unsichere  Traum 
wird  zu  einer  Kraft  von  der  Heftigkeit 
des  Sturms,  wenn  er  gleichzeitig  in  Mil- 
(ionen  Herzen  aufflackert.  Die  Menge  hat 
nicht  nur  Augenblidce,  wo  sie  kopf  fiber 
um  Jahrtausende  zurfidkzufliegen  scheint, 
sondem  auch  bange  Lichtzeichen  und  einen 
warnenden  Instinkt  far  die  Gefahr  hinter 
dem  Horizont,  wo  sie  hellsichtiger  als  die 
Propheten  wird  und  sich  far  eine  Gerech- 
tigkeit,  so  erschreckend  und  unfaBIich  wie 
die  Natur,  zu  entscheiden  weiB. 

Wo  das  Leben  des  Volkes  auf  hort  in 
der  Sphere  der  Schonheit  schopferisch  zu 
sein,  ist  dies  ein  Zeichen,  dafi  das  Volk 
an  seiner  Kraft  leidet.  Eine  Sklaverei,  die 
die  Arbeit  freudlos  machte  und  ihre  Ge- 
fangenen entkraftet,  mit  erloschenen  Augen 
in  ihre  Hohlen  entlaBt/  die  der  Frauen 
SchSnheit  verwustet,  die  Mutterschaft  ge- 


250 


Gfosstn 


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fGrchtet  gemadit  hat  and  far  Millionen  Judentum  ausgetrctenc.  Ihr  Erstaunen  ent- 


Menschen  zum  Feindc  und  Mordbrcnner 
den  In  rosigcn  Wolken  nahcnden  Morgen 
verwandelte,  arbeitet  an  der  Verderbnis 
der  Rasse.  Denn  die  Liebe  in  alien  Ge- 
bieten  wird  aus  Kflssen  und  dem  Reich- 
turn  freier  Umarmung  empfangen/  der 
Sklavc,  der  den  Glauben  an  seine  Befreiung 
verloren,  hat  keine  Kraft  mehr,  die  Schdn- 
heit  zu  sehen  und  zu  schaffen.  Die  Schon- 
heit  ist  eine  BlQte  aus  dem  GberschuB 
gesteigerten  Lebens,  cin  Leugnen  des 
Todes/  sie  ist  der  Weg  nach  dem  ge- 
hdmnisvollen  SOden,  eine  stetig  glGhendere 
Sonne,  ein  leichterer,  die  Erde  kaum  be- 
rGhrender,  doch  alle  ihre  Gesetze  beherr- 
schender  Schritt,  die  hdcfaste  Menge  von 
Energie  beim  geringsten  Verluste/  sie  ist 
eine  stille,  unglaubliche  Sicherheit,  die  ein- 
zige  Sicherheit  auf  Erden,  das  in  alien 
Sonnen  zittcmde,  unablassige  Lacheln,  wel- 
ches von  der  Erde  aus  gesehen  in  seiner 
sQBen  Blendung  immer  eine  gewisse  Me- 
lancholic besitzt,  aber  selbst  da  die  un- 
ermeBliche  Stille  einer  unaussprechlichen 
vorbereiteten  Herrlichkeit  ahnen  l3Bt  . . . 

Otokar  Brezina . 

<Deutsch  von  Otto  Pick.) 

Brief  an  einen  Juden 

lim  hier  zu  sagen,  was  ich  sagen  will, 
muB  ich  nach  einem  Brief  zurfldcgreifen, 
den  ich  an  einen  befreundeten  und  bedeu- 
tenden  Juden  zu  schreiben  hatte.  Es  war 
leider  — aus  GrQnden  der  bcsseren  Ver- 
stSndlichkeit  — nicht  moglich,  alle  persSn- 
lichen  Bemerkungen  aus  diesem  Brief  zu 
streichen. 

Sehr  geehrter  Herr  . . , 

Sie  sind  allerdings  gut  unterrichtet 
worden:  ich  habe  mich,  vor  kurzem,  fQr 
»konfessionslos«  erklart,  ich  bin  »aus  dem 


spricht  dem  far  Sic  <pers5nlich>  Unerwar- 
teten  dieses  Schrittes,  aber  Ihre  Vcrurtd- 
lung  nicht  seinem  Motiv. 

Sie  haben  den  Einwand  gebraucht:  eine 
solche  Handlung  ware  heute  schwerwiegen- 
der  als  Je.  Das  ist  richtig,  Aber  Sic  stel- 
len  sie  einem  »Verrat«  gleich,  ich  einer 
Mahnung. 

Scit  dem  Krieg  weiB  ich,  daB  jede  Hand- 
lung  eine  Mahnung  ist/  insbcsondere  aber, 
daB  eine  Handlung  eine  notwendige  Sache 
ist,  nicht  eine  QberflQssige.  Die  Prage,  das 
Entweder-Oder,  war  fQr  mich  unentschie- 
den  und  ungeklart,  solang  es  nicht  in  eine 
noch  so  geringfQgige  Handluog  einmOn- 
dete.  Heute  aber  — um  es  gleich  zu 
sagen  — zweifle  ich  nicht,  daB  das  Juden- 
tum eine  Zukunft  nur  mehr  hat,  wenn 
seine  religiose  Absicht  endgQltig  getrennt 
wird  von  seiner  pofitischen.  Dieses  ist  das 
Entweder-Oder.  Entweder  ist  das  Juden- 
tum eine  Religion  — und  sonst  nichts/  wic 
das  Christentum  oder  der  Buddhismus. 
Oder  es  ist  eine  nationale  Sache.  Die  Be- 
jahung:  daB  es  eine  nationale  Sache  sei, 
bleibt  eine  immer  leerer  werdende  Ge- 
wohnheit,  solang  die  Vemeinung  des  an- 
deren  sie  nicht  zur  Aktivitat,  zur  Hand- 
lung, aufreizt.  Schon  diese  Verneinung 
wQrde  erste  Handlung  sein. 

Erlauben  Sie  mir,  das  zu  erlSutera. 

Das  Judentum  steilt  sich  heute  als  eine 
immer  mehr  sich  trQbende  Zusammenmi- 
schung  verschiedenster  GefQhle  und  Qber- 
legungen  vor.  Es  ist  1 angst  nicht  mehr  eine 
Glaubenssache:  die  BemQhungen  seit  Theo- 
dor Herzl,  daraus  mehr  als  eine  Glaubens- 
sache zu  machen,  steigerten  sich  zu  immer 
ernsthafterer  Bedeutung.  Die  Energie  dic- 
ser  Bemuhungen  wird  aber  ungewohnlich 
beschwert  durch  einen  rQckhaltenden  Ballast. 
Solang  nicht  alles  rein  GefahlsmaBigeausge- 


Gfossen 


251 


sAaltet,  abgekettet  und  fallen  gelassen  wird, 
bleibt  das  Judentum  verurteilt,  seine  Ange- 
horigen  zur  Ents  Aeidung  unfahig  zu  ma  Aen. 
Alles  niAts  als  Religiose  im  Judentum 
maAt  es  zu  einer  durdhaus  passiven,  wenn 
Sie  wollen,  philosophisAen  Angelegenheit, 
wie  der  Buddhismus  etwa  heute  nur  mehr 
eine  religios-philosophisAe  ist.  Soli  es 
diesen  Weg  nehmen?  Dann  sind  die  poli- 
tisAen  VersuAe,  die  es  seit  Jahrzehnten 
maAt  und  in  der  Zeit  dieses  Krieges  zu 
einem  Resultat  zu  fuhren  drangt,  nur  Tru- 
bungen  seiner  Agonie/  wie  Renan  ein- 
mal  von  Frankreich  sagte:  »ne  troublez- 
pas  son  agonie«:  man  mftBte  die  gleiAe 
Forderung  an  Sie  ricbten. 

Ich  sehe  es  aber  niAt  in  einer  Agonie, 
sondern  in  Fesseln,  die  seine  AufriAtung 
verhindern.  I A sehe  es  stark,  nur  einge- 
sperrt,  durA  siA  selbst,  in  diese  Mauern 
der  Orthodoxie,  zumindest  der  Riten  ge- 
stellt.  I A glaube:  niAt  nur  die  zionistisAe 
Aspiration  erfordert  diese  Entkerkerung, 
sondern  jede  politisAe  Aufraffung  die 
Herausfuhrung  des  Volkes  aus  seiner  Reli- 
gion als  einer  NiAts-als-Religion,  Nur, 
wenn  Sie  miA  ganz  miBverstanden,  wQr- 
den  Sie  meinen,  iA  forderte,  daB  alle  Ju- 
den  unreligiSs  werden  sollten.  Nein.  Dafi 
sie  religios  sind,  hat  niAts  damit  zu  tun: 
daft  man  die  GemeinsAaft:  niAt  mehr  als 
eine  ReligionsgemeinsAaft  auffassen  moge. 
Es  ist  eine  Art  Trennung  von  Staat  und 
KirAe,  die  iA  meine,  diese  Trennung  auf 
dem  Gelande  des  Judentums  selbst.  Wenn 
es  je  etwas  wie  einen  judisAen  Staat  geben 
kann,  von  dem  die  Zionisten  spreAen,  der 
eine  offentliAe  und  politisAe  Angelegen- 
heit werden  soli,  muB  die  Religion,  als 
eine  private  und  gefuhlsmafiige,  zunaAst 
zurudctreten. 

Man  kann  an  das  Judentum  als  an  ein 
Volk  von  MensAen  glauben,  deren  Fahig- 


keiten  groB  sind,  deren  vitale  Kraft  Mog- 
liAkeiten  zu  unerhorten  Erneuerungeu 
gibt  — : aber  ob  man  dabei  auA  an  den 
*judisAen  Gott«  glaubt,  ist  hier  ohne  Be- 
deutung,  ja,  es  ist  sogar  besser,  daran 
uberhaupt  niAt  bei  dieser  Qberlegung  zu 
ruhren,  weil  es  nurwiederverwirren  konnte. 
Und  es  darf  niAt  mehr  als  eine  Bedingung 
gelten,  in  die  judisAe  GemeinsAaft  ein- 
zutreten.  Nur  so  sAeint  es  mir  fur  die 
Zukunft  judisAe  M5gliAkeiten  zu  geben, 
dafi  die  Juden  zu  einer  religiosen  Toleranz 
gelangen,  wie  die  anderen  Volker. 

Sie  werden  einwenden:  das  sei  ein  un- 
fruAtbares  Paradoxon,  solang  es  keine 
jfldisAe  Fahne  gebe.  Sie  irren,  iA  weise 
Sie  auf  Irland.  Es  gibt  ein  irisAes  Volk, 
aber  es  hat  keine  irisAe  Fuhrung,  es  steht, 
staatsreAtliA,  auf  englisAem  Boden.  Es 
mufl  siA  die  Freiheit  und  SelbstherrliA- 
keit  auf  seinem  Boden  erst  erkampfen.  Der 
Jude  hat  ebenso  beidcs  niAt:  weder  die 
Fahne  noA  nominell  den  Boden,  obgleiA 
er,  wie  der  Ire,  seinen  uberlieferten  Boden 
hat.  Diesen,  Palastina,  wollen  die  Zionisten 
ihm  als  anerkanntes  Heimatland  erringen. 
Aber  was  brauAt  der  Jude  Jerusalem,  so- 
lang man  ihm  niAt  Klarheit  daruber  gibt, 
daB  der  Tempel  in  jedem  Land  durAaus 
niAt  sein  heimatliAer  Boden  ist.  Dann 
brauAt  auA  niAt  erst  der  Tempel  das  Zu- 
sammenhaltende  zu  sein : er  ist  im  ubrigen 
seit  jeher  nur  eine  lose  Zusammenhaltung 
gewesen,  und  iA  kenne  zahlreiAe  Juden, 
fur  die  er  niAt  einmal  ein  KompromiB 
mehr  war.  NaA  Palastina  kann  die  groBe 
Masse  des  judisAen  Volkes  nie  kommen, 
solang  sie  ihre  Tempel  uberall  in  Europa 
als  Residenzen  baut.  Und  die  unbedingte 
EntsAeidung:  was  in  der  heutigen  MensA- 
heit  judisA  fOhlt,  wird  durA  den 
Tempel  nur  versAoben  und  bos  ver- 
sAleiert.  In  dieser  VersAleierung  zu 


17  Voi.  m/i 


/ 


II 


252 


leben  ist  cine  tragischc  Aufforderung,  und 
Sie  we r den  immer  ofter  auf  Menschen 
stoBen,  die  Ihnen  nicht  mehr  folgen  kon- 
nen.  Wenn  der  Augenblick  der  zionisti- 
schen  GrOndung  je  kommt,  wird  er  ohne- 
dies  die  Kl5rung  erzwingen.  Sie  kdnnten 
dann  vor  einer  crschQtrernden  Enttausdiung 
stehen,  denn  Sic  haben  versaumt,  das  Volk 
auf  seinen  Staat  vorzubereiten.  Heute  ha- 
ben Sie  das  Volk,  nicht  auch  den  Staat, 
Sie  werden  dann  nur  mehr  den  Staat  ha- 
ben und  die  Fahne:  und  so  wenig  Volk 
dahinter,  denn  es  wird  sich  alles  fast  an 
sdnen  Tempel  lehnen  und  damit  begnugen. 
Weil  Sie  die  jQdische  Frage  immer  nodi 
eine  religiose  sein  lassen,  versaumen  Sie, 
der  Staatbildung,  die  Ihnen  in  Schleiern 
vorschwebt,  einen  ROckhalt  aus  Ziegeln  zu 
bauen. 

Ich  versichere  Ihnen,  es  liegt  mir  nicht 
daran,  dab  alle  Juden  aus  dem  Tempel 
austreten  sollen  — , aber,  wenn  es  einige, 
gerade  vorbildliche  Juden  taten,  an  die  das 
jQdisdie  Volk  als  an  groBe  Juden  glaubt 
— der  Gedanke  klingt  Ihnen  jedenfalls 
absurd,  denn  Sie  lesen  ja  diesen  ganzen 
Brief  mit  der  Zugesperrtheit  eines  Mannes, 
der  die  Geschichte  der  Jahrhunderte  auf 
seiner  Seite  wciB  und  daher  nidit  zuhoren 
braudht  t wenn  also  ein  paar  vorbild- 
licfae  Juden,  wie  Sie,  aus  dem  Judentum 
austraten,  wQrdc  eine  so  klare  Handhmg 
das  StaatsbewuBtsein  dieses  jGdischen  Vol- 
kes  ungewohnlich  verscharfen,  vielleicht 
Gberhaupt  erst  weeken,  beunruhigen/  in 
eine  linbefriedigung  und  Sehnsucht  ver- 
wandeln.  Wie  bei  den  Iren  nichtssosehr 
das  StaatsbewuBtsein  wachhielt,  als  daB 
es  zu  einer  gewissen  Form  von  Martyrium 
notigte.  Glauben  Sie  mir:  ohne  dieses 
StaatsbewuBtsein,  immer  nur  in  der  weichen 
Polsterung  der  Religiositat  ruhend,  oder 
gar  — was  wir  Ihnen  besonders,  aber 


aus  seelisch-geistigen,  nicht  aus  jfidischen 
Grflnden,  verdanken  — gar  also  in  den 
tiefen,vollkommen  abgewandten  und  dunk- 
len  Schachten  der  jGdischen  Mystik  lebend, 
werden  Sie  nie  zu  etwas  kotnmen,  und 
ich  wiederhole,  daB  es  dann  schon  vicl 
besser  ist,  das  Jfldische  als  eine  nicht  mehr 
aktive,  als  eine  religids  - philosophische 
Sadie  dort  ungestort,  unaufgescheudit  zu 
lassen,  wo  es  jetzt  ohnehin  weilt,  im  Gei- 
stigen,  im  Herzen,  in  der  Seele,  je  nach- 
dem/  und  bei  manchem  Christen. 

Ich  beeile  mich,  Ihnen  noch  ein  Beispiel 
vorzutragen.  In  den  westeuropiischen 
Staaten  haben  sich  zunachst  die  Juden  von 
dem  Begriff  der  Nation  losgesagt,  sie 
suchten  sich  zu  assimilieren  mit  den  Na- 
tionen,  auf  deren  Land  sie  leben.  Beob- 
aditen  Sie  aber  den  Osten,  zum  Beispiel 
Polen,  da  ist  die  Sadie  lehrreich  und  das 
Beispiel.  Da  bilden  die  Juden  noch  ge- 
sdilossene  Kontingente,  die  Assimilation 
ist  schwer  oder  unmdglidi,  und  der  Wider- 
stand  der  Christen  groB,  weil  auch  die 
Reibungsfladien  breit  sind.  Nun,  auch  diese 
besondere  polnisdi- jfldische  Frage  kann, 
wie  idi  glauben  muB,  nur  gelost  werden, 
wenn  die  Juden  sich  aus  den  dort  noch 
stSrkeren  Ummauerungen  der  Religion,  gar 
Orthodoxic  herauskampfen  zu  einer  >welt- 
bQrgerlichenc  Vemunft  und  Lebensauf- 
fassung,  zu  einer  sachlichcn  und  gereinig- 
ten  Eingliederung  in  die  BegrifFe:  Volk 
und  Volker.  Diese  BegrifFe  sind  namlich 
politische,  nicht  religiose:  diesen  Unter- 
schied  wollen  Sie  nicht  anerkennen. 

Sie  haben  mir,  im  Gegenteil,  das  Bei- 
spiel eines  Sltercn  Sdiriftstellers  einmal 
erzahlt,  der  vor  ein  paar  Jahrzehnten,  aus 
»Bekennerenthusiasmusc  erst  aus  der  Tem- 
pelgemeinde  austrat,  und  dann,  als  die 
Pogrome  in  RuBland  immer  bdser  wurden, 
wieder  Jude  wurde:  er  kam  sich  als  ein 


Gfossen 


253 


Verrater  vor,  er  fand,  daft  »die  einfache 
Trcuc  immer  nodi  groBer  ist,  als  alle 
Thcoric  und  redliche,  lebendige  ruckhalt* 
lose  Teilnahme  an  der  Not  dcs  eigenen 
Volkes  grofler,  als  alle  Politik*. 

Idi  wage  den  Einwand:  wie  dieser  Herr 
die  Pogrome  durch  «redlidie  Teilnahme 
an  der  Not*  milderte?  Ich  frage  im  Gegen* 
teil,  ob  das  nidit  eine  leere  und  konven* 
tionelle  Wendung  ist,  wie  Sie  sie  sidi 
sonst  nidit  erlauben/  denn  worin  bestand 
diese  »redliche,  lebendige  and  rQckhaltlose 
Teilnahme  an  der  Not*?  Bestand  sie  in 
der  Zeichnung  groBerer  Summen,  die  nadi 
RuBland  fQr  die  Juden  geschidct  wurden, 
so  hat  das  nichts  mit  Religiositat  zu  tun/ 
bestand  sic  in  einem  verdoppelten  Tempel* 
besuch,  so  ward  den  Juden  drOben  in 
nidits  geholfen.  Geholfen  im  Gegenteil 
wire  ihnen  vielleidit  worden:  wenn  ihr 
StaatsbewuBtsein  schon  frOher  geweekt 
worden  ware,  und  wenn  dieser  Herr  jahre* 
lang  an  dieser  Wetkung,  nidit  aber  an 
einer  »einfachen  Treue*  gearbeitet  hat te. 
Angenommen,  diese  Arbeit  wurde  ihm 
durch  oftmalige  Kontemplation  in  Gott 
erleiditert,  so  ist  er  ein  religioser  Mensch, 
aber  das  bfeibt  seine  eigene  Angelegenheit. 

Sie  durfen  uberhaupt  dieses  Beispiel 
nidit  verallgemeinem.  Die  Bekennerfreu* 
digkeit  dieses  Herrn  entsprach  seiner  Zeit; 
er  wollte,  vermute  ich,  zeigen,  daB  er  ein 
Atheist  ist.  So  etwas  vergeht  einem  fQh* 
lenden  Menschen  bald.  Sein  Austria  und 
sein  Wiedereintritt  in  das  Judentum  — da 
er  nun  wieder  zu  glauben  anfing  — war 
cine  theologische  Qbung  und  eine  Sache, 
die  er  fQr  sich,  nicht  fQr  das  Judentum  tat. 

Ich  sdilieBe  schon.  Lassen  Sie  midi  nur 
nodi  versichern,  daB  die  *einfache  Treue>, 
die  Sie  so  hervorheben,  unfruchtbar  macht, 
Treue  muB  getan  werden/  Treue  halten 
ohne  Tat  und  BcwuBtsein,  ist  bequem  und 


immer  gehalten,  audi  wenn  man  sie  ver* 
gifit.  Treue  ist  nicht  >einfach«.  »Einfache 
Treue*  ist  jene  Litanei,  die  Sie  und  alle 
um  Sie  nicht  aus  dem  Sdilaf  kommen  lafit. 

Theodor  Tagger . 

Das  erste  Voffi  Europas . . , 

Es  bleibe  unvergessen,  dafi  diese  den 
ersten  SchuB  des  ersten  Aufzuges  dort  am 
Balkan  gelost  haben.  Dazu  spielten  sie, 

damals  im  Oktober  1912,  ihre  nationale 
Hymne  und  erwarteten  uber  den  schwar* 
zen  Bergen  aus  dem  Osten  ein  slavisches 
Morgenrot.  Und  nun  haben  sie,  als  erstes 
Volk  Europas,  in  dem  Besieger  ein  edles 
Gefuhl  vorausgesetzt/  ruhmvoll  die  er* 
hobenen  Waffen  gestreckt. 

Der Klau  des  rauberischen  Falken,  kampf- 
begeistert  und  kampfgewohnt,  wehrfahig 
und  wehrtdchtig  vom  Knabenalter  bis  zum 
Greisenalter,  haBerzogen  und  haBgewohnt, 
Feldpredigten  gewohnt,Bundnisse  gewohnt, 
diese  Indianer  des  europaischen  Volker* 
museums,  diese  Leute  des  ererbten  Sdiiefl* 
gewehres  haben  uns  eine  erste  Qber- 
raschung  beschert.  Wenn  auch  verspatet 
selbst  zur  rechtglaubigen  Weihnadit/  viel* 
leicht,  daB  es  in  dieser  Beziehung  von  Gott 
nicht  so  genau  genommen  wird.  Das  ge* 
bildeteBelgien,  von  Serbien  ganz  abgesehen, 
hofft  noch  immer  auf  neue  Taten,  die  nicht 
kommen  wollen.  Und  Montenegro?  Euro* 
pas  Religionsquelle  hat  fur  diese  Phano* 
mene  einen  treffenden  Ausdruck:  Der 
Stein,  von  den  Bauleuten  verwor* 
fen,  wird  zum  Eckstein. 

* 

Der  Stein,  der  sich  vom  Lovcen  los- 
gelost  hat,  ruhmvoll  auch  den  Ostreichern, 
wie  man  noch  spater  einsehen  wird,  dieser 
Stein  kann,  muB  und  wird  auch  (seid 
dessen  gewifl!)  weithin  ins  Rollen  kommen. 


254  Gfosstn 


Der  Stein,  den  die  Festungsleute  vom 
Lovcen  ausgefassen  habcn,  er  wird  zum 
vcrbcsserten  Haager  Bau  gel  an  gen,  und 
wir  wollen  uns  indea  hler  oben  in  harter 
Eiszeit  des  nodi  so  besdbeidenen  Find- 
lingsblocks  freuen.  Eine  kleine  rauhe  Stdn- 
wfiste  mit  Ihren  halbwilden  Bewohncrn, 
<S<hafdiebe  und  Rauber  geoannt,  ehe  sie 
zu  tapfern  Feinden  aufrGdcten)  sie  1st  plotz- 
fich  zum  Theater  Europas  gcworden  mit 
jenem  ersten  wieder  politisdienV  olke  Eu- 
ropas, das  ruhmvoll  eingestand:  nicbt  alles 
den  Waffen  schuldig  zu  sein,  und  daB  das 
Wohl  des  Vaterlandes  audi  nodi  anders 
als  durdb  bewaflhete  Fauste  und  durch  das 
Schwert  ,bis  zum  letzten  Haucfc'  gefdrdert 
werden  kann  . . . 

Nadi  sdion  unvordenklidien  Tagen,  wo 
es  kdne  Meinung  als  die  rein  militarische 
gibt,  belehren  uns  diese  primitiven  Krieger 
fiber  den  deutsdien  Clause  witz:  Der  Krieg 
als  Mittel,  also  audi  als  Nidit-Mittel 
der  Pol  it  ik.  Gelobt  sei  auf  hundert  Jahre, 
wer  diesem  kleinen  Konig  Nikolaus  zum 
ersten  Male  jencn  Gedanken  Ins  Herz  gab, 
dessen  sich  grdBere  Kdnige  und  Nikolause 
ihrer  Staaten  nidit  zu  schSmen  hatten.  Es 
1st  jener  fiberrasdiende  montenegrinisdie 
Gedanke,  daB  die  strategische  Ehre,  oder 
wie  dies  sonst  fachlidi  heiBt,  ffir  den  Gene- 
ral wohl  der  hodiste  Begriff  ist/daneben  aber 
audi  nodi  alle  anderen  Begriffe  anderer 
Berufe  des  Vaterlandes,  Geisteswerke, 
Christen  turn,  Handel  und  Wandel,  ja  um 
vor  dem  Geringsten  nidit  zurfidczuschrecien : 
selbst  das  Leben  der  Volksgenossen  irgend- 
wie  bestehen  mussen! 

Dieses  Volk  von  wenigen  Hunderttau- 
senden  hat  drei  Jahre  lang  gekampft,  ge- 

blutet,  gehungert,  firemden  Hunger  und 

* 

vcrbfindeteGier  unterstfitzt,  und  cin  Dritteil 
oder  mehr  seiner  Manner  auf  dem  Felde 
der  Ehre  verlorenl  Es  hat  VertrSge  ge- 


sdilossen  und  Vertr&ge  gebrodien  und  ge- 
brochen  gesehn.  Es  hat  sdion  beim  ersten 
AktsdbluB  vor  Skutari  die  ganze  Gemein- 
hdt  der  Gcwalt,  der  grdflern  Zahl,  er- 
fahren  und  sie  dunhsdiauen  gelernt.  Es 
hat  der  Gemeinheit  ganz  ebenso  wohl  wic 
dem  unverdaditigsten  Patriotism  us  Genfige 
getan.  Man  stelle  sidi  vor:  der  Bdse,  jener, 
den  der  deutsdie  Simplizissimus  <der  alte, 
nicht  der  Erfinder  des  »dunkelsten  Deutsch- 
lands«)  be!  der  Westfilischen  Friedens- 
botsdiaft  belauscht,  dieser  Geist  emphnge 
also  jetzt  die  Nadiricht  von  seiner  Festung 
Montenegro.  Wer  auBer  Grimmelshausen 
wollte  seine  Ausbrfidie  einer  diabolisdien 
Soldateska  anhdren!  Aber  da  sagt  eio 
kleines  Teufel  then  dem  Obersten  Bosen : 
»Ma)est5t,  was  wollen  Sie,  Ihrc  Monte- 
negriner  haben  Ihnen  genug  getan  Ic 
Hingegen,$o  sagt  wohl  ein  anderer  Geist, 
herrscht  Freude  bei  den  Engeln  fiber  einen 
reuigen  Sfinder  und  mehr  gewiB  als  fiber 
Tausende  von  umgefadenen  Friedlidien. 
Und  es  bleibt  auf  lange  gewiB,  daB  das  Land 
mit  den  rauhen  sdiwarzen  Bergen  nodi  cher 
durdis  Na del 6 hr  geht,  als  die  GroBen  und 
Reidien  unter  den  Reidien  Europas  in  den 
Frieden  jcnes  Reiches,  das  ffirwahr  nidit 
von  ihrer  Welt  ist.  — Ruhm  sei  darum  den 
tapfern  Montenegrinern,  der  Ruhm  jener 
Tapferkeit,  die  der  groBten  europaischen 
Eisenfresserei  von  heute  ins  Gcsicht  zu 
schlagen  wagte ! Ruhm  sei  ihnen  ffir  ihren, 
seiner  Verantwortung  bewufiten  Patriotis- 
mus,  der  sich  von  keiner  montenegrinischen 
Pr esse  verleumden  liefi ! Sie,  die  Montene- 
griner,  Europas  erstes  krieger isches  sowie 
erstes  firiedfertiges  Volk,  sic  werden  von 
nun  an  eine  bcvorzugte  Stellung  in  jenen 
europaischen  Blattern  genieBcn,  die  man 
nodi  immer  nadi  lang  verlottertem  Braucfa 
von  der  feilen  Klio  mit  ihren  goldenen  Buch- 
staben  redigieren  liBt.  Sie,  die  bis  jetzt 


Gfossen 


2 55 


nur  in  unscrn  obszonsten  Witzblattern 
sdilechte  Figur  maditen,  sic  macbcn  fort* 
an  in  dcr  Gesdiichte  cine  unsterblichc  Fi- 
gur: die  Figur  dcs  ersten  Reumuti- 
gen,  dcs  vcriorcncn  Sohnes,  an  dem 
sicb  nocb  mandber,  der  heute  das  Gleich- 
nis  fQr  cin  Argernis  halt,  sehr  genic 
cin  Bcispicl  nehmen  wird,  Dicsc  Monte- 
negriner  wollen  heute  wieder  ein  kultu- 
relies  Volk,  wieder  ein  diristliches  Volk 
sein,  das  mit  seinen  Nadibam  kunftig  audi 
wieder  auf  Bisenbahnen  und  nicht  bloB 
durch  Flugzeuge  und  »belegte  Stationen« 
verkehren  will.  In  dieser  Zeit  der  abscheu- 
liAsten  MythenmiBgcburten:  wie  daB  im- 
mer  das  eine  Volk  das  andere  zu  Gber- 
fallen  und  abzusdiladiten  gedenke,  in  dieser 
Zeit  ist  von  heut  an  (mag  audi  was  immer 
den  unverantwortlidien  Konig  wieder  von 


seinem  Lande  trennen),  das  armc  Volk 
Europas  Gberall  an  seinem  Werk  einer 
s <h  6 n e n Mythe : von  diesem  anstandigen 
Volke  der  tapferen  Montenegriner,  von 
ihnen,  deren  Opferfreudigkeit  und  wirklidie 
Opfer  die  grofiten  waren,  und  die  sich  trotz- 
dem  als  Erste  zur  Besinnuog  zurGcfezu- 
finden  wuBten. 

Auch  aus  Montenegro  kann  Mensdi- 
lidies  kommen,  und  es  scheint  dieses  nicht 
ganz  unverwandt  mit  jenem  Guten,  das 
die  Heuchler  einst  nidit  von  Nazareth  er- 
warteten.  Montenegro  hat  mit  seinem  Ent- 
schluB  nidit  bloB  Gber  den  Vierverband 
gesiegt,  wie  mancher  glaubt,  sondern  audi . # 
Nun,  eine  jede  vaterlandische  Geschidite 
wird  das  ja  in  spatern  Zeiten  objektiv 
feststellen. 

Pauf  Adfer. 


Digitized  by 


Original  from 

UNIVERSITY  OF  MICHIGAN 


MecBtifcf  Lictinowsfcy: 

AUSSENSTEHER 

I. 

Tore  sind  und  breite  Treppen  uns  versdilossen. 
Spat  nadi  Mitfernadit  bewegt  uns  unverdrossen 
Mensdiensdieu,  rasdi,  unser  letzter  Gang 
Qber  Strafienleere,  die  man  friscb  begossen. 

An  den  vollen  Hausem  dieser  Stadt  entlang. 

Einer  Stadt  wie  dieser  sieht  es  niemand  an, 

Dafl  die  Hauser  Grufte  sind  mit  Folterkammem. 
Einer  Stadt  wie  dieser  sieht  man  es  nidit  an, 

DaB  sie  soviel  Angst  verbergen  kann, 

Soviel  lachelnd  unterdrucktes  Hassen,  Jammem. 

Aber  — es  bedruckt  uns  nidit  davon  zu  wissen. 
Da  wir  selbst  nidit  ohne  Furditen  sind  . . . 

Es  betrubt  uns  nidit,  ein  Gluck  zu  missen. 

Das  sie  findet/  uns  bleibt  ja  der  Weg/  und  blind 
Sind  wir  nidit  — erblassen  nicht  vor  Hindemissen. 

In  den  Hausem  schlafen  Mude  einsam  meist, 
Selten  paarweis'  mit  begluckt  vereinten  Handen. 
Der  nur  wadit,  der  aufgesprung'nes  Leid  verbeiBt, 
Den  Bedrangnis  immer  neu  aus  Trummem  reiflt, 
Und  ein  Hoffen,  dafl  sich  Sdiidcsalspfeile  wenden. 

Wir  sind,  die  im  Freien  einzeln,  dunkel  stehen. 
Warum  klagen  wir,  die  wir  im  Freien  stehen? 

An  den  Lampen  sdieint  es  hell  und  lebt  sich  hart. 
Wo  die  Leute  offen  uber  Treppen  gehen, 

Stolz  im  Glauben,  dafi  sie  uns  genarrt. 


258 


MtdbtiHd  Li&nowsHy  • AufienfieBtr 


Tore  sind  und  breite  Treppen  uns  verschlossen, 
Spat  nach  Mittemacht  bewegt  uns  unverdrossen 
Menschenscheu,  rasch,  unser  letzter  Gang 
Ober  Strafienleere,  die  man  frisch  begossen. 

An  den  vollen  Hausem  dieser  Stadt  entlang. 


n. 

Weifie  Fensterkreuze  leucbten  auf  dem  stumpfen  Hintergrunde 
von  Gardinen, 

die  kein  Lampenlicht  mehr  rotet, 

und  es  drangt  kein  Rauch  sicfa  aus  Kaminen 

in  die  Abendstunde, 

wie  aus  andem  Hausem  . . . dieses  sdieint  getotet, 

sdieint  verwunschen,  mieterlos  und  unbesessen  . . . Unser  Fragen 

dringt  durdi  Mauem,  sdieu,  wagt  sich  an  fremde  Sachen, 

veil  wir  fuhlen,  eig'nem  Leids  gedenkend,  wie  sie  mancbes  sagen 

mochten,  Mensdienliebe  hoher  zu  entfodien. 

Sdion  beginnt  das  Herz  dem  kalkbeworf'nen  Stein  sidi  zuzuwenden, 

weifi  entzQckt  verwandt  sidi  seinen  stummen  Raumen, 

mochte  segnend  die  gesdhloss'nen  Turen  streidieln,  mit  den  Handen 

liebevoll  ein  Ding  ergreifen,  ohne  Saumen  . . . 

denn  Versaumtes  kann  uns  mahnend  strafen  undverdrangt  dieFreude. 

Zogem  wird  Verbrecben,  wenn  die  Regung  Gute 

zeugen  wollte,  und  ein  angstlidi  tlberlegen,  man  vergeude 

sich,  den  warmen  Herzschlag  anhielt  im  Gemute. 

Und  ■wir  sturmen  innerlich  . . . versuchen  trostende  Gebarden, 
Worte  uns'rer  sprungbereiten  Nachstenliebe. 

Uns  berauscht  ein  Trunk,  der  alle  Himmel  faflt  auf  Erden. 

Ofihe  dich!  Wir  varmen  deinen  Flur  . . . uns  bliebe 

das  Gefuhl,  daB  wir  ein  winzig'  Stucklein  Ich  an  deinen  Toren 

lieBen,  ein  Gewicht  aus  uns'rer  eingezwangten 

Brust ...  In  Licht  verwandelt  sich  der  Blidc,  den  wir  an  dir  verloren, 

als  cfeine  Einsamkeit  heut'  Nacht,  und  unser  Schweigen  sich  vermengten. 

Ruhrt  es  dich  nicfat?  . . . Nein  . . . Du  nennst  uns  AuBensteher  . . . 


Mecf/tibf  Li&nowsiy  • Aufien feeder 


# 


259 


Alles  siehst  du,  doth  verleugnest  es,  tust  weher 
als  die  Menschen,  die  uns  nidit  verschonten 
in  der  Zeit,  da  wir  bei  ihnen  wohnten  . . . 


m 


Mudes  Haus!  Willst  nicht  von  uns  ergriffen  werden  . . . 
Du  erwiderst  unser  Werben 
nidit  mit  Blidten  . . . 

Ladest  uns  nidit  ein,  zu  sterben 
an  den  jdngstverlass'nen  Herden  . . . 

Weiter!  Herz!  Audi  daran  wirst  du  nidit  erstidcen. 


m. 

An  den  Baumen  blieben  die  Gespradie  hangen, 
die  sie  fuhrten:  der  in  namenlosen  Femen, 
der  in  sdilimmster  Nahe  mit  sich  selber 
MuB,  der  einsam  sidi,  bewuBt  aus  Rosenhangen 
forttragt,  mufi  cr  leben,  Jungsein  neu  erlernen? 
Audi  der  Budienwald  wird  gelb  und  gelber. 

Grausam,  Zeit,  vergeudest  du  didh  zwischen  Halten 
und  Gedulden  armer  Menschen/  raderst  Willen, 
die  zu  Taten  sich  gesammelt  hatren. 

O — du  zeigst  dann  irgendwelche  Zauberspalten, 
darin  sie  besdieiden  ihren  Hunger  stillen, 
Wartezellen  fur  die  Nimmersatten. 

Ja  . . . an  Baumen  blieben  die  Gespradie  hangen. 
Tonen  sie  nidit  — schon  verzerrt  — von  dorten 
uns  entgegen?  Klingt  es  nidit  wie  krankes  Adizen? 
wenn  die  Kronen  aneinander  drangen, 
sich  den  unverstand'nen  Sinn  von  Mensdienvorten 
muhsam,  wie  aus  Rabenkehlen  zuzukrachzen  ? 


260 


Mt&tifd  Udbnowsiy  • Der  Brdutigam 


Tief  verwandt,  Melancholia,  winkt  die  S A wester 
deinem  Nebelbild  am  Rand  der  LiAtung. 

Spannt  dein  Mund  zum  LaAein  siA  in  stiller  Feier, 
warum  bohrt  dein  Auge  sAmerzvolf  siA  in  RiAtung 
eines  ungeseh'nen  Ziels  ? . . . Die  Hand  am  S Aleier 
knotet  auf  und  zu  und  sAlingt  ihn  fester. 


DER  BRAUTIGAM 

Einmal  als  Mann  wirst  endliA  Du  Ihr  begegnen, 
tiefblauer  Glockenton,  der  Du  von  drGben  Sie  riefst. 
Indessen  wird  ein  Jahrtausend  langsam  in  Tagen  verregnen, 
bevor,  erzsprengend,  der  Ton  im  neuen  Mantel  Ihr  naht. 

Ober  den  Hohen,  im  atemlosen  Biinken  der  NaAt, 
am  windstillen  SAlaf  der  Fluten  im  ruhenden  Hafen 
erkannte  glaubig  diA  Eine  vom  sAeuen  GesAleAt 
der  MadAen,  die  einsam,  nur  mit  den  Blumen  gesAlafen.. 

EndliA  als  Mann  wirst  Du  zu  Ihr  singen, 
kindheitsferner  Ton,  den  Ihr  Ohr  so  gesuAt, 
traumhaft  vervielfaAt,  entsteigt  Melodie  Deinem  Klingen, 
in  frommer  Erwartung  hat  Sie  jede  Pause  gebuAt. 

Du  steigst  dann  hemieder,  voll  Erz  noA,  sAon  warm 
vom  gleiAen  Blute  wie  Sie,  verwehrst  Ihr  weitere  SAritte^ 
ergreifst  Sie  . . . ZartliA  beruhrt  Ihr  Haupt  Deinen  Arm/ 
nun  weilt  entratselt  Ungreifbares  in  ihrer  Mitte. 


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UNIVERSITY  OF 


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•K.  ^ <-  «••. 


HEINRICH  LAUTENSACK: 


DAS  GELQBDE 

S CHAUSPIEL 
IN  VIER  AUFZQGEN 


<Den  Bohnen  gegenOber  a(s  Manuskript  gtdrudtt) 


DRAMATIS  PERSONAE 


P.  Burkhardus  Schmitt,  Guardian 

P.  Konradus  Biumenstingl 

P.  Edmundus  FeiAt 

P.  RoAus  Zitzelsperger 

P.  Bruno  Pilstl 

P.  Oswaldus  SAeibenzuber 

P.  Evaristus  AblaBmeier 

P.  Felix  Graf  (Horst)  von  Hilgartsberg 

GrSfin  Helmtrudis,  seine  Frau 

Oberleutnant  Freiherr  Karl  von  RuAti,  Helmtrudis'  Bruder 

Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger 

Hermine,  dessen  Frau 

Justizrat  Dr.  Kreidle 

Frater  Max 

Die  Fratres  MiAael,  Anian,  Martin  und  Ludvig.  Viel  Batauer  BOrgcr, 

Bfirgerinnen,  junge  MidAen  und  alte  BetsAwestcm.  Ein  Zimmerkellner  vom 

Batauer  Wolf.  Ein  Postbote. 

Der  BisAof  samt  Geleite.  Die  Oberin  des  Nonnenklosters.  Nonnen.  Novizinncn. 

Die  Eltcrn  und  die  Obrigea  vier  Brfldcr  Helmtrudis'  sowic  noA  einige  Anvcrwandtc. 

Einc  Arabertruppe  auf  dem  SAub. 


1.  und  II.  Aufzug:  Kapuzinerkloster  Maria  - Hilf  bei  Batau.  III.  Aufzug  — 
vierWoAen  spater  — : Hotel  Batauer  Wolf.  IV.  Aufzug  — naA  einetn  Jahr 

und  zwei  Tagen  — : Frauenkloster  Niedemburg  Batau. 

Das  Spiel  endigt  kurz  vor  AusbruA  des  Kricges. 


Hein  rid  Lautensad  * Das  Gef&Bd*  265 


ERSTER  AUFZUG 

Das  Refektorium  des  Kapuzincrkfostcrs  z u Maria-Hilf. 

Vorzeitiges  elcktrisAes  Li  At,  wo  drauBen  noA  FrQhsommersonnenuntergang. 

Das  Gebet  naA  dem  Abendessen  ist  soeben  beendet. 

ERSTER  AUFTRITT 

P,  Edmundus,  P.  RoAus,  P.  Bruno,  P.  Oswaldus,  P.  Evaristus,  P.  Felix, 
Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger,  Frater  MiAael,  Frater  Anian, 

Fratcr  Martin,  Frater  Ludwig. 

(Die  Fratres  MiAael,  Anian,  Martin  und  Ludwig  steben  vom  unteren  TisAende 
auf  und  gehen  hinaus,  wobei  sie  ihre  EBgerate,  Speisenuberreste  und  TrinkgcfaBc 

gleiA  selber  mitnehtaen.) 

ZWEITER  AUFTRITT 

P.  Edmundus,  P.  RoAus,  P.  Bruno,  P.  Oswaldus,  P.  Evaristus,  P.  Felix, 
Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger.  Bald  darauf  Frater  Max. 

(Hingegen  Ae  Herren  PP.  Edmundus,  RoAus,  Bruno,  Oswaldus,  Evaristus  und 
Felix  streng  naA  ibrer  Anzicnnitat  hergezahlt  und  am  oberen  TisAende  auA 
ebenso  platziert  — bleiben  sitzen:  der  Herr  Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger 
als  Gast,  welAer  den  far  solAe  Falle  bestimmten  Ehrenplatz  einnimmt:  zuoberst 
neben  dem  freiliA  noA  unbesetzten  Stuhl  und  unbenutzten  GedcA  des  Herra  P. 
Konrad  us,  dcs  Altesten  in  der  Rangfolge,  der  bisher  irgendwie  noA  niAt  Zeit 

zum  Kommen  gefunden  hat. 

Was  den  P.  Guardian,  den  Pater  superior  anbetrifft,  so  ist  der  verreist,  wie  wir 

bald  genug  horen  werden  . . .> 

Frater  Max  <trta  ein>. 

<Die  vier  Fratres  vom  ersten  Auftritt,  die  in  ihrem  Gehaben  bauerisAen  Dienst- 
boten  niAt  unahnliA  sAienen,  sind,  wie  sAon  gesagt,  nun  glQAliA  samtliA  fort, 
als  Fratcr  Max  mit  einer  Ffille  frisAen  Stoffes  ansAwirrt  und  — bis  auf  das  bereits 
erwahnte  GedeA  des  P.  Konradus,  welAes  zu  verbleiben  hat  — air  die  Teller  und 

SAdsseln  vom  oberen  TisAende  abtragt.) 

Frater  Max  <also  wieder  ab>. 

<InzwisAen  brennen  si  A Ae  Herren  PP.  — jeder  vor  seinem  Bier  — ein  jeder  sein 
RauAzeug  an:  Zigarre  oder  Virginia  und  P.  Evaristus  sogar  eine  Pfeife,  daft  der 
BesAauer  fQrAtet,  die  vielen  langen  B&rtc  konnten  in  Feuer  aufgehen  . . . Einer 


r.V.V.V.V.V 


Heinrid  Lautensad  • Das  Grftifide 


nur  ausgenommen : der  Herr  Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger,  der  in  dem 
Scfcweigen,  welches  herrscht,  ffihlt,  dafi  er  reden  soli  — und  dabei  dcxb  v6llig  aus 
dem  Konzept  gebracht  ist  von  dieser  Kleinigkeit,  namlicb,  dafi  er  seine  Sdnkadores 
im  Mantel  gelassen  bat  . . . Atb!  und  sein  Mantel,  der  hlngt  weit  entfemt  von 

diesem  Refektorium  draufien  im  Sprechzimmer.  — Endlicfa>: 

Pfaffinger  <in  einer  Art  Galgenhumor) : Also  eh'  die  hochwftrdigen 
Herm  Patres,  die  mir  ja  einfach  einen  jeden  Wunsdi  bisher  von  den 
Augen  abgelesen  haben,  allmahlich  stutzig  werden  und  sidi  womog- 
licb  lang  firagen,  was  ich  denn  eigentlicb  hatte  oder  nodi  besser  was 
mir  eigendidi  fehlt  — da  meld'  idi's  lieber  gleich  selbst:  ich  hab' 
meine  Zigarren  draufien  in  mein'm  Ulster  stecken  lassen! 

P.  Edmundus  <gibt  mit  diesen  seinen  Worten  quasi  das  Signal  — jedocb 
keineswegs  belustigt,  sondern  mit  tSdlicfcem  Ernst  in  jedem  Ton  seiner  sdiwindelnd 

tiefen  Bafistimme) : Aber  Herr  Bezirksgeometer — wenn's  weiter  nichts  ist — ! 

<Und  da  sind  sie  ohne  Ausnahme  samtlicb  bereit  und  prasenticren  ibre  meist  dick— 
gefOKten  Etuis  aus  Leder,  Pappe  oder  Bast,  und  wir  konstatieren  freundlicbe  An- 

erbieten  wie>:  »Darf  ich  Ihnen  eine  offerieren  — ?c  — aWoll'n  Sie  sidi 

nidit  bei  mir  bedienen  — ?«  — »EntschuIdigen  Sie  nur  vielmals  — !« 

— »Aber  gerne,  Herr  Bezirksgeometer  — !c  <Und  P.  Evaristus  strcckt 

seinen  Tabaksbeutel  entgegen  und  meint) : *Idi  hoi'  Ihna  meine  andere  Pfeif  n !c 

Pfaffinger  <nimmt  von  dem  ibm  zunScbst  sitzenden  P.  Edmundus  und  wehrt 

dann  die  Gbrigen  ab) : Sie  sind  wirklidi  zu  liebenswurdig ! — Danke/ 

danke/  i'  dank  scbd'  — i'  bi*  versorgt  — <Man  bietet  ibm  von  mehreren 
Seiten  Feuer  an,  und  da  beeilt  er  sidt  denn  mit  dem  Vorgenufi,  den  er  sonst  bei 
iedem  neuen  Gfimmstengel  mdglidist  lange  auszukosten  pflegt,  und  versidwrt  unterm 

Anraucben,  wobei  er  mit  den  Lippen  schmatzt  wie  ein  kfeines  Kind):  Idlleide 

. . , sonst  . . . absolut  nidit  an  . . . Vergefllidikeit  . . . Aber 
heute  bin  ich  in  der  Tat  . . , aufgeregt  . . . wie  nur  als  junger 

Hodizeiter  . . . <Und  da  nun  das  Kraut  brennt  und  scbon  inn  die  Gewobn- 


heit  zu  unterdrQdcen , es  kenneriscb  auf  seine  Quaiit3t  zu 

bltt  gar  sdion,  Nachsicht  mit  mir  — 


taxieren) : Hab'n  Sie, 


<Stille.  Raudien.) 


P.  Edmundus  <nach  einem  abgrundtiefen  Riuspern):  Ich  mdchte  Sie 
ubrigens  dringendst  ersuchen,  Herr  Bezirksgeometer,  sich  unsertwegen 
absolut  nidit  zu  inkommodieren  — 

Pfaffinger  <versteht  nidit). 

P.  Edmundus:  Ich  meine:  falls  es  Ihnen  — nach  diesem  unserm 


HetnriS  Lautensadi  • Das  GeftlBde 


267 


'A 


•mm 


Essen 


irgendwie  Erleicfaterung  verschaffen  konnte,  so  machen  Sie 


sich's  ruhig  etwas  bequem. 

Pfaffinger:  Ah  SO  — ! (Aber  er  fafit  es  ncxfc  nicht.) 

P.  Edmundus:  Ich  will  sagen:  wir  — wir  haben  keine  Westen, 
die  sich  ein  etwas  offnen  lassen.  Nichtsdestoweniger  konnen  wir  das 
andem  nadhfuhlen! 

Pfaffinger  (mSdite  es  immer  nodi  nicht  so  redit  fflr  moglich  halten.  — Da 
hat  er  plotzlich  eine  Idee/  und  ohne  sie  im  mindesten  zu  Oberlegen,  sagt  er> : 

Ich  habe  in  der  Klosterregei  des  heiligen  Benedikt  geiesen,  dab  alle 
etwa  ankommenden  Gaste  von  den  Monchen  sollen  so  wie  Christas 
aufgenommen  werden.  Das  ist  . . . wunderschon.  Aber  mir  scheint, 
dab  sich  die  Fremden,  die  in  so  ein  Kloster  kommen  und  das  doch 
wissen  mussen  — dab  sich  die  dann  auch  einigermaben  so  wie 


Christus  benehmen  sollen,  der  ]a  in  ihnen  aufgenommen  wird. 
(Fast  ausbrediend) : Ich  kann  mir  unsern  Herrn  und  Heiland  nun  ein 
mal  nicht  gut  mit  aufgesprungenen  Westenknopfen  vorstellen 

P.  EvaristUS  (samt  seiner  Pfeife  — jung  zwar,  so  dodi  gleichfalis,  wenn 
audi  ein  wenig  gemacht,  baBtief) : Unsern  Erloser,  der  ein  von  seiner 


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l 


gottlichen  Mutter  gewirktes  nahtloses  Gewand  getragen  hat 

Pfaffinger  (sofort  wieder  auf  dem  Quivive/  zu  P.  Evaristus):  Sie  meinen 

den  heiligen  Rode  in  Trier?  — Ich  hab'  den  heiligen  Rode  in  Trier 


besucht! 


Das  ist  freilich  schon  seine  zwanzig  Jahre  her. 


<Zu 


P.  Edmundus) : Aber  jetz'  kommt  es  mir  fast  so  vor,  als  hatt'  ich  mit 


meiner  Replik  vorhin 


ja,  grad,  als  wie  wenn  ich  mit  dieser 


meiner  Replik  vorhin  den  hochwflrdigen  Herrn  Pater  Edmundus 
widerwillens  beleidigt  hatt' 

P,  Edmundus:  Mich? 

Pfaffinger  (dem  P.  Edmundus,  den  er  Qbrigens  am  meisten  in  sein  Herz 


geschlossen  hat,  fest  in  die  Augen  schauend):  Ja 


Sie, 


Und  das  tat' 


mir  wahrhaft  leid.  — Denn  jetz'  fuhl'  ich  erst,  welche  Liebe  zu 
unserm  Herrn  und  Heiland  Sie  manifestieren  wollten,  indem  Sie 


i 


mich  aufforderten,  ich  solle  es  mir  in  ein  etwas  bequem  machen 

<Da  aber  wird  redit  wie  aufs  Stidiwort,  ohne  dafi  P.  Edmundus  nodi  das  ge-» 
ringste  zu  entgegnen  vcrmSchte,  die  Tflr  aufgerissen  und  herein  kommt  P.  Konradus. 


Sehr  eilig.) 


is  vat.  ni/i 


268 


Htinn'S  Lautensadi  • Das  Gtf&Bde 


DRITTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  P.  Konradus.  Ab  und  zu  Frater  Max. 

P.  Konrad  US  <auf  semen  Platz  zu,  ab  halt'  ihn  ihm  einer  genommen). 

P.  Edmundus  <zum  Ankommenden):  Pater  Konradus,  erlaub'n  Sie, 
dafi  ids  Ihnen  unsem  lieben  Gast,  Herm  Bezirksgeometer  Pfaffinger, 
vorstelle. 

P.  Konradus  <bez2hmt.  Mit  einem  Organ  wie  eine  Riesenglodte) : An* 
genehm. 

Pfaffinger  <der  sld»  erhoben  hat):  Ganz  meinerseits. 

P.  Evaristus  <untergebenenhaft  besorgt):  Bruder  Konradus,  weiB  es 
der  Maxi  bereits? 

P.  Konradus:  Idi  danke  dir,  Bruder  Evaristus.  — <Und  dann  riditet 

er,  die  Serviette  entfaitend,  eine  Frage  an  afle,  nur  nidit  an  P.  Edmundus):  1st 

der  Pater  Guardian  bereits  zurGckgekommen? 

P.  Bruno:  Nein,  lieber  Bruder. 

P.  Oswaldus:  Er  kdnnt'  aucb  kaum  sdion  den  Berg  heroben  sein, 
selbst  wenn  er  mit  dem  Sieb'n-Uhr-Zug  gekommen  ware. 

<Da  bringt  der  Maxi,  Frater  Max,  den  ersteo  Gang  und  versdhwindet  sogieich 

wieder.) 

P.  Konradus  <betet  ein  stifles  Gebet  erst  und  macht  sich  dann  fiber  sein 
Essen  her). 

<StiiIe.) 

P.  Edmundus  <der  mit  P.  Konradus  seit  Jahren  sdion  — nodi  dazu  in 
diescr  Klosterengc  — in  Feindschaft  lebt,  weldie  aber  seinerzeit  von  dem  letzteren 

ausgegangen  war):  Herr  Bezirksgeometer  Pfaffinger  1st  fest  entschlossen, 
nidit  nur  in  unsern  Orden  einzutreten,  sondern  audi  nocfa  mit  dem 
Studium  der  Theologie  zu  beginnen  und  sidt  zum  Priester  weihen 
zu  lassen. 

P.  Konradus  <zu  Pfaffinger):  Darf  idi  fragen  — verzeihen  Sie, 
aber  es  lafit  sidi  diese  Erkundigung  nidit  gut  umgehen  — wie  alt 
der  Herr  Bezirksgeometer  sind? 

Pfaffinger  <dem  dies  wirklidi  ganz  und  gar  nidit  unangenehm  bt) : In 

dritthalb  Monat'n  — im  August  — werde  idi  zweiundsieb'nzig. 

P.  Konradus:  War'n  der  Herr  Bezirksgeometer  — jemals  — 
verheiratet? 

Pfaffinger  (zieralicfa  belustigt):  Verheiratet?  — Das  bin  idi  sogar 


269 


HeinriS  Lautensad  • Das  GefUSde 

gegenwartig  noth.  <W»eder  ernster):  Aber  meinc  Frau  hat  nkfcts  gegen 
diesen  meinen  wohluberlegten  Sdiritr. 

P.  Konradus  fsingend):  Dann  ist  vielleidit  Ihre  Frau  Gemahlin 
nocb  recbt  jung  an  Jahren? 

Pfaffinger  (strahlend  uber  das  ganze  Gesidit  vor  Heiterkeit):  Mein,  nein. 
Die  ist  sogar  sdion  redit  alt  an  Jahren!  Ja.  Die  is'  bereits  zutiefst 
im  kanoniscben  Alter! 

P.  Konradus  <nadidem  er  ein  jedesmal  bisber  fehlgetroffen  hat):  Nun, 
nun,  man  kann  doch  nie  wissen.  Idi  datbte  — vielleidit,  dafi  eine 
unverhaltnismafiige  Altersungleitbheit  zwisdien  Ihnen  und  Ihrer  Frau 
Gemahlin  — 

Pfaffinger  <geht  sofort  fiber  diese  Taktlosigkeit  hinweg) : Aufjahrund 

Tag  genau  darf  idi  das  Alter  meiner  Frau  naturlidi  nicbt  verraten: 

das  hat  sie  mir  sdion  vor  ftinfundvierzig  Jahren  an  unserm  Hodi- 

zeitstag  verboten.  <Er  ist  immer  weiter  vergnQgt):  Adi  ja. 

<Dodi  da  wendet  sidi  P.  Konradus  wieder  ganzlich  seinem  Essen  zu.  Futtert  eine 
kleine  Weile,  was  das  Zeug  hilt/  sodann  sdiiebt  er  den  Teller  weit  von  sidi  und 

unterhalt  sidi  auf  ein  neues  mit  dem  Gast.) 

P.  Evaristus  <der  den  Moment  abgewartet  hat,  geht  zur  Tflr,  offnet  und 
ruft  gedampft  hinaus):  Maxi  - — ! <Und  begibt  sidi  wieder  an  seinen  Platz.) 

Frater  Max  (koramt  auch  bald  darauf  mit  dem  zweiten  Gang). 

flndessen): 

P.  Konradus:  Es  ist  absolut  nidit  gesagt,  dafi  — so  wie  in 
Ihrem  Fall  — die  Ablegung  des  Ordensgelubdes  sowohl  als  audi 
der  Empfang  der  Priesterweihe  ein  Ding  der  Unmdglidikeit  ware, 
nur  weil  eine  Ehe  nodi  besteht.  Eine  Ehe  ist  an  sidi  kein  Hinder- 
nis/  blofi  darf  die  Ausubung  der  ehelichen  Freuden  naturlidi  nidit 
fortgesetzt  werden,  denn  diesem  steht  fortan  ja  das  Keusdiheits- 
gelubde  entgegen,  und  ist  uberhaupt  eine  Trennung  von  Tisdi  und 
Bett  notwendig.  Ein  jeder  verheiratete  Mann  kann  — aber  nur  mit 
ausdrucklidiem  Wissen  und  Willen  seiner  Ehegatlin  — in  ein  Kloster 
eintreten  und  audi  das  heilige  Sakrament  der  Priesterweihe  emp» 
fangen.  Jedodi  die  Ehefrau  selbst  mul)  ihrerseits  gleichfalls  das  Ge- 
lubde  der  Keusdiheit  ablegen  oder  wenigstens  eine  soldie  Garantie 
bieten,  dafi  die  formlidie  Leistung  des  Keusdiheitsgelubdes  bei  ihr 
nicht  mehr  erforderlidi  ist.  Das  heifit:  befindet  sidi  die  Ehefrau  da- 


270  Heinric6  La  u ten  sad  • Das  GeftiSde 


i:  - - - / :. ^ .VV.V/T  V_V777T77777 


bei  bereits  in  cinem  entspreAend  hohen  Alter  ...  in  einer  ausge- 
sproAen  hohen  Anzahl  von  Lebensjahren , so  gfaubt  man  ihr  auf 
ihre  bloBe  VersiAerung  hin,  und  sie  mag  danaA  ruhig  drauBen  in 
der  Welt  weiter  leben.  — I A weiB  niAt,  ob  Sie  diese  meine  zarte 
Andeutung  restlos  verstehen  . . . 

Pfaffinger  <eifirig):  Oh,  gewiB!  FreiliA  — freiliA! 

P.  Konradus:  Denn  in  einem  solA  hohen  Alter  besteht  fur  die 
Frau  ja  absolut  keine  Gefahr  mehr,  wortbrOAig  zu  werden,  und 
es  wird  mit  gutem  Grund  angenommen,  daB  ihr  die  Erfullung  des 
VerspreAens  der  KeusAheit  — selbst  in  der  Welt  da  drauBen  voller 
Verlockungen  des  Bosen  — leiAt  fallt. 

Pfaffinger  (noth  immer  eifrig/  grad  an  seiner  Zigarre  saugend):  Mm  — ! 

P.  Konradus  (der  fortwihrend  mit  Tranchieren  beset  iftigt  ist  eines GeflOgels, 
das  wohl  auct  bereits  das  kanonisebe  After  bat):  , , , Ein  anderes  ist  es, 

wenn  die  Frau  siA  noA  in  einem  jugendliAen  Alter  befindet.  Da 
existieren  AusspruAe  von  Aposteln  und  KirAenvatern  mehr  als 
genug/  ja,  unser  Herr  und  Heiland  selber  hat  es  einmal  trefFend 
gesagt:  »Der  Geist  ist  willig  — aber  das  FleisA  ist  sAwaAlc  <Und 

er  schiebt  pfdtzlich  den  Teller  weit  von  sicb  und  scbmeiBt  noth  dazu  das  Bestedc 
hin:  — ein  Zeithen  nebenbei  fQr  P.  Bvaristus,  Sbnlich  wie  vorhin  den  Maxi  her- 

qeizuzitieren.)  — Und  so  verlangt  unsere  heilige  KirAe  in  diesem  Fall, 
dafi  auA  die  Frau  in  ein  Kloster  geht  — auBer  bei  mehreren  Kin* 

dern,  wo  eine  Dispens  eintreten  kann aber  sonst  muB  auA 

die  Frau  in  ein  Kloster  und  da  bei  ihrer  Binkleidung  eben  die* 
selben  feierliAen  Ordensgelubde  ablegen  wie  ihr  Mann.  — AhnliAe 
Bestimmungen  weiB  das  KirAenreAt,  wenn  der  Mann  etwa  ohne 
Wissen  und  daher  auA  ohne  Willen  seiner  Frau  ins  Kloster  ge* 
gangen  sein  sollte. 

Pfaffinger  (interessiert):  Ohne  Wissen  und  Willen  — ja,  gibt  es 
denn  so  etwas  auA? 

P.  Konradus:  Warum  niAt?  — Nehmen  wir  zum  Beispiel  ein* 
mal  an,  daB  der  liebe  Bruder  Felix  — 

P.  Bdmundus  <drohend>:  Du  — ! LaB  den  »lieben  Bruder  Felixe  — 

P.  Konradus:  DoA  nur  ein  angenommener  Fall  — 

<Aber  da  kommt  zum  GlOck  Maxi,  Fratcr  Max,  herein.) 

P.  Konradus  <mit  unterdrflektem  Zorn):  Ja,  sag/  amal.  Maxi  — soil 


He  in  rid  Lautensad)  • Das  GefUBde  271 


sicfa  das  amend  aucfa  nodi  a'  Ess'n  nennen  durf'n?  — Haut  und 
Knodien  — ! 

Frater  Max  (dgensinnig) : Das  kann  vorkommen!  Von  den  an- 
dem  Herm  Patres  hat  gar  keiner  was  gesagt!  (Ausfallend) : Sowie 
unser  hochwurdiger  Herr  Pater  Guardian  einmai  einen  Tag  lang 
oder  zwei  nicht  da  1st,  fuhrt  der  Herr  Pater  Konradus  das  Regi- 
ment! <Er  padct  — sdmippisdi  — die  SdiOssel  und  geht  damit  hinaus.) 

(Sdiier  gleidizeitig) : 

Pfaffinger  (der  natQrlidi  durcfi  die  vorige  fast  offen-hSmische  Anspielung 
aufmerksam  geworden  ist,  neugierig  ru  P.  Edmundus):  Was  ist  es  mit  dem 

hochwurdigen  Herm  Pater  Felix? 

P.  Edmundus  (pacfct  ihn  am  Arm  und  drfldtt  ihn):  NichtS,  Herr  Be- 
zirksgeometer ! Nix  — wirklidl  nix!  (Und  nun,  damit  man  aber  den  kriti- 
scfien  Augenblidi  mfiglidist  hin weggleite , stimmt  er,  mit  seinem  Kruge  dabei  an 
das  Glas  Pfaffingers  anstoBend,  die  Frage  an  wie  einen  Gesang):  Lieber  Herr 

Bezirksgeometer,  wir  sind  alle  ein  bisserl  neugierig ...  Ist  die  Frage 
erlaubt,  wieso  Sie  eigendidi  dazu  kommen,  sidi  so  spat  nodi  derart  von 
Ihrer  Frau  Gemahlin  zu  sdieiden  und  lieber  in  ein  Kloster  zu  gehen? 

Pfaffinger:  Sie  haben  ganz  vergessen  zu  erwahnen,  da6  idi  dodi 
audi  nodi  Theologie  studieren  will! 

P.  Edmundusi  Nun  ja  — 

Pfaffinger:  Aber  idi  weifi  sdion,  worauf  Sie  hinaus  wollen  — 
P.  Konradus:  Nun? 

Pfaffinger  (langsam  wiederholend) : Auf  die  Art  midi  so  spat  nodi 
von  meiner  Frau  zu  sdieiden.  Ja,  meine  Herm  Patres,  Sie  kennen 
die  Ehe  dodi  alle  nur  aus  der  Theorie. 

P.  Konradus  (nun  soli  ihm  seine  Listening  dodi  nodi  gtQdsen):  Idi  bitte! 
Einer  von  uns  — eben  der  Pater  Felix  — war,  worauf  idi  vorhin 
bereits  anspielen  wollte  — in  der  Tat  verheiratet! 

P.  Edmundus  (dem  alien  sogleich  die  Spitre  abbrediend):  Jedodi  hat 

er  seine  Frau  bereits  auf  der  Hochzeitsreise  verloren.  Bei  einem 
groBen  Sdiiffsuntergang.  Im  Golf  von  Aden. 

Pfaffinger  (ersdiflttert) : Auf  der  Hodizeitsreise!  Das  tut  mir  leid. 

(Stille.) 

Pfaffinger  (jammemd):  Oh  Gott,  oh  Gott  — 

(Wieder  Stille.) 


272 


HeinriS  Lautensadi  * Das  GefuBdc 

Pfaffinger  <behutsam  neubeginnend) : Also  einer  von  Ihnen  sogar 
einmal  verheiratet  gewesen.  Wenn  auch  — barmherzigcr  Himmel! 

— nidit  allzu  lang. Idi  will  also  meine  Behauptung  von  zu- 

vor  dahin  formulieren,  dafi  den  geistlidien  Herren  — aus  der  Seel- 
sorge  zumal  — wohl  alleKonflikte  einer  Ehe  gelaufig  sein  mdgen. . . 
Aber  eine  Ehe,  meine  hodiwurdigen  Herren  — eine  Ehe,  die  so 
ewig  (ange  schon  dauert,  dafi  es  uberhaupt's  keine  Konflikte  mehr 
gibt  — ? Dies  gegen's  Ende  zu  einfadi  vollig  Stagnierende  einer 
Ehe  — ? Wenn  beide  Teile  durdi  den  fortwahrenden  gegenseitigen 
Ausgleich  endlich  so  »gut«  geworden  zu  sein  glauben,  dafi  ihnen 
eine  Weiterentwiddung  zum  Guten  letztlich  ganz  und  gar  nimmer 
moglidi  scheint  — 1 Meine  hodiwurdigen  Herren  Patres:  an  einer 
soldien  Ehe  kann  Gott  selbst  keine  Freude  mehr  haben!  Da  ist 
sdiliefilidi  ein  Kompromifi  zustande  gekommen  — und  der  beruht 
auf  Selbsttausdiung  — und  das  nenn'  idi  Heuchelei.  Philemon  und 
Baucis:  Sie  kennen  die  beiden?  Wohl:  deren  tragisdier  Untergang 
ist  ruhrend/  aber  audi  nur  der!  Sehen  Sie,  meine  Herrn,  sdiau'n  S': 
meine  Frau  und  idi  sind  beide  durdiaus  gesund  . . . und  so  kann  es 
nodi  ein  Jahrzehnt  und  d'ruber  dauern,  bis  Gott  das  eine  von  uns 
zweien  zuerst  abruft  und  jene  letzte  Sensation  einer  Ehe  gesdiieht, 
namlich,  daB  das  eine  mit  einemmal  nicht  mehr  da  ist.  Idi  liebe  meine 
Frau  . , . aber  wie  seit  langem,  ja  wie  seit  ewig  sdion  ganz  gleidi- 
maBig,  in  rein  nidits  mehr  zu  iiberbieten.  Und  das  is'  net  gut,  wie 
auf  die  Dauer  nix  gut  ist,-  und  so  ist  es  besser,  wenn  idi  midi  von 
ihr  trenne,  denn  das  wird  einen  Absdhiedssdimerz  geben,  und  dann 
. . . und  dann  werd'  idi  sie  aus  der  Feme  mit  einer  Sehnsudit  lieben, 
die  die  Nahe  unmoglidi  kennt.  Ja,  idi  hab'  die  glucklidi  madiende 
Uberzeugung,  dafi  meine  Frau  und  idi  uns  nodi  mehr  lieben  werden, 
wenn  wir  nidit  mehr  beisammen  sein  werden,  und  dafi  also  auf  die 
Art  — auf  unsere  alten  Tage!  — dodi  nodi  eine  Steigerung  unserer 

Gefiihle  moglidi  sein  wird <Und  cr  trinkt.  D.  h.  er  sudit  seine  Zufludit 

beim  Bier.) 

Frater  Max  <bringt  einen  neuen  Gang). 

P.  Konradus  (macht  sich  daruber  her). 

Pfaffinger:  ...  Aber  — ich  seh's  an  Ihren  Gesichtern,  dafi  midi 
diese  Grunde  nidit  einmal  bereditigen,  in  ein  Kloster  einzutreten. 


f> 


v 

s nninsi 


Heinrich  Lautensad  * Das  GefUBde 


273 


geschweige  denn  gar  Priester  zu  werden!  Nun  denn:  man  spricfat . . . 
man  spottelt  in  bezug  auf  mein  Alter  gem  von  einem  Johannis- 
trieb.  Und  es  mufi  gewiB  was  Wahres  dran  sein  an  diesem  Gerede 


und  Gespott 


denn  ids  spur'  ihn ! Aber  dieser  Johannistrieb  riditet 


sidi  in  meinem  speziellen  Fall  nidit  auf  eine  Frau,  sondem  gerade- 
ausaufGott!  — let  — idi — idi  liebe  eben  Gott  mehr  noch  als 

wie  meine  Frau  — ! <Er  flflAtet  naA  diesem  Bekenntnis  wieder  zum  Bier. 
Aber  er  trinkt  niAt,  sondern  er  weint):  Idi  kann  nun  einmal  nidits  Gott 
Wohlgefalliges  darin  erblidcen,  dab  meine  Frau  und  idi  weiter  so 
dumpf  dahinleben  wie  sdion  seit  meiner  Pensionierung.  Idi  will  vieU 
mehr  aufg'ruttelt  wer'n!  Idi  will  uns  beide  aufrutteln!  — <Er  bekampft 
siA> : Idi  nehm'  auch  bereits  lateinische  Stunden  bei  unserm  Herm 

...  <Er  laAelt) : Idi  hab'  mir's  sdi werer  — viel  sdiwerer 


Benefiziat  Obst 


vorg'stellt 


• • • 


<Er  laAt  fast) ; Er  braucht  lang  net  soviel  rote  Tint'n, 


als  er  sidi  'denkt  hat,  der  Herr  Benefiziat... 

<Sd(le. 

Darin  tut 


P.  Roth  US  zum  ersten  Male  vernehmliA  den  bSrtigen  Mund  auf):  Eine 
Frage,  die  idi  mir  gestatten  modite:  War'n  der  Herr  Bezirksgeo- 
meter  von  jeher  gut  katholisdi?  Fromm  und  gewissenhaft  glaubig? 
Sind  Sie  stets  in  die  Kirdie  gegangen  und  haben  um  die  osterlidie 
Zeit  nidit  nur  aus  Zwang  gebeiditet?  — Idi  meine:  ob  nidit  etwa 
erst  recht  spat  aus  Ihnen  ein  Paulus  geworden  ist?  Etwa  erst  seit 
einem  ganz  bestimmten  Datum:  namlich  seit  eben  dem  Tage  Hirer 

...  Pensionierung!?  <Aber  niAt  etwa  Pangsionierung.  Sondern  Aese  Figuren 
spreAen  sowas  bayerisA  aus : so  wie's  gesArieben  steht . . .) 

Pfaffinger:  Das  ehrt  den  Psychologen  in  Ihnen.  <Mit  Heiterkeit): 
Aber  Sie  durfen  ganz  beruhigt  sein,  Hodiwurden. 

(Und  nun  wieder  Stille.) 

P.  Felix  (eine  Saite  in  Am  klingt  an.  Er  erhebt  sein  Clas):  Icfa  trinke 

auf  Ihr  Wohl,  Herr  Bezirksgeometer.  So  wie  auf  das  fern  ere  Wohl- 
ergehen  auch  Ihrer  tapferen  kleinen  Frau.  <Er  trinkt.) 

Pfaffinger  <tut  ihm  — wortlos  — BesAeid). 

P.  Konradus:  Sie  haben  nie  Kinder  gehabt,  Herr  Bezirksgeo- 
meter? 

Pfaffinger:  Einen  einzigen  Sohn,  der  nadi  dem  Willen  meiner 


274  H tin  rids  Lauttnsadi  • Das  GtfUSdt 


Frau  GeistUcher  werden  sollte.  Aber  der  1st,  feaum  daft  er  die  nie» 
deren  Weihen  empfangen  hatte,  gestorben. 

(Wieder  elne  Stilie.) 

Frater  Max  (kommt  mit  der  Nachspeiie  und  versieht  dabei  gieidizeltig  ein 
jedesma!  - das  mufi  er  stfcon  to  im  Griff  haben  — die  Anwesenden  mit  neoem  Stoff). 

(Sodann) : 

Pfaffinger:  Hochwurdiger  Herr  Pater  Felix,  id)  modit'  Ihnen 
naturlidi  net  weh  tun.  Also  Sie  brauchen  mir  nur  ein  einzig's  W orterl 
zu  sag'n  — und  idi  hor'  sofort  wieder  damit  auf.  Es  1st  fast  rein 
nur  aus  Mitgeffihl,  dafi  ich's  frage/  aber  ich  hab'  vorhin  einen  Ort 
nennen  horen  — Sie  haben  Ihre  liebe  Frau  verloren? 

P.  Felix  (unterm  Anraudien  einer  frisAen  Virginia}:  Wir  befanden  uns 

auf  der  Hodtzeitsreise.  Ich  war  bayerischer  Offizier.  Es  war  am 
dreizehnten  Tag  unserer  Ehe.  Wir  wollten  — meine  Frau  war 
reich  — eine  Reise  um  die  Welt  machen.  Von  Genua  aus.  Idi  hatte 
vom  Re'ment  einen  halbjahrigen  Urlaub  vor  mir.  Da  — im  Golf 
von  Aden  — verunglfidcte  unser  Sdiiff.  Versank  nach  wenigen 
Minuten.  Meine  Frau  befand  sich  mit  andem  Frauen  zusammen  in 
dem  einzigen  Rettungsboot,  das  klargemacht  werden  konnte.  Es  muft 
gekentert  sein.  Id)  war  von  jeher  ein  guter  Schwimmer.  Aber  in  dem 
Sturm  — Es  stand  spater  in  alien  Zeitungen,  dafi,  abgesehen  von 
zwei  Matrosen,  idi  der  einzige  Qberlebende  war.  Ich  wadite  an  einer 
Klippe  am  Ufer  auf.  Quer  fiber  einem  Balken  liegend,  der  wohl 
meine  Retrnng  bedeutet  hatte.  Unweit  von  mir  ein  Schwimmgfirtel. 
Von  dem  Leder  dieses  Gurtels  hab'  idi  zweieinhalb  Tag'  gelebt,  wie 

der  Hunger  wiedergekommen  war. Darf  idi  Ihnen  eine  Vir» 

ginia  anbieten? 

Pfaffinger  <*<bon  aus  MitgefQhl):  Idi  bin  SO  frei.  <Nimmt.  Dannuntenn 
Anraudien} : Also  doth  . . . im  Golf  . . . von  Aden ! — 1st  das  ein  so 
gar  gefehrliches  Wasser? 

P.  Felix:  Idi  weiB  nidit  ...  Es  war  Sturm  ... 

Pfaffinger:  Ndmlich  eben  diese  geographische  Bezeichnung  war 
mir  so  bekannt  vorgekommen,  sdion  gleich  wie  Herr  Pater  Edmundus 
es  vorhin  erz^hlt  hat  — Idi  hab'  namlidi  vorgestem  und  auch  heute 
wieder  — zweimal  hintereinander  — von  einem  grofien  SchifisunglQdc 
in  eben  diesem  Golf  von  Aden  gelesen.  Es  ist  aber  kein  Name 


275 


HeinrfS  Lauttnsadi  ♦ Das  Gtf&Bde 

genannt.  Weder  vom  Schlff,  nodi  von  der  Frau,  die  vor  adit  Jahren 
damals  davongekommen  ist  — und  deren  Rettung  erst  in  diesen 
Tagen  bekannt  wurde, 

P.  Felix:  Vor  adit  Jahren?  — Nein.  — Es  war  vor  neun  Jahren. 
— Und  unser  Sdiiff  hieB  Gloria. 

Pfaffinger:  So.  — Dann  muB  es  eben  doth  eine  gefahrliche 
Passage  sein,  wenn  gleidi  ein  Jahr  darauf  schon  wieder  ein  soldies 
Ungludc  — 

P.  Felix:  Das  Jahr  darauf  war  kh  bereits  im  Kloster.  Aber  das 
weiB  ich  genau  — umso  mehr,  als  idi  zu  der  Zeit  immer  nodi  die 
Zeitungen  gerade  in  bezug  auf  SchifEskatastrophen  durdig'les'n  hab'  — , 
daB  ein  Jahr  nadi  unserm  Untergang  kein  Ungluck  in  eben  der 
Gegend  statrgefunden  hat. 

Pfaffinger  (East  eigensinnig) : Idi  hab's  aber  vorgestem  in  unserm 
Wol father  Amts-  und  Wodhenblatt  g'les'n  und  noth  lange  mit  meiner 
Frau  darQber  gesprodien.  Und  heute  beim  Aussteigen  auf  dem 

Batauer  Bahnhof  hab'  ich  mir  eine  hiesige  Zeitung  gekauft fur 

den  Fall,  daB  Sie's  int'ressiert:  ich  hab  das  Blatt  noth  drauBen  in 
mein'm  Ulster  stecken ! — Warten  Sie,  idi  werd's  hereinhol'n  — 

<Er  steht  auf.) 

P.  Felix:  Vor  adit  Jahren 

P.  Edmundus  (verblrgt  seine  Angst,  in  dem  er  zu  P.  Felix  tritt  und  dun 
desscn  GrQbeln  und  Besorgnis  auszureden  versucht) : Es  kann  verdrudct  sein 

. . . Oder  der  Herr  Bezirksgeometer  irrt  sidh  amende  doth  . . . 
Pfaffinger:  Das  wer'n  mer  ja  gleidi  seh'n! 

P.  Felix  (entsddossen) : Idi  geh'  mit  Ihnen,  Herr  Bezirksgeometer! 

(Die  beiden  — Pfaffinger  und  P.  Felix  — gehen  hinaus.) 

VIERTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Ohne  Pfaffinger  und  P.  Felix. 

(Nadi  einem  kurzen  Sdiweigen): 

P.  Evaristus  (an  seiner  Pfdfe  stopfend) : Wie  Pater  Felix  glei'  mit 
'raus  rennt  — ! 

P.  Edmundus  (der,  stehend,  socben  getrunken  bat,  wild  den  Krug  nieder- 

setzend):  Wie  die  angeborene  Falsthheit  und  eingesthworene  Gehassig- 
keit  sogleidi  wieder  ihre  Glosse  dazu  machen  muB  — ! (Es  tmbt  dm 


276 


Heinrid  Lautensadi  • Das  GefuBde 
uraher.  Er  wirbelt  wie  Laub  im  Herbst . . . Und  als  P.  Bruno  aucb  nod)  leise  hamisdh 

ladit):  Wenn  der  allmachtige  Gott  nur  einmal  ein  Sdiiff  voil  von  Eudi 
ubereinand'  untergehen  lassen  mochte  — ! 

PP.  Evaristus,  Bruno  und  Oswaldus:  Hoho!  — Holt  stad 

a wengerl ! — B ruder  Konradus  — ! (Die  Ausrufe  der  ersten  beiden 

warnend,  drohend,  mutig,  fast  raaflustig/  der  [etztere  — von  P.  Oswaldus  aus- 
gestoBen  — scbier  angstlldi,  feige,  hilfeflehend.) 

P.  Rodius  (steht  nun  gteictfalls  auf>:  left  lasse  midi  nidit  in  euere 
Feindsdiaft  mit  hineinziehn!  Icfa  sdiliefie  midi  davon  aus!  — (Zu 
P.  Edmundus):  Umso  unparteiisdier  aber  kann  idi  Sie  fragen,  Pater 
Edmundus:  Was  haben  Sie  denn  eigentlidi?  Wenn  heut  abend 
irgend  nur  das  geringste  vorgekommen  war',  so  mufite  idi  dodi  aucb 
etwas  davon  gemerkt  haben!  Sie  sind  rein  von  dem  bissel  Gerede 
dieses  absolut  manisdien  Herrn  Bezirksgeometers  ja  nodi  weit  schlim- 
mer  aufgeregt  als  wie  der  Pater  Felix  selber!  — GewiB! 

(Tut  sicb  was  darauf  zugute,  obwohl  er's  natflrlkfa  so  gleitbgQltig  ja  verScbtlid) 
wie  mSglidi  vorzubringen  sucht):  Idi  hab'  diese  Zeitungsnotiz  ubrigens 

bereits  gelesen  — 

Alle:  Wo?! 

P.  Rodius:  In  der  heutlgen  Nadimittagsausgabe  unserer  Donau- 
Zeitung,  zu  deren  gemeinsamen  Lekture  wir  heute  abend  nur  noth 
nicht  gekommen  sind,  indem  wir  diesen  — idi  wiederhole  es!  — 
diesen  sdileditweg  manisdien  Herrn  Bezirksgeo meter  zu  Gast  haben ! 
— Dort  auf  der  Vorlese-Kanzel  liegt  das  Blatt  ja. 

PP.  Evaristus  und  Bruno  (stQrzen  darauf  hin,  so  daB  P.  Edmundus  zu 

sp3t  bommt,  und  tragen  die  Zeitung  zu  P.  Konradus  an  den  Tiscb). 

P.  Evaristus:  Wo  steht's  denn? 

P.  Rodius  (wahrend  er  sudit):  »Irrfahrten  eines  weiblidien  Odysseus*, 
so  heifit's,  glaube  idi.  — Vielleidit  eine  edite  Zeitungsente.  Kein  Wort 
daran  wahr.  Nur  rein  aus  den  journalistischen  Fingem  gesogen.  Ich 
erinnere  midi  vornehmlidi  deshalb  — na,  wo  steht's  denn  glei'  wie- 
der?  — , weil  idi  emport  war,  dafi  unser  Zentrumsorgan  sidi  nicht 
entblodet,  etwas  Derartiges  seinen  christkatholisdien  Lesern  — Halt! 
Da  steht's!  slrrfahrten  eines  — « 

P.  Evaristus:  »Irrfahrten  eines  weiblidien  Odysseus  — « 

P.  Bruno  (zu  gfeicber  Zeit  mit>  P.  Evaristus:  *Bei  einem  grofien 
Schiffsungluck  vor  nunmehr  adit  Jahren  im  Golf  von  Aden  — « 


277 


Heinrid)  Lauttnsadi  • Das  GtC&Bcft 


P.  Konradus  <miBbilligend> : Na  na  na! 

P.  Bruno  <oinmit  die  Zeitung  an  sidi.  Fangt  nodi  einmal  von  vome  an  vor- 
zulesen  und  begibt  sidi  dabei  mehr  und  mehr  auf  die  Vorlese-Kanzel): 

»Irrfahrten  eines  weiblichen  Odysseus. 

Bei  einem  groBen  Sdiiffsungluck  vor  nunmehr  adit  Jahren  im  Golf 
von  Aden,  wobei  die  gesamte  Besatzung  sowie  die  samtlidien  Pas- 
sagiere  urns  Leben  kamen,  wurde  — wie  sidi  jetzt  erst  herausstellte  — 
eine  junge  Frau,  die  sidi  nodi  dazu  gerade  auf  ihrer  Hodi- 

zeitsreise  befand  <diesen  kleinen  Relativsatz  liest  er  mit  immer  grSBerem 
Erstaunen,  und  ein  paar  Mondie  wiederholen  ihn  !>  wohl  ais  einzige  Qber- 

lebende  an  die  arabisdie  Kuste  ausgeworfen  und  von  einem  wilden, 
dort  gerade  umberstreifenden  Araberstamm  nadi  dem  Lande  Hadra- 
maut  und  von  da  bis  in  die  Sandwiiste  Roba  al  Chali  gewaltsam 

versdlleppt.  (Wieder  werden  Worte  wie  » Araberstamm*  und  >gewaltsam  ver- 
scbleppt*  wiederhoit  und  klingen  wie  sebadenfrohe  Echos.)  Und  zwar  wanderte 

die  junge  Frau,  die  nebenbei  bemerkt  eine  Deutsdie  war,  auf  diesem 
Wege  von  Stamm  zu  Stamm,  indem  immer  ein  Sdbeik  sie  dem  an  dem 
zum  Gesdienk  madite.  Bis  sie  endlid)  Gnade  in  den  Augen  eines 
dieser  braunen  Wustensohne  fand.  Nadi  fangen,  langen  Bemuhungen 
gelang  es  der  Bedauernswerten,  den  deutsdien  Konsul  in  Aden  zu 
benadiriditigen,  der  sofort  bei  der  turkisdien  Regierung  energisdie 
Sdiritte  zu  ihrer  Auslieferung  tat.  Aber  hatten  sie  so  viele  andere 
arabisdie  Sdieiks  vorher  nidit  gesebenkt  gemodit,  sondern  sie  immer 
wieder  an  den  Nadisten  zum  Prasent  gemadit,  so  forderte  dieser 
Letztere  nun  ein  ungeheures  Losegeld,  indem  er  pro  Haar  auf  dem 
Haupte  der  Frau  einen  wohlgezahlten  turkisdien  Piaster 
verlangte.  — Wie  wir  erfahren,  befindet  sidi  die  junge  Frau  nun 
nadi  ihrer  jahrelangen  Odyssee  gluddidi  auf  dem  Wege  nadi  ihrer 
Heimat  . . .« 

P.  Edmundus:  Unglaublich  — ! 

P.  Rodius  <eifemd> : Ja  — nidit  wahr?  — wie  das  Zentrumsblatt  sidi 
nidit  entblodet,  eine  soldie  Boccaccio*Decamerone-Ges<hidite 
dem  diristkatholisdien  Leser  vorzusetzen  — ! 

PP.  Evaristus,  Bruno  und  Oswaldus  (feixen,  bis  ihre  hamisdie 

Vergnugtheit  in  lautes  Ladien  Gbergebt.  Da  offhet  sidi  die  Tfire  und  alles  ist  so- 
fort mausdienst ill.  Aber  es  ist  vorlaufig  nur  Maxi,  der  da  hereintritt.  Und  erst 
hinter  diesem  zeigen  sidi  Pfaffinger  und  P.  Felix). 


278 


HtinriS  Lautensadi  • Das  GefOSefe 


FQNFTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Frater  Max.  P.  Felix.  Pfaffinger. 


Frater  Max  <tritt  — aufgeregt  — herein) : Der  Herr  Pater  Guardian 
ist  soeben  angekommen ! (Mit  leeren  GefaBen  wieder  ah.) 

Pfaffinger  <mit  einer  gefilllten  Tfite):  So.  Jetzt  darf  ich  midi  aber 
bei  den  hodiwurdigen  Herren  Patres  wohl  endlidi  revancbieren?  <Und 

er  bietet  Zigarren  an.) 

P.  Felix  <ist  gleidifalls  eingetreten). 

P.  Edmundus  (sogleich  auf  ihn  zu):  Bruder  Felix,  was  sagst  du  zu 
dieser  Notiz  in  der  heutigen  Nacbmittagsausgabe  der  Donau-Zeitung ? 
P.  Felix  <verbirgt  das  von  drauBen  mitgebrachte  Blatt  im  Armel.  — Er  ist 


seltsam  blafi,  soweit  das  Gesicbt  nicbt  durch  den  Vollbart  bededrt  ist):  Es  ist 


alles  so  ungewifi  gehalten. 

P.  Edmundus:  Aber  die  Erwahnung  der  Tatsache,  daB  die  Frau 
auf  der  Hodizeitsreise  begriffen  war? 

P.  Felix:  Das  kann  ja  audi  eine  frivole  didhterisdie  Freiheit  des 
raffinierten  Feuilfetonisten  seinl 


P.  Edmundus  <mit  einem  plotzlidhen  Einfall):  Befanden  sidi  auBer  eudi 
etwa  nodi  hodizeitsreisende  Passagiere  an  Bord? 

P.  Felix  <schflttelt  stumm  mit  dem  Kopf), 

P.  Evaristus:  Wieviel  ist  ein  turkisdier  Piaster  indeutsdiem  Geld? 


P.  Bruno:  Frag'  dodi  lieber,  wieviel  eine  junge  Frau  — noth 
dazu  auf  ihrer  Hodizeitsreise  — Haare  auf  dem  Kopfe  tragt? 

P.  Felix  <mit  Absicbt  ein  venig  laut):  Die  W ahrsdieinlidikeit,  daB  es 
sidi  um  meine  Frau  handeln  konnte,  ist  deshalb  gleidi  Null,  weil 
ich  dodi  — auf  dem  Wege  fiber  meine  Sdiwiegereltern  — eher  etwas 
von  allem  erfahren  hatte  als  wie  diese  Korrespondenz  <er  deutet  auf 
das  andere,  noA  herumliegende  Zeitungsexeraplar),  die  diese  Provinzblattchen 
versorgt ! 

P.  Edmundus:  Das  kannst  du  nun  audi  wieder  nidit behaupten  — 

P.  Felix  fstutzt):  Wieso? 

P.  Edmundus:  Sogar  angenommen,  deine  Sdiwiegereltern  hatten 
dich  seit  Monaten  mit  Telegrammen  und  Briefen  bombardiert  — wer 
sagt  dir  denn,  ob  nidit  unser  Pater  Guardian  von  der  allerersten 
Zeile  an  von  unserm  Pater  Provinzial  a us  strengste  Weisung  hatte, 
es  dir  vorzuenthalten  ? — Das  ist  . . . die  Klausur!  — Wissen  die 


279 


HeinritB  Lautensadi  ■ Das  Gtf&Bdt 


Eltem  deiner  Frau  uberhaupt,  dafl  du  langst  nidit  mehr  in  Muncben 
bist,  sondem  hierher  auf  Maria-Hilf  versetzt? 

P.  Felix:  Das  wissen  sie  . . . nidit!  — Von  mir  aus  wenigstens 
nidit! 

P.  Edmundus  (wenn  audi  sehr  schweren  Herzens):  Na  also!  — Und 
vielleidit  war  der  Pater  Guardian  gar  deinetwegen  die  drei  Tag' 
in  Mundien! 

P.  Felix  (steht  cine  Weile  vollig  unschlGssig), 

P.  Edmundus  (liebevoll  dringend):  Wir  wollen  nodi  ein  bisserl  im 
Garten  drunten  auf  und  abgehn.  — Komm! 

P.  Felix  (entsdilossen) : Idi  will  zum  Pater  Guardian.  — Er  ist  doth 
zuruck  — ? 

P.  Edmundus:  Der  Pater  Guardian  wird  mude  von  der  Reise 
sein,  daB  er  nidit  von  selber  langst  herein'kommen  is'. 

P.  Oswald  US  (der  seit  mehreren  Minuten  sdion  den  Zeitungsartikel  brocken- 
weise  ein  zweites  Mai  vorliest,  erhebt  seine  Stimme,  als  er  eben  bei  dieser  Stelle 

anlangt):  >Aber  hatten  sie  so  viele  andere  arabische  Scbeiks  vorher 
nidit  gesdienkt  gemodit...<  Hm.  Sollte  die  Frau  so  absdieulidi 
sein  oder  was  — ? 

P.  Konradus:  Nein.  Aber  standhaft  war  sie  wohl,  solange  es 
irgend  ging.  Standhaft  zur  We  hr  wird  sie  sidi  g'setzt  hab'n,  so  daB 
keiner  mit  ihr  so  recht  was  anz'fangen  g'wuBt  hat  und  sie  einer  um 
den  andern,  sdiliefllich  uberdrussig  geworden,  immer  an  den  nachsten 
we  iter  zum  Prasent  madite. 

<Er  spradi  das  anscheinend  harm  (os.  So  gar  mit  einem  gewissen  Ernst,  )a  Pathos. 

Woftlr  ihm  die  andern  mit  unterdrudrtem  Ladien  danken.) 

P.  Edmundus  <zu  P.  Felix):  Komm'  doth! 

P.  Felix  (reiBt  siefa  zusammen,  soldatisch  fast,  und  dann  gemadit  laut):  Gute 

Nadht,  Herr  Bezirksgeometer.  Bis  morgen  fruh.  Schlafen  Sie  gut.  Und 
traumen  Sie  ein  wengerl  von  Ihrer  Frau! 

Pfaffinger  (steht  auf,  Ergreift  P.  Felix'  Hand  und  h2lt  sie  sehr  fest.  Wie 
ein  Ertrinkender) : Sie  sind  so  gut  zu  mir  g'wes'n.  Und  jetz'  hab'  ich 
eine  soldie  Unruhe  fiber  Sie  bringen  mfissen! 

P.  Felix:  Hat  nidits  zu  sagen,  Herr  Bezirksgeometer.  Nein  — 
wirklich ! 

Pfaffinger:  Hat  dodi  etwas  zu  sagen,  HodiwOrden  Herr  Pater 


HtinriS  Lautensadt  • Das  GtlUbdt 


280 


Felix!  — Denn  sdion  der  Gedanke  daran  — und  venn's  hundert- 
mal  die  Frau  von  einem  ganz  andem  ist  und  gar  nidit  Ihre  eigene! 
— aber  sdion  der  Gedanke  daran:  unter  Muselmannern!  — Unter 
Muselmannern!!  — In  deren  Augen  ein  jedes  veiblidie  Wesen 
ein  Mensch  zweiter  Klasse  ist!  Dabei  vermag  sich  so  ein  Mo- 
hammedaner  sein  Para  dies  hinvlederum  uberhaupt  nicht  anders 
vorzustellen  als  voll  lauter  holdseliger  Huris!  Voll  Huris!  Was 
ist  das  dodi  fur  ein  Widersprudi! 

P.  Felix  <mad»t'»  Nun  also  — gute  Nadht! 

P.  Edmundus:  Gu'  Nacbt,  Herr  Bezirksgeotneter ! 

P.  Edmundus  und  P.  Felix  <ab>. 

<Stflle.> 

Pfaffinger:  Na?  Dann  verd'  icb  midi  eben  audi  dem  heidnisdien 
Morpheus  in  die  Arme  werfen.  <Zu  sidi  selbcr.  Sdion  mchr  im  Sdilaf.) 

P.  Oswaldus  (ausbreAend) : Lieber  — lieber  — lieber  sah'  idi  ihn 
gradaus  morgen  in  aller  Fruh'  sdion  als  Heiligen  Vater  auf  St.  Petri 
Stuhl  in  Rom  — eh'  idi  ihm  das  vergonnen  modit'  — eh'  idi  ihm 

das  vergonn' 

(Vorhang.) 


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HeinricB  Lautensadi  ♦ Das  Gefutde 


281 


ZWEITER  AUFZUG 

Das  Amtszimmer  des  Pater  Guardian. 

Regale  vol!  Akten  und  Butbern.  Betstubl.  Heiligenbilder.  Scbreibmastbine 

und  Telephon. 

Vormittagssonne,  von  vrelcber  der  diesem  Maria-Hilf  gegenuberliegendc 

St.  Georgsberg  mit  der  Straffeste  Oberhaus  erglanzt. 

ERSTER  AUFTRITT 

PP.  Burkhardus  Guardian  und  Edmundus.  Gegen  Ende:  Frater  Max. 

P.  Guardian  <der  soeben  zum  vlerten  Male  eine  telephonische  Verbindung 
mit  dem  Hotel  Batauer  Wolf  anstrengte/  mit  dem  Amt  sprechend):  Wie?  <Aber 
dann  nicfat  im  mindesten  wutend.  Vielmehr  mit  einer  wahren  EngelsgeduJd) : So? 

Besetzt ! 

P.  Edmundus  <sitzt  in  einer  Edce  und  liest  sein  Brevier). 

P.  Guardian  <sein Auf- und Abgehen  fortsetzend  und  dabei  weitererzahlend . . . 
So  recbt  von  einer  Reise  zuruck.  Voll  noth  von  seinen  Erlebnissen):  Dieses 

Innerarabien  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  nodi  vollig  unerforsdrt. 
So  war  unserm  lieben  Bruder  Felix  seine  Frau  Gemahlin  also  der 
erste  Europaer,  der  den  FuD  aus  diesem  dunkelsten  alter  Erdteile 
. . . gludtlicb  . . . gliiddich  wieder  herausgesetzt  hat.  Denn  auf  ahnliche 
Art  und  Weise  gewaltsam  hineinversdileppt  worden  zu  sein:  dieses 
Schidtsal  mogen  bereits  vor  ihr  weldie  erlitten  haben.  — Bei  dem 
letzten  arabischen  Stamm,  bei  dem  sie  an  die  dreieinhalb  Jahr'  auf- 
gehalten  war,  hat  sie  ubrigens  etwas  wie  die  Wurde  eines  weib- 
lichen  Sdieiks  bekleidet.  Blofi,  dafl  sie  aufierdem  eben  auch  nur  wieder 
»die  weifie  Trophae«  war,  wie  sie  sie  nannten,  und  weldien  Namen 
ein  Stamm  vom  andern  mit  ihr  ubernommen  hatte. 

P.  Edmundus  <aber  wciterlesend) : >Die  weiBe  Trophaec? 

P.  Guardian:  »Die  weiBe  Trophae«.  Ja.  Dabei  ...  dabei  ist  sie 
nach  unsern  abendlandischen  Begriffen  heute  nodi  so  braun  wie 
Bronze!  Alles,  was  ihr  gestern  abend  in  der  Zeitung  iiber  sie  ge- 
lesen  habt,  ist  auf  das  parteipolitischste  entstellt.  Sie  hat  sich  gestern, 
wie  wir  zusammen  von  Alt-Oetling  hieherfuhren,  nodi  maBlos  dar- 
uber  geargert.  Als  ob  sie  nur  ein  — wenn  audi  recht  widerhaariger  — 
aber  eben  doth  nur  ein  ...  ein  ...  ein  .. . ein  Betlhase  gewesen 
ware  — ! Sie:  die  Generalmajorstochter  — geborene  von  Ruchti  — 


282 


HtinricB  Lautensack  • Das  GefUBde 


vereheliAte  Grafin  von  Hilgartsberg  — ! Naturlidi  hatte  sie  auA 

— milde  ausgedruckt  — HaremspfliAten.  HaremspfliAten. 

P.  Edmundus  <aber  weiterlesend) : HaremspfliAten ! 

P.  Guardian:  HaremspfliAten.  — Das  hinderte  aber  niAt,  daB 
die  braunen  BursAen  sie  gleiAzeitig  ais  einen  weibliAen  Bis  mar  A 
oder  Cecil  Rhodes  verehrten!  Und  gerade  deshalb,  weil  sie  unter 
jenen  ewig  kriegerisAen  Leuten  von  modemer  Strategic  sowohl 
etwas  verstand,  als  auA  in  Friedenszeiten  ein  wenig  staatsreforma- 
torisA  zu  wirken  versuAte:  eben  deshalb  hat  der  letztcre  Haupt- 
ling  dann  auA  ein  so  rasendes  Losegeld  verlangt.  Und  siehst  du: 
weil  diese  TatsaAe  auA  unsem  deuts Aen , bislang  ja  noA  gemafligten 
FrauenreAtlerinnen  ciniges  Wasser  auf  ihre  Muhle  sein  kdnnte, 
darum  haben  die  Zeitungen  das  alles  vodig  totgesAwiegen  und  ver- 
breiten  lieber  diese  einzig  und  allein  naA  einem  arabisAen  Haremszelt 
duftende  GesAiAte!  (WQtcnd) : Dieses  ...  dieses  MarAen  aus  ...  aus 

— grob  gereAnet  — dreitausendundeiner  NaAt!  — Das  Regierungs- 
organ,  die  BayerisAe  Staatszeitung,  hat  diese  Legendc  am  allerersten 
aufgetisAt . . . und  so  AuAen's  naturliA  selbst  auA  unsere  Zentrums- 
blattl'n  naA!  <Stehcnbldbcnd> : Aber  i glaub  gar,  du  liest  in  dein'm 
Brevier,  wahrend  i’  dir  das  all's  erzahl'  — ? 

P.  Edmundus  <ohnc  aufzusehcn) : IA  lese  den  fur  heute  bestimmten 
AbsAnitt  aus  unserer  KirAengesAiAte.  — Das  . . . das  . . . das  ver- 
leiht  mir  immerhin  ein  wenig  GegengewiAt ! 

P.  Guardian  (stark  akzentuicrend) : Sie  hat  es  mir  selber  erzahlt: 
* Als  der  SAeik  einsah,  daB  niAts  miA  mehr  bei  ihnen  halten  kdnnte . . . 
als  es  mir  naA  unsagliAen  Anstrengungen  gelungen  war,  Qber  den 
deutsAen  Konsul  in  Aden  die  turkisAe  Regierung  zu  benaAriAtigen 
und  endliA,  endliA  die  Unterhandlungen  eingeleitet  wurden  — : da 
forderten  sie  das  Losegeld  in  einer  solAen  niAt  auszudenkenden 
Hohe,  um  mir  auf  ihre  Art  zu  beweisen,  wie  unendliA  wert  iA 
ihnen  geworden  war!«  Eine  eAt  morgenlandisAe  Auffassung  von 
Kavaliertum!  Aber  das  war  dann  wieder  niAt  unsympathisA  von 
den  Herren  Muselmannem : als  endliA  der  eine  von  den  funf  Brfldem 
der  Grafin  mit  nur  einem  einzigen  Regierungsvertreter  in  seiner  aus 
eigenen  Mitteln  zusammengeworbenen,  ziemliA  militarisAen  Kara- 
wane  ankam,  um  seine  SA wester  abzuholen,  da  wollten  die  W listen- 


HeinriS  Lautensadi  • Das  GeCuBde  283 

sohne  nicht  einmal  eine  Summe  in  einer  Hohe  von  ihm  annehmen, 
wie  man  sie  fur  eine  dreieinhalbjahrige  Pension  hier  bei  uns  im 
Okzident  selbst  in  jeder  kleineren  Stadt  uberall  hatte  bezahlen  mussen ! 
Im  Gegenteil : man  fiberhaufte  die  Scheidende  mit  Absdiiedsgesdienken, 
und  sie  scbleppte  wohl  zwanzigmal  mehr  Gepack  mit  in  ihre  Heimat, 
als  sie  einst  auf  ihre  ausgedehnte  Hochzeitsreise  um  die  ganze  Welt 
mitgenommen  hatte!  Wenn  man  ihren  eigenen  Angaben  glauben  will, 
— - und  sie  will  ja  auch  das  meiste  Mitgebrachte  bayerischen  Museen 
uberweisen,  — so  muB  ihr  Zug  dann  zuruck  durch  die  Wuste  an- 
nahernd  dem  der  Konigin  von  Saba  geglichen  haben!  <Und  da  aber 

geht  cr  ans  Tefephon  und  lautet,  und  es  meldet  sith  auch  sofort  das  Amt):  Bitte 

schon...  Vielleicht  gelingt's  uns  jetzt  endlich/  zum  funften  Male... 
Ich  mothte  die  Nummer  vom  Hotel  Batauer  Wolf  . . . Numero 
sieb'nzehn/  ganz  recht  . . . Es  wird  namlich  nachgerade  auBerst 
dringend  . . . 

<StilIe.  Dann) : 

P.  Guardian:  Wie?  — Also  ...  is'  dort  der  Batauer  Wolf?  — 
Hier  Pater  Guardian  vom  Kloster  Maria-Hilf.  Ich  modite  die  gnadigste 
Frau  Grafin  von  Hilgartsberg  sprechen.  Ja  — ja  — eben  die  Dame, 
die  idt  gestern  abend  zu  Ihnen  ins  Hotel  'bracht  hab'.  1st  sie  schon 
auf?  Nun,  das  will  ich  meinen!  Ich  danke  schon  — ja,  ja  — ich 
warte  hier  solange  am  Apparat  — 

(Wieder  Stille.) 

P.  Guardian:  WeiBt  du  net,  ob  dieser  alte  Herr  Bezirksgeo- 
meter  Pfaffinger  bereits  aufg'stand'n  is'? 

P.  Edmundus  <immer  wdterlesend) : Nein  ..  . 

P.  Guardian  <behalt  den  Horer  am  Ohr,  aber  bededst  die  Sprecbmuscfael 
mit  der  Hand.  Und  unwillkQrlicb  leiser  als  zuvor):  Ihr  erster  Gang,  kaum 

daB  sie  mit  ihrem  Bruder  in  Munchen  bei  ihren  Eltem  angekommen 
war  ...  ihr  allererster  Gang  war  ...  zum  Zahnarzt  — ! Das  glitzt 
nur  so  von  lauter  Goldplomben  in  ihrem  Mund!  - — Ich  weiB  das 
von  ihrem  Bruder,  der  gestern  mit  in  Alt-Oetting  g'wes'n  is',  daB 
sie  nicht  eher  unter  die  Leute  — ja,  nicht  einmal  zu  ihren  nachsten 
Verwandten  zu  bringen  war,  als  bis  daB  ihr  GebiB  wieder  tadellos 

in  Ordnung  — <Er  horcht.) 

P.  Edmundus  <unterm  Lesen) : Schonheitspflege  . . . 

is  vol  m/i 


284 


P.  Guardian  <rifrig>:  Sie  ist  schon!  Wie  ich  sie  zum  erstenmal 
sah,  da  dacht'  ich:  den  Mund  voiler  lauter  Goldklumpdien  hatte  ihr 
wohl  einer  ihrer  arabisthen  Hauptlinge  — und  set's  unter  Anwen- 
dung  von  Gewalt!  — anfertigen  lassen.  — Na  ja  — mir  war  doth 
so,  a!s  hatt'  ich  einmal  gelesen,  daft  sich  schon  die  alten  Agypter  auf 
die  Kunst  des  Zahnplombierens  verstanden  hatten  — <Er  horcbt  wieder.) 

P.  Bdmundus  <l5dieJt>:  Hm.  (Aber  liest  writer.) 

P.  Guardian:  In  unserm  Kloster  in  Mundien,  in  das  unser  lieber 
Bruder  Felix  seinerzeit  eingetreten  ist,  da  ist  die  Grafin  vergangenen 
Samstag  in  Begleitung  eines  Gerichtsvollziehers  erschienen  — (Aber 

da  mill)  er  rasdi  die  vorhaltende  Hand  von  der  Sprechmuschef  nehmen):  Ja,  hier 

Pater  Guardian.  — Gnadigste  Frau  Grafin  selbst?  — Guten  Morgen, 
gnadigste  Frau  Grafin!  Wie  steht  Ihr  wertes  Befinden?  (MitfQhlend) : 
Das  kann  ich  sehr  wohl  verstehen!  Wie?  (Nickend):  Ja,  ich  lasse  Ihren 
Herrn  Gemahl  zu  mir  kommen,  sowie  er  fertig  mit  Messelesen  ist. 
<Gelaut  drauBen) : Soeben  lautet's  bereits  heilige  Wandlung.  <Er  be- 

kreuzigt  si<b  und  sdilagt  drrimal  an  die  Brust.  P.  Edmundus  flbrigens  desgtridicn. 

— Sodann):  Konnen  gnadigste  Frau  Grafin  das  Glockenzeichen  nicht 
durdt  den  Draht  hindurdh  horen?  <Bedauernd>:  Ad»  ja,  hier  sind  ja 
die  Fenster  zu.  <S<bflttelnd> : Nein,  nein/  Ihr  Herr  Gemahl  weifi  nodi 
von  nidits.  Nein.  <Freudig  biiligend):  Das  will  ich  meinen!  Also  — 
bitte  — bitte  sehr  — idi  bitte  recht  sehr auf  Wiedersehen. 

<Er  hordit  nodi  etwas  und  sagt  dann,  eh'  er  den  Hdrer  abnimmt  und  anhangt) : 

Schlufi  . . . 

(Wieder  kurzes  Gelaute.  Die  beiden  scblagen  wieder  dreimat  an  die  Brust  und 

bekreuzigen  sitb.) 

P.  Edmundus  <zutiefst  von  innen  heraus  und  aufstehend  dabei):  Idi  bin 

seinerzeit  beim  Bruder  Felix  seinem  ersten  heiligen  MeOopfer  dabei- 
g'wes'n ...  ich  war'  zu  gern  auch  bei  diesem  seinem  — seinem  letzten 
zugegeng'wes'n  — ! 

P.  Guardian  <mit  Bestimmtheit):  Ich  habe  dich  dazu  ausersehen, 
Bruder  Edmundus,  die  Grafin  zu  empfangen.  Sie  hat  mir  ubrigens 
grad  g'sagt,  es  ware  nicht  eins  von  den  beiden  Mietsautos,  die's 
drunten  in  der  Stadt  gibt,  aufzutreiben.  Sie  will  mit  einem  Zwei- 
spanner  heraufkommen. 

P.  Edmundus  <in  der  Nahe  eines  Fensters):  Aber  . . . was  hast  du 


285 


Heinri<£  Lautensadi  • Das  GefuBde 

**  +*  *******  ******  **********  ******************************************************************************************************************* 

g'sagt?  Sie  war'  in  unserm  Munchener  Kloster  in  Begleitung  eines 
Gerichtsvollziehers  — ? 

P.  Guardian:  Ja.  — <Lustig>:  Aber  — wohlgemerkt  — erst,  nach- 
dem  sie  sich  die  Zahne  vollstandig  plombieren  hatte  lassen!  <Wieder 
crnster):  Nun  — als  das  uberhaupt  erste  Lebenszeichen  von  da 
drunten  irgendwie  durdi  den  deutschen  Konsul  oder  was  weiB  idi 
zu  ihren  Eltern  nach  Munchen  gelangte,  da  erfuhren  wir  vom  Kloster 
noch  kein  Sterbensworterl  von  allem.  Und  der  Bruder  der  Grafin 
befand  sidi  langsl  sdion  in  Konstantinopel  oder  wo,  a!s  der  Herr 
Generalmajor  es  endlich  fur  notwendig  eraditete,  ein  paar  wenige 
Zeilen  an  seinen  Schwiegersohn  zu  riditen,  die  man  aber  unserer- 
seits  fur  eine  pure  Mystifikation  gehalten  hat.  Eine  sehr  . . . sehr 
geraume  Zeit  darauf  kamen  Telegramme  von  der  Grafin  selbst  von 
da  drunten  irgendwo  an  ihren  Mann  per  Adresse  Kapuzinerkloster 
Munchen  — und  diese  Depeschen  beforderte  der  Herr  Pater  Guardian 
in  Munchen  sogleich  an  den  Pater  Provinzial  in  Alt-Oetting.  Kurz  und 
gut : nadidem  all  die  Depeschiererei  nidits  gefruditet  hatte  und  selbst 
dann  nodi  nidit  die  mindeste  Antwort  vorlag,  als  die  Grafin  bereits 
in  Mundien  eingetroffen  war  — da  ging  sie  von  ihrer  letzten  Sitzung 
beim  Zahnarzt  stante  pede  zu  Geridit.  Sie  beantragte  eine  Fesu 
stellungsklage  gegen  unsern  Orden/  eine  Klage  auf  Wiederherstellung 
der  Ehe  gegen  ihren  Gemahl/  und  drangte  auf  — zumindest  — 
eine  einstweilige  Verfugung.  Und  da  sie  ja  erstens  einmal  eine  nidit 
einmal  so  weit  entfernte  Nichte  des  bayeriscfien  Justizministers  ist  und 
zweitens  niemand  von  unserm  Orden  auf  eine  noch  so  eilige  Ladung 
reagiert  hatte,  so  fuhrte  man  irgendeinen  ganzlidi  uberflussigen  Ge« 
richtsbeschlufi  herbei  und  gab  ihr  obendrein  noch  einen  GerichtsvolF 
zieher  mit  auf  den  Weg.  Sie  dachte  ubrigens,  noch  als  sie  in  Neu~ 
Oetting  ankam,  ihr  Mann  wiirde  von  unsern  Oberen  irgendwie 
mittelalterlich  festgehalten  . . . umso  grofier  war  ihre  Verw  underung, 
wie  ich  ihr  sogleich  auf'm  Bahnhof  g'sagt  hab:  ,Er  weiB  uber» 
haupt  no'  vo'  nix!‘ 

P.  Edmundus:  Seit  wann  ...  weiBt  du  davon? 

P.  Guardian  <(a&elnd>:  Seit  ...  dreizehn  Monaten! 

P.  Edmundus  <soviel  wie  mogiich  an  sick  haltend):  Das  is'  wahrhaftig 
ein  Stuck  Mittelalter  von  euch  g'wes'n,  die  Klausur  in  bezug  auf 


286 


HfinriS  Lautensad  • Das  Ge&bdt 


sol  die  Briefe  oder  Depesdien  so  peinlidi  streng  gehandhabt  zu 

wissen  — 

P.  Guardian:  Der  Pater  Provinzial  wollte  — und  das  war  sein 
gutes  Recht!  — den  Lebend-Beweis  angetreten  sehen  ...  das  heiBt: 
die  Graft n sollte  mit  leidit  zu  besdiaffenden  Papieren  selbst  kommen, 
und  dann  hatte  sie  ihren  Mann  in  derselbigen  Viertelstunde  in  aller 
Gfite  ausgeliefert  erhalten!  Und  auBerdem  hab'n  wir  unsem  lieben 
Bruder  Felix  auf  die  Art  vor  einem  langen,  bangen  Herwarten 
versdiont  — bis  er  eben  vor  der  vollendeten  Tatsathe  zu  stehen 
vermag! 

P.  Edmundus:  Idi  glaub'  aber  eher,  daB  sidi  Bruder  Felix  lieber 
langsam  darauf  vorbereitet  hatte  — 

P.  Guardian:  Nein!  Sondem  der  war'  auf  die  erste  unverbQrg- 
teste  Nachrkht  bin  mit  dem  nadisten  Blitzzug  nadi  der  Turkei 
'nunterg'saust  — wie  du  audi  in  seinem  Fall  — und  so  wie  idi  — 
und  wie  ein  jeder!  — So  lebte  er  in  seinem  Gottesfrieden  weiter... 
bis  sie  nun  kommt  und  sidi'n  holt ...  Idi  dadite  ubrigens,  sie  ware 
unbesdireiblidi  glfidriidi  daruber,  daB  sidi  alles  derart  gefugt  hat,  daB 
sie  ihren  Mann  die  ganzen  neun  Jahre  fiber  als  in  einem  Kloster 
aufg'hob'n  g'wes'n  vorfindet.  Wo  sie  ihn  dodi  uberhaupt's  tot 
glauben  muBte,  bis  ihr  Bruder  mit  der  Freudenbotsdiaft  kam:  er  lebt! 
Aber  mir  sdieint  im  Gegenteil,  wie  wenn's  ihr  lieber  g'wes'n  war', 
er  hatt'  sidi  ...  ein  zweit's  Mai  verheiratet.  Na  ja  — unberecfaen- 
bar  wie  so  Frauen  eben  sind . . . 

P.  Edmundus  (denkt  erst  fiber  das  Gehorte  nadi.  Dann):  Idi  glaub', 
ich  kann's  versteh'n  — 

P.  Guardian  <oberrasd»t) : Was? 

P.  Edmundus:  Nun,  eben  dieses  WunschgefQhl  ihrerseits,  daB 
ihr  Mann  annahemd  so  etwas  erlebt  haben  modite,  als  wie  sie 
selber  zur  Genuge  und  fiber  Genuge  durdigemadit  hat.  Sie  mddite 
lieber,  daB  ihr  Mann  wenigstens  einmal  mit  einer  andern  verheiratet 
g'wes'n  war  — wo  sie,  wenn  audi  gezwungenermaBen,  mit  so  viel 
andern  Mannem  — . <Er  befreit  sicfa  von  dem  Gedanken) : Jede  zweite  Ehe 

ihres  Mannes,  denkt  sie,  war'  ja  In  dem  Augenblick  dodi  ungfiltig, 
in  weldiem  sie  als  erste  Frau  wieder  auf  der  Bildfladie  ersdieint. 

P.  Guardian:  Aber  ...  aber  ...  und  wenn  sie  mit  ganz  Arabien 


HeinricB  Lautensadi  • Das  Gef&6de 


in  dieser  Zwischenzeit  — gezwungenermafien ! — etwas  g'habt  hatt', 
so  ware  das  immer  dodi  nur  purste  force  majeure  g'wes’n,  und  ihre 
Ehe  wurde  vor  jedem  deutschen  Richter  nichtsdestoweniger  als  immer 
nodi  zu  Redit  bestehend  anerkannt  werden  — uber  diesen  Punkt 
hat  sie  sich  wohlweislidi  ebenfalls  zuvor  genau  erkundigt! 

P.  Edmundus:  Immerhin  ergibt  sich  fur  mich  daraus,  dab  sie  ein 
lebendigeres  Gefuhl  fur  diesen  Zwiespalt  hat,  als  wie  der  Riditer, 
der  nadi  dem  toten  Budistaben  des  Gesetzes  urteilt:  sie  fuhlt  sich 
sdiuldiger,  als  wie  sie  die  Meinung  aller  andern  halt! 

Frater  Max  <tritt  ein.  Unter  GlockengelSute) : Die  Messe  ist  aus. 

P.  Guardian:  Hast  du's  ihm  scfaon  ausg'richt’t? 

Frater  Max:  Herr  Pater  Felix  geht  soeben  in  die  Sakristei. 

P.  Guardian:  Dann  aber  lauf'.  Max! 

Frater  Max  <ab>. 

P.  Guardian:  Ja  also lieber  Bruder  Edmundus,  du  begibst 

didi  am  g'scheit'sten  sogleich  auf  dein'n  Beobaditungsposten.  Kannst 
ruhig  audi  dort  dein  Brevier  weitefles'n.  Und  — sowie  du  den 
ersten  Zweispanner  die  Strafi'n  herauf  erblidcst  ...  ein  Auto,  hat 

sie  g'sagt,  war  ja  nicht  aufzutreib'n  ...  <Er  geht  mit  P.  Edmundus  zun» 
andern  — bis  her  nodi  nicht  benutzten  — Ausgang.)  W ie  gsagt : der  erste  Ein* 
spanner  — oder  Zweispanner . . . <Sie  sind  an  der  TQr.>  Bruder  Edmundus, 
tut's  dir  denn  gar  so  sehr  weh,  deinen  Freund  Felix  verlieren  zu  mussen? 

P.  Edmundus  <steht  im  Rahraen  derTQr  — in  der  Rlditung  sum  Ausgang  — 

also  mit  dem  Rfldken  zum  Zuschauer.  Er  antwortet  nicht.  Aber  da  zudcen  seine 
Sdiuftern  ein  paarmai,  and  man  hort  ein  lelses  Schlucbzen  — nur  ein  einziges  — 
und  er  faBt  nach  der  Hand  des  P.  Guardian  und  drOckt  sie  fest,  ohne  sich  noch 
einmal  umzukehren,  und  geht  hinaus). 

ZWEITER  AUFTRITT 

P.  Guardian.  Bald  darauf:  P.  Felix.  Zwischenein:  Frater  Max. 

P.  Guardian  <ist  zu  einem  Betstuhl  gegangen,  der  auch  hierherinnen  nicht 
fehfen  mag,  und  hat  sich  hingekniet  und  srirkt  nun,  wie  er  ein  stilles  Gehet  mit 
hochgefalteten  HSnden  betet,  wie  die  Abbildung  eines  KlosterheiUgen.  Dodb  da 
hort  er  etwen  kommen  und  steht  auf)- 

Frater  Max  <erscheint  mit  Kaffee  in  schonem  Porzellan,  mit  Br8tchen, 
Butter,  Honig  und  Marmelade.  Stellt's  auf  einen  Nebentisch  und  sagt):  Ich  hab’ 

Frater  Michael  nach  der  Sakristei  geschicfct.  <Und  geht  wieder.) 


288 


Heinri<6  Lautensadi  • Das  GefuSde 


P.  Guardian  <dem  es  jetzt  erst  einfallt,  nach  nodi  etwas  zu  fragcn,  ruftnadb): 
Max!  <Aber  cr  resigniert  eigentlich  unterm  Rufen  sdion.  Und  in  der  Tat:  er  bleibt 
ungehort.) 

<StiIIe.) 

P.  Felix  <tritt  ein>. 

P.  Guardian  <schncidet  ihm  jede  Anrede  ab>:  Hast  du  nix  g/hort 
ist  der  Bezirksgeometer  Pfaffinger  sdton  aufg'stand'n?  <Und  geht  ihm 
nun  entgegen  und  gibt  ihm  die  Hand):  Ja  also  — du  sollst  dein/n  Kaffee 
hier  bei  mir  trink7n.  <Und  beinah'  fuhrt  er  ihn  wie  einen  Knaben  zum  Neben- 

tisch):  So  . . . 

P.  Felix  (setzt  sidi  aber  nicht,  sondern  gieBt  sidi  stehend  Kaffee  aus  der  Kanne 
in  die  Tasse  und  tut  auch  weder  Mildi  no<h  Zucker  dazu,  sondern  trinkt  das  so 


heiB  wie  es  ist  in  einem  einzigen  Zuge  aus. 


Sodann):  Du  hast 


• « 


diese 


Nadiricht  da  in'n  Zeitungen  . . . naturliefi  ebenfalls  bereits  g'les'n? 

P.  Guardian:  Sdion  vorgestem.  In  Alt-Oetting.  Aber  genau  die 
gleidie  Notiz.  Sie  geht  durch  alle  moglicben  Blatter. 

P.  Felix:  Und  . . . amiisiert  . . . ! Was?  Anders,  als  wie  nur 
eine  blofie  Anekdote.  Sie  geht  einen  irgendwie  an,  meint  man,  nidit? 
Man  wird  wider  Willen  irgendwie  mit  hineingezogen,  ja?  Eben  sehr 
g'sdiickt  g'madit,  net  wahr?  Oder . . . oder  hast  du  dem  Zeugs  etwa 
audi  nur  einen  Aug'nblick  weitere . . . na  ja,  auf  midi  bezuglidie  Be- 
deutung  beig'legt? 

P.  Guardian:  I'  hab's  selbst  net  g'fund'n.  I'  bi'  eig'ns  drauf  hi'* 
g'wies'n  wor'n.  Durdi  Pater  Willibald  — Auwarter,  glaub'  i',  sdhreibt 
er  si'.  Du  kennst'n.  Ihr  zwei  seid's  mitsamm'  eingekleidet  wor'n.  Und 
der  nun  hat  sogleidi  an  didi  denken  mussen,  wie  er's  g'les'n  hat. 
Und  es  hat  ihm  einfadi  kei'  Ruh'  mehr  g'lass'n. 


P.  Felix:  Genau  so  hat  sidi  bei  mir  nun  einmal 


seit  dem 


gestrig'n  Ab'nd  — dergleichen  in'n  Kopf  g'setzt.  <Er  gieBt  si*  wieder 
ein  und  trinkt.)  Dafi  es  vielleicht  doth  moglidi  sein  konnte  — ! Mit 
ein'm  Mai  hat  da  etwas  ang'fangen,  sidi  rein  wie  auszukristallisier'n 
. . . idi  kann's  net  anders  nennen  ...  <Er  setzt  die  Tasse  klirrend  hin.) 
Denn  . . . das  mufit  du  dodi  selber  sag'n  . . .:  Kann  die  Klausur 
nidit  ausnahmsweise  einmal  so  streng  gehandhabt  wer'n,  dafl  es 
wirklidi  moglidi  sein  konnte,  dafi  mir  zum  Beispiel  nun  einfadi  alle 

diesbeziiglidi'n  Briefe  oder  Telegramme  seit  Monaten  vorenthalten 
wurden  ? 


Heinrich  Lautensach  • Das  Gef&Bde  289 


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P.  Guardian:  Ausnahmsweise?  — Das  heiBt:  in  einem  beson- 
dercn  Fall?  — Na  naturlidi! 

P.  Felix:  ...  Oder  aber:  mein  Sdiwiegervater  hatte  es  bis  jetzt 
nocb  nidit  fur  notig  befunden,  midi  audi  nur  das  geringste  davon 
wiss'n  zu  lass'n! 

P.  Guardian:  Hm. 

P.  Felix:  ...  Oder  diese  dritie  Moglidikeit:  meine  Frau  selber 
wuBte  langst,  daB  idi  gleidifalls  damals  mit  dem  Leben  davon'kommen 
bin.  Nur ...  sie  wurde  sidi  einfadi  nidit  im  mindesten  mehr  um 
midi  kummern. 

P,  Guardian:  Oh!  Da  konntest  du  aber  fein  auf  Wiederher- 
stellung  der  ehelichen  Gemeinsdiaft  klag'n! 

P.  Felix  <sdiweigt  eine  Weile.  Dann>:  Ja  also  . . . das  ist's,  was  idl 
von  dir  erfahren  wollte.  Meine  Vorbereitung  auf  den  Priesterstand 
ist  damals  — nidit  zuletzt  auf  meine  eigene  Bitte  — ziemlidi  eilig  be* 
trieben  wor'n.  left  war  — idi  hab'  audi  danadi  gebuffelt!  — in  nodi 
nidit  zwei  Jahr'n  ausgeweihL  Durfte  midi  unser  Orden  nun  auf  keinen 
Fall  langer  einbehalten,  falls  — nur  bloB  angenommen!  — meine 
Frau  plotzlicb  wieder  z'rudtkame  und  mich  ausdriiddidi  fordern  wurde? 

P.  Guardian:  Nein.  Da  durfte  didi  unser  Orden  auf  gar  keinen 
Fall  audi  nur  eine  Minute  langer  einbehalten. 

P.  Felix  <liBt  siefa  niefats  anmerken,  sondern  schweigt  nur  einen  AugenbUdt. 

Sodann) : Namlich . . . Bruder  Edmundus  und  idh  hab'n  gestem  abend 
noth  uber  dicsen  Punkt  g'sprodi'n  und ...  idi  war  zu  wenig  unter- 
riditet  . . . 

P.  Guardian:  Hat  Bruder  Edmundus  gestem  abend  nicht  audi 
fast  in  einem  fort  nodi  in  didi  hineingeredet,  du  sollst  gleidi  heut' 
in  aller  Fruh'  ein  Telegramm  nadi  MOndien  aufgeb'n  oder  besser 
nodi  deinen  Sthwiegervater  direkt  antelephonier'n? 

P.  Felix:  Ja...  aber  wie  wurde  das  aussehn!  <Fest>:  Nein! 

P.  Guardian:  Namlidi...  eben  war  Bruder  Edmundus  nodi  ein- 
mal  hier  bei  mir:  — wenn  du  nidit  wolltest,  sollte  idi  es  aus  eig'ner 
Initiative  tun! 

P.  Felix:  Und...  du  hast's  getan? 

P.  Guardian:  Sowas  wurd'  idi  mir  ohne  deine  Einwilligung  nie- 
mals  erlaubt  hab'n! 


290 


Heinrid  Lauttnsadi  • Das  GttUBde 


P.  Felix:  Idi...  danke  dir... 

(Btsher  sprach  und  dachte  er  nidit  ohne  etoigen  ROdchalt : dafi  dun  dor  Pater 
superior  vlelldcht  dodi  irgendetoe  Erfiffnung  macben  wQrde.  Nun  aber  vergeht  ihm 
diese  Erwartung,  die  soviet  HofEnung  als  Befartbtung  in  sidi  barg,  and  er  wird 

offener  und  gibt  mehr  von  seinen  Gedanken  her):  Bin  wenig  Unruhe  <er 
gieBt  sidi  nodi  einmal  ein  und  trtokt's  wihrend  des  Polgenden)  hat  mir  diese 

gestrige  Zeitungsnotiz  aber  doth  verursadit:  Das  geb'  ith  zu. 

P.  Guardian  <etwas  sdiarf):  Das  gibst  du  also  zu? 

P.  Felix:  Aber  nidit  wie  du  etwa  denkst. . . nidit  dab  kh  dadite, 
dab  diese  Frau  da  gerade  meine  Frau  sein  mflbte.  Nur  blob:  wenn 
das  dieser  irgendweldien  Frau  da,  von  der  gestem  in  der  Zeitung 
zu  les'n  war,  widerfahren  sein  konnte:  ja  warum  denn  dann  der 
meinig'n  net  ebensogut  — ?! 

P.  Guardian:  Ah  so.  Und...  dab  die  deinige  vielleicht  heut'  no' 
da  drunten  sdimaditet  — ?!  <Steht  auf):  Und  so  hast  du  didi  g'fragt, 
ob  du  nidit  vielleidit  heut'  nodi  hinunterreis'n  sollst  in  d'  TOrkei  und 
nadi  ihr  forsdi'n? 

P.  Felix  (adrfhtelt  — mehrere  Male  — ganz  langsam  mit  dem  Kopf):  Nadi 
ihr  forsdi'n?  Das  kam'  heut...  bei  meiner  Frau...  viel  z'spat  Es 
ist  eine  Frau  anders  wie  die  andere.  Bs  ist  nidit  jede  Frau  so  als 
wie  diese  da.  Es  ware  nidit  jede  so  kurzsichtig,  in  ihrer  bloben  end- 
lichen  Befreiung  eine  ausreichende  Genugtuung  fur  so  viele  Jahre 
Schmaditen  in  Sklaverei  zu  sehen ! Es  gibt  solche  und  solche  Frauen. 

Diese  Frau  da  <er  zleht  die  Zeitung  aus  seinem  Armel  hervor,  schlagt  die  be- 
wuBte  Stelle  auf  und  klatscht  das  Ganze  veriidbttidi  auf  den  Tisdi)  ist  vielleicht 

geneigt  zu  glauben,  das  Phantom  einer  endlichen  Befreiung  konnt' 
die  Tatsache  einer  achtjahrigen  Sklaverei  vollig  ungeschehen  machen! 
Wie  wenn  uberhaupt's  gar  nix  g'wes'n  war  — ! <Er  halt  far  eine  Heine 
Welle  tone  xind  spricht  dann  erst  welter):  Die  meinige  . . . die  hatt'  sidi 
auf'm  Weg  vom  ersten  Scheik  bereits  zum  zweiten ...  an  ihren  eig'nen 
Haaren ...  an  einer  Kamelleine  . . . oder  an  einer  Zeltschnur  . . . 
erwQrgt!! 

P.  Guardian  (starrt  ihn  ratios  an). 

P.  Felix:  . . . erdrosselt!! 

P.  Guardian:  So  glaubst...  du?! 

P.  Felix  <unersdiQtterIicfa) : J a.  — Und  siehst  du,  B ruder  Burkhardus 


HwinriS  Lauttnsadi  • Das  Gef&Sdt  291 


. . . daB  es  mit  dem  alleinigen  Tode  des  Ertrinkens,  den  sic  doch 
unbedingt  vor  Augen  gehabt  hatte,  fur  sie  vielleicht  nid»t  genug 
gewesen  sein  sollte  — daB  das  Meer  sie  nodi  einmai  lebend  aus- 
warf,  um  daB  sie  dann,  kaum  erst  gerettet,  in  nod)  viel  unbarm- 
herzigerer  Weise  gar  Hand  an  sid)  selber  legen  muBte:  Siehst  du, 
Bruder  Burkhardus,  daruber  hab'  ich  fast  kein  Auge  zutun  konnen 
diese  ganze  Nacht. 

<Er  zittcrt  — vie  ein  Pfcrd  — aber  scion  brim  bloBen  Ermessen  der  Strccke,  die 
er  so  oft  and  oft  darchlief  und  nun  nidit  mehr  erkennt,  rin  soldi'  grausiges  Ziel 

bat  sicb  ibm  fiber  eine  Nacbt  anfgebaut) : DaB  id)  sie  zweiTode  hinter* 
einander  sterben  lieB  — <Aber  nidit  herausgescbrien,  sondern  wie  von 

unertrfigiichen  Listen  fiber  ibm  und  in  ihm  erpreBt.) 

P.  Guardian  (entsetzt):  Du  — ?!  <Fa6t  sicb  wieder):  Was  hast  du 
getan  — ? <Im  Ton  ermutigenden  und  hocbricbtenden  Zusprucfas):  Was  red'st 

du  da  — ? Felix  — ! 

P.  Felix  {bart,  bekenneriscb) : DaB  id)  auf  die  Art  doppelt  scbuld 
an  ihretn  Tode  bin. 

P.  Guardian  <es  treibt  ihn  hocb.  Er  geht  zu  ibm>:  Bruder  Felix  — 

P.  Felix  <voll  ebensoldier  Antriinahme / versicbernd) : Es  weiB  es  nie» 
mand.  Keiner  weiB  es.  Gar  keiner  . . . gar  niemand  . . , AuBer  dem 
Pater  Guardian  in  Munch en,  dem  idi's  einst  gebeiditet  hab . . . <Mit 
scbmerzlicber  Sribstironie) : Aber  beruhige  did)  dod) ...  Id)  hab'  meine 
Frau  nicht  etwa  vom  Leben  zum  Tode  befordert  — so  — mit  der 
geballten  Faust . . . Es  war  viel  heimlicher  — und  unheimlicher . . . 
es  is'  viel  hinterlistiger  g'wes'n  — viel  feiger  . . . Es  war  vielmehr 
auf  eine  Art,  wie  sie  in  keinem  Strafgesetzbud)  vorg'seh'n  is' . . . 
Kein  weldicher  Richter  hatt'  mi'  lang  ang'hort,  wenn  ich  mit  meiner 
Selbstanldag'  zu  ihm  'kommen  war' . . . Nur  uns're  geistlichen  Ober'n 

hab'n  mi'  verstand'n  . . . Es  war  namlich Mord  — so  — in 

Gedanken  — <Weh>:  Ja,  da  schaugst',  was? 

P.  Guardian:  Lieber  Bruder  Felix  — 

P.  Felix  <mit  wie  nach  innen  gericbteten  Augen):  ...  I'  weiB  net,  WO  i 

war,  wie  unser  Schiff  den  StoB  . . . den  TodesstoB  empfangen  hat, 
den  wir  alle  langst  unabwendbar  vor  uns  g'seh'n  hab'n.  Wir  war'n 
allemiteinander  langst  alarmiert  g'wes'n/  es  war'n  lauter  kleine  ver- 
zweifelte  Gruppen  von  Zusammengehdrigen/  und  am  allerverzwei- 


292 


Hetnri<£  Lautensadi  • Das  GefuBde 


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. / . y . . «44.  4.. 


feltsten  hat  sidi  meine  Frau  an  micfa  'klammert  g'habt.  Y weiB,  wie 
g'sagt,  net,  wo  Ich  in  dem  Augenbiidt  der  GewiBheit  des  Unter- 
gangs  g'wes'n  bin,  i'  weiB  bloB,  daB  i'  da  nimmer  bei  meiner  Frau 
g'wes'n  bin  . . . daB  i'  ihr  davo'g'Iauf'n  war.  Und  !<fi  hab'  midi  audi 
spater  nur  erinnern  kdnnen,  daB  ich  da  grad  ein  Gelubde  getan 
hab' . . . aber  weldier  Art  freilich,  das  kann  ich  nicht  sag'n.  Vielleicht 
ein  Gelubde,  ein  ganz  bestimmtes/  vielleicht  aber  audi  ffinfzig  in 
einem  einzigen  Atem/  vielleicht  sogar  hundert.  — Jedenfalls  lafit 
sich  fiber  die  Notwendigkeit  eines  Gelfibdes  in  einem  solchen  Augen- 
blidc  streiten,  und  es  war  einfach  schon  feige  von  mir,  daB  ich  in 
meiner  Todesangst  ein  Gelubde  getan  hab' . . . oder  hundert . . . 
oder  tausend,  statt  in  dem  Augenbiidt  bei  meiner  Frau  zu  sein  . . . 
Dann  horte  ich  mit  einem  Mai:  »Die  Frauen  und  Kinder  in  die 
Rettungsboote . . !«  Ich  lief  und  lief.  Ich  lief,  getrieben  von  dem  plotz* 
lichen  SchuldbewuBtsein,  daB  meine  Frau  ohne  midi  niemals  in  ein 
solches  Boot  gehen  wurde.  Ich  lief  — hdrst  du?  — , um  meine  Frau 
in  ein  solches  Boot  hineinzuzwingen  eventuell.  Aber  bei  diesem 
Gedanken  angekommen,  teilte  sich's  in  mir  schon  wieder.  Ich  sah 
zwei  deutlidi  verschiedene  Moglichkeiten , wenn  ich  meine  Frau  in 
das  Rettungsboot  zu  anderen  Frauen  hineinzwang.  Ich  sah  die  eine 
Moglichkeit,  daB  sie  auf  die  Art  mit  dem  Leben  davonkame.  Aber 
mir  tauschte  sich  audi  — vielleicht  gleichzeitig  — die  andere  Mog* 
lichkeit  vor,  dafi  ich  meine  Frau  dadurch  loswfirde  und  mich  dann 
allein...  selber  ...  besser  zu  retten  vermdchte.  — <Er  1st  mit  seinem 
Urteil  fiber  sich  fertig):  Na,  und  wer  als  Mann  solche  Gedanken 
gegenuber  einer  Frau  aufzubringen  vermag  — 

P.  Guardian:  Aber  Bruder  Felix,  du  zerstorst  dich  ja  mit  diesem 
unvemunftigen  Klugeln  — ! Eine  solche  Zwiegeteiltheit  hat  jeder  von 
uns,  wofern  er  nur  einmal  in  einer  soldi'  lebensgefahrlichen  Situa- 
tion war,  schon  verspurt.  Das  ist  ja  gar  keine  Gedankensunde,  sondem 
das  sind  blofie  . . . blode . . . auBerste ...  bis  zum  Auflersten  irritierte 
Spiele  des  Selbsterhaltungstriebs.  Das  ist  doch  kein  sGedankenmordc. 

P.  Felix:  Ah  — du!  — Jeder  ungebildete  Matrose  tut  in  diesem 
Augenbiidt  rein  — ganz  unverfalscht  — das,  was  einzig  eines  Mannes 
wfirdig  ist.  Und  aber  ich  — ein  koniglich  bayerischer  Offizier  — unter- 
lag  derlei  unwurdigsten  Versuchungen.  — Ein  jeder  Schiflsjunge 


HeinriS  LautensacB  • Das  GefuBde 


293 


kriegt's  wohl  sdion  eingelemt,  was  er  im  Augenblick  einer  solchen 
Gefahr...  ganz  medianisdi . . . zu  tun  hat:  namlidi  die  Frauen  und 
Kinder  zuerst  in  die  rettenden  Boote  zu  lassen.  Aber  idi  — idi  mufi 
es  heute  wenigstens  nachtraglidi  annehmen  — ich  hab'  von  Anfang 
an  unbewufit  mit  dem  verbrecherisdien  Gedanken  gespielt,  weldie 
Vorteile  sidi  fur  midi  daraus  ergaben.  — Ja,  idi  werd'  es  dir  be- 
weisen,  Bruder  Burkhardus,  daB  idi  langst  zuvor  eine  ganze  Reihe 
von  Verbredien,  von  Gedankenverbredien,  von  Gefuhlsverbrechen, 
wenigstens  unbewufit,  sdion  begangen  haben  muflte. 

P.  Guardian  <der  immer  mehr  erleicbtert  aussieht  von  seiner  anfinglich  ge- 

hegten  Furdit):  Idi  bin  wirklidh  begierig  — auf  den  »Beweisc. 

P.  Felix:  ...Wie  idi  horte,  das  Boot  mit  den  Frauen  und  Kin- 
dern  — es  konnte  nur  ein  einzig's  abgelassen  werden  — sei  soeben 
fort,  da  siegte  das  bessere  • Gefflhl  in  mir  und  idi  wunsdite  ihnen 
von  Herzen  glucklidie  Fahrt.  Aber  das  war  vielleidit  audi  nur 
wieder  aus  reiner  Heudielei,  aus  purem  Vor  - mir  - selber  -sdion-da- 
stehen-wollen,  weil  idi  namlidi  nodi  mitten  in  der  Todesgefahr 
schwebte,  ja  weil  sie  fur  midi  nun  erst  eigentlidi  riditig  anging.  — 
In  diesen  voraussidhtlidi  allerletzten  Augenblick en  meines  Lebens  — 
ja!  — da  war  idi  »gut« ! war  idi  keines  bosen  Gedankens  mehr 
fahig!  wunsdite  idi  der  bereits  Davongekommenen  keinen  Tod  mehr 
nach!  war  keine  Spur  von  Neid  mehr  in  mir  daruber,  dafi  die  viel- 
leidit gerettet  wurden Idi  sprang  dann  selbst  ins  Wasser . . . 

und  rang  und  rang ...  idi  wurde  mude . . . wurde  muder  und  muder 
und...  ich  darf  wohl  sagen:  ich  sdilief  auf  den  Wellen  ein,  so 
ohne  Arges  einem  jeden  andem  zu  wunschen,  wie  ein  kleines 
Kind  — . Aber  wie  ich  dann,  aufs  Land  ausgeworfen,  aufgewacht 
bin  — wie  ich  midi  besann  — midi  dem  Tode  entronnen  fand  — 
neu  das  Leben  in  mir  spurte  — : da  hab'  idi  nidit  bloB  so  im  all— 
gemeinen  uber  alle  andem  triumphiert,  die  sidierlich  ertrunken  waren, 
sondem  im  besondem  audi  iiber  meine  Frau,  namlidi,  daB  ich  diese 
so  bald  wieder  nach  unserer  Hochzeit  los  und  ledig  sein 
sollte  — . Nidit  so  ausgesprodien  zwar.  Nicfat  so  ganz  mit  diesen 
Worten.  Aber  dem  Sinn  nach  war's  jedenfalls  genau  dasselbe.  — 
Und  wie  idi  dann  in  Aden  erfahr'n  hab',  idi  war',  abg'sehn  von 
zwei  Matrosen,  tatsadilidi  der  einzig'  gerettete  Passagier:  wieder  ein 


294 


HeinriS  Lautensadi  • Das  GefUBde 


paar  aussetzende  Herzschlage  lang  dieser  Jubel  in  mir  — dieser 
Wunsch,  dafi  es  so  sei  — diese...  ich  kann's  net  anders  sag'n  als 
wie...  scblimmer  nodi  als  wie  morderische  Sensation:  Idi  bin  der 
Einzige,  der  davon'kommen  ist  — Magst  du  mir  auch  deine  Freund- 
schaft  aufkundig'n:  icfa  hab's  dir  sagen  muss'n,  Bruder  Burkhardus. 

P.  Guardian:  Ich  seh  darin  immer  den  Mord  nodi  nidit,  dessen 
du  dich  bezichtigst. 

P.  Felix  <s*ler  grimmig):  Dann  werd'  ich  eben  nodi  deutlidier 
werden  mussen:  wie  damals  in  meiner  Beicht'  zum  Munchner  Pater 
Guardian.  — Idi  hab'  mir  spater,  wie  sidi  endlich  das  Gewissen  in 
mir  meldete,  alles  rekonstruiert,  was  bereits  wahrend  unserer 
dreizehn  Tage  Flitterwochen  in  mir  g'wes'n  war  und  gesturmt 
hat te,  eh'  dann  das  Sdiiff  unterging.  — Ich  bin  zutiefst  — im  Aller- 
innersten  — nie  glOddidi  g'wes'n  uber  meine  Heirat.  Nie  selig,  wie's 
so  die  Flitterwochen  verlangen.  Ich  bin  in  meincm  Unterbewufitsein 
sicher  schon  am  Morgen  nach  der  Hochzeitsnacht  zu  dieser  schauder- 
haften  Einsidit  gekommen,  da6  sich  in  mir  alles  emporte  gegen  diese 
Institution  der  Ehe.  — Im  Unterbewufitsein,  wohlverstanden . . . Na, 
und  wie  besonders  erst  gegen  diese  ganz  entsetzliche  Elnrichtung 
einer  sogenannten  Hochzeitsreise ! Na,  und  unsere  Hochzeitsreise 
sollte  ja  noch  dazu  gieich  eine  Reise  um  die  ganze  Welt  sein. 

P.  Guardian:  Das  ist  auch  ein  bisserl  eine  lange  Hochzeitsreise 
so  gieich  um  die  ganze  Welt...  (MiBbilligend.) 

P.  Felix:  Ich  hatte  erstens  einmal  einen  so  langen  Urlaub  be- 
kommen,  weil  ich  im  Dienst  mit  dem  Motorrad  Ungluck  gehabt  hatte. 


Und  zweitens  sollte  es 


auf  militarischen  Befehl 


zugleich  eine 


Studienreise  sein/  das  heifit,  ich  sollte  bei  meiner  Ruckkehr  einen 
ausfuhrlichen  dienstlichen  Bericht  mitbringen. 

P.  Guardian:  So  so.  Na  ja.  Aber...  (dozierend  s*ier>:  eine  Reise 
um  die  ganze  Welt  ist  genau  auf  Tag,  genauer:  auf  Stunde,  ja 
genauestens:  auf  Minute  ausgerechnet  von  der  untemehmenden 
Schifiahrtsgesellschaft . . . nicht?  Und  da  man  ein  Gieidies  niemals  mit 
einer  Hochzeitsreise  tun  soil,  so  soli  man  sich  eben  als  Hochzeits- 
reise niemals  eine  Reise  um  die  ganze  Welt  vomehmen! 

P.  Felix  (grObelnd  zugebend):  Dazu  der  unerhorte  Luxus . . . in  alien 
Hotels...  und  wie  erst  auf'm  Schiff...  <Leise>:  Und  alles  das  auch 


295 


HeinriS  Lautensadi  * Das  GefuBde 

nodi  vom  angeheirateten  Geld  meiner  Frau . . . Ja  also,  idi  glaub', 

idi  fiab'  sie  gehafit  — icb  wunschte  ihr  sdion  damals  den  Tod 

unbewufit Und  erst  nadi  d£r  Sdiiffskatastrophe,  und  nadi- 

dem  sicb  endlidi  mein  Gewissen  regte,  kam's  mir  zum  Bewufitsein. 

P.  Guardian:  Und  diese  Beidit'  da  hat  der  Pater  Guardian  in 
Mundien  von  dir  ang'nommen? 

P.  Felix:  Und  hat  midi  absolviert,  indem  er  midi  nodi  dazu  ge~ 
segnet  hat,  daB  idi  infolge  von  alien  meinen  Gewissensbissen  den 
fur  mich  einzig  moglidien  W eg  gesucht  und  gefunden  habe:  namlidi 
den  ins  Kloster. 

P,  Guardian  <immer  erregter  — zurudtgehalten  emporter) : Du  bist  also 
ins  Kloster  'gangen,  ’weil  didi  dein  inneres  Benehmen  zu  deiner 
Frau  so  sehr  bedruckt  hat,  als  wie  wenn  du  sie  gradaus  ermordet 
hattest?! 

P.  Felix:  Ja.  Und  nidit  etwa,  weil  idi  damals  auf  dem  SdiifF  in 
hodister  Todesgefahr  irgendwie  ein  Gelubde  getan  hab'.  — Denn 
das  haben  unsere  Oberen  nur  so  unter  unsere  Bruder  ausgestreut, 
dafi  idi  ins  Kloster  gegangen  war',  weil  idi  damals  auf  dem  Sdiiff 
zu  Gott  gebetet  hatte:  »LaB  midi  mit  dem  Leben  davonkommen 
und  idi  will  kunftig  ganz  und  gar  dein  Diener  sein.c 

P.  Guardian  <nach  rinigen  Sekunden  Nachdenkcns) : Du  weiBt,  Bruder 
Felix,  dafi  idi  midi  einigermafien  mit  Psychologic  beschaftige. 

P.  Felix:  Ja. 

P.  Guardian:  Wenn  idi  dir's  nun  sdhwarz  auf  weifi  zeigen 
konnte,  dafi  man  in  der  Psychologie  soldi  seltsame  »Todes* 
wunsdie«,  wie  sie  genannt  werden,  langst  kennt  und  ihnen  aber 
bei  weitem  nicht  die  Bedeutung  zumifit,  die  du  ihnen  untergelegt 
hast  — ?!  Wenn  idi  didi  nun  erst,  lieber  Bruder  Felix,  ganz  und 
gar  freispredien  konnte  von  dieser  deiner  vermeintlidien  ver* 
bredierisdien  Tat  — ?!  Nicfats  weiter  als  ein  Assoziations* 
zwang  ist  das  auf  der  Hodizeitsreise  von  dir  g'wes'n  — !! 
Weiter  nix  — !! 

P.  Felix  <sdiuttelt  sturam  den  Kopf). 

P.  Guardian:  »Wenn  der  Bergsteiger  mit  einem  Begleiter  auf 
steiler  Hohe  steht  und  in  die  jah  abstiirzende  Tiefe  hinabsdiaut,  so 
kann  er  haufig  den  Gedanken  nidit  bannen,  mit  einer  Beruhrung, 


296 


HeinriS  Lauttttsad  • Das  G*(&6<ft 


der  man  die  Absicht  kaum  anzumerken  brauchte,  den  Genossen  in 

den  Abgrund  ZU  StoCen . . .*■  <Dai  zitiot  er  — mit  *ehr  viel  bayerizAer 
Klangfarbe  — von  einem  AmtsgeriAtsrat  Dr.  EriA  Wuifen.  Und  writer):  »Es 

handelt  sich  hierbei  um  eine  meist  blitzartig  aufleuditende  Vor- 

steliung,  die  sidi  zum  unbewuflten  oder  bewufiten  Wunsdi  nidit 

immer  verdichtet . . .«  <Mit  erhobener  Stlmme):  »Aber  so  zwingend  kann 

diese  Gedankenverbindung  auftreten,  dafl  der  Freund  neben  dem 

Freund . . . , der  Gatte  neben  der  Gatlin . . . , der  Sohn  neben  dem 

Vater  die  Vorstellung  nidit  auszusdialten  vermag.  Ja,  es  werden 

Falie  beriditet,  daB  Bhegatten  auf  der  Hodizeitsreise  diesem 

Assoziationszwange  beiderseitig  — beiderseitig!  — unter* 


lagen. 


Und  das  nennst  du  SGnde,  Bruder  Felix?  Und  de$ 


wegen  bist  du  hier?? 

P.  Felix:  Leg's  nodi  einmal  so  wissensdiaftlicb  aus:  es  bleibt 
Sflnde.  Bleibt  Todsunde.  Es  1st  Mord.  Und  deswegen  bin  idi  hier 
und  bu6e. 

P.  Guardian:  Frei  fuhlen  sollst  du  dich  von  dieser  vermeint- 
lidien  Scbuld!  Laut  ausschrei'n  modit'  idi  diese  deine  vollige  Un- 
sdiuld!  — Auf  der  Hodizeitsreise  einen  einmal  gehegten  selt- 


samen  Todeswunsdi,  den  sdireibt  er 


er  naditraglidi  in  das 


schwarzeste  Budi  und  will  dafur  ein  Leben  lang  bflBen 


1 


Ja' 


weiBt  du  denn,  wie  oft  vielleidit  deine  Frau  neben  dir  g'leg'n  is' 
in  den  dreizehn  Tagen  — denselbigen  Gedanken  unbewufit  hegcnd 
und  ihn  dann  mit  einem  gesunden  Verlangen  nadi  einer  neuerlidien 
Umarmung  einfadi  abtdtend?  — <Er  empfindet  gar  niAt,  daB  cr  damit 
sAier  vcrrit,  daB  er  Ae  Frau  kennt  !>  — Aber  idi  geh'  SOgar  nodi  einen 


Sdiritt  weiter. 


Dieser  einfache  selfsame  »Todeswunsdi«,  den  du 


da  hegtest,  entstand  aus  weiter  nix  als  aus  deinem  SelbsterhaU 
tungstrieb!  Durdi  die  Hodizeit  sahst  du  didi  als  Individuum  ge- 
fahrdet.  Die  Flitterwodien  kamen  dir  sdiwindelnder  vor  nodi  als  wie 
der  hodiste  Berg  und  der  gahnendste  Abgrund.  So  glaub'  mir  doth 
ein  wenig,  der  idi  ein  bisserl  was  davon  versteh'!  — Und  daher 
der  Assoziationszwang — ! — <Klagend>:  Ja,  warum  hast  du  midi 
denn  net  fruher  in  dieses  dein  vermeintlidies  Verbredien  eingeweiht — ? ! 

<Er  sieht  siA  um.  Als  ob  er  erwaAte.  Er  sAaut  auf  die  Uhr.  Er  kehrt  wie  zuruck 
zu  der  TatsaAe,  daB  der  Zweispinner  mit  der  Grlfin  langst  auf  dem  Weg  srir 


HeinriS  Lautensad  • Das  Gef&Bde 


297 

t**************  * *+*+*0*0*****+*w0*+*+0*+*+*++w***++*0***4m0*+*am*9****sm**mm****+9+*+s*m*+*++s*s*****4*s* ****** 

kann  — langst  auf  dem  Weg  sein  mufi!):  Und  heute  nadit  — nadi  dieser 
gestrigen  Zeitungsnotiz  — hast  du  didi  neu  gefoltert  — hast  dir 
dieses  Bild  gemalt,  dafi  deine  Frau,  wenn  ihr  Ahnliches  begegnet 
ware  als  wie  der  da  in  der  Zeitung,  . . . dab  die  sidi  dann  an  ihren 
eigenen  Haaren  erwurgt  hatte. 

P.  Felix  <stanv  unbeugsam):  Erdross'lt. Auf  dem  Weg  vom 

ersten  Scheik  bereits  zum  zweit'n.  — An  ihren  eig'nen  Haar'n  — 
an  einer  Kamelleine  — oder  an  einer  Zeltsdinur. 

P.  Guardian:  Und  selbst  dieses  hast  du  heut'  die  ganze  Nadit 
nur  wieder  auf  Konto  deines  einstmalig'n  seltsamen  Todeswunsches 
setzen  zu  mussen  geglaubt. 

P.  Felix:  Ja.  Dafi,  wenn's  so  war,  wie's  da  steht,  ...dab  idi  sie 
dann  gar  zwei  Tode  hintereinander  erleiden  g'madit  hab. 

P.  Guardian:  Mit  andem  Worten:  Du  hast  dieses  unser  Kloster 
und  dein  Darinnensein  fur  nidits  als  ein  freiwilliges  Gefangnis 
angesehn — ?! 

P.  Felix:  Man  soil  doch  das  Kloster  nidit  mit  ubeln  Monisten- 
traumen  verwediseln.  Sondern  ein  jeder  von  uns  begab  sidi  irgend- 
wie  hinter  diese  Mauern,  um  Irdisches  zu  stihnen  und  sidi  dadurdi 
einst  Himmlisdies  zu  verdienen. 

<Da:  Ein  Auto  hupt.  Ganz  nah.  Fast  umnittclbar  untcr  den  geschlossenen  Fenstern. 
Es  muB  also  drunten  im  Klosterhof  sein/  muB  durch  das  stets  offene  Tor  dieser 
groBen  Wallfahrtsstatte  hereingekommen  sein,  und  die  beiden  Patres  haben  es  nur 
nidht  hereinfahren  horen,  dieweil,  wie  gesagt,  die  Fenster  geschlossen  waren.  — 

Aber  nun  hupt  es  geradezu  aufdringlidi.) 

P.  Guardian  <no<h  immer  ahnungslos):  Das  mussen  Fremde  sein. — 

Abcr  denen  wer'  ich^S  zeigen ! <Er  geht  an  das  eine  Fenster.  Offnet.  Stutzt 
aber  wahrend  des  OfFnens  schon.  Und  tritt  dann  schnell  zuruck.  Stammelnd): 

Allmaditiger  Gotr — ! 

(Man  hdrt  drunten  eine  Frauenstimme  rufen.  Es  ist  die  der  Grafin  Helmtrudis): 

*Horst!« 

P.  Felix:  Wer  rief  da? 

P,  Guardian  <zu  Felix,  auf  dessen  Stelle  weisend,  fast  wie  zu  einem  Hund): 

Du  bleibst  dort! 

P.  Felix:  Lafi  mi'  ans  Fenster! 

(Wieder  Frauenstimme):  *Horst!c 


HeinridS  Lauttnsad  • Das  GtfaSd* 


P.  Felix:  T h5r'  aber . . . tnein'n  Namen!  <Er  admit  in  plstztt&cr 

tranmhafter  Erkmntnii  anf.  Wte  ete  Tier.) 

(Fraucnztimme  antwor tet) : »Horst!  — Horst!* 

P.  Felix  <zu  einem  viehUdicn  Sprung  anaetzend):  Lieber  B ruder  Burk- 
hard  us  — 

(Fraoenztimme) : »Horst!< 

P.  Guardian  <die  Fenater  dec kend):  Du  bleibst,  sag'  i'  dir! 

<Frauenstinune> : »Horst!« 

P.  Felix  <eflt  anf  den  andern  zu/  rasend):  Meine  Frau  is's  — die 
tnlt'm  Auto  kommen  is'  — !! 

P.  Guardian  <den  Anapnmg  abprallen  madtend):  Na  also  — ja  — 

aber  sie  wollt'  mit  einem  Zweispinner  herauffahr'n. 

<Sk  iaaaen  vondnander  ab.  So  geknkfct  geateht  daa  eratena  eternal  der  Pater 
aupcrior,  and  ao  verrwdfelt  erkitegt  zwdtena  von  ncoem  die  Frauenatteune) : 

»Horst!  — Horst!* 

P.  Felix  <irr,  mit  den  Am  nen  fa<htelnd,  wte  dn  Brtrinkender,  wte  nor  bd 
jeocm  Sdiiffirantergang  im  Golf  von  Aden):  Frau  Grdfin  von  Hilgarts* 
berg  — 11!  (Und  er  hat  dte  Arme  writ  aasgeworfen,  wte  zmn  feterlichen  Bmp- 

fang,  and  dnen  Augenblid  Gber  sdnem  Kopf  zusammengehalten  — - gotisd*  — so 
wte  dn  Spitzbogenfenster.  Nan  sdil&gt  er  die  Hftnde  vor  die  Stirn  and  bedeckt 
dann  damit  sefn  Gesi<htr  and  es  dardudiOttelt  dm,  and  er  weint,  and  er  fitagt  in 
ganz  xbweren  Atemstftfien  zu  wdnen  an.  Sddodizt) 

P.  Guardian  Ohm  sttirzen  ebenfalls  dte  TrSnen  ans  den  Aagen):  Gott 

1st  mein  Zeuge,  daB  kb  dacbte,  es  wzire  nodi  Zeit,  um  es  dir  all* 
mahlicb  , • . schonend  beizubringen ...  Ich  mufite  ja  annebmen,  daB 
sie  wirklicb  mit  einem  Zweispanner  kommt . . ♦ Sie  bat's  mir  ja  vorhin 
nodi  telephoniert . . . 

P*  Felix  (gebt  ans  geftibete  Penster.  Man  h5rt  — aber  non  berths  im  Innern 
des  Haases:  »Horst!«  Und  zwar  das  crste  Mai  wte  herauf  aos  dem  Keller. 
Das  zwdte  and  dritte  Mai  auf  der  gewonden  emporfObrendca  Stiege  gedadit 

Das  dritte  Mai  — s<hon  nah  — den  bailenden  Korridor  her.) 

Pa  Guardian  <derwed  zu  P.  Felix  am  Penster):  Riditig  die  HSlfie  der 
Andacbtigen  durcb  den  L&rm  vom  Auterl  und  so  welter  aus  der 
Kirch'n  berausgelodct  — ! I<h  bin  dodi  dafQr  verantwortlidh  — !! 
<Br  sditebt  P.  Felix  sadite  zurfick  und  sdilteBt  das  Penster):  So  • • . 

(Man  b6rt  Raas<hen  von  einem  mondlnen  Fraaenrotk.  Man  b6rt  Trappsen 
aadi  von  zwd  M6nAssandaIen  aaf  (fen  Pliesen.  Die  Tflr  — vom  allgemdnen  Auf- 


Heinrich  Lautensack : • Das  Ge(&Bde 


299 


tritt  — offnet  sidh*  Man  unterscheidet  viellclAt  noch  ein  ehrerbietigcs) : »GnadigSte 

Frau  Grafin  . . .<  (welches  P.  Edmundus  sagt.  Sodann  stcht  im  Rahmen  der  TQr 
Grafin  Helmtrudis  von  Hilgartsberg.) 

DRITTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Grafin  Helmtrudis  von  Hilgartsbcrg.  P.  Edmundus. 

Grafin  Helmtrudis  von  Hilgartsberg  <scbreit  noch  einmal): 

Horst  — ! <Aber  das  schrie  sie  no<h,  ohne  ihren  Mann  gesehen  zu  haben.  Dann 

aber  gewahrt  sie  zwei  bartige  Monche  in  braunen  Kutten  und  erkennt  vorerst  nur 
den  P.  Guardian  und  orientiert  sich  gewissermaBen  an  ihm  wie  an  einem  Weg- 
weiser.  Also  soil  der  andere  wohl  ihr  Mann  sein  — *?  Und  da  erst  empfindet  sie 
das  ganze  tragische  Gewidit  dieses  Wiedersehens.  Sie  steht  wie  gebannt  und  spricht) : 

Auf  einen  soldi7  groflen  Vollbart  an  dir  war  idi  nidit  vorbereitet, 

— Wie  ein  fremder  Mann . Idi  hab'  didi  nur  immer  vor 

Augen  g'seh'n,  wie  du  als  Brautigam  warst.  Jetzt  kann  icb  mich  audi 
daran  nimmer  erinnern  — (Glaubig,  vertrauend):  Und  dodi  — — 

bist  du's. 

P.  Felix  (starrt):  Ja  — idi.  — <Die  Starrheit  lost  sich.  Mit  ungeheurcr 
Wildheit):  Aber  jetzt  gleicfa  sieben  auf  einmal  von  diesen  semU 
tischen  Sdiweinehunden  vor  meiner  Klinge  haben  — !!  <Das  war  im 

Kasernenton.  Und  er  steht  da  wie  ein  Sabelfedbter.  Und  die  Kutte  flattert.) 

Helmtrudis  (aufschreiend) : Du  bist's!!  <Daran  hat  sie  ihn  wieder- 

erkannt.  Das  schmeichelt  ihr.  Das  tut  ihr  wohl.  Das  offnet  allc  ihre  Schleusen  in 
ihrem  Innem.  Und  sie  fliegt  in  seine  Arme  und  kufit  seinen  Mund.  H&ngt  an 
seinen  Schultcm  und  kQfit,  wo  sie  nur  hintrifft.  Fafit  ihn  am  Kopf  und  kufit.  Biegt 
ihn  hintenuber  und  kQfit.  Liegt  auf  ihm  und  tfber  ihm  — sozusagen  — und  kufit. 
Und  kufit  alfemal,  wohin  sie  grad  mit  ihren  Lippen  trifft.) 

■<P.  Guardian  und  P.  Edmundus  haben  beim  ersten  Kufi  schon  gemacht,  dafi  sie 

fortkamen.) 

VIERTER  AUFTRITT 

Helmtrudis.  P.  Felix.  Ohne  P.  Guardian  und  P.  Edmundus. 

Helmtrudis  (sieht  sich  uni/  zieht  ihren  Geliebten  bis  zu  einem  Stuhl  und 
drangt  ihn,  Platz  zu  nehmen/  setzt  sich  dann  auf  seinen  Schofi  und  kQfit,  noch 
einmal  von  vome  anfangend.  Holt  sich  dann  einen  zweiten  Stuhl  herbei,  setzt  sich 
auf  diesen  ganz  nah  zu  ihrem  Mann,  biegt  seinen  Oberkorper  heruber-herunter 
und  kufit.  — Aber  alles  stumm,  ohne  etwa  zu  keuchen.  Stumm  yielmehr  so  wie 
eine  Arbeit  oder  ein  Geschaft,  und  mit  eben  demselben  Ernst . . . Schliefilich  be- 
freit  sich  P.  Felix  sachte  und  steht  auf  und  gcht  ziemlich  weit  von  ihr  weg.) 

20  Voi.  m/i 


300 


Heinrid  Lautensad  • Das  GefuSde 

Helmtrudis  (aber  nidit  girrend):  Du  hast  midi  nod)  kcin  einzig's 
Mai  wiedergekuBt!  <Sie  konstatiert's  hochstens  cin  wenig  verwundert,  — sie: 

die  ausgetrodcnet  ist  wie  Sand  in  der  WQste  und  hier  zu  ihrem  Quell  zurfldc- 
fand  — / aber  aucb  nidit  etwa  gleidi  die  Gestrenge  hervorkehrend.) 

P.  Felix  (ruhig) : Bedenke  das  Kleid,  das  id)  trage. 

Helmtrudis  <und  audi  hier  wieder  nur  Frau.  Aber  ohne  Pantoffel):  Den 
Bart  laBt  du  dir  heut'  nodi  abnehmen. 

P.  Felix  <zu«kt  zusammen). 

Helmtrudis  <so  vie  cben  eine  Dame  ihresgleidien) : Und  wir  bleiben 

heut',  morg'n  und  ubermorg'n  nodi  hier  in  Batau  im  Hotel  Wolf. 

— Denn  das  wirst  du  mir  wohl  zugeb'n,  daB  du  erst  wieder  einiger- 
maBen  reprasentierfahig  g'madit  wer'n  muBt . . . 

P.  Felix  <«tarrt). 

Helmtrudis  <ihn  immer  nodi  ansehend):  Was  icb  alles  Kapuziner 
in  den  letzten  Tagen  g'sehen  hab'  — ! (Sie  geht  wieder  zu  ihm  hin,  wie 
um  sidi  zu  vergewissern,  ob  er’s  aucb  sei.  HeiB  verlangcnd) : Kuss'  midi ! Du ! 

So  kuss'  midi  dodi ! Oder  . . . oder  hab'  icfa  mir  das  nidit  einiger* 

mafien  . . . verdient  — ?!  (Das  letztere  war  immerhin  wie  ein  Sdirei.) 

P.  Felix:  Denk'  dodi  an  mein  Gewand,  das  ich  immer  nodi  trag'. 
Helmtrudis  (ihn  ansehend.  Tief):  Entsdiuldige , bitte.  — Aber  ... 
selbst  nidit  ein  einziges  Wort  des  Bedauems  hast  du  bis  jetzt  fur 
midi  gefunden. 

P.  Felix  (wider  Willen  ein  wenig  strenger):  Es  sind  noch  keine  zehn 

Minuten  her,  daB  idi  erfahren  habe,  daB  du  mir  uberhaupt  nodi  lebst. — 
Also  sei  kein  kleines  Kind,  das  bedauert  sein  will.  — (Ebenso  wider- 
willig  nun  ein  wenig  weidner,  fast  zartliA):  Idi  freu'  mid)  nur idi  freu' 

midi,  Helmtrud fur  d idi wie  fur  einen  jeden  Menschen  — 

— und  aber  naturlidi  noch  viel  mehr  fur  dich.  — (Es  ist  da  eine  sdiier 
unendliche  Sdieu,  die  er  erst  bezwingen  mull.  Wie  zu  einem  Kind):  Na,  und 

— ja  — naturlidi naturlidi  bedauer'  idi  dich  auch  — 

Soweit  man  sidi  als  Mensdi  sowohl  freuen  als  in  diesem  Falle 

auch  bedauern  darf Gleidiwohl  muBt  du  bedenken,  daB 

Gott  dir  die  Prufung  schickte  — das  mussen  wir  alle  bedenken.  — 
(Und  jetzt  erst  reidit  er  ihr  die  Hand):  Nun  also  — — liebe  Helmtrud 
wie  geht's  dir  — ? 

Helmtrudis:  Ich  ...  danke  dir.  (Sie  drOckt  seine  Hand.  Kampft  ganz 


Heinricf)  Lautensadi  • Das  GefuBde 


301 


>/  ^>///  //^/  / ////  /////////////#/w  /////// /////  /////^# ///// ////#///////##///////  /////// 

siAtliA  dagegen  an,  mehr  zu  tun  oder  zu  verlangen,  das  ihr  gctan  werde/  kampft  an 
dagcgcn,  si  A ihm  an  den  Hals  zu  werfen  oder  umgefaBt  zu  wcrdcn.  Und  fangt 
nun  doA  zu  weincn  an.  PlotzliA.  Wie  cin  Fruhlingsregcn.) 

P.  Felix:  Seit  wann  ...  bist  du  zuruck  ...  von  da  drunten? 

Helmtrudis  <weint  noA  mchr.  Vcrbirgt  wcincnd  ihr  GesiAt). 

P.  Felix:  Bist  du  heute  morgen  erst  hierher  nadi  Batau  ge- 
kommen?  — Idi  . . . idi  . . . ich  . . . ich  weiB  dodi  nodi  von  gar 
nix  — ! 

Helmtrudis  (sicht  ihn  unter  hcllem  Weinen  an>:  Gestern  abend  . . . 
Von  Alt-Oetting  ...  Mit  deinem  Freund,  dem  Pater  Guardian  . . . 

<SAIuAzend.> 

P.  Felix:  So  so.  Gestern  abend  sdion.  Und  von  Alt-Oetting.  — 
Vom  Pater  Provinzial? 

Helmtrudis  (weint  niAt  linger,  sondern  suAt  viclmchr  die  Tranenspurcn 
zu  tiigen,  indem  sie  ins  geknOllte  TasAcntQAlcin  hauAt  und  es  dann  vor  ihre  Augen 

preBt) : Du  hast  nie  . . . nidit  eins  der  Telegramme  von  mir  be- 
kommen?! 

<Da  klopft's.) 

FQNFTER  AlIFTRITT 

Helmtrudis.  P.  Felix.  Frater  Max.  Bald  darauf  P.  Guardian. 

Felix:  Salve. 

Frater  Max  <trit t ein>:  Herr  Pater  Guardian 

P.  Felix  <weiA>:  Sag'  ihm.  Maxi,  wir  erwarten  den  Herrn  Pater 
Guardian. 

Frater  Max  <als  ob  er  jetzt  erst  erfuhre,  dafi  das  ein  Graf  ist  — mit  solAen 
Augen  ab.  Stille.  Eine  GIoAe  sAlagt). 

P.  Guardian  <kommt  zuruA):  Verehrteste  gnadigste  Frau  Grafin 

Sie  hab'n  ja  also  doth  noth  ein  Auterl  bekommen.  — <Zu 

P.  Felix):  Lieber  Bruder  Felix...  Idi  hab',  dab  deine  Frau  Gemahlin 
lebte,  vor  soviet  Monaten  sdion  erfahr'n  . . . Aber  ich  durlte  nidit 
spredien . . . Mir  war  nidit  weniger  Gehorsam  auferlegt,  als  wie  sie 
von  dir  verlangt  haben,  ohne  daB  du  uberhaupt's  was  g'wuBt  hast. 

P.  Felix  <forsAt  in  des  Andern  GesiAt):  Ich  versteh’,  lieber  Bruder 
Burkhardus.  — (Er  betont  diese  drei  Worte  der  Anrede.  Er  zumt  niAt.) 

P.  Guardian:  Und  nun,  Bruder  Felix,  es  ist  alles  bereit  fur  dich 
. ..zum  Umzieh'n . . . Bruder  Edmundus  erwartet  didi  in  deiner  Zelle 


r 


T 


Htinrid  Lautensadi  • Das  GefQ6cft 


. . . Deine  Frau  Gemahlin  und  ich  haben's  so  miteinander  besprodi'n, 
daB  dein  eigener  Anzug  von  vor  neun  Jahren  dir  doth  nicht  mehr 
passen  durfte  . . . Aber  er  ist  da/  er  ist  vom  Kloster  in  Mundien 
g'sdiickt  wor'n  . . . Nun  haben  deine  Frau  Gemahlin  und  ich  zu- 
sammen  einen  nadi  meinem  Mafi  gestern  noch  in  Alt-Oetting  ge* 
kauft  . . . 

P.  Felix:  ...  in  meiner  Zelle,  sagst  du war'  alles  — ? 

<P.  Felix  ist  bereits  im  Gehen.  P.  Guardian  geht  ein  paar  Schritte  mit.) 

P.  Guardian:  Ja,  Bruder  Felix <Er  bleibt  stehen,  wie  wenn  er 

nidit  weiterkSnnte.  Und  sdiier  ausbrecbend) : Bruder  — !! 

<Sie  reichen  sicfa  die  HSnde.) 

P.  Felix  <geht,  ohne  einen  Blick  auf  seine  Frau). 

SECHSTER  AUFTRITT 

Helmtrudis.  P.  Guardian.  Ohne  P.  Felix. 

P.  Guardian  <zu  Helmtrudis):  Ich  will  namlich,  daB  er  sich  erst  um- 
zieht,  eh'  er  Abschied  vpn  den  Brudem  nimmt ...  Es  ist  da,  wie 
idi  Ihnen,  gnadigste  Frau  Grafin,  schon  einmal  im  Vertrauen  sagte, 
eine  kleine  Parteienspaltung  . . . Einige  von  den  Brudern  — Gott 
mog'  es  ihnen  vergeben ! — wollten  ihm  in  ihren  Herzen  nie  so  recht 
wohl ...  V ielleidit  weg'n  seiner  hohen  Abstammupg . . . llmso  gludc- 
licher  schatzte  idi  midi  . . . schatzten  Pater  Edmundus  und  idi  uns, 
ihm  Freund  sein  zu  durfen  . . . 

Helmtrudis  <ihm  die  Hand  reidiend):  Idi  danke  Ihnen,  hochwurdiger 
Herr  Pater  Guardian. 

SIEBENTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Nacheinander:  P.  Konradus.  P.  Bruno.  P.  Osvaldus. 

P.  Evaristus.  Ein  wenig  spSter:  P.  Edmundus. 

P.  Konradus  <tritt  ein.  Sonor):  Gelobt  sei  Jesus  Christus, 

Helmtrudis:  In  alle  Ewigkeit,  Amen. 

P.  Bruno  <tritt  ein):  Gelobt  sei  Jesus  Christus. 

P.  Oswaldus  (tritt  ein):  Gelobt  sei  Jesus  Christus. 

P.  Evaristus  <tritt  ein):  Gelobt  sei  Jesus  Christus. 

<AlIe  drei  ein  wenig  gleicfareitig.  Mit  ihren  Stimmen  untereinandcrlautend.) 

Helmtrudis:  In  alle  Ewigkeit,  Amen  . . . 

P.  Guardian:  Gestatten  Sie,  gnadigste  Frau  Grafin  . . . <Er  stellt 


303 


HeinricS  Lautensadi  • Das  GeftiBde 


<vor:  Herr  Pater  Konrad  us  — Herr  Pater  Bruno  — Herr  Pater  Os- 

waldus  — Herr  Pater  Evaristus Frau  Grafin  von  Hilgartsberg, 

die  Gemahlin  unseres  lieben  — bisherigen  — Bruders  Felix. 

Helmtrudis  <neigt  das  Kopfchen). 

P.  Oswaldus  <rauspert  sich  erregt  unterm  Verbeugen). 

P.  Edmundus  <kommt  herein). 

P.  Guardian  <lieber  — zur  Vorslcht  — ncxh  einmal  miteinander  bekannt 

macbend) : Herr  Pater  Edmundus. 

Helmtrudis  <geht  auf  ihn  zu,  reicht  ihm  die  Hand  herziidi  und  schier  ein 
wenig  ostentativ):  Aber  wir  kennen  uns  ja  bereits.  — <Sie  sieht  ihm  in 
die  Augen):  Haben  Sie  nodi  einmal  Dank,  hochwfirdiger  Herr  Pater, 
fur  die  treue  Freundsdiaft,  die  Sie <Sie  vollendet  den  Satz  nidit) 

<PP.  Konradus,  Bruno,  Oswaldus  und  Evaristus:  die  sehen  angestrengt  weg.) 

P.  Guardian  <man  hat  den  glanzenden  Prediger  zu  merken,  nur  dab  er  hier 
schier  ein  biftchen  militarisch  spricfat):  Lieben  Brfider.  Von  einem  der  Unse- 
rigen  heifit's  Abscbied  nehmen.  Unerwartet  fur  Sie.  Unsere  Oberen 
haben  es  so  gewollt,  dafi  Sie  von  nidits  erfuhren,  was  seit  langem 
spielte.  Ja,  nidit  einmal  derjenige,  den's  am  meisten  anging!  Aber 
gerade  er  hat  Gehorsam  gehalten,  wie  er  gelobt.  Und  uns  kommt 
es  zu,  ein  Vorbild  zur  Nacheiferung  in  ihm  zu  sehen.  Und  idi  darf 
wohl  behaupten,  er  war  uns  uberhaupt  immer  ein  Vorbild  gewesen. 
Schon  allein  durdi  die  Art,  wie  ihn  Gott  zu  uns  hereinsdiickte  und 
ihn  all  die  Jahre  fiber  — in  Demut  — hier  mit  uns  leben  hiefi.  Der 
Herr  hat  ihn  uns  gegeben!  Der  Herr  hat  ihn  uns  nun  wieder  ge» 
nommen!  Der  Name  des  Herrn  sei  gelobt! 

P.  Edmundus  <ais  Einziger,  stark):  Amen. 

P.  Guardian  <sid>  umsehend):  Wo  1st  Pater  Rodius? 

P.  Felix  (tritt  ein). 

ACHTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  P.  Felix.  Bald  darauf:  P.  Rochas. 

P.  Felix  <wohl  noth  im  Bart.  Aber  im  Zivilanzug,  und  zwar  scheint  er  docfa 
seinen  eigenen  von  vor  neun  Jahren  angezogen  zu  haben,  der  ihm  aber  nun  nicht 
etwa  grotesk  zu  klein  sein  darf.  Sondero  er  muB  nur  einen  etwas  aus  der  Mode 
geratenen  Zuschnitt  — von  1904  — aufweisen/  dafflr  aber  typisch  fOr  einen  Offizier 
sein,  der  sicfa  — im  BegrifF,  eine  reiche  Ehe  einzugehen  — fOr  eine  ausgedehnte 
Hodizeitsrdse  equipiert...  Dazu  tr5gt  er  den  1913  grad  aufgekommenen  »Schiller- 
kragenc,  der  Hals  und  schier  aucfa  Brust  freilafit . . .) 


304  HtittriS  Lauttnsadi  • Das  GeftlBde 


Helmtrudis  <sd>reit  auf>:  Ich  kenn'  doA  den  Anzug  — ! Von  da- 
mals  — ! Vom  SAiffsuntergang  — ! Das  Einzige,  was  du  gerettet 
hast  — ! Den  hast  du  ang'habt  — ! 

P.  Felix  <geniert  fast.  Zu  seiner  Frau  und  zu  P.  Guardian) : Den  ihr  zwei 

gestem  in  Alt-Oetting  fur  miA  gekauft  habt <Er  is&elt.  Zu  P. 

Guardian):  Verzeih,  lieber  Bruder  Burkhardus (Und  wieder  zu 

seiner  Frau):  Und  er  paflt  mir  ja  auA  no  A. 

P.  Guardian:  Den  SAillerkragen , den  neumodisAen,  den  hab' 

aber  iA  niAt  gewahlt,  — <Er  sagte  das : feicht  humorist isd>  protestierend.)  — 

Das  war  SaAe  deiner  Frau.  — Ja,  den  hat  sie  sAon  aus  MunAen 

mitgebraAt.  — <Heiter):  Zumal einen  sol  A heidnisAen,  ja  bei- 

nah'  siindigen  Kragen,  den  hatten  wir  ja  auA  in  dem  ganzen  frommen 
Wallfahrtsort  Alt-Oetting  auf  gar  keinen  Fall  fur  diA  bekommen. 
P.  Felix  (sinnend):  Er  sAeint  mir  ja  selber  auA  ein  bisserl  zu  »frei«. 
Helmtrudis  <versd>Smt.  ErglQhend.  Braut):  Ja,  aber  . , , wie  sollt*  iA 
denn...  jemals...  deine  Kragennummer . . , deine  Halsweite  so 

genau  g'wuflt  hab'n 

P.  Guardian  <(adit,  so  redjt  gutmfitig). 

P.  Felix  <um  es  kurz  zu  madten):  Also.  Lieben  Brflder.  Allen  euA 

ohne  Ausnahme  meinen  Dank.  Der  iA  doA,  reAt  betraAtet, 
hier  nur  ein  Eindringling  war  in  euerer  GemeinsAaft.  Meinen 
Dank  dafur,  da8  ihr  miA  geduldet  habt.  Obwohl,  wie  siA's  jetzt 
erst  herausstellt  — obwohl  iA  niemals  gultig  zu  euA  hergehorte. 
Ihr  mOfit  eben  bedenken,  Bruder,  dafi  Gott  es  in  seinem  unerforsA- 
liAen  RatsAluB  so  gewollt  hat  Und  darum:  zurnt  mir  niAt  naA, 
wofern  iA  euA,  gewiB  unsAuldigerweise,  ein  Argemis  gegeben 
haben  sollte. 

P.  RoAus  <ist  bei  den  allerersten  obigen  Worten  von  P.  Felix,  eingetrcten) 

P.  Edmundus:  Vielmehr  ein  Beispiel,  lieber  Bruder  Felix,  warst 
du  uns  von  je.  Und  solltest  es  uns  auA  von  Gott  gegeben  ge» 
wesen  sein. 

P.  RoAus  <drangt  si*  vor):  Eine  Frage,  die  mit  dem  ferner'n  Seelen- 
heil  unsers  ehemaligen  Bruders  — Felix  — zusammenhangr. 

P.  Felix  (vorstellend) : Herr  Pater  RoAus  — meine  Frau. 

P.  RoAus:  Angenehm. 

P.  Guardian:  Was  fur  eine  Frage,  Pater  RoAus? 


305 


HeinriS  Lautensadi  • Das  Gef&Bde 

P.  Rod) us  <ewig  dabd  an  seiner  groBen  Hornbrille  rQckend):  Id)  mddite 

gem  ohne  weiteres  annehmen,  daB  unser  ehemaliger  Bruder  Felix 
von  selber  weifi,  unter  welchen  Sonderbedingungen  er  sein  wieder- 
aufzunehmendes  ehelid)es  Zusammenleben  mit  seiner  Frau  fortzu- 
setzen  hat. 

(Alle  wissen's.  Und  man  merkt's,  daB  sie's  wissen.  Mit  Ausnahme  vom  Betroffenen :) 

P.  Felix:  Id)  weiB  von  nid)ts. 

<PP.  Konradus,  Bruno.  Oswaldus  und  Evaristus  stedeen  die  K6pfe  zusammen.) 

P,  Rodius:  Id)  kam  soeben  ein  wenig  zu  spat.  Idi  dad)te,  daB 
die  so  notige  Aufklarung  bereits  stattgehabt  hatte.  Erlaube  mir  aber 
vorsidttigerweise  dodi  nodi  einmal  zu  fragen.  Wir  konnen  unsern 
ehemaligen  Bruder  Felix  so  nid)t  ziehen  lassen.  Sie,  Herr 
Graf,  waren  nicht  nur  so  ein  bloBer  Bindringling.  Sondem  Sie 
waren  nun  einmal  Priester  und  Mdnd),  Und  so  bleibt  infolge 
Ihres  einmal  getanen  Gelubdes  ein  Rest  von  Bindendem.  <Denn  doA 
einen  Augenblick  unsidier):  Aber  id)  dad)te,  der  Herr  Graf  als  ehemaliger 
Pater  Felix  wuflt'  es. 

P.  Edmundus:  Bruder  Felix  hat  seine  geistlidien  Studien  da- 
mals  in  zwei  Jahren  voll  fiebemder  Arbeit  und  Qberarbeit  vollendet. 
Mir  ist  jener  Passus  aus  dem  . . . Kircfaenrecht  wohl  gegenwartig. 
Aber  id)  glaube,  es  genugt  ein  bloBer  Hinweis,  daB  Bruder  Felix 
die  betreffende  Stelle  nadisdilagen  soil!  — Er  wird  fortan  von  ganz 
alleinig  wissen,  was  er  zu  tun  und  zu  lassen  hat. 

P.  Felix:  Id)  weiB  ...  von  nix!  Ich . . . erinner  mid)  aud)  garnet. 

P.  Rochus:  Es  geht  urns  Seelenheil  unseres  ehemaligen  Bruders 
Felix.  Unkenntnis  sdhutzt  aud)  in  diesem  Falle  nidit  vor  Strafe. 
Wir  machen  uns  zu  Mitsthuldigen,  wenn  wir  den  gunstigen 
Augenblick  ungenutzt  vorObergehen  lassen.  Denn  zum  groBen  Gluck 
ist  auch  seine  Ehefrau  soeben  gegenwartig.  <Besdiworen<l> : Ja,  Hen- 
Pater  Edmundus,  wie  konnen  Sie  es  zulassen  wollen,  daB  der  ehe» 
malige  Herr  Pater  Felix  — Ihr  bester  Freund!  — sefcon  in  der 
nachsten  halben  Stunde  vielleicht  strauchelt  und  in  Todsunde 
fallt — ?!  — Id)  habe  mid)  vorhin  verspatet,  weil  id)  das  Bud)  sudite. 
Id)  fand's  aber  in  der  ganzen  Bibliothek  nirgends.  Dabei  hab'  idt's 
vor  einigen  Tagen  nod)  zum  Nachschlagen  g7habt.  <Er  hat  fortwahrend 
am  BQdierregal  gesudit):  Hier  ist  es!  — <Er  blattert.  Er  findet  gar  bald  die 


306 


Heinrtd  La  u ten  sad  • Das  GtfiiSde 


Strife.  Er  spriAt's  auswcndig):  Dicsc  beiden  Bheleute  durfen  sonst  zwar 
leben  mitdnander  wie  zwe i andcre  Ehelcute  auch.  Hicr  steht's:  Nur 
darf  dcr  Mann  als  ehemaliger  Pricster  und  Mdnch  den  ehelidien 
Verkehr  wohl  leisten  — nicht  aber  fordern 

P.  Felix  <stcht  da,  siA  gerade  noA  beherrsAend.  Ansonst  w3r'  er  diesem 
P.  RoAus  wohl  an  Ae  Kehlc  gesprungen). 

Helmtrudis  (sieht  wic  in  einem  Traum  um  siA). 

P.  Felix  <der  Zorn  legt  si  A.  Er  kommt  wieder  zur  Vemunft.  Er  hegrrift  den 
vorgriesencn  Passus,  an  den  er  siA  nun  doA  a us  der  Studienzeit  erinnert.  — Wie 

meAanisA):  Nun  . . . <wic  zu  lauter  SAwerhorigen) : lebt  wohl,  Bruder  — ! ! 
<Er  gibt  erst  P.  RoAus  die  Hand.  Dann  P.  Konradus,  P.  Bruno,  P.  Oswaldus 
und  P.  Evaristus.  Hierauf  P.  Burkhardus,  der  An  an  siA  zieht  und  erst  auf  beide 
Wangen  und  dann  auf  den  Mund  kGBt.  Zuletzt  P.  Edmundus,  der  laut  aufweint.) 

Helmtrudis  (vcrneigt  siA  vor  alien  mit  cinem  einzigen  Neigen). 

P.  Felix  (ftihrt  Helmtrudis  hinaus). 

P.  Edmundus  <sAreit  laut). 

NEUNTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Ohne  P.  Felix  und  Helmtrudis. 

P.  Guardian  <befehlend>:  Betet,  ihr  Bruder,  far  Bruder  Felix  betet, 
der  uns  verlafit.  Bruder  Edmundus,  hebe  dein  Herz  auf  zu  Gott. 
Betet,  ihr  Bruder.  Fur  unsem  Bruder  Felix. 

(Alle  Ae  PP.  naAeinander  ab.  Zuletzt  P.  Edmundus.  Nur  P.  Guardian  bleibt.) 

P.  Guardian  <geht  erst  ans  Tefephon.  Nimmt  bereits  den  Horer  ab.  Aber 
dann  legt  er  ihn  doA  wieder  hin.  Es  zieht  ihn  zum  Fenster.  Auto  fahrt  hupend  ab). 

P.  Guardian  <geht  sAwer  — wie  ein  Kranker  — wieder  zum  Tefephon. 
Nimmt  den  HSrer  ab.  EnAiA  meldet  siA  das  Amt) ; Ein  Ferngesprach,  Frau* 
lein  Hier  Kloster  Maria-Hilf,  let  mochte  eine  Verbindung  — sehr 
rich  tig  — wieder  einmal  mit  Alt^Oetting . . . 

(Man  hort  sonor  das  Gebet  der  MonAe.  — In  der  offenen  Tflr  ersAeint  Fratcr  Max.) 
P.  Guardian  (mit  dem  Amt  spreAend):  Wie?  (Er  gewahrt  Frater  Max.) 

Frater  Max:  Der  Herr  Bezirksgeometer  Pfaffinger. 

P.  Guardian  (wahrend  er  ihm  mit  der  Hand  abwinkt/  spreAend):  Ja? 

(Sonor  das  Gebet  der  MonAe.) 

(Vorhang.) 


Htinrid  La  u ten  sad  • Das  Gefafxfe  307 


DRITTER  AUFZUG 

Wohn-,  mit  redits  anstofiendem  Scblafztmmer  im  Hotel  Batauer  Wolf. 

Mit  einiger  MQhe  sieht  man  durdi  das  eine  Fenster  wenigstens  rechts  hinten  Ober 
vollbelaubte  Kastanienbaumwipfel,  diarakteristische  Hausdacber  und  stadtwahr- 
zeicbenhafte  KirchtQrme  hinweg  ein  StOcfechen  des  Kapuzinerklosters  auf  dem 

Mariahiffsberge. 

ERSTER  AUFTRITT 

Grafin  Helmtrudis.  Justizrat  Dr.  Kreidle.  Ein  Postbote. 

Helmtrudis  (unterschreibt  Empfangsbestatigungen.  Sucht  hastig  wo  na<b 
einem  Trinkgeld  fQr  den  Postboten.  Gibt>. 

Postbote:  I'  dank'  sdio',  Frau  Grafin.  — Adjeh.  (Ab.> 

Helmtrudis  (sieht  die  Firmenaufdrudce  auf  einigen  Briefen.  Erbridit  sie  Qber- 
haupt  nicht,  sondern  legt  sie  — angeekelt  — seitwarts.  — Zwiscben  Helmtrudis 
und  Justizrat  Dr.  Kreidle  liegt  ein  Buch:  genau  von  Format  und  Didte  dasselbe 
wie  das  Kinbenrecbt  am  Ende  des  zweiten  Aufzugs.  Nur  dab  es  ein  ganz  neues 
und  ganz  anders  gebundenes  Exemplar  ist.  — Die  Grafin  sitzt  hofinungslos/  to 

Begriffe,  alles  aufzugeben):  Ja,  also  . . . dann  . . . mein  lieber  Herr  Justiz- 
rat.. . 

Kreidle:  Verehrteste  gnadigste  Frau  Grafin  — ! — Sie  durfen 
versidiert  sein,  wie  auf  das  tiefste  midi  der  Fall  beruhrt  — mensdi- 
licb.  Allein  — juristisdi  gibt's  da  beim  besten  Willen  nidits  zu 
machen. 

Helmtrudis  (ringt  im  Geiste  die  Hande) : Nidits. 

Kreidle:  Beim  besten  Willen  nidits.  — Idh  kann  wohl  sagen,  dafi 
idi  midi  seit  meiner  Examenszeit  nidit  mehr  mit  dem  Kirdienredit 
befafit  habe.  Aber . . . das  ist  mir  vielleidit  jetzt  erst  vollstandig  klar 
geworden,  wie  bei  aller  Resignation  des  kanoniscben  Redits  in  bezug 
auf  die  notgedrungene  Anpassung  an  das  Staatsredit  da  dodi  nodi 
ein  Rest  geblieben  ist  — ein  Restcfaen  — ein  ganz  unsdiein- 
bares  — in  Form  eines  wie  nebensadilidien  Zusatzes  — ein... 
ein  . . . ein  . . . ein  einziges  kleines  Staubkom,  ein  versdiwindendes, 
sozusagen  in  der  grofien  Wustenei  des  katholisdien  Kirdienredits . . ■ 
denn  das  ist  zum  groflen  Teil  heute  Wuste  — Trummerstatte  — 
unfruditbar  gewordene . . . und  mit  einem  Male  erweist  sidi  dieses 
Staubkom  von  einer  Gewalt  wie  ein  Wall,  ein  hindemder,  wie  eine 
unuberwindlidie  Wehr ja,  es  ist  sdilediterdings  wie  ein  gott- 


308 


Hemru£  Lautensad  ■ Das  GefUBdt 


lidies  Wunder gan z danadi  angetan,  einen  schlimmstenHeiden 

plotzlidi  zum  alleinseligmadienden  Glauben  zu  bekehren.  — Icfa  werde 
versuchen,  midi  etwas  nuchtemer  auszudrudten.  — Ihr  graflidier  Herr 
Gemalii  ist  in  der  irrtumlidien  — Gott  sei  Dank  irrtumlidien!  — 
Meinung,  daft  Sie,  gnadigste  Frau  Grafin,  todlidi  verungluckt  seien, 
Ordenspriester  geworden.  Das  heiflt:  er  hat  die  drei  Gelubde  — das 
heilige  Verspredien  der  steten  Keuschheit,  der  freiwilligen  Armut 
und  des  vollkommenen  Gehorsams  — abgelegt,  die  fur  einen  jeden 
ewig  bindend  sind,  sofern  keine  wissentlichen  oder  auch  unbewuBten 
Hindemisse  vorliegen.  Da  stellt  es  sich  mit  einem  Male  heraus,  daft 
gnadigste  Frau  Grafin  nodi  am  Leben  sind . . . und  da  nun  gibt  selbst 
das  kanonisdie  Redit  zu,  daft  das  abgelegte  Gelubde  dadurdi  illu- 
sorisdi  wird  und  der  Ehemann,  der  ja  der  Herr  Graf  in  diesem 
Falle  immer  nodi  ist,  nadi  dem  geltenden  Staatsrecht  seine  Ehe  mit 
seiner  Ehefrau  wiederherstellen  muft.  — Das  ist  — vielleidit!  — idi 

weifi  midi  im  Augenblitk  nidit  so  sehr  daruber  orientiert das 

ist  vielleidit  eine  nur  notgedrungene  Konzession  des  katholisdhen 
Kirdienredits  gegenuber  dem  StaatsrediL  Vielleidit  aber  audi  nidit . . . 
Ich  bin  wahrhaftig  nidit  so  sehr  darin  besdilagen . . . Jedenfalls  indes 
— ob  die  katholiscfae  Kirdie  nun  einen  eidlich  erklarten  Priester- 
und  Ordensmann  freiwillig  aus  den  Klostermauern  ziehen  laflt  oder 
nidit  freiwillig!  — sieht  da  das  katholisdie  Kirdienredit  eine  kleine 
Klausel  vor  — eine  versdiwindend  kleine  — sdieinbar  ver- 
schwindend  — und  doth  von  grofiter  Tragweite  — einen  Ruf  — 
h allend  — direkt  dem  mensdilidien  Gewissen  in  die  Ohren 
knallend — : »Gut.  Du  hast  nidit  wissen  kdnnen,  dafi  deine  Frau 
nodi  lebt.  Nun  ist  sie  wieder  erschienen.  Setze  also  pfliditsdhuldigst 
deine  fruhere  Ehe  mit  ihr  fort.  Aber  einmal  — und  wenn  audi 
drauften  vor  der  Welt  ungultig  — hast  du  dodi  unter  anderem  das 
heilige  Verspredien  der  steten  Keuschheit  abgegeben.  Wir  mussen 
didi  nach  dem  obwaltenden  Staatsgesetz  von  diesem  deinem  Keusdi*' 
heitsgelObde  entbinden.  Aber  wir  appellieren  niditsdestoweniger  an 
dein  Gewissen.  Und  — ja,  sag'  einmal  — hast  du  nidit  unter 
anderm  audi  uns  einstmals  vollkommenen  Gehorsam  gesdiworen?! 
Also:  Dein  Gewissen  ist  nidit  frei.  Ist  es  wenigstens  nidit 
mehr.  Nidit  mehr  so  ganz.  Deshalb  auferlegen  wir  dir:  Setze  du 


HeinriS  Lautensad  • Das  GefuBde  309 

ruhig  deine  fruhere  Ehe  mit  deiner  Frau  fort.  Aber  unter  diescr 
eincn  Bedingung:  Du  darfst  deine  ehelicfien  Pfliditen  deinem  Weibe 
gegenuber  wohl  erfullen,  jedoch  nicht  fordern.  Mit  anderen 
Worten:  Du  hast  insofern  aliem  staatlidien  Redit  zum  Trotz 
deiner  gelobten  Keuschheit  auch  fernerhin  treu  zu  bleiben 
— insofern  als  du  didi  niemals  unterstehen  darfst,  deinem  eigenen 
fleisdilichen  Trieb  nachzugeben.  Sondern  du  hast  unter  alien  Urn- 
standen  dich  solange  eines  jeden  solchen  sinnlichen  Genusses  zu  ent- 
halten  — solange  es  deine  Frau  nidht  von  dir  verlangt.  Nicht  aus- 
gesprodien  von  dir  verlangt, « — Das  ist  — war'  ich  personlidi  ein 
weniger  frommer  Christ  und  nidit  gleichzeitig  Gemeindebevollmadi- 
tigter,  aufgestellt  von  der  Zentrumspartei  — , so  wurde  idi  beinah' 
sagen,  dafi  dieser  katholischen  Bestimmung  etwas  Jesuitisdies  in- 
hariert,  was  man  so  gemeinhin  Jesuitisches  nennt  und  unter  dieser 
Bezeichnung  verachtlidi  madien  will.  — Aber  andererseits  ist  diese 
Bestimmung,  wie  sdion  gesagt,  einfadi  wundervoll  ausgesonnen 
vom  katholischen  Kirchenredit. 

Helmtrudis  <wie  Marmor,-  und  auch  so  bleich):  Finden  Sie — ? 
Kreidle  <unbeirrt>:  Na,  und  ob  idh  das  finde,  verehrteste  gnadigste 
Frau  Grafin!  — <Triumphiert,  mit  dem  Buch  in  dcr  Hand):  Nehmen  Sie 
nur  selbst  einmal  an,  gnadigste  Frau  Grafin:  einen  Mann  — 
Month  — Priester.  — Der  hat  nun  unter  anderm  das  Geliibde . . . 
das  heilige  Verspredien  der  steten  Keusdiheit  abgelegt.  Das  ist.. 
das  ist  ein  Ehrenwort! 

Helmtrudis:  Ja  aber  — — <piotzlidi  hervorsturzende Tranen.  Ein  Auf- 
sdiludizen,  ein  Herausschreien  — nur  sekundenlang,  wie  die  tapferste  Frau  auf  der 
mittelalterlidisten  Folter  plotzlidi  doth  einmal,  wenn  auch,  wie  gesagt,  nur  sekunden* 

lang,  aufsdiluchzt  und  heraussdireit) : — er  war  doch  Ehemann  — und 
blieb's  — und  blieb's  — — <Vorbei> 

Kreidle  (um  so  hartnadciger,  eiserner):  Er  gab  sein  Ehrenwort.  — 
Was  das  noch  iiberdem  gerade  in  bezug  auf  Ihren  graflidien  Herrn 
Gemahl  heifien  will  — der,  adelig,  sogar  Offizier  war  — 
Helmtrudis  <fur  si<h>:  Ich  — — kann  — — nicht  mehr  — — 
Er  gab  doch  auch  mir  — vor'm  Traualtar  — das  Ehrenwort  — 
Kreidle:  Ich  wollte  sagen:  welch'  eine  unendlich  weise  Vorsorge 
das  von  seiten  des  katholischen  Kirdienrechts  gegenuber  dem  gultigen 


310  HtinriS  Lauttnsadi  • Das  Gtl&Bde 

Staatsrecht  ist. Das  Kirchenrecht  erlaubt  dem  ehemaligen 

Priestermoncfa  die  von  der  Ehefirau  geforderte  Erfullung  der  ehe- 
lichen  Pflicht!  Sie  gestattet  ihm  die  Ausubung,  sobald  sie  auf  aus- 
druddiches  Verlangen  des  weiblichen  Teiis  gesdiieht!  (ElndringliA) : 
Ja,  nehmen  Sie  nur  einmal  an,  verehrteste  gnadigste  Frau  Grafin, 
das  Kircbenrecht  vurde  dem  freigegebenen  Pri ester  oder  Month  das 
strikte  striktissime  verbieten  — ! Was  ware  denn  dann  — ? Ha! 
Dann  kdnnte  doth  die  Frau,  die  — unbefriedigte  — , sofort  hingehen 
und  vor  dem  weltlidien  Richter  Sdieidung  der  Ehe  verlangen, 
indem  der  Ehemann  die  geforderte  ErfOllung  der  ehelichen  Pflichten 
versagt  — ! Ein  Sdieidungsgrund,  wie  er  sdioner  und  effektiver  uber- 
haupt  gamicht  gedadit  werden  kann!  — Dann  freilich  — haja!  — war' 
das  Kirchenrecht  im  linrecht — und  hatte  budistablich  verloren  — 

Helmtrudis  <mit  sAier  abennensAfiAer  — flberweibliAer  Anstrcngung) : 

Ich  danke  Ihnen  jedenfalls  — Herr  Justizrat  — fur  Ihre  so  grund- 
lithe  Auslegung  und  Belehrung  — 

Kreidle  (abwehrend) : Gnadigste  Frau  Grafin  haben  midi  eigens 
nur  zu  diesem  Zwedt  rufen  lassen.  — <Da  wird  dn  MensA  aus  ihm 
Ich  bin  mir  wohl  bewuBt  — und  es  prefit  midi  im  vorhinein  sdion 

fast  zu  Boden  nieder ich  bin  mir  wohl  bewufit,  welchen  Hoch- 

verrat  ich  an  meiner  eigenen  Religion  begehe,  wenn  ich  sage,  was 
ich  jetzt  sage,  verehrteste  gnadigste  Frau  Grafin  — 

Helmtrudis  <bang>:  Nun? 

Kreidle:  Es  gibt  einen  Ausweg.  — Wieviele  katholisdie  Priester 
sind  in  einem  halbwegs  ahnlidi  schweren  Fall  sdion  zur  protestan* 
tisdien  Religion  ubergetreten ! 

Helmtrudis  <es  treibt  sie  hoA>. 

Kreidle:  Ich  selbst  kenne  Ihren  graflichen  Herm  Gemahl  als 
Prediger:  — Bestimmen  Sie  ihn  irgendwie,  dafi  er  aus  der  katho- 
liscfaen  Kirdie  austritt/  dafi  er  uberlauft,  wie  sdion  so  mancher/ 
und  all'  der  grofie  gegenwartige  Konflikt  ist  dahin  — 

(Pause.) 

Helmtrudis  (allmShliA  das  Letzte,  Geheimste  ausplaudernd) : Er  sucht 
nadi  einer  Stellung,  wie  er  mir  immer  sagt  — 

Kreidle  (aAselzuAende  Bewegung). 

Helmtrudis  (weiter):  Ich  hab'  ihm  Spione  nadigesdiickt  — hier 


311 


Heinrich  Lautensack  ■ Das  GefOBde 

vom  Hotel  aus Ich  weifl  sicher,  er  war  in  den  ganzen  vier 

Wochen,  die  wir  nun  schon  hier  in  dem  Gasthof  wohnen,  nie- 
mals  wieder  oben  im  Kloster.  — Aber  — trotzdem  — er  ist 
nidit  von  hier  fortzubewegen.  — Ich  weiB  auch,  er  hat  niemals  in 
diesen  ganzen  langen,  bangen  vier  Wochen  . . . niemals  einen  von 
den  Kuttentragern  von  da  oben  hier  unten  in  der  Stadt  irgendwie 
heimfich  getroffen.  — Aber  vielleicht  ist  ihm  das  blofie  Hinauf- 
schauen-konnen  ...  druben-drunten  vom  Inn  aus  ...  schon  genug 
und  mehr  als  genug  na<h  da  droben.  — Man  kann  das  verhalite 
Kloster  ja  selbst  auch  von  hier  — von  einem  unserer  Fenster  aus 
— ganz  gut  sehen  — da  droben  — 

Kreidle  (tritt  ~ als  langjahriger  Einwohner  und  Bflrger  dieser  Stadt  — zuerst 
ans  falsdie  . . . und  dann  erst  ans  riditige  von  den  beiden  Fenstern  im  Hinter- 
grund  und  sdiaut  Kinauf.  Langsam):  Ich  hab'  selber  einmal  — in  einer 

entsetzlich  schweren  Stunde  — die  vielen  vielen  Stufen  dieser  hohen 
Wallfahrts-  und  Bufiertreppe  da  knieend  hinaufgebetet/  in  einer  ent- 
setzlich schweren  Stunde  — 

Helmtrudis  <interessiert) : Na,  Und  — ? 

Kreidle  <Ieise>:  Es  hat  nix  g'holf'n . . . 

<Eine  Hotelglodce  lautet,  wahrend  ein  Wagen  tsef  drunten  — wie  unterirdiscb  — 

anfahrt.) 

Kreidle:  Das  ist  das  Zeichen,  dafl  der  Munchener  Zug  gekom- 
men  ist . . . <Er  sieht  auf  seine  Tasdhenuhr>:  Ganz  richtig . . . Und  gna- 
digste  Frau  Grafin  erwarten  doch  wen  mit  eben  diesem  Zug... 

Helmtrudis:  Meinen  Bruder  ...  ja  . . . 

Kreidle  <si<t  empfehlend):  Na  also...  Juristisch  ist  Ihr  graflicher 
Herr  Gemahl  nicht  zu  padcen...  Es  tut  mir  uberaus  leid,  da8  ich 
das  Vertrauen,  das  verehrteste  gnadigste  Frau  Grafin  in  midi  ge- 
setzt  haben,  so  wenig  hab'  reditfertigen  konnen ...  Ich  darf  mich 
also  wohl  empfehlen . . . 

Helmtrudis:  Ich  danke  Ihnen,  Herr  Justizrat...  <Sie  reidit  ihm  die 
Hand) : Und  Ihre  Liquidation  . . . ? 

Kreidle:  Schicke  ich  mit  Ihrer  gnadigen  Erlaubnis  noch  heute  im 
Lauf  des  Vormittags  . . . Empfehl'  midi  bestens . . . < Verheugung.) 

Helmtrudis:  Adieu,  Herr  Justizrat... 

Kreid.le  <ab>. 


312  HeinriS  Lautensadi  • Das  GefiiBd* 


• r // i T f fitiT tt f i iT.ViYiVi  /i 


ZWEITER  AUFTRITT 

Helmtrudis.  Bald  daranf:  Zimmerkellner  mit  Oberieutnant  Freiherrn 

Karl  von  Ruditi. 

Helmtrudis  (steht  da.  Sieht  das  BuA  liegen.  Nimmt's.  Tragt's  langsam  ins 
Sddafzimmer.  Kommt  wieder  heraus/  gcwahrt  die  Briefe/  offset  welche/  liest  kaum 
and  Jegt  sic  aacb  sdion  wieder  hin> : Ah  — ! <Sodann,  wie  sie  etwa  das  Gerausdi 

eines  Lifts  und  hemacb  vora  Teppich  gedampfte  Scbritte  — a us  welcben  Sporen 
herausklirren  und  ein  Sabel  singt  — auf  dem  Korridor  hort,  uberkommt  sie  fast 
nodi  einmal  ein  sofcber  Anfalf  des  ptotzlidien  Hervorsdiludizens  und  -sdireiens, 
den  tie  aber  diesmal  Oberwindet.) 

Zimmerkellner  <lifit,  nacbdem  er  geklopft  bat  und  ihm  von  Helmtrudis 
ein)  sHerein !«  (geworden  ist,  den  Oberieutnant  Freiherrn  Karl  von  Rudtti 
eintreten). 

Oberieutnant  Freiherr  Karl  von  Ruchti  <na«hdem  siA  Zimmer- 
kellner  sofort  wieder  zurfldtgezogen  hat):  Grub  di/  Gott,  Trudel . . . 

Helmtrudis:  Grub  Gott,  Karl...  <Und  als  ob  er  ihr  soeben  kon- 
dolicrt  hatte) : Irh  dank  dir  audt  recht  sdion  . . . 

von  Ruditi:  Na  also,  nur  net  gar  so  traurig,  Trudel...  — <Er 

greift  erregt  naeh  seiner  Brusttasche  und  holt  hervor  wie  ein  Gesdienk):  Ein  paar 

Briefe  — sdiau'!  — hab'  idi  dir  mit'bradit  — 

Helmtrudis  <auf  die  eingangs  dieses  Aufzugs  erhaitenen  Briefsathen  zu): 

Und  wieviel  Briefe  — sdiau'!  — habt's  ihr  mir  heut'  wieder  nadi- 
sdiicken  lassen  — ! Briefe  — Briefe  — und  nodimals  Briefe  — 
von  Ruditi:  Idi  hab'  audi  nodi  eine  Visiten-  und  zwei  Ge- 
sdiaftskarten  da  — 

Helmtrudis  <emport  sidi  immer  mehr):  Briefe  — Briefe  — und  nodi* 

mals  Briefe und  Visiten-  und  — und  Geschaftskarten  — 

von  Ruditi:  Sie  laufen  uns  ja  das  Haus  ein  in  Mundien  — ! 
Helmtrudis:  Briefe  — Briefe  — und  nodimals  Briefe!  — Un» 
versdiamte  Angebote  von  Direktoren:  idi  soil  auf  ihren  Varietes 
auftreten.  — Womoglich  nodi  ehrenruhrigere  von  Budh-  wie  Zeitungs- 
verlegern:  idi  mocfat'  meine  Memoiren  sdireiben. — Und  dann:  einen 
jeden  Tag  wieder  eine  OfFerte  von  wieder  einer  andern  groften 
Filmfabrik:  idi  mocht'  meine  Erlebnisse  verfilmen  lassen  und  gleidi 
selber  die  Hauptrolle  spiel en.  — Ja,  diese  Herren  madien  mir  in 
danisdier,  franzosisdier,  italienisdier,  amerikanisdier  wie  in  sdilediter 
deutsdier  Spradie  den  Vorschlag:  der  Film  sollte  — mit  mir  in 


Heinricf)  Lautensadi  • Das  GeftiBde 


313 


der  Hauptrolfe 


an  Ort  und  Stelle  aufgenommen  werden 


drunten  inArabien 


und  versichern  mir  einer  um  den  andern. 


daB  die  Schiffskatastrophe  im  Golf  von  Aden  in  groBtem  Mali* 
stab  in  mdglichster  Naturtreue  aufgezeigt  wiirde 

von  Ruditi  (peinliA  beruhrt):  Na  also,  Trudel  — <Er  hat  siA  sAon 
ein  paarmal  sAeu  umgesehen.  Jetzt  endtiA  — leisc  — Ja,  is"'  er  denn  gar  net 

da?  Was? 


Helmtrudis  <hat  si  A gefaBt.  Und  nun  trostet  sie  ihrerseits) : Er  muB  den 
Augenblick  kommen . , . Ich  hab'  ubrigens  'dadit,  er  war'  auf'n  Zug 
auf'n  Bahnhof  'naus  . . . 

von  Ruditi  (treuherzig) : I'  hab'n  aber  net  g'seh'n  . , . <Ohne  viel  Be- 
sinncn  den  Abwesenden  sogar  verteidigend):  Er  wird  halt  audi  net  grad  sehr 

erbaut  sein,  dab  i'  da  plotzlidi  komm' . . . Denn  so  viel  Militarisdies 
wird  ihm  trotz  seiner  klosterlidien  Weltflucht  im  Gedaditnis  z'ruck- 
'blieb'n  sein,  dafi  man  einen  einfadien  Oberleutnant  vom  Miindiener 
Leibregiment  net  ausgerechent  zum  Obersten  vom  sechzehnten  In- 
fant'rieregiment  nacb  Batau  heruntersdiickt . . . Ja  also,  das  is'  grad 
kein  so  gar  g'scheiter  Gedanke  von  dir  g'wes'n,  Trudel . . . und  da 
is's  ihm  natiirlidi  sehr  peinlich. 

Helmtrudis  <forsAend>:  So...  so...  genau  so  wie  dir? 

von  Ruditi  <mehr  und  mehr  knabenhaft  ungeduldig):  Herrgottseit'n  . . . 

ja  — !...  na  also:  jaa  — ! Wann  er  nur  scho'  dawar'  — ! 

Helmtrudis  <geht  auf  den  Knopf  der  elektrisAen  Kiingel  zu):  Willst  nix 

essen  oder  . . . trinken? 

von  R U dl  t i <kraut  si  A fast  am  Kopf ) : Trinken  . . . ? — <Zu  seiner  SAwester) : 

s'  batauer  Bier  soil  net  grad  sdiledit  sein  . . .?  — Na  also:  haltst' 
mit,  so  an  klein'n  Friihschopp'n  . . .?  — Nur  bis  daB  er  endli' 
kommt  . . 


Helmtrudis  <druAt  auf  den  Knopf). 

von  Ruditi  <nimmt  Platz):  Wo  is'  er  denn  uberhaupt's? 

Helmtrudis  (klagend):  Oh  mein  Gott...!  — Entweder  in  einer 
der  vielen  . . . vielen  Kir  then,  oder  vielleicfit  grad  wieder  drauBen 
in  der  bisdioflidien  Brauerei  — ! 

von  Ruditi  (durstig):  In  der  Brauerei  — ? 

Helmtrudis:  In  der  bisdioflidien...!  InHadtelberg...!  — Da 
hab'n  s'  ihm  ja  eine  Stellung  angeboten  . . . einen  Posten  als 


314  HeinritB  Latttensadi  * Das  GttiiBde 


Brauereiverwalter . . . <Mehr  und  mehr  ausbrechend) : Er  will  ja  nix 
annehmen  von  mir...  von  uns...  von  den  Eltern...!  — Er  hat 
ja  dieser  seiner  gelohten  freiwillig'n  Armut  no'  net  ab» 
g'sdiwor'n  . . . !! 

von  Ruchti  <b!oB  verwundert) : Das  ist  ein  Mensdi  . . .!  — Ein 
Mensch  ist  das  . . . ! 

Helmtrudis:  Und  aber  idi  bleib'  net  hier . . . ! — Das  sag'  ids 
dir!  — Das  darfist  du  mir  glaub'n!  — Ids  bin  net  dazu  zu  beweg'n, 
dab  ids  hierbleib'!  — Er  mu6  aus  dieser. . . aus  dieser  Weihrauch* 
Atmosphare  da  . . . 'raus  . . . ! ! 

<Es  klopft.) 

Helmtrudis  <sduer  klagend):  Herein! 

Zimmerkellner  <ersdieint):  Frau  Grafin  wunsdien  . , 

Helmtrudis:  Sie  hab'n  doth  auch  Flaschenbier? 

Zimmerkellner:  Innstadt,  jawohl.  Tafelbier.  Helles. 

Helmtrudis:  Eine  Flas<he  oder  . . . oder  zwei. 

von  Ruchti:  Drei! 

Helmtrudis:  Also  . . . drei. 

Zimmerkellner:  Sehr  wohl!  <Ab.> 

von  Ruditi:  Namlidi  . . . ftlr  ihn  auch  gleich  eine . . . wenn  er 
kommt . . . Der  Papa  hat  net  selber  'runterfahr'n  woll'n.  Und  die 
Mama  hab'n  mer  aus  Leibeskraften  zuruckhalten  muss'n.  Du  wirst 
ubrig'ns  wohl  noch  wiss'n,  dal)  ids  von  uns  alien  mit'nander  am 
allerwenigsten  gegen  diese  deine  Heirat  mit'm  Horst  etwas  ein* 
zuwenden  g'habt  hab'.  Ja,  ids  hab'  dich  damals  sogar  noch  unter- 
stQtzt  bei  der  Mama! 

Helmtrudis:  Du  bist  wirldich  ehrlicfa,  Karl, — <Sle  I5d»tlt>:  Du  meinst, 
wenn  idi  nix  ausriditen  kann  gegen  ihn,  dann  du  noch  viel  weniger? 

von  Ruchti  (verlegen):  Ja  — Kreuzseit  n — <Er  kraut  sid»  nun  wirk- 
lich  am  Kopf):  Wo  bleibt  denn's  Bier  so  lang? 

Helmtrudis:  . . . Ids  hab'  mir  halt  'denkt:  wenn  er  blob  einen 

von  euch  wiedersieht ! — Da  mu6  er  doth  wie  endlich 

aufg'wedct  wer'n  aus  dieser  — dieser denn  es  ist  dodi  wirk» 

lids  schon  mehr  etwas  wie  Mondsuchtig»sein  von  ihm 

<Alles  das  unterdrQckt.  Und  es  arbeitet  doth  mit  alter  Macht  sldi  he  raus  aus  Ihr.) 

(Es  klopft  wieder.) 


315 


Heinric6  Lautensadi  * Z)<75  GefuBcfe 

von  Ruditi:  Herein! 

Zimmerkellner  (bringt  auf  einem  Tables  das  Verlangte.  Setzt's  auf  einem 
Tistfa  ab.  Offnet  die  eine  Flascbe  und  giefit  ein,  und  zwar  in  zwei  Glaser):  Bitte 
sehr  . . . <Geht.  Ab.) 

von  Ruditi  (proitend):  Auf  dein  Wohl,  Trudel. 

Helmtrudis  (spridit  ihm  wie  nur  medianisdi  nacfa):  Auf  mein  Wohl 

— <Aber  trinkt  nidit.) 

VOn  Ruditi  <hingegen  nimmt  erst  einen  berzbaften  Scbluck  und  setzt  dann 

bart  ab):  Ja,  also  — was  ist  denn  nadi'er  eigentlidi?  — Y — i'  — i' 

— i'  mufi  dodi  sozusag'n  Direktiven  von  dir  hab'n,  Trudel!  — I'  — 
i'  — i'  bin  do'  net  ausschliefilich  nur  zu  mein'm  Freund  'runter- 
g'fahr'n  . . . zum  Oberleutnant  Kinateder ...  ah,  du  kennst'n  schon  . . ., 
der  ubrig'ns  mit  dieser  seiner  Englanderin  eine  nodi  viel  reichere 
Heirat  g'macht  hat  als  wie  Horst  mit  dir.  — Und  das  mufi  idi  eudi 

ubrig'ns  gleidi  sag'n:  zu  Mittag  <er  betont  auf  sflddeutsdi  die  letztere  Silbe) : 
bin  i'  fei'  net  mit  eudi  zusammen.  Sondern  da  bin  idi  beim  Kame- 
rad'n  Kinateder  und  seiner  Englanderin  eing'lad'n.  Die  hab'n  sidi 
das  einfach  ...  net  nehmen  lassen  woll'n  . . , Also  was  is'n  eigent- 
lidi, Trudel  — ? — <Sehr  feinfublig):  Is'  was,  das  du  audi  mir  anver- 
trauen  kannst  — ? 

Helmtrudis:  Man  sollt'  wohl  annehmen (Innerer  Krampf): 

Denn  wenn  idi's  einem  mir  ganz  fremden  . . . stockfremden  Justiz- 
rat  anvertraut  hab'  — — ! 

von  Ruditi  <atmet  sdiwer.  Trinkt):  Dann,  meinst  du,  konnt'st  du's 

auch  eigentlidi  mir  . . . deinem  leiblidi'n  Bruder  anvertrau'n ? 

Is's  vielleidit  so  ein  ganz  juristisdier  Fall,  der  wo  sidi  auf  die  aller- 
intimsten  ehelidhen  Angelegenheiten  bezieht  — ? (Hilflos):  Ja  also  — 

Trudel <Fast  ausrufend):  Trudel !!  <Greift  sozusagen  oadi  einem 

Strobbalm):  Gottseidank,  sag'  i nur,  dafi  unsere  Mama  net  gekommen 

ist  — — <Er  giefit  sidi,  vermutlicb  Sdhweifitropfen  auf  seiner  weifi  und  roten 

Offiziersstirn , auf  ein  Neues  ein.  Trinkt  und  setzt  womoglich  nodi  harter  ab  als 
vorbin.) 

Helmtrudis  <hat  sidi  fast  ein  wenig  abgewandt). 

von  Ruditi:  Wird's  — wird's  — wird's  — wird's  da  vielleidit  so 
irgendetwas  als  wie  mit  — mit  — mit  einer  Scheidung  — ?!  Dafi 
namlidh  . . . namlidi  du  die  alleinige  Sdiuldtragende  sein  sollst  — 

21  vot  m/i 


316 


Heinridb  Lautensad  Das  GefQ&de 

(Plotzlich  Mann/  bayerischer) : Trudel  — pafi  auf,  sag'  i dir  — — Mit 

eincr  Scfaeidung  wird's  nix dazu  bin  i'  da Trudel? 

Trudel??  Das  sag'  i'  dir (Immer  drohender):  Es  hat  eine  ganz 

Gewisse  gelitten  da  drunten  in  Arabien  — !!  Die  hat  was  leiden 
mussen  — die  hat  was  aushalten  mussen  — !1  Da  — da  — da 
gibt's  fei'  nix  — !!  Eine  von  Ruchti  is'  eine  von  Ruchti  — und  die 
bleibt's  — !! 

Helmtrudis  (bescfaworend) : Karl  — ! 

von  Ruchti:  Jetz'  braudhst'  mir  uberhaupt's  nix  mehr  z'sag'n, 
Trudel  — ! — Jetz'  weifi  i'  schon  — ! — Jetz'  weifi  i'  uberhaupt's 

alles  — !!  (Wieder  einfach  verwundert):  Aber  das  hatt'  ich  mir  von  dem 
Menschen  uberhaupt's  net  'denkt  — ! 

Helmtrudis  (noth  beschworender) : Karl  — ! 

von  Ruchti  <nadj  nocfcmaligem  Trinken.  Die  dreiviertel  Liter  haltende  Flasdie 
ist  leer.  — Fertig):  Jetz'  is'  in  mir  alles  grad  — grad  gerichtet  — bis 
aufc  minimalste  Visier. 

<Es  klopft  hinwiederum.) 

DRITTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Graf  Horst  von  Hilgartsberg  (d.  i.  der  frflhere  P.  Felix). 

Beide  (Helmtrudis  und  von  Ruchti  zugleich):  Herein  — ? 

(Graf  Horst  von  Hilgartsberg  — d.  i.  der  frflhere  P.  Felix  — tritt  ein.) 

(Kleine  Pause  der  Verwunderung,  dafi  er  geklopft  hat!) 

Horst  (ist  flbrigens  auch  fflr  den  Bcschauer  sehr  verandert.  Denn  er  ist  nun 

bartlos  und  tragt  einen  immerhin  neumodischen  Anzug  und  dazu  Platthemd  und 
Stehkragen  und  Schlips  und  einen  weichen  Lodenhut). 

von  Ruchti  (der  immer  herzlicher  wird):  Ja  — aber  — — gruB  di' 

Gott  — Horst. 

Horst  (ebenfalls  Herzenston):  Grufi  dich  Gott,  Karl. 

von  Ruchti  (wieder  mehr  und  mehr  verwundert):  Ja  — aber jetz' 

sag'  mir  blofi  einmal:  seit  wann  denn  klopfst  du  denn  eigentlich 
an  — ? (Schier  gemacht  lustig):  Bei  seiner  eigenen  Frau  klopft  der  an 
der  Tur. 

Horst  (mit  so  defer  Stimme  wie  ein  Monch):  Ich  hab'  drunten  sofort 
erfahr'n,  dafi  du  schon  da  bist,  Karl . . . Und  da  hab'  ich  mir  ge- 
dacht,  ihr  habt's  was  miteinander  zu  besprechen  . . . (Er  kommt  nun 


HeinriS  La  u ten  sad  • Das  GefuBde 


317 


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erst  dazu,  seiner  Frau  die  Hand  zu  kfissen.  — Nett):  Weifit  du,  wen  idl  SO- 

eben  getroffen  hab'?  Den  alten  Herrn  Pfaffinger,  den  pensionierten 
Bezirksgeometer  von  Wolfach,  . . . icb  hab'  dir  doch  von  ihm  erzahlt 
■ • • Br  ist  nun  wirklich  Kapuziner  'worden  und  geht  taglich  vom 
hohen  Mariahilfsberg  herunter  in  der  Stadt  hier  ins  Gymnasium  und 
ins  Lyzeum  . . . 

von  Rucbti  <ein(adend>;  Magst'  a'  Bier,  Horst?  — Wir  hab'n  scho' 
fur  dicfi  mithol'n  lass'n. 

Helmtrudis:  Icb  zieh'  midi  jetz'  an  — fur  d'Table  d'hote.  — 

<Sie  geht  nacfa  dem  Schlafzimtner,  Ab.  Sie  schliefit  die  Tur  von  innen.  Man  hort 
einen  Riegel  vorschieben.) 


VIERTER  AUFTRITT 

von  Ruchti.  Horst.  Ohne  Helmtrudis. 


trink' 


(nacfcdem  er  eingegossen  hat). 


von  Ruditi:  Na  also  — 

Horst  (ergreift  das  Glas). 

(Sie  stofien  stumm  miteinander  an.) 

von  Ruchti  (nathdem  er  getrunken  hat):  Sdimeckt  eigentlich  gar  net 


so  nadi  Provinz,  das  Bierl. 

Horst:  Is'  besser  wie  euer  Munchener.  Kerniger.  G'sunder.  Is' 
mehr  drin. 

von  Ruditi  (ihn  ansehend):  Sdiaust  iibrigens  gut  aus,  Horst.  Bist 
ja  schier  dicker  'wor'n  — im  Kloster.  — Mensdienskind  — ! — 
Sch wager  und  Kamerad  — ! — Wie  lang  is's  eigentli'  her,  dab  wir 
uns  nimmer  g'seh'n  hab'n? 

Horst:  So  . . . neun  Jahr,  Kar!. 

von  Ruchti:  Hast'n  Kinateder  nie  'troff'n  hier  in  Batau,  der  die 
steinreiche  Englanderin  g'heirat't  hat  — ? 

Horst:  Nein. 


(Kleine  Pause.) 


von  Ruchti:...  Ja  also,  der  Papa  hat  selber  net  kommen  woll'n  . . . 
Der  will  sich  uberhaupt's  in  gar  nix  zwischen  euch  dreinmisdien . . . 
Der  will  weder  was  von  dir  hor'n,  nodi  will  er  was  von  seinem 
ehemaligen  Lieblingskind  wiss'n,  von  der  Trudel  . . . Er  schaut's 
uberhaupt's  gar  nimmer  an . . . Er  schaut  fur  gewohnli'  grad  an  ihr 
vorbei...  Wie  wenn's  ein  grofies  Familienungluck  war'...  Ja  also, 
weiflt  du,  was  ich  glaub',  Horst  — aber  unter  uns  g sagt,  Horst  — 


f> 


A i : i n I 

\-J  \ i M H i <_i  i 


: V :*  < > V \ 


318 


Htinridi  Lauttnsadi  ■ Das  Gtl&6<fe 


der  modit'  sein  eigenes  Madel  wohl  lieber  tot  seh'n  als  — ais  so. 

— Aber  daran,  Horst,  daB  unser  Papa  so  1st,  bist  audi  du  sdudd! 

Horsfc:  Idi  — ? 

von  Ruditi:  Wir  wiss'n's.  Wir  wiss'n's  sogar  ganz  genau. — 
Namlldh  — der  Papa  liest  verschwiegens  — in  aller  Heimlidikeit, 
wenn  wir's  net  merken  sollen  — da  liest  er  n ami  idi  docb  all'  die 
verzweifelten  Briefe,  die  die  Trudel  tiber  didi  nacb  MOndien  an  die 
Mama  sdireibt.  — Mit  einem  einzigen  Wort:  Papa  1st  fast  deiner 
Meinung  in  diesem  Fall.  Er  bat  beinah'  die  gleicben  Ansdiauungen 
wie  du.  Aber  das  Schlimme  ist,  daB  du  ihn  darin  nodi  bestarkst! 
Er  war'  vielleidit  langst  — und  voller  Reue  — davon  abgekommen, 
wie  er  sidi,  wahrsdieinlidi  nur  ungem  und  gezwungen,  zu  seinem 
leiblidien  Kind  verhalt.  Aber  dann  kommt  wieder  so  ein  Brief  von 
der  Trudel  uber  didi  — und  da  gibt  er  dir,  sdieint's,  immer  wieder 
redit.  Er  hat  geradezu  einen  gewissen  Halt  an  dir!  — Verstehst' 
midi,  Horst? 

Horst:  Idi  glaub',  icfa  versteh'  — 

von  Ruditi:  Aber  idi  mein',  Horst,  idi  als  Bruder,  daB  in  diesem 
Fall  dodi  nix  aus  unserm  sonstig'n  Ehrenkodex  gilt! 

Horst:  Du  als  ...  Bruder  — 

von  Ruditi:  . . . Das  wei8  die  Trudel  vielleidit  gar  nidit,  daB  es 
nidit  ausgesdhlossen  ist,  daB  du  nadi  allem  Vorhergegangenen  viel- 
leidit nidit  wieder  Offizier  werden  konntest  — 

Horst:  Aber  idi  will's  ja  audi  gar  nidit  — 

von  Ruditi:  Aber  das  redhnet  ja  audi  gar  nidit!  — Denn  du 
bist  ja  — gludklicherweise  — scbon  langst  nidit  mehr  Offizier!  — 
Idi  meine,  wir  durfen  billig  von  dir  erwarten,  daB  du  diet  heute 
nidit  plotzlidi  wieder  einzig  und  allein  auf  den  Offiziersehren* 
standpunkt  versteifist!  — Denn  den  hast  du  doth  aufgegeben, 
indem  du  seinerzeit  ins  Kloster  gegangen  bist.  — Icfa  meine  — 
Horst!  — Sdiwager!  — geh',  so  math'  mir's  doth  net  so  sdiwer! 

— idi  meine,  daB  wir  in  diesem  Falle  an  didi  appellieren  durfen 

als  an  einen  ehemaligen  Month Als  soldier  laBt  du  dodi 

wohl  diristlidiere  Milde  walten  als  irgendein  Offiziersehren- 
rat.  — Der  Papa,  der  ist  in  diesem  Fall  freilich,  sdieint's,  ganz  und 
gar  verknodierter  Offizier.  Alle  wir  Bruder  aber  denken  anders! 


HeinriS  Lautensadi  • Das  GefuSde  319 


Und  du  darfet  eben  falls  nidit  so  denken  wie  der  Papa.  Und  aber 
auf  schon  gar  keinen  Fall  darfet  du  den  Papa,  wie  gesagt,  darin 
auch  nodi  bestarken!  Das  ist  deine  Sdiwagerpflidit  gegen  uns, 
denn  wir  sind  und  bleiben  die  Bruder  von  der  Trudel,  von  einem 
denn  dodi  etwas  moderneren  Gesiditspunkt  aus  als  wie  unser 
alter  Papa  — 

Horst  (schweigt). 

<Kleinc  Pause.) 

von  Rucbti  <ihm  wie  der  zupr  ostend) : Und  nun  bitt'  idi  didi,  Horst 

— sag',  was  ist  denn  eigentlidi  zwisdien  euch!  — Ich  modite,  dafi 
du  mir's  frei  sagst!  — Die  Trudel  hat  vorhin  net  so  redit  damit 
'rausrucken  wollen.  — Idi  selber  weifi  ja  wohl  mehr,  als  idi  der 
Trudel  vorhin  eingestanden  hab'.  — Aber  alles  weiB  idi  nidit! 

— Idi  kann  mir  denken,  daft  es  eine  nur  allzu  delikate  Sadie  ist. 

— Ja,  denk7  doth  nur  selber  einmal  an,  wie  das  arme  Madel  zu- 
ruckgekommen  ist!  — Was  die  hat  aushalten  muss'n!  — Sdion 
wirklich  eine  reine  weiblithe  Odyssee!  — Daruber  steht  nix  nix 
in  keinem  Kodex,  Sdiwager!  — Das  ist  rein  nur  Sadie  als 
Mann!  — Und  du  als  ihr  Mann  darfet  sie  jetzt  nidit  verstofien! 

— Da  gibt's  keinen  Sdieidebrief  — !!  <Er  wurde  immer  erregter. 
Aber  dabei  auch  immer  mehr  unbedingt  fordernd.) 

Horst  <sieht  ihn  an):  Du  bist  ein  netter  Kerl,  Sdiwager  — 

von  Rudlti  <im  Tone  absoluter  Gemfltlicfakeit  Nur  dafi  dahinter  eine  un- 
geheure  Klaue  steht):  Da  irrst  du  dich  aber,  Horst.  — Idi  bin  gar 
nicht  so  nett,  wie  du  vielleidit  glaubst  — 

Horst  <lei«ht) : So  geh',  Karl,  sei  g'sefaeit  — 
von  Rudlti  <ganz  spitz,  ganz  kraltenscharf) : Nein,  g'sdieit  muBt 
du  sein  — 

Horst  <stutzt  vor  dieser  riesig  aufgestandenen  Gefahr):Idl  — muB ?! 

von  Rudlti  <ganz  dnfadi  nun  wieder):  ErlaB  mir  alle  Sentimentali- 
taten,  Horst.  ErlaB  mir  so  wahre  Kinderstubenmardien,  wie  die 
Trudel,  unsere  Sdiwester,  nodi  klein  war,  nodi  ganz  klein.  Ich  konnt' 
dir  audi  gar  net  so  viel  davon  erzanlen,  weil  idi  dodi  dann  bald 
ins  Kadettenkorps  'kommen  bin.  Idi  hab'  sie  dodi  bloB  riditig  alle- 
mal  in  den  Ferien  g'seh'n!  Denn  die  einzelnen  kurzen  Sonntags- 
besudie  kann  ma'  dodi  net  rechnen.  Na,  und  in  den  Ferien,  da  war 


320 


Htinrid)  Lautensadi  • Das  GtfQBdt 


sie  allemal  schon  wieder  ein  bisserl  g'wachs'n . . . Siehst  du,  das  ist 
alles,  was  ich  von  der  Trude!  aus  unsern  Kindertagen  weifl.  Abet 
das  ist  was  anderes,  was  id)  in  bezug  auf  die  Trudel  fuhle, 
audi  heute  nod),  langst  im  beinah'  uberfellig'n  Oberleutnants- 
alter!  — <Er  kimpft  mit  sfA>:  Wenn  id)  das  Wort  Stbwester  in 
einer  leisesten  Geringereinschatzung  hore,  dann,  Horst,  kann's  sein, 
dab  id)  rabiat  werd'.  — (LaAelt  gezwungen):  Also  — du  siehst, 
Schwager,  daB  idi  gar  net  so  »nettc  bin  — 

Horst  (wieder  das  Stutzen  von  zuvor):  Willst  du  mid)  viellekht  zu 
etwas  zwingen  — ? — So  — so  im  Namen  und  Auftrag  deiner 
ganzen  vier  Bruder  — ? 

von  Ruchti  (sAier  weiA):  Sagen  sollst  du  mir  jetzt  endlid)  bald 
Qberhaupt's  was,  Horst  — Mitteilung  macben  — gesteh'n  — 
in  Form  von  Anvertrauen,  was  du  denn  gegen  meine  — gegen 
unsere  Sdiwester  hast 

Horst  <bridit  aus):  Id)  hab'  nichts  gegen  sie,  Karl.  — Ich  hab' 
alles  fur  sie.  — <Zomig) : So  erinner'  did)  doth  gefalligst  selber  dran, 
was  du  nod)  vorhin  vom  Offiziersehrenstandpunkt  g'sagt  hast  — 

von  R U dl  t i : Psst  — <er  sieht  besorgt  naA  dcr  S AlafzimmcrtQr.  — Fest) : 

Ich  erinner'  mich  genau  ...  Id)  hab'  g'sagt,  was  der  vielleicht  nach 
starren  G e s e t z e s buchstaben  entscheiden  wurde,  Horst  ...  I<h  hab' 
aber  auch  g'sagt,  daB  das  fur  uns  funf  Bruder  wenigst'ns  nicht 
gilt  — 

Horst  <kalt>:  Es  gibt  da  nod)  eine  andere  Entscheidung,  mit  der 
ich  die  mdglidie  Erkenntnis  eines  Offiziersehrenrats  nur  in  Ver» 
gleich  setzen  will  — 

von  Ruchti:  Und  die  ware,  Schwager  — ? 

Horst:  Das  Kirchenrecht! 

von  Ruchti  (sAier  eigensinnig):  Das  Kirchenrecht?  — Das  kenn' 
id)  aber  gar  nicht! 

Horst:  Ich  hab's  auch  kaum  gekannt  — Aber  es  verlohnt,  es 
kennen  zu  lemen,  Karl  — 

von  Ruchti  <wieder  naiv):  Jetz'  bin  ich  aber  wirklich  neugierig  — 

Horst  <einigermafien  besAwdrend):  Behalte  dir  immer  vor  Augen  — 
bei  allem,  was  ich  dir  jetzt  sage,  Karl,  behalt'  dir  immer  vor  Augen, 
was  ein  Offiziersehrenrat  da  erkennen  wurde  — 


He  in  rid  Lautenxad  • Das  GetitSde  3Z1 


von  Ruditi  (willig);  Also  gut  — 

Horst  (sieht  sid i am):  Na,  wo  hab'  ich  denn  gleidi  das  Budi 
wieder  — ? 

von  Ruditi:  Das  Kirdienrecht  — ? 

Horst:  Es  mud  drinnen  im  Schlafzimmer  sein. 
von  Ruditi:  Na,  da  g'hort's  ja  wohl  auch  hin! 

<Sie  stehen  beide  ctrai  befangen.  — Kleine  Pause.) 

Horst  (geht  sdalieSIich  entschlossen  an  die  TOr.  Klopft):  Helmtrud — 
Helmtrudis  Stimme  <von  drinnen):  Ja? 

(Kleine  Pause.  — Der  Riegel  wlrd  zurOdtgeschoben.  Die  TQr  6ffhet  sidi.) 

Horst:  Das  Kirchenreditsbud),  Helmtrud,  du  weiBt.  Es  wird  bei 
dir  drinnen  sein. 

Helmtrudis  Stimme:  Ja.  Gleidi. 

(Wieder  kleine  Pause.  — Dann  ersdieint  ein  ganz  nadrter  Frauenarm,  und  in  der 

Hand  ist  das  Budi.) 

Horst:  Danke  schon,  Helmtrud.  <Er  nlmmt's.) 

<Die  Tor  scfalieBt  sidi  wieder.  — Wieder  Riegel.  — Und  nodi  dnmal  dne  kleine 

Pause.) 

Horst  <sdil3gt  die  betreifende  Stelle  auf,  zrigt  mit  dem  Finger  darauf  und 
gibt  seinem  Set  wager  das  Budi) : Da . . . 

von  Ruditi  (liest.  Mit  lautlos  sidi  bewegenden  Lippen.  Liest  nodi  cinmal. 
Mit  starrem  Mund.  BemQht  sidi  zu  verstehen.  Und  versteht  glddiwohl  nidit): 

Wenn  itb  riditig  verstand'n  hab',  willst  du  die  Trudel . . . ins 

Kloster  hab'n...?  (Die  Stirnadern  sdiwdlen  aligemadi.) 

Horst:  Ja. 

von  Ruditi:  Na,  und  du...?  — Wollt  ihr  eins  urns  andere  da 
hinein?  Willst  du  vielleicht,  daB  ihr  miteinander  abwedis'lt?  Erst  bist 
du  drin  g'wes'n  und  jetz'  soil  sie  hinein,  obschon  sie  es  eigentlidi 
war,  die  didi  wieder  'rausgekriegt  hat?  — (Ganz  hewer):’  Betraditest 
du  das  als  so  eine  Art  geistliches  Sanatorium?! 

Horst:  Du  sdieinst  didi  doch  etwas  verlesen  zu  hab'n.  — Der 
Fall  liegt  so  — er  steht  doth  ganz  klar  da!  — daB  ich  — ith, 
Karl  — obwohl  verheiratet,  trotzdem  M5nch  und  Priester  bleiben 
kann,  wenn  meine  Frau  dieselben  Gelubde  ablegt  — ! 

von  Ruditi:  Ah  so also  — du  willst  eben falls  wieder 

ZUTUck — ? (Das  war  ziemiidi  gutmOtig.  — Nun  aber  wieder  feindlidi):  Du  . . . 

du  opferst  didi  sozusagen  fur  sie?!  — Das  heiBt:  eh'  daB  sie 
22 


322 


Heinrich  LautensacH  • Das  Gef&Bde 


weiter  hier  heraufien  in  der  Welt  herumlaufen  darf  und  wenigstens 
fireie  Luft  atmen,  lieber  kehrst  du  audi  wieder  hinter  die  Mauem 
zurfidt  — ? ! 

Horst:  Ja,  sag'  einmal  — willst  du  midi  nidit  verstehen  oder 
begreifist  du  tatsadilidi  so  sdiwer?  — Ja,  glaubst  du  denn,  idi  haft' 
nur  darauf  gewartet,  bis  sidi  mir  die  Pforten  meines  Klosters  wieder 
ofiheten  ? — Du  kannst  dodi  unmdglich  von  mir  annehmen,  dab  idi  das 
Mondiskleid  bloB  wie  zu  einer  Karaevals-Redoute  angezogen  hab'  — ! 

von  Ruditi  <ers  taunt,  verwundert) : Also  — du  wolltest  uberhaupt's 
gar  net  wieder  'raus? 

Horst:  Icb  wollt'  uberhaupt's  gar  net  wieder  'raus. 

von  Ruditi:  Aber  dodi  wohl . . . einigermaBen  . . . wegen  der 
Trudel . . .?! 

Horst  <langsam>:  Icb  hab'  didi  vorhin  gebeten.  Karl,  du  mdditest 
dir  wahrend  all  des  Folgenden,  das  idi  dir  sagen  werde,  immer  vor 
Augen  halten,  wie  ein  von  dir  zitierter  Offiziersehrenrat  wohl  uber 
die  Helmtrud  absitzen  wurde. 


von  Ruditi:  Ah  so! 


Hm. 


Und  so,  meinst  du  <er  sdiligt 


auf  das  Bu<fa>,  sitzt  das  Kirtbenrecht  da  uber  die  Trudel  ab? 

Horst:  Das  Redit,  das  idi  als  Katholik  anerkenne!  Dem  idi  midi 
mit  meinem  ganzen  Gewissen  unterwerfe! 

von  Ruditi  flangsam,  voli  erw5gend>:  Also  — aus  der  staubigen 
Wfiste  kaum  herauss'n:  huit  (pfcifender  Ton>,  hinein  mit  ihr  ins  reini* 
gende  Kloster.  — <Den  Sdbwager  anschcnd):  Allerdings  — jetzt  versteh' 


idi  didi,  Horst. 


<Mit  tief  — zuticfst  gehoitem  Atem>:  Arme  Trudel 


Aus  der  Gefangensdiaft  ins  Gefangnis 


Aus  dem  Regen  in 


dieTraufe  — Du  sdieinst  mir  der  riditige  Fegefeuerwerker,  du 
Horst:  Sdiimpf'  midi  nur  aus. 

von  Ruditi  fauffahrend) : Ja,  bin  denn  vielleidit  idi  daran  sdiuld, 
dafi 

Horst  <gut>:  Werd'  doch  nicht  gleich  so  kleinlidi,  Karl.  — Ja,  geb' 
denn  idi  wem  die  Sdiuld?  — Glaubst  du  an  gar  nix  Hoheres — ? 
Ja,  ist  denn  das  nidit  ein  Weg,  gradaus  gewiesen  von  der  gott- 
lichen  Vorsehung?  — Idi  bin  Priester,  Karl.  Idi  bin  Mondi. 

von  Ruditi:  Augenbliddich  nidit  mehr.  Sondem  das  bist  du 
hodistens  gewes'n. 


HeinriS  LautettsadS  • Das  GefOBde  323 


Horst:  IA  will's  zumindest  wieder  werden.  <Mit  echtem  Pathos): 
Gottesstreiter . . . 

von  RuAti  <erwidert  nichts  daraaf). 

<Pause.) 

Horst  <nimmt  das  Buch):  Jetzt  aber  magst  du  seiber  ratcn,  Karl.  — 
Dieses  Gesetz  da  <aufs  Budi  klappend)  ist  keln  so  starrer,  toter  BuA- 
stab'n.  Sondem  das  sieht  auA  Ausnahmebestimmungen  vor.  — So 
geh'  do'  her.  I'  zeig'  dir's.  — Der  verheiratete  Mann  kann  natur- 
liA  nur  ins  Kloster  gehen  oder  — trie  iA  in  meinem  Fall  — ins 
Kloster  zuruckkehren , wenn  erstens  einmal  die  Frau  zustimmt  und 
zweitens  sowohl  fur  das  Fortkommen  der  Frau  als  auA  fur  das  der 
Kinder  hinreiAend  gesorgt  ist.  Die  Frau  seiber  aber  muB  nur  eben- 
falls  ins  Kloster  gehen,  wenn  sie  noA  sehr  jung  ist. 

von  RuAti:  Ja,  aber  — die  Trudel  ist  doA  jung! 

Horst:  Na,  so  sAau  doA  her.  — Die  Frau  brauAt  — aber  auA 
for  den  Fall,  daB  sie  noA  so  jung  ist  — do  A ni  At  ins  Kloster  zu 
gehen,  wenn  sie  andere  VerpHi Atungen  — als  wie  Kinderpflege 
zum  Beispiel  — da  steht  doA  ganz  deutliA  »Kinderpflege«  — 
davon  zuruckhalten. 

von  RuAti:  Ja,  aber  — die  Trudel  und  du,  ihr  habt's  doA  keine 
Kinder!  — Oder  wo  solltet  ihr  denn  auA  Kinder  herhab'n? 

Horst:  Da  steht  doA  noA  eine  Ausnahme,  for  den  Fall,  daB 
die  Frau  erstens  noA  sehr  jung  ist,  und  zweitens  niAt  einmal 
Kinder  hat:  AuA  dann  kann  sie  even tu ell  von  den  geistliAen 
Obem  Ae  Erlaubnis  erlangen,  weiter  in  der  Welt  leben  zu  dGrfen, 
unter  der  Bedingung  freiliA,  daB  sie  ein  immerwahrendes 
— hlerl  — da!  — ein  immerwahrendes  KeusAheitsgelubde 
ablegt. 

von  RuAti  <stiert  in  die  Zeilen,  die  ihm  fast  vor  seinen  Augen  ver- 
sdjwimmen.  — Wieder  ridjtend,  wie  ein  Richter):  Also  du  seiber  gibst  es 

zu,  daB  sie  niAt  ins  Kloster  brauAt.  Sondern  du  verlangst  nur  — 
wie  billig  von  dir!  — daB  sie  wegen  ihrer  bunten  und  abenteuer- 
liAen  Erlebnisse  drunten  in  Innerarabien  ein  immerwahrendes  Keus  A- 
heitsgelubde  ablegt? 

Horst:  NiAt  einmal  so  sehr  for  sie  — aber  for  miA  doA!  for 
mi  A!  — Denn  iA  will  do  A wieder  ins  Kloster  zuruA!  — Oder 


324 


Heinrich  LautensacA  * Das  Gef&Bde 


was  soil  ich  hier  herauss'n  anfangen  — nach  allem  V orhergegangenen.  — 

<Er  hat  sicfa  bezwungen.  Wird  hart.  Er  verhJrtet.  Wie  ein  Urtdl):  Gleichwohl 

mag  die  Helmtrud  selber  entscheiden,  was  ihr  gerediter  dunkt: 
entweder  nur  das  immerwahrende  Keuschheitsgelubde  ablegen  und 
dann  weiter  hier  herauB'n  in  der  Welt  leben  — oder  aber  lieber 
gleidi  ganz  hinein  mit  ihr  ins  Kloster, 
von  Ruditi  (still):  Du  meinst,  sie  wird  freiwillig  das  schlim* 
mere  Los  von  den  beiden  wahlen  und  ganz  ins  Kloster  gehen? 

Horst  (wie  oben):  Ich  hoffe,  sie  wird  sich  fur  das  Leiditere  ent- 
sdieiden  und  in  aller  Form  den  Schfeier  nehmen.  Denn  das  ist 
dodi  wohl  das  Leiditere. 
von  Ruditi  (widerspridit) : Das  Sdiwerere. 

Horst  (unbewegt):  Das  Leiditere.  — (Sonor):  Und  dabei  die 
innigere  Vereinigung  mit  Gott.  (Lange  Stille.) 

von  Ruditi:  Da  war'  ich  nun  also  nach  Batau  herunterg'fahr'n, 
von  meinen  El  tern  und  Brudern  mit  alien  nur  erdenklichen  — ener- 
gischen!  sdiarfen!  — Vollmaditen  ausgestattet/  und  statt  dess'n  sitz' 
ich  nun  da  und  laB  midi  von  dir  wie  ein  Sdiulbub'  belehren.  — 
Hast  du  jemals  daran  gedacht,  daB  du  protestantisdi  werden  konntest? — 
Meinet-  und  unsertwegen  sogar  protestantischer  Pfarrer,  wenn  dir 
die  Seelsorge  und  das  Predigeramt  gar  so  sehr  in  Fleisch  und  Blut 

ubergegangen  sind  — ? 

Horst:  Ich  lieg'  dodi  an  solcherlei  Gesetzen  nidit  etwa  gekettet 
wie  ein  Hund,  daB  idi  nur  darauf  warte,  damit  ihr  mir  die  Frei* 
heit  gebt!  — Der,  der  dies  grundlegende  Buch  gesdirieben  hat, 
Karl  — das  ist  zufallig  ein  Abgefallener  von  unserm  Glauben. 
Der  ist  protestantisdi  geworden!  — Trotzdem  ist  und  bleibt  es 
das  Buch  ubers  Kirchenredit/  das  beste  Nachsdilagewerk , das  in 
keinem  noch  so  kleinen  katholisdien  Pfarrhause  fehlt. 

V O n R U dl  t i (wieder  schwer  von  Mitleiden) : W as  ist  denn  nadl'er  — — 

WeiB  die  Trudel  schon,  was  du  mit  ihr  vorhast?  Hast  du's  ihr 
schon  g'sagt,  daB  sie  ins  Kloster  muB? 

Horst:  Das  Buch  hat  sich  vorhin  nidit  ganz  umsonst  drinnen  bei 
ihr  gefunden.  — Ich  glaub',  sie  hat  wer  weiB  wie  oft  schon  d'rin 
g'les'n.  — Qbrigens  hat  sie  sich  dieses  Exemplar  durch  die  Wald- 
bauersdie  Buchhandlung  eigens  kommen  lass'n. 


Hein  rich  La  u ten  sad  • Das  GefUBde 


von  Rucbti:  Hast  du  sie  auf  besondere  Stellen  hingewies'n? 


Horst  {sdiQttclt  stumi 


M ■ M 


it  dcm  Kopf)* 


von  Ruditi  <aufgebra«fat> : Sie  soil  den  betreffenden  Passus  also  gar 


wohl  audi  nodi  von  selber  finden 


was? 


deiner  Seite  lafit  du  sie  dabei?  Ganz 


Ohne  jede  Hilfe  von 
also  wirklidi  ganz  von 


selber  soil  sie  d'rauf  kommen?  — Du  willst  sie  sozusagen  allmah- 
lidi  reif  dafiir  wer'n  lass'n?!  <MerkwOrdig  fest):  Das  kann  idi  nidit 
zugeb'n,  Horst  — auf  gar  keinen  Fall. 


Horst  <sdiweigt.> 

von  Ruditi  <sicfa  verzweifelt  auflehnend):  Das  arme  Madel 


I 


Kennt  sidi  heut'  vielleidht  in  einem  arabischen  Koran  nodi  eher  aus 


als  wie 
aber 


<Bezwingt  sitfc  wieder):  Lieber  sag'  idi  ihr's  selber,  Horst, 
aber  auf  einen  jeden  Fall  muB  idi  zuerst  mit  den  Eltem 


und  Brudem  spredien.  — Du  hast  midi  ja  nun  wohl  <ihn  brennend  an- 
sehcnd)  genugend  orientiert.  — AuBerdem : hat's  dir  so  lang . . . hat's 
dir  ganze  vier  Wodien  no'  net  pressiert  mit  einer  diesbezuglidien 
Erklarung,  so  kann's  audi  noth  drei . . . vier . . . oder  hodistens  funf 
Tage  lang  dauern!  <EntsAlossen> : Das  Budi  da  nehm'  idi  jeden  falls 


mit,  da6  du's  weifit! 


(Bebend  mit  alien  Fibern):  Und  dir,  Horst, 


zwing'  idi  zuerst  nodi  die  heilige  Versicherung  ab,  dafi  du  ihr  von 
nix  eher  sagst...  von  nix,  Horst,  von  all'  dem. 

Horst:  Das  Verspredien  kann  idi  dir  beim  besten  Willen  nidit 
geben. 

von  Rudhti  (s<barf):  Was? 

Horst  (ringend  mit  Atem  so  wie  mit  GefOhl):  Du  modltest  jetzt  von 
hier  mit  der  fur  midi  wenig  stbmeidielhaften  Meinung  weggehen,  daB 
idi  Helmtrud  seit  unserm  Wiedersehn  einer  Art  Kasteiung  unter* 
werfe  — was?!  Und  zwar:  idi  nur  sie  — !!  Einer  sowas  wie  fleisdi- 
lidien  und  seelisdien  Abtotung  — ?!  — Ja,  glaubst  du  denn,  idi  leide 
nidit  init  ihr  mit?! 

von  Rucbti  <zwingt  seine  Stimme  nieder,  so  sehr  er  nur  kann>:  Im  ubrigen 
find'  icb  das  hundsgemein  von  dir,  mit  einer  Frau  in  zwei  solcfaen 
Hotelzimmem  zusammenzuhausen,  wenn  man  auch  nur  eine  Sekunde 
lang  einen  solchen  Sdiritt  in  bezug  auf  ihr  ganzes  femeres  Leben 
vorhat  als  wie  du!! 

Horst  <ist  nidit  im  mindesten  zusammengezudct) : Idi  bitie  didl  um  Ent» 


326 


HeinricB  Lautensad  • Das  GefaBde 


schuldlgung,  wenn  ich  didi  mit  der  grobten  und  bedeutendsten  Vor* 
bedingung  fur  mein  ganzes  weiteres  Zusammenleben  mit  Helmtrudis 
nodi  nidit  bekannt  gemadit  hab.  — (Mirtyrerhaft : der  Ausdrudc  muB  a n- 
gebracht  seia):  Aber  jetz'  muli's  sein.  Jetz'  hilft  keine  Rucksicbt  mehr 
darauf,  dab  du  ausgeredient  der  Bruder  von  Helmtrudis  bist 
Idi  hab  dir  bisher  etwas  versdiwiegen.  — Nun  gut:  idi  werd'  dir 
ein  Merkzeidien  einleg'n  an  dieser  Stelle  des  Bucfaes.  <Er  geht  aufihn 


zu.  Will  ihm  das  Budi  abnehmen,  und  als  der  es 


streitsflcfatig 


zu  behalten 


versudit,  ringt  er's  ihm  eben 
reicht  ihm  die  Stelle  hin.) 


it  einiger  MQh'  ab. 


Sodann  schl5gt  er  auf  und 


von  Ruditi  (liest/  so  ihnlith  wie  vorhin  schon  einmal): 

Horst  <kommt  ihm  zu  Hilfe) : Dab  ich  einmal  das  Gelubde  ablegte. 


das  wirkt  nacfa. 


Wir  durfen  sonst  zwar  leben  wie  zwei  andere 


Eheleute  audi/  nur  darf  der  Mann  den  ehelidien  Verkehr  <den  Finger 


darauf)  wohl  leisten 


nidit  aber  fordern! 


Und  das  weib 


Helmtrudis ! <Diese  S3tze  kamen  immer  nodi  etwas  angstlich'sdineller.  — Aber 

nun  wieder  gefafit/  auf  alles  gefafit):  Das  ist  ih’-  bei  meinem  Absdiied  aus 
dem  Kloster  gedruckt  vorgehalten  worden:  so  wie  du's  jetzt  sdiwarz 
auf  weib  vor  dir  siehst.  — Aber  da  von  hat  sie  eudi  naturlicfa  in 


keinem  Brief  mit  keiner  Silbe  etwas  verlaut'n  lass'n 


was 


? 


wie 


??  hab'  idi  recht 


?! 


von  Ruditi:  Nein.  Davon  . . . nidits.  (Lange  Pause.) 

von  Ruditi  (wie  man  einen  Sthlafenden  weckt):  Horst  — jetz'  pass’ 


auf 


du  mubt  endlich  fort  von  hier 


I 


Ah  nein,  du. 


die  Trudel,  du,  die  ist  nidit  so  dumm!  Die  hat  genau  heraus- 
gefunden,  dab  du  von  hier  weg  mubt!  Von  hier  weg!  Vom  Kloster! 
Aus  der  Nah'  vom  Kloster! 


Horst:  Das  kann  ich  nidit! 


Idi  bekomm'  mein  Leben  von 


hier 


(sarkastisch) : ja,  vor.  hier,  von  der  Nahe!  — (Wieder  ernst. 


Gllubig.  Voll  sdiier  eines  kindlicben  Vertrauens):  Ich  war  beim  Bischof. 


Idi  krieg'  eine  Stellung. 


Auf  einem  bisdidflichen  Besitz. 


Drauben  in  der  bisdioflidi'n  Brauerei. 


Die  geistlidi'n  Herni 


verlass'n  midi  nidit  — Die  lass'n  midi  nidit  im  Stidi. 


Die  setz'n 


midi  gar  bald  in  Stand,  dab  idi  meine  Frau  ernahren  kann. 


Die 


haben  mir  sdion  Vorsdiub  'geb'n,  denn  von  was  sonst  hatt'  ich  das 
Hotel  hier  bezahlen  konnen. 


HeinriS  Lautensadi  * Das  GeCtiBde 


327 


tm  99999  ******** 


von  RuAti:  Du  kannst  von  uns 


von  mir 


von  Trudcl  Geld 


hab'n. 


Wir  brauA'n  kein'n  VorsAuB  von  einer  bisAdf 


liA'n  Brauerei 


ll 


(ratselhaft  stair):  I A mull  aber  doA  meine  Frau  aus  meinem 


Eigenen  emahren  konnen. 

von  RuAti  <absdmeidend) : Also  du  kommst  mit. 

Widerrede  mehr.  — Auf  einen  jeden  Fall  vorlaufig  wenigstens 


IA  dulde  keine 


kommst'  mit. 


<S<fceltend> : Das  muB  denn  do  A erst  untersuAt  wer 


den,  ob  diese  Stellung  da,  die  du  kriegen  sollst,  auA  eine  halbwegs 
standesgemaBe  fur  euA  ist. 

Horst:  IA  komm'  niAt  mit! 

von  RuAti:  Das  sind  vielleiAt  alles  ganz  und  gar  verstoAte, 
hinterlistige,  feige,  meineidige  Ausreden  von  dir. 

Horst:  IA  komm'  niAt  mit! 


von  RuAti  <sieht  mit  einem  plotzlidien  Einfall  auf  die  Uhr):  Himmiherr- 
gottsakarement.  I A mufi  ja  zum  Kinateder.  Es  ist  die  hoAste  Zeit! 
IA  kann  doA  unmogliA  absag'n.  Aber  — <Er  sieht  seinen  Sdiwager 
wieder  einmal  brennend  an):  Aber  — vielleiAt  ist  das  auA  ganz  gut  so. 
So  bleibt  dir  Zeit  zum  uberleg'n.  — (Besorgt,  stfcier  ersdhrocken) : Nein 
— niAt  uberleg'n  — ! NiAt  naAdenken,  Horst!  VerspriA  mir  das  — ! 
Du  verspriAst  mir,  daB  du  mit  der  Trudel  jetz'  runter  ess'n  gehst 
zur  Table  d'hote  . . . Die  wird  sowieso  sAon  hungrig  sein  . . . IA 
meine,  du  verspriAst  mir,  Horst,  daB  du . . . daB  du  wart'st,  bis 

iA  wiederkomm' . . . <betonend>:  mit  allem. 

Horst:  IA  verspreAe  dir  niAts. 

von  RuAti:  Du  . . . verspriAst  . . . niAts  . . .?! 

Horst:  Nix. 


von  RuAti  <tangt  an  zu  keucben  in  seiner  Ohnmacbt,  die  — gar  nidit  lacier- 
lid>  — hier  rein  durdb  gesellsAaftlidie  RQdssidjtnahme  entsteht):  Weifit  du,  was 

iA  jetzt  moAt'  — 

Horst:  Nun?  <Erhebt  seinen  Blick  zu  ihm.) 

von  RuAti  (sAreiend):  SAieBen  moAt'  iA  jetzt  auf  diA  — — 
MiA  sAieBen  mit  dir  — • — da!  — da!!  — so!  — so!!  — (Er  er- 
hebt  den  linken  Arm):  Mit  der  linken  Hand  — Auf  links  sAieBen 
moAt'  iA  miA  mit  dir  — <Der  Riegel  fihrt  zurOck.) 

Helmtrudis  <sturzt  — aber  angezogen  — aus  dem  SAlafzimmer). 


328 


HebtriS  Lautensadi  • Das  GefQbde 

FQNFTER  AUFTRITT 

Die  Vorigeo.  Helmtrudis. 

Helmtrudis:  Karl !! 

von  Ruditi  (seiner  selbst  nicht  mehr  michtig):  Warum  hab'  idl's  nicht 
getan  — ? — Warum  hab'  i<b  Rindviech  statt  so  vieler  guter  Vor- 
satze  nidit  einfadi  einen  Revolver  mitgenommen  — oder  zwei  — 

Helmtrudis  (ihren  Mann  — Horst  — mit  ihretn  Leibe dedcend):  Karl !! 

Horst  (sdiiebt  die  Frau  leis  vor  sicb  veg):  Na  SO  sdiieB  dodi!  Du 
sollst  so  oft  auf  midi  abdrudcen  durfn  wie  du  nur  willst.  — Idi 
aber  ding7  mir  als  einzige  Gegenwehr  dieses  Bucb  da  von  dir  aus. 
Helmtrudis:  Horst  — !! 

von  Ruditi:  Dieses  BOcfael  — von  einem  Protestanten  — ?? 
Helmtrudis:  Karl  — !! 

von  Ruditi:  (vie  oben):  Diet  mu6  man  nur  unschadlich  macben 

— dann  sind  alle  Sdiwierigkeiten  mit  einem  Scblag  vorbei. 

Horst  (sdiier  eigensinnig):  Dann  bleibt  dodi  immer  nodi  dieses  Budi. 
von  Ruditi  (das  Letzte  versucfcend.  Er  siebt  von  jetzt  ab  seinen  Sdi  wager 

fiber haupt  nicht  mehr  an>:  Trudel  — bis  ich  wiederkomm',  hast  du  alles 
gepadct!  — Du  fahrst  heut'  abend  mit  mir  zuruck  nadi  Mundien! 

— Der . . . Papa  will's!  — Horst  du,  Trudel?  — Der  Papa  — !! 
Helmtrudis  (vie  skfc  erst  langsam  erinnernd):  Der  . . . Papa  — ? — 

(Ganz  einfadi):  Der  Papa  hat  kein  Recht  uber  mich  mehr.  Die  Mama 
nidit  mehr.  Du  nimmer.  Alle  nimmer.  Ich  pack'  nidit  ein  uud  ich 
fahr'  nicht  mit  dir  zuruck.  Ich  aliein  — nidit!  — (Ganz  kleln.  E!n 
Kind):  Er  . . . muB  . . . mit.  — (Sie  drebt  sidi  langsam  um.  Wie  cine 

Puppe,  die  man  dreht.  Wie  ein  abnormer  Menscb  — moto  homo  — , den  man  in 
einer  Schaubude  auf  der  Batauer  Maidult  gezeigt  hat.  So  dreht  sie  sidi  langsam 

na<h  ihrem  Mann  um):  Oder  nein:  er  muB  audi  nidit  mit . . . Idi  will 

gar  nicht . . . Er  muB  auch  nicht  mehr  . . , Wir  zwei  bleib'n  da  . . . 

Das  ist  nichts,  dafl  du  gekommen  bist . . . Geh'  du  nur  zu  dein'm 

Kameraden  und  seiner  Frau  ...  Wir  zwei  — wir  bleib'n  da  . . . 

(Das  letzte  re  ganz  im  Tone  von:  »Wir  machen’s  uns  gemfltlich  hier  — wenn  du 
erst  nimmer  da  bist«  . . .) 

von  Ruditi  (auf brausend) : Trudel  — ! — Jetz'  is's  wohl  aufeinmal 
mit  dir  auch  nimmer  so  ganz  richtig  — ? 

Helmtrudis  (einfadi):  Geh,  Karl...  Schau,  du  kommst  doch  sonst 


329 


Htbtrid)  Lauttnsad  ■ Das  GtlUBde 

zu  spat . . . Und  nadi'er  komm'  wieder  her . . . Math'  didi  bald  frei 
von  dein'm  Kamerad'n  und  seiner  Frau . . . Nadi'er  red'n  wir  nocb 
einmal  druber . . . ruhiger,  Karl... 

von  Ruditi  (scbmerzliA) : Trudel  — ! — Du  weifit,  wie  gem  icb 

didi  hab'  — — <Er  nimmt  das  Kirchenrechtsbudi.  Steckt's  ein.) 

Helmtrudis:  Sdio'  redit,  Karl...  Geh',  Karl... 

VOn  Ruditi  (ungewollt  sSbelklirrend  — ab.  Ja,  eigentlich  do  wenig  so  vie 

auf  sdbeuer  Flucht  — davon.  Man  h5rt,  als  er  schon  drauBen  1st,  nodi  seine  klim- 
pernden  Sporen). 

SECHSTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Ohne  von  RuditL 

(Lange  Pause.) 

Helmtrudis  (in  einem  ganz  verSnderten Ton,  der  auf  eine  Verinderung  Ihrer 
ganzen  Sinnesrjdbtung  sdiliefien  lafit  Und  dodi  audi  ein  ganz  kldn  wenig  beab> 
sichtigt,  dieser  Ton:  wie  Frauen  nun  dnmal  sind.  Jedenfalis  eine  soldie  Frau  wie 
diese  geht  da  sogfeidi  auf  eine  andere  Art  zwar  als  zuvor  auf  ein  Ziel  zu  . . . 
aber  das  Ziel  erweist  sidi  als  das  namlidie  wie  zuerst  , . . oder  es  wir'  keine 

Frau):  Wir  bleiben  . . . wir  zwei  . . . Wir  ziehen  nur  von  hier  aus  . . . 
aus'm  Hotel  ...  und  wohnen  uns  privat  wo  ein...  Icb  kann  das 
nidit  mitanseh'n,  Horst,  dab  sie  so  mit  dir  umspringen . . . Das  ist 
ja  beinah'  als  wie  mit  m i r . . . — Ja.  Sie  sdiatzen  didi  genau  so 
sehr  nur  mehr  halb  ein  als  wie  midi... 

Horst  (vom  vorkergehenden  Auftritt  und  namentlicb  von  dessen  ietztem  Ende 
e ben  so  sehr  gepadtt  als  von  der  Gewalt  ihrer  sanften  Stimme,  die  wie  eine  weifte 
dufiende  Frauenhaut  auf  ihn  wirkt) : Bin  icb  nidit  immer  nett  zu  dir  g'wes'n, 

Helmtrud?  — Hab'  idi  dir  jemals  was  getan?  — Dein  Bruder 
glaubt,  icb  maltraitier'  dich  irgendwie  — ! 

Helmtrudis:  Nein,  nein.  — Nein,  icb  bin's  — icb  bin's,  der 
nocb  alles  fremd  ist.  Icb,  die  sidi  nocb  nidit  eing'wdhnen  hat 
konnen  — 

Horst:  Nein,  Helmtrud.  Mir  — mir  ist  alles  ebenso  fremd. 
Oder  sogar  nocb  viel  fremder  wie  dir.  — Du  — du  bist  eine 
Frau.  Und  Frauen,  die  denken  einfacb:  sie  seien  wieder  da.  — 
Du  bist  ja  aucfa  riditig  erst  wieder  zuruckgekommen.  Du  bist  wie 
gewaltsam  verscbleppt  g'wes'n.  Und  nun  ist  dir  alles  neuge* 
wonnen.  Du  warst  sofort  wieder  vollig  eing’lebt,  wenn  icb  nicbt 
ware.  — Aber  icb  — icb  bin  net  fortg'wes’n.  Wenigst'ns  net  auf 


Heinri<£  Lauttnsadi  • Das  GefQBde 


die  g'waltsame  Art  wie  du.  Sondern  icb  hab'  mid)  freiwillig  ver- 
bannt  gliabt.  Idi  hab  abg'sdiloss'n  g'habt  mit  allem  Weltlidien.  — 
Du  hast  immer  und  immer  wieder  g'hofft,  du  kamst  nodi  amal 
zurudc.  — Idi  aber  hab'  fest  und  stark  vertraut,  dab  ith  nidit 
wieder  zurudtkommen  brauch'  — nie  wieder  zuruddcommen.  — Das 
ist  der  grofie  llntersdiied,  Helmtrud  — 

Helmtrudis:  Idi  hab'  nie  ganz  g'giaubt,  dafi  du  tot  warst.  Idi 
hab's  nie  ganz  fur  moglich  halten  konnen  — 

Horst:  So  sind  die  Frauen.  Du  warst  immer  nodi  hier.  Sogar 
aucfa  tief  — tief  — zutiefst  — da  — da  — da  drunten  wo.  So 
sind  die  Frauen. 

Helmtrudis:  Ich  hab'  immer  g'giaubt,  dab  es  nodi  einmal  an- 
fangen  mufit'  — genau  da,  wo's  auf  so  elementare  Weis'  zwisdien 
uns  aufg'hdrt  hat  — 

Horst:  Ja  ja  — ganz  gewifi  — idi  versteh'  didi  vollkommen  — 

Helmtrudis:  ...  Wie  wir  von  Konstantinopel  mit'm  Nordsud- 
exprefi  heraufg'fahr'n  sind  ...  da  war  hier  in  Batau  Zollrevision . . . 
Zwei  Herm,  die  mit  uns  'raufg'fahr'n  sind,  zeigten  uns  das  Kloster, 
in  dem  du  bis  dahin  immer  nodi  ganz  ahnungslos  warst . . . Da  hab' 

idi  den  Steinhaufen  da  droben  (sie  deutet  zurtidc  durcbs  Penster  hinaus) 
mit  seinen  flimmemden  goldenen  Kreuzen  auf  den  beiden  Tfirmen 
und  mit  seiner  steinemen  Stiegen  bis  'runter  an'n  Flufi  ang'seh'n, 
als  ob  er  mir  bereits  in  mandaem  Traum  ersdiienen  g'wes'n  war' . . . 
Idi  meine,  das  Bild  kam  mir  so  gar  net  neu  vor  ...  so  gar  net  un- 
bekannt . . . 

Horst  <als  ob  er  cine  leissenscbaftliche  These  bewahrheltet  flnde):  Ja  ja  — 

sehr  rich  tig.  — <Und  aber:  dieses  wisseoschaftiiche  Ergebnis  stinde  in  absofutem 
Widerspruch  mit  seiner  Religion,  an  die  er  unerschOtteriidi  glaobt!  . ..> 

Helmtrudis:  Das  ist  auch  eine  Art  Giauben,  Horst,  und  eine 
Art  Glaubensstarke  — 

Horst:  Bei  euch  Frauen  — ja.  Bei  uns  Mannem  allerdings  kdnnt's 
leidht  sein,  dab  es  nur  ein  naditraglidi  hineinkonstruierter  Fatalis- 
mus  ware,  der  sich  Gott  sei  Dank  gelohnt  hat  — das  heibt,  nach- 
dem  das  Sdilimmste  sdion  vorbei  war  und  sich  alles  zum  Guten 
wendete  — 

(Pause.) 


HeinricB  LautonsaeH  • Das  Gef&Bde  331 


Horst  <und  nun  sieht  er  die  Briefe,  die  daliegen.  Und  er  I iest  die  Briefe.  Das 
beifit:  er  liest  einen  sozusagen  an,  wie  man  etwas  aniBt,  und  legt  ihn  wieder  weg. 
Einen  zweiten  ditto.  Ein  dritter  veriobnt  sich  ihm  sdion  nicfat  mehr.  Es  ist  ja  dodi 
immer  dasselbe:  von  Variety  direktoren / von  Budi-  vie  Heitungsverlegem,  von 
Filmfabriken.  Er  hat  sdion  offer  welche  — solcbe  gelesen.  Er  l5Bt  das  Ganze 
wieder  sein.  — Aber  ohne  mit  einer  Bewegung  etwas  zu  verraten.) 

Helmtrudis  (hat  ihm  zugesehen.  Ebenfalls  ganz  beruhigt.  Und  nun  so  ganz 
versohnt  und  als  war'  nie  ein  Sprung  in  ihrer  Vereinigung  als  wie  Glas  vorge- 
kommen.  Ohne  die  geringste  Klage  oder  Anklage  wie  audi  sdion  vorher  in  all 

ihren  Satzen  in  diesem  Auftritt.  — Wie  eine  Geige  klingt):  Ich  mufi  jetzt  oft 

daruber  nadidenken  — es  bleibt  mir  ja  jetzt  audi  so  viel  Zeit  dazu 

— hier  in  so  einem  Hotelzimmer ich  mufi  jetzt  oft  daruber 

nadidenken,  wie  du  damals  warst  Nicbt  etwa  wie  du  als  Brautigam 
g'wes'n  bist.  Aber  wie  sicb  so  die  ersten  Tage  unserer  Ehe  ge- 
staltet  haben.  Du  kannst  midi  leicht  verweisen,  als  ob  das  eine  Er- 

innerungstauscbung  von  mir  ist . . . (Sie  sagt  das  so,  als  ob  er  sidi  seitdcm 
von  Grand  aus  gebessert  hatte  in  einem  jeden  Betradit>:  Ich  mufi  so  oft  jetzt 

daran  denken,  wie  die  wenigen  Tage  auf  unserer  so  sdinell  unter- 
brodienen  Hodizeitsreise  waren... 

Horst  (hordit  auf):  — — 

Helmtrudis:  ...  Sdiwankende  Bretter.  Ewig  schwankende.  Zu- 
erst  unter  unsem  Fufien  auf  den  Sdiienen.  Und  dann  unter  unsern 
selbigen  Fufien  auf  dem  Wasser.  Warum  bist  du  ubrigens  damals 
sogleich  von  der  Bahn  aufc  Sdiiff?  Aus  dem  Sdilafwagen  heraus 

— kaum  heraus  — sogleich  auf  ein  Sdiiff?  Von  den  rollenden 
Brettem  herunter  sogleich  auf  sdiaukelnde?  Ist  eine  solcfae  Unruhe 
in  dir  g'wes'n,  dafi  du  ewig  nur  dahingleit'n  hast  woll'n?  — Manch- 
mat  hab'  ich  mir  audi  sdion  gedacht:  er  hat  sich  damit  einen  Zwang 
auferleg'n  woll'n:  er  hat  sich  nur  immer  mit  mir  erst  in  ein  Eisen- 
bahnabteil  und  dann  gar  auf  ein  Sdiiff  freiwillig  eing'sperrt,  mit  mir 
zusammeng'sperrt , vielleidit  weil  er  mir  beim  allerersten  Spazier- 
gang  im  Freien  einfach  auf  und  davong'lauf'n  war'.  — Ich  uber- 
treib's  in  der  Erinnerung  vielleicht  ein  bisserl.  Wir  hab'n  ja  die 
Billetts  b'reits  fest  g'lost  g'habt  zu  unserer  Weltreise.  Aber  wir 
hatten  aufierdem  Zeit  wie  Geld  g'habt  — (Und  da  springt  sie  auf  und 
hangt  sich  mit  einemmal  an  seinen  Hals):  Warum  bist  du  damals  SO 

g'wes'n  zu  mir  — ? Ich  mein',  ich  halt'  ja  uberhaupt  nie  was  von 


22  VoL  m/i 


332 


HetnricB  LautensacG  • Das  Gtfa&de 


dir  g'habt  — ! Hab'  ich  das  abcr  verdient  — namentlich  auch  in 

der  darauffolgcnden  Ze it in  den  neun  Jahren  Sklaverei 

— und  widerwilligstem  HaremSleben  — ?!  Ich  mein'  grad',  ich 

hatt'  wirklich  nie  etwas  von  dir  g'habt ich  mocht'  endlicb  was 

von  dir  hab'n und  ist  es  ni<ht  deine  Pflicht,  mir  endlicb 

einigermaBen  durcb  deine  Liebe  Genugtuung  zu  verscbaffen  fur  all 
die  Unbilden,  die  icb  wehrlos  erduldet  hab'  — ?!  Warum  willst  du 
jetzt  kein  Geld  von  mir  annehmen  — ? Warum  wart'st  du  auf  eine 
solcbe  — vielleidit  niedere  Stellung  — ? Oder  bist  du  vielleicfat  da- 
mals  vor  neun  Jahren  schon  so  seltsam  zu  mir  g'wes'n,  nur  weil's 
dich  g'reut  hat,  daB  du  in  mir  eine  solch  Reidhe  geheiratet  hast — ?! 

Horst  (ganz  hilflos):  Idi  bitt'  dich,  Helmtrud,  mach's  nicht  vom 
bloBen  Geld  abhangig  — — 

Helmtrudis  <hdfi>:  Idi  bau'  uns  ein  Hausel.  Du.  Ich  bau'  uns 
ein  Haus.  Ich  bau'  dir's  mein'tsweg'n  — Wir  bauen  uns  ein  Haus, 
ganz  nach  deinen  Angaben.  Ich  bau'  dir's  mein'tsweg'n  hier  auf'n 
Berg  hinauf:  schrag  vis-a-vis  vom  Kloster.  Wir  richten  dir  mein'ts- 
weg'n sogar  eine  Zelle  ein:  denn  du  lebst  doch  noch!  Bist  nicht 
ertrunk'n  damals,  wie  mir  eine  der  furchterlichsten  Stunden  meines 
Lebens  hat  vorgaukeln  woll'n!  — Du  lebst  doch  noch!  — Aber 
ich  — ich  leb'  auch  noch.  — Mein  Gott,  mein  Gott,  oh  — Horst, 
geh',  so  sei  doch  vernunftig:  ich  bin  g'fangen  g'halt'n  wor'n  und  du 
hast  dich  selbst  eing'sperrt  — — ja,  hatt'  denn  das  nicht  auch 
gerade  umgekehrt  der  Fall  sein  konnen  — ?!  — DaB  du 
g'fangen  g'nommen  word'n  warst  — und  ich  mich  freiwillig  ein- 
g'sperrt hatt'  — ? — Wenn  ich  d i ch  an  meine  Stelle  denke  — d i ch , 
Horst  — dich  — dich  — dich  — dich  — oh  was  wurd'  ich  fur 
Mitleid  fflr  dich  haben  — ?! 

Horst  (erschottert) : WeiBt  du,  was  ich  von  dir  fordere  — 

Helmtrudis  (allmaUicfi  rasend  werdend,  darum  nicht  etwa  »zweideutig«> : 

Du  hast  kein  Recht  zu  fordem 

Horst  <verzweifeJt) : Heilige  Mutter  Maria  — 

Helmtrudis  <sie  deutct  irgendwo  hin,  wo  sie  annimmt,  dafi  das  Bach  noch 

liege):  In  dem  Buch  steht,  daB  du  kein  Recht  zu  fordem  hast 

Horst:  Helmtrud  — ! ich  bitt'  dich  — 


HcinriS  La  u ten  sad  * Das  Gef&Bde  333 


Helmtrudis:  Da  steht  aud)  nichts  von  Bitten-durfen  mchr 

drin  in  dem  Budh.  — Das  1st  dir  da  alles  nicht  mchr  erlaubt 

Horst:  Du  vcrstehst  mid)  nidit  — 

Hclmtrudis  (lauft  mit  einem  Male  zur  Ausgangsttir  und  sAlieBt  sie  von 
innen  ab.  Kchrt  zurOck  und  steht  da  und  sieht  ihn  — hr  — an) : Id)  — ? — 

I<h  — ? — Ah  — ich  will  dich  ja  gar  nimmer  verstehn.  — <Stcht 

wieder  da  und  biidrt  ihn  wie  irr  an.  Und  aber  sagt  wie  gan z besonnen):  Id)  bin 

ja  keine  Frau  mehr,  wenn  ich  mir  durd)  did)  — und  nur  durd) 

did)  — die  eigenen  Kleidcr  vom  Leib  reiB'n  muB.  — (Wieder 

emport  bis  ins  Innerste):  Das  soil  id)  um  mid)  vcrdient  haben  — ?? 

(Wieder  gesA«Lftig):  Wart'  nod)  cin  bisserl.  — <Sie  rennt  nacb  dem  SAlaf- 
zimmer,  dessen  Tflrc  von  ihrem  Auftreten  und  HerausstOrzen  her  immer  nodi  often 
stand  Sie  rennt  durdi  die  offene  Tflr  und  laBt  sie  auch  weitcrhin  geBffnet.  Und 
man  hort  unter  den  wiederholten , aber  diesmal  ungleid  mehr  nodi  wie  einen 

Monolog  gesproAencn  Worten):  Und  das  soil  id)  um  mid)  verdient 
haben  — ??  <hdrt  man/  wie  sie  itn  SAIafztmmer  drinnen  erst  unvernOnftig  an 

den  Stores  hin  und  herzieht  und  — sich  dann  erst  besinnend  — darauf  die  iicht* 
undurAfassigen  Rouleaux  rollen  madit.) 

Horst  (steht  ratios.  Hordit  nur). 

Hclmtrudis  (ersdieint  wieder  im  Tfirrahmen):  Id)  bin  ja  keine  Frau 
mehr,  wenn  id)  mir  durd)  did)  — und  nur  durd)  did)  — die  eigenen 

Kleider  vom  Leib  reiB'n  muB.  — (Tonlos  hat  sie  das  wiederholt 

PldtzliA  — winselnd):  Komm  — Horst  — — ! (Aber  sie  hat  niAt  die 
Kraft,  ihm  etwa  voranzugehen.  Sondem  sie  bleibt  am  Tflrrahmen  lehnen,  wie 
cine  Statue,  die,  einen  Augcnblidc  zum  Lebcn  crwaAt,  wieder  in  Starrheit  zurGA* 
verfSIlt  und  — im  Fallen-wollen  — nur  no  A einen  Halt  an  eben  eincm  Tftrpfosten 
findet.  Und  sic  bleibt  so.  Und  so  bleibt  sie.  Bleibt  lehnen.  Bleibt.) 

Horst  (erwartet  abgewandten  GesiAts,  bis  sie  si  A endliA  vom  TGrrahmen 
— ins  SAIafzimmer  hinein  — entfernen  wtirde). 

Helmtrudis  (jedoA  bleibt  so). 

Horst  (wendet  si  A sAlieflliA  um.  Denkt,  daft  das  ein  weibliAes  Manover  sei, 
und  resolviert  siA,  wenigstens  ein  paar  SAritte  auf  sie  zu  zu  gehen.  Er  tut's). 

Helmtrudis  (bleibt). 

Horst  (geht  noA  naher). 

Helmtrudis  (bleibt). 

Horst  (geht  an  ihr  — durA  den  TGrrahmen  hinein  — vorbei.  DoA  geht  er 
mit  einer  solAen  naAtwandlerisAen  SiAerheit,  daB  er  sic  niAt  im  geringsten  streift). 
Helmtrudis  (ist  — mit  langst  sAon  gesAlossenen  Augen  — ganz  HorAen). 


HeinriS  Lauttnsadi  • Das  GeftiSd* 


Horst  (unskbtbar  — d.  h.  ganz  ins  Sdrfafzimmer  hineingegangen  — tat  driiuten 
nodi  ein  paar  Sdiritte). 

Helmtrudis  dm  Ttirratunen  — sdiligt  die  Augen  auf>. 

Horst  (drinnen  irgendwo  — bewegt  sic h nidht  mehr.  Mit  gar  keinem  ein- 
zigen  Laut). 

Helmtrudis  (sdirrit  entsetzlich  auf  und  stflrzt  von  der  Offnung  zam  Scfelaf- 

zimmer  weg  — weg  — weg  — nur  weg  — in  der  entgegengesetzten  Ricfctuug  ins 
Wohnzimmer  hindn.  Sinkt  wo  nieder.  Mit  den  Knien  auf  dem  FuBboden.  Mit  dem 
Gcsidbt  auf  dnem  Stub!). 

(Lange  Pause.  — Ohne  dnen  Laut.  — Endlidi  ersdidnt): 

Horst  (ahnlicb  wie  vorbin  seine  Frau  im  TOrrahmen.  Aber  — — als  Tier. 
Mit  biutunterlaufenen  Augen.  linartlknliert) : Warum  bist  du  nicht  gt* 

kommen?  Nachdem  du  mich  — endlidi!  — endlidi!!  — so  sehr  ge- 
rufen  hast?!  — Idi  hatte  didi  — mittenein  — gefragt,  was 
wohl  KuB  auf  arabisdi  heiBt  — !!  — Sie  wohnen  in  Zelten,  die 
Araber  — ja — ? — Sie  gleidien  auch  heute  nodi  denjenigen  aus 
Hiobs  Zeit — ? — Seine  Wohnung  ist  das  Zelt/  sein  Gerat  Kamel- 
sattel  und  Wassersdilaudi.  — Ids  hab'  druber  nadigelesen.  — Sein 
Reiditum  ist  das  Kamel  und  das  Pferd.  — Sie  tragen  nur  Hemd  und 
Mantel.  — Du  muBt  wissen,  daB  idi  mir  uber  sie  Literatur  ver- 
sdiafft  habe.  — Und  soldies  wurde  mir  immer  vor  Augen  stehen. 
Wie  Feuer  vor  den  Augen.  Solcfaes  wurde  idi  didi  immer  wieder 
fragen.  — Idi  wurde  dir  dadurdi  unser  Leben  zur  Holle 

madien, so  sehr  lie b'  idi  didi.  — Weifit  du  jetzt,  wie 

sehr  idi  didi  liebe?  Hast  du  das  je  gewuBt?  — WeiBt  du  jetzt, 
daB  idi  didi  schon  darum  iieben  muBte,  daB  didi  in  der 
Zwischenzeit  statt  meiner  mohammedanisdie  — arabisdie  — 
semitisdie  Hunde  geliebt  haben?!  — Weiflt  du  jetzt,  wie  sehr 
idi  didi  liebe,  oh  — wie  sakrilegisdi  gern  idi  deinen  Leib 
hatte,  darum,  daB  er  von  andern  — in  Sand  und  Staub  — in 
Wuste  und  Sonne  — gehabt  worden  ist?!  — Weifit  du  jetzt,  daB 
idi  mit  dir  auch  hinuntergehen  muBte  — daB  idi  dir  aus  an* 
hanglichster  Liebe  selbst  folgen  muBte  — wenn  du  etwa  so 
einen  vorgesdilagenen  Kontrakt  von  einer  Filmfabrik  annehmen 
wurdest — ?!  — Ich  selber  wurde  nicht  nur  den  Mondi  in  der 

Zwischenzeit  spielen idi  wurde  auch  die  Herren  da  unten 

gern  personlidi  kennen  lernen  wollen  — !!  Ich  wurde  didi  ja  keinen 


Heinrich  Lautensach  • Das  GefaSde 


335 


Sdiritt  mehr  allein  gehen  lassen  konnen unser  ganzes 

ferneres  Leben  lang  — !!  Du  muBtest  midi  den  Herren  auf  ara- 

bisch  vorstellen midi  als  denjenigen  — ausdruddich  denjenigen, 

der  damals  derweil  im  Kloster  gewesen  ist  — !!  Und  idi  wurde  mit 

den  braunen  Kerls  Handedrudce  tausdien ! ! — Aber  du  kannst 

audi  ruhig  die  versdiiedensten  Varietekontrakte  unterzeidinen 

das  gilt  mir  jetz'  sdion  ganz  gleidi  — ! Deine  Eltern  und  deine  Bruder 

zwar  wurden  dann  nicbts  mehr  von  dir  w is  sen  wollen dafur 

aber  idi  — ! Oh  — idi  folge  dir,  wohin  du  willst!  Du  kannst  ruhig 
den  ersten  Varietekontrakt  unterzeidinen,  der  dir  die  doppelte  Gage 
verspricbt  unter  der  Bedingung,  dafi  idi  allabendlidi  allem  Publikum 
s idi t bar  in  einer  durdi  die Tageszeitungen  bekanntgegebenen,  offent- 
lidi  vorher  bezeidineten  ganz  gewissen  Loge  sitzen  muB — !!  Du 
kannst  das  alles  von  mir  verlangen,  denn  so  sehr  lieb'  idi  didi  — ! — 
Und  wenn  wir  dann  gerade  einen  Monat  frei  sind,  dann  kehren 
wir  in  das  Hauserl  zuruck  — zu  unserer  Erholung  in  das 
Hauserl  zuruck,  das  du  mir  mit  deinem  Geld  gebaut  hast  — in  das 
Hauserl,  das  wir  uns  so  bauen,  hier  oben  auf'n  Berg  bau'n,  daB 
ich,  von  einer  Variety  tournee  zuruckgekehrt,  (aufsAreiend) : immer 
wieder  schrag  vis-a-vis  das  Kloster  Maria-Hilf  sehen 
kann,  darin  idi  einst  gewes'n  bin !!! 

Helmtrudis  (hat  zugehort.  Hat  jedes  seiner  Worte  eingesogen  in  si&.  Hat 
sidh  keins  entgehen  lassen.  — Erhebt  sidi,  das  Kieid  glatt  streifend):  Also 

gut  — — kehr'  du  hinter  deine  Mauem  zuruck  — — (ganz  ge- 
sAaftsmaBig) : — Das  heifit  soviel  als  wie  — lassen  wir  uns  sdieiden. 

Horst:  Es  gibt  keine  Scheidung. 

Helmtrudis  (die  Stim  runzelnd):  Es  gibt  keine — ? 

Horst:  Ja,  hast  du  denn  das  Budi  nidit  geles'n? 

Helmtrudis  (bang):  Was  gibt  es  denn  dann  — ? 

Horst  (stark):  DaB  du  dieselben  Gelubde  ablegst  wie  idi  — — 
Das  heiBt:  daB  du  eben  falls  ins  Kloster  gehst. 

Helmtrudis  (begreift  langsam):  Das  soli  auf  midi  zutreffen  — ? 

Horst  (starr):  Das  ist  das  Kirdienredit! 

Helmtrudis  (si A noA  unglaubig  wehrend): Ich  habe  nur  ein 

Gelubde  gekannt  und  getan  und  gehalten und  das 

warst du Du  bist  mein  Gelubde 


f> 


ft ! n PS 

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336  HeinriS  Lautensadi  • Das  GefaBde 


. . . . ..  . . . J 1 . ^ J - . 1 J * > A O.-* +.A.J.  A - - J ^ ^ ^ X /■/-* - - 


Horst  <erasthaft>:  Dein  Bruder  Karl  scbeint  tatsacblicb  das  Budi 

mitgenommen  zu  haben <Er  such t.> 

Helmtrudis  <beide  H2nde  auf  dem  Herzen):  Dll bist 

mein Gelubde 

Horst  <su<fct  ganz  ernsthaft  — gewissenhaft  das  Buds). 

<Vorhang.) 


337 


HeinricB  Lautensadt  • Das  Gtf&Bcfe 


VIERTER  AUFZUG 

Vor  dem  Kloster  Niedernburg. 

Links  Portal  dcr  Klosterkirche.  Man  stdgt  durdis  Portal  fiber  mehrere  Stufen  zu 
etwas  wie  einer  Vorhalle  hinab.  — Im  Hintergrund  sehr  fensterarme  Mauer  des 
Nonnenklosters.  — Aber  rechts  im  Hintergrund  bietct  sidb  cine  freie  Aussidit  zum 
<unsicbtbaren)  Innufer  hinab  und  fiber  den  <glei<hfa(is  unsichtbaren)  Innflufi  hinuber 
bis  hinauf  zum  Kapuziner kloster  Maria-Hilf.  Glotkenrauschen.  — Das  Portal  mit 
Blumen  festlich  gesdimfldct.  — Die  Bfihne  von  redits  hintcn  herein  bis  (inks  vorne 

hinaus  von  doer  Strafie  fiber quert  gedacht. 

ERSTER  AUFTRITT 

Batauer  Bfirger/  Bfirgerinnen/  junge  Maddien  und  alte  Betsch western , die  — zu* 
meist  von  redits  hintcn  herein,  aber  etlidie  audi  von  links  vorne  — zur  Kloster- 
kirdie  wallen.  Qber  ihnen  wiegt  sidi's  wie  Tficher,  gewebt  aus  Glodcentonen.  — 
Bald  darauf  — mit  etlidien  Standes*  und  Fraktionsgenossen  — : Justizrat  Dr.  Kreidle. 
Sowie  Hcrmine,  die  Frau  des  Herrn  Bezirksgeometers  a.  D.  Pfaffingcr,  zusammen 
mit  FrSul'n  Theres,  dner  aiten  Betsch  wester.  — Spater:  Die  Eltern  und  die  ffinf 
Brfider  Helmtrudis'  — unter  den  Brfidern  Oberleutnant  Freiherr  Karl  von  Ruditi  — 

sowie  nodi  dnige  Anverwandte. 

•<Vier  oder  ffinf  Betsdiwestern  reden  durdieinander.  Man  versteht  kdne  einzelne. 
Deshalb  klingt's  — aus  dem  Glockengewirr  — als  ob  die  vier  oder  ffinf  zusammen 

in  einem  ganz  dfinnen  Chore  spradien.  Etwa  so): 

»Wenn  alle  andern  Mietsparteien  no'  sdilaf'n  — mitsamt  die 

Dienstmagd' ! (die  konnen  sic  namlich  alie  miteinander  nidit  ausstehen)  — mit* 

samt  die  Dienstmagd'!!  — sperr'n  wir  scfao'  die  Haustur'n  auf:  urns 
Morgenlauten.e 

<Zwei,  drei  andere  — * ganz  alte): 

»Und  wir  vom  Spital ! — Und  wir  vom  Spital  — !« 

Eine  junge  Batauer  Biirgersfrau  <zu  einer  andern):  Drei  soll'n's 
sein,  die  wo  heut'  d'n  Sdileier  nehmen. 

Andere  junge  Batauer  Biirgersfrau  (sdireit  enttausdht  auf>: 

BloB  — ?! 

(Die  vier  oder  fflnf  Betsdiwestern  vereinigen  sicfa  mit  den  zweien  oder  dreien  ganz 

aiten  vom  SpitaJ): 

>Wann  alle  andern  no'  sundhaft  traumen  — woll'n  wir  sdio'  die 
Fruhmess'  net  versaumen.e 

Justizrat  Dr.  Kreidle  <zu  einem  Fraktionsgenossen):  HeiB'n  soil's, 
dafi  die  Mariahilfer  Kapuzinerpatres  eben falls  herunter  zur  Einklei- 
dung  kommen. 


338 


H*inric6  Lautensadt  • Das  GeftiBde 


f 


Batauer  Btirger:  Na  ja.  Wo  doth  der  einc  seine  eigene  Frau  — 
Kreidle:  Ich  kenne  den  Fall.  Ich  hab's  vorausgesagt : Das  Kirthen- 
recht  siegt  — ! 

(FOnf  Minner  bilden  dn  seltsames  Qnintett:  Es  sind  das  zwei  gan z alte  Mann- 
Ida  und  zwei  jQngere,  weldi  letztere  wie  wahre  Todeskandidaten  ausseben.  Und 
der  fQnfte,  das  1st  dn  ziemliA  dicker,  der  das  blQhende  Leben  in  Person  darstellt 
— aber  der  1st  von  Beruf  Batauer  Padctrdger  und  befindet  siA  audi  )etzt  in  Uni- 
form. Diese  fflnf  reden  durcbeinander.  Aber  man  versteht  kdnen  dnzelnen.  Darum 
klingt's  — aus  dem  Glodtengewirr  — , als  ob  sie  ebenfalis  zusammen  in  einem 

ganz  dQnnen  Chor  sprit  Aen.  Etwa  so): 

>Konna  ma'  jetz'  kaum  die  Einkleidung  von  die  neua  Nonna  net 

awart'n  — 

heut'  na'mittag  spiel'n  ma'  Kart'n  — 
heut'  na'mittag  spiel'n  ma'  Kart'n  — 
in'  Niedermeiergart'n  — 
in'  Niedermeiergart'n  — « 

<Die  Glocken  summen  fflr  dne  Welle  nur  noth:  eine  akustische  TSusAung!  — Von 
links  vorne  her  kommen  H ermine,  die  Frau  des  Heim  Bezirfcsgeometers  a.  D. 

Pfaffinger  und  Friul'n  Theres,  jene  alte  Betsdiwester.) 

Fraul'n  Theres  <*ehr  sAwerhSrig) : Ja  so  — Sie  kommen  also  net 
glei'  mit  'rein,  Frau  Pfaffinger? 

Hermine  <sehr  feines  altes  Elfenbein  — so  1st  ihr  GesiAt  und  sind  ihre 

Hfinde):  Vorerst  nodi  net,  Fraul'n  Theres. 

Fraul'n  Theres:  Jetz'  gab's  aber  vielleidit  grad'  no'  a'  sdid's 
Platzerl.  In  einem  Augenblick  spater  is's  auch  scho'  z'spat.  — I'  wer' 
amal  nathschau'n,  ob's  net  uberhaupt's  scho'  da  sind,  die  Herrn 
Kapuzinerpatres ! 

Hermine:  Das  war'  uberaus  nett  von  Ihnen,  Fraul'n  Theres. 
Fraul'n  Theres:  I'  scfaau'  amal  nadi.  <Sie  geht  in  die  Kirdie  hindn.) 

(Batauer  BQrger,  BOrgerinnen,  Junge  MadAen  und  alte  Betschwestern,  die  — zu» 
meist  von  redits  hinten  herein  — zur  Klosterkirdie  wallen.  Ober  ihnen  wiegt  siA's 
■wie  TflAer , wie  sddene,  Ae  wie  von  Handen  von  Klosterfrauen  aus  Glocken- 

tonen  gewebt  sind.) 

Fraul'n  Theres  (kommt  zurOA,  siA  noA  mit  Weihwasser  zu  Ende  be- 
kreuzigend  und  auA  Frau  Hermine  mit  sAnipsendem  Finger  etwas  davon  ab- 

gebend):  Pass'n  S'  auf,  Frau  Pfaffinger,  die  Herren  Kapuzinerpatres 
kommen  wieder  z'spat  — so  wie  bei  der  vorjahrig'n  Fronleichnams- 
prozession.  Und  die  ganze  Klosterkirdi'n  is'  schon  so  voller  Leut'. 


339 


Htinnd)  Lautensad  ■ Das  GefiBdt 


Und  vorn  sind  so  viel  Plat ze  reserviert,  die  noch  halbleer  sind.  Fur 
die  Verwandt'n  von  der  graflidi'n  Himmelsbraut  jed'nfalls.  Unser 
jetziger  Justizminister  soil  ja  audi  — und  zwar  ein  gar  nidit  so  weit 
entfernter  — Verwandter  von  ihr  sein.  (Sie  seufzt.) 

Hermine  <<li<  Leute  kommen  sieht,  zupft  sie  ein  paarmal  am  Armel). 

Fraul'n  Theres:  Was  woll'n  S'  denn,  Frau  Pfaffinger? 

<Es  bildet  slA  eine  Gasse  von  Gaffem:  Es  kommen:  die  Eltera,  Oberleutnant 
Freiherr  Karl  von  RuAti  und  die  Qbrigen  vier  BrQder  HelmtruAs',  sowie  noA 
einige  Anverwandte.  — Offizierssabel  klirren.  Sporen  singen.  — Die  fdnf  BrQder 
sind  ja  samtliA  Offbiere  und  der  Vater  Helmtrudis'  ist  gar  General.  — Aber  diese 
ganze  vomehme  Sippe  kommt  so  rut  natttrlich  sAweigend,  aufkr  dafi  die  S3hel  ein 
venig  auf  dem  Master  klirren.  Sie  treten  allesamt  in  die  KirAe.  Und  Ae  Gaffer 

ihnen  wispernd  naA.) 

Hermine  <Fr2ul'n  Theres  ins  Ohr  schreiend):  Das  war'n  wohl  die  An- 
gehorig'n von  ihr! 

Fraul'n  Theres:  Vielleidit  — dos  ka'  ma'  do'  net  wiss'n  — war 
aber  von  ihm  ebenfalls  ein  Verwandtes  darunter.  — Auf  einen 
jeden  Fall  waren  diese  samtlichen  ja  audh  einmal  verwandt  mit  ihm. 

Hermine:  Wieso? 

Fraul'n  Theres:  Na,  dafi  er  sie  doch  fruhers  amal  g'heirat't 
g'hahl  hat. 

Hermine  <begreift>:  Ath  so  — ! 

Fraul'n  Theres:  Jetz'  mufi  i'  mi'  aber  ge'bald  schlaun'n,  damit 
dafi  i'  no'  a Platzerl  krieg'.  — Aber  grad'  schad'  is',  dafi  Sie  no' 
herauB'n  steh'n  bleib'n  woll'n,  Frau  Pfaffinger.  — I'  halt'  so  gern 
g'habt,  dafi  Sie  all's  ganz  genau  g'seh'n  hatt'n  — den  ganz'n  feier- 
lith'n  Vorgang  so  einer  Nonneneinkleidung.  — Denn  . ..  vielleidit 
war'n  Sie  dann  doth  noch  anderen  Sinnes  'worn,  Frau 
Pfaffinger  — ! — Denn...  i'  — i'  muefi  mi'  ja  firei  Sund'  furdit'n, 
dafi  i'  mei'  Wohnung  zu  demjenigen  hergeb',  was  Sie  da  mit  Ihr'm 
Mann  vorhab'n.  — Ja  — gibt's  denn  fur  so  a'  Mannsbild 
uberhaupt's  was  Besseres  in  dera  Welt  als  wie  — er  geht  in's 
Kloster  — ??  — Sie  laden  eine  schwere  Sdiuld  auf  sitfa,  Frau 
Pfaffinger  — !!  — Unser  lieber  Herrgott  mog's  Ihnen  und  mir  ver- 
geb'n  in  seiner  Gute,  Frau  Pfaffinger  — ! Und  dafur  wer'  icb  jetz' 
zu  ihm  gar  andadhtiglidi  bet'n. 

(Sie  geht.  Ah  in  Ae  KirAe.) 


340  Hffinri(6  Lautensad  * Das  GefaBde 

frr jjjumpmjLi— wiirrrrn  f a— 

ZWEITER  AUFTRITT 

Htrmine,  die  Frau  dot  Herm  Bezirksgeometers  a.  D.  Pfaffinger. 
Ohne  FrSul'n  Theres.  Benefiziat  Sebastian  Obst  aos  Wolfadi. 

Bald  darauf  die  gauze  Prozession: 

Der  Bltdiof  samt  G,eleite/  die  Oberin  des  Nonnenklosters,  Nonnen 
und  Novizinnen,  vorunter  GrSfin  Helmtrudis  von  Hilgartsberg. 
(Die  kletne  Klosterkirche  fat  nun  bereits  gestedet  voll  von  AndScbtigen  — bit  in  die 
Vorhalle  heraus,  zu  der  man  dunks  Portal  Gber  mehrere  Stufen  hernieder  gelangt. 
Immer  aber  kommen  nodi  NadbzQgler  - to  wie  eben  jetzt  wieder.  Und  unter  diesen 
befindet  sidi  der  hodiwflrdige  Herr  Benefiziat  Sebastian  Obst  aus  Wolfadi.) 
Obst  (zirka  fGnfunddreifiigjahriger  Mann/  ein  wenig  sebwerhorig,  grwahrt 
Frau  Hermine,  tritt  grGbend  auf  tie  zu>:  Ha b'  icb  mir's  doA  gedaAt — ! 

— Gru6  Gott,  Frau  Bezirksgeometer ! 

Hermine:  GruB  Gott,  HoAwurden. 

Obst:  Aber  Sie  san'  net  mit'm  Fruhzug  'runterg'fahr'n?  — Sonst 
hatt'  iA  Sie  ja  sehen  muss'n.  — Ja,  iA  daAte  mir  sogar,  Sie  hatt'n 
siA's  amend'  doA  noA  anders  Oberiegt  — ! 

Hermine:  I'  bin  sAon  gestem  'runter.  I'  hab'  hier  bei  einer  Be- 
kannten  ubemaAt't  — Und  ein  Zuruck,  HoAwurd'n,  das  gibt's  bei 
mir  jetz'  n immer. 

Obst:  Mir  aber  durf'n  Sie,  wie  iA  Ihnen  sAon  in  WoIfaA  Aob'n 
g'sagt  hab',  keinen  Vorwurf  maA'n,  Frau  Bezirksgeometer.  — IA 
hab'  Ihren  Herm  Gemahl  wirkliA  niAt  dazu  gedrangt,  auf  seine 
alten  Tage  noA  MdnA  und  Pri ester  werden  zu  sollen.  Sondem 
er  ist  damals  — iA  erinner'  miA  noA  genau  — ganz  aus  freien 
Stiicken  zu  mir  'kommen. 

Hermine:  Aber  wie  werd'  iA  Ihnen  einen  Vorwurf  maAen, 
HoAwurden?  — War'  iA  sonst  eigens  zu  Ihnen  gegangen  und  halt' 
miA  Ihnen  auA  no  A vollig  anvertraut,  welAen  Sthritt  iA  vor- 
habe  — ? 

Obst:  Es  ist  das  eine  ungeheuer  sAwere  Gewissensfrage,  Ae 
was  jeder  mit  siA  selber  abzumaAen  hat. 

Hermine  (sdiier  ausbrediend) : MiA  bringt's  aber  um,  das  groBe 
Herzeleid  — ! — Mir  zieht's  die  FuBe  bei  lebendig'm  Leib  immer 
mehr  in'n  Erdbod'n  'nein...  IA  bring'  die  gar  net  so  alten  FuB' 
nimmer  weg  vom  Bod'n...  I A kann's  nimmer  aufheb'n...  Wie 
sAon  halbert  in  mein'm  eigenen  Grab  drin  geh’  iA  daher...  Er 
kann  miA  doA  net  ganz  und  gar  umbringen  woll'n... 


r ^ 


HeinriS  LautensacG  • Das  GefuBde 


341 


<Da  setzt  vcrstarkt  Glodcenbrausen  ein.  — Und  cs  naht  dn  fdcrlicfccr  Zug,  der 
von  r edits  im  Hintergrund  »um  die  Ecke«,  da,  wo  std b.  die  freie  Aussidxt  bietet, 
aus  dem  Nonnenkloster  berauskommt:  Zuerst  der  hodiwurdigste  Herr  Bischof  mit- 
samt  seinem  Geleite.  Sodann  drei  Novizinnen  — die  mittlere  ist  die  Grafin  Helm- 
trudis  — in  WeiB  und  weiBen  Sdileiern,  eine  jede  von  einer  jftngeren  Nonne  ge- 
fuhrt.  Sodann  die  Nonnen,  nacb  ihrer  Anziennitat,  d.  h.  die  jCngsten  voraus.  Zum 
SdiluB  die  Oberin  mit  den  zwd  altesten.  Diese  Prozession  bewegt  sidi  quer  Qber 

die  Buhne  hinein  durdis  Portal  in  die  Klosterkir&e. 

Und  ein  Orgelspiel  hebt  an  und  schwillt.  — Und  die  Glocken  sdiweigen.) 

Obst  <tr itt  — dem  Zuge  nath  — ein,  zwei  Stufen  durdis  Portal  hinein  in  die 
Vorhalle  hinunter.) 

<Gemurmel  unter  den  letzten  hintersten  Andacbtigen.) 

Obst  (fragt  etwas  und  kommt  dann  wieder  heraus  zu  Frau  Hermine):  Das 

Publikum  hat  die  reservierten  Platze  — von  den  Kapuzinerpatres 
gesturmt. 

(Kirdiengesang  ertont  von  drinnen): 

»Veni  creator  Spiritus...« 

Her  mine  (fast  klagend):  Wo  die  Patres  aber  auch  so  lang  bleib'n 

Obst:  Die  mittlere  von  den  drei  Brauten  war  die  Grafin  Helm 


I 


trudis  von  Hilgartsberg.  — Aber  so  blafl  iss  gwen.  So  gar  sehr 
bleidh . 

(Zolibatar):  Die  Klosterluft  hat  sie  so  bleich  g'madit  — und  aso 
blaB.  Sie  is'  ja  auch  schon  ein  Jahr  und  einen  Tag  lang  im  Kloster. 


Genau 


heut 


ein  Jahr  und  einen  Tag.  — Sie  is"  so  weifi  im 
G'sicht  — wie  der  Mantel  eines  Arabers.  — Obrigens:  die  Araber* 
bande,  die  wo  hier  erst  in  Batau  'rumgezog'n  is'  und  gestern  gar 
bei  uns  in  Wolfach  droben  ankam,  die  hab'n  s'  d'r  auf'n  Schub 


'bracht 

daher 


I 


<Er  sieht  sic  kommen):  Aber 

Jetz'  kommen  s'  — die  Patres 

<Er  gruBt  mit  cincm  Ncigcn.  Geht  in  die  Kirdie.) 


da  kommen  s'  ja 


DRITTER  AUFTRITT 

Hermine,  PP.  Burkhardus  (Guardian)  Konradus,  Edmundus,  Rodius, 
Bruno,  Oswaldus,  Evaristus,  Felix  (d.  i.  Graf  Horst  von  Hilgartsberg)  — 
langst  wieder  mit  langem  Bart.  Frater  Coelestin  (d.  i.  Herr  Bez  irks  geometer  a.  D. 

Alois  Pfaffinger). 

(AHe  die  PP.  und  der  eine  Frater  — ziemliefa  eilig  ankommend.  Und  zwar  vom 

— • unsichtbaren  — Innufer  herauf.) 

P.  Guardian  (erfafit  die  Situation  mit  einem  Blicfc):  Na  also  — ! Was 


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) ft ! n ps 

* ! f i z : 


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342 


H tin  rid  Lautttisad  • Das  GeC&Bdt 


ha b' t Enk  <»Enk«,  d.  i.  Eud>)  g'sagt  — ? Hab'  i's  Enk  net  sdio'  auf 
der  Seilfahr  ...  hab'  i's  Enk  net  sdio'  bei  der  Gberfuhr  g'sagt 
oder  net  — ? I'  hab'  do'  no'  meine  Ohr'n  — — i'  hab'  do'  g'hort, 
wie  d'Glodt'n  mit  einmal  nimmer  g'laut't  hab'n — ! — Aber  — naja 

— naja  — wenn  einige  von  den  Herren  Patres  zuvor  mit  der 
Brennsdier'  hantier'n  muss'n  — ! 'n  Bart  kraus'ln,  wie  wenn's  auf 
an  Ball  ging  — ! — Gott  sei  Dank,  das  ist  nun  die  Strafe  dafur. 
Namli'  — jetz'  geht  mir  keiner  von  Euch  'rein  — denn  idi  wadi' 
daruber,  dafi  die  heilige  Handlung  drinnen  net  g'stort  wird  — durch 
unser  verspatetes  Eindringen.  — (Next  einmal  voller  Unmut):  Mit  der 
Brennsdier'  zu  hantier'n  — ! An  Bart  zu  krauseln  — ! An  Kapu> 
zinerbart  — ! 

Hermine  <tritt  — halbwegs  — hinzu):  Die  Platze  fur  die  hodiwurd'gen 
Herm  Patres  — ganz  vom  — war'n  reserviert  — 

Frater  Coelestin  <wie  ein  nnmogli&er  Rekrut):  D'Frau Pfaffinger 

— mei'  Frau  — — 

Hermine  <ohne  auf  den  Ruf  Ihres  Mannes  zu  reagieren):  Aber  vorhin  — 
grad'  vorhin  — sind  die  reserviert'n  Platze  fur  die  hodi  wfird'gen 
Herm  Patres  von  den  Andachtigen  einfaefa  g'sturmt  worn  — 

P.  Guardian  <sle  erkennend/  herzlldi):  Frau  Bezirksgeometer  — ! 
Frater  Coelestin  <Qberstr5mend>:  Ja  — Mini  — ! Ja  — Minerl  — ! 

Hermine  <tausdit  mit  P.  Guardian  einen  ernsthaften  HSndedrudk.  Immer  nodt 
ihren  Mann  wie  vfillig  flbersehend) : Darf  idi  mit  mein'm  Mann  ein  paar 

Worte  sprechen,  hodiwOrdiger  Herr  Pater  Guardian  — ? 

P.  Guardian:  Ja  aber  — selbstredend,  Frau  Bezirksgeometer — ! 
Frater  Coelestin  <sidj  herzudringend).  Minerl  — ! 

P.  Guardian  <geht  von  den  beiden  weg>. 

(Hermine  und  Frater  Coelestin  nadi  vome  finks.) 

Frater  Coelestin  <zu  seiner  Frau):  Ich  freu'  midi, dafi  du  da  bist  — ! 
Idi  freu'  midi  wirklidi  — ! <Er  drfldct  ihre  Hand):  So  eine  sdi5ne  Feier  — ! 
Idi  kann  namlith  das  ganze  Rituale  von  so  einer  Nonneneinkleidung 
auswendig  — ! — <Er  zerrt  sie  fast):  Komm,  Minerl  — ! Geh'  — ! <Er 
will  mit  ihr  nadi  dem  Portal  hin):  So  geh  — ! Idi  zeig'  dir  die  Feier  — ! 

Idi  erklar'  sie  dir  — ! Ganz  genau  — ! 

Hermine  (bleibt):  Idi  hab'  mit  dir  zu  reden,  Alois  — ! <Bes«6w5rend) : 
Alois  — ! Mann  — ! <Sie  halt  ihn.) 


HehtricB  Lautensadt  * Das  Gef&Bde 


343 


Frater  Coelestin:  Es  entgeht  mir  viel  — ! Es  entgeht  mir 

zViel  — ! Es  ist  doth  die  Frau es  ist  etwas  Eucharistisdies 

es  ist  doth  die  Frau  von  unserm  Bruder  Felix  — ! 

P.  Guardian:  Bruder  Felix  — ! Gib  adit  — ! Gib  adit  auf  den 
Aug'nblidc,  Bruder  Felix  — ! Wir  sind  fast  zu  spat  gekommen  — ! 

P.  Edmundus  (bescfaworend) : Bruder  Felix — ! 

P.  Rodius  <tritt  vor >:  Audi  idi  mocht',  dab  du  hineingehst  — ! 
Bruder  Felix  — ! Hineingehn  sollst  du — ! Wir  bleib'n  heraubn — ! 

P.  Felix  < wild  werdend) : Wer  will  mir  was  — ? Wer  sagt,  dab  idi 
da  hineingehn  soil  — ? — Idi  g'hor'  hier  heraufi'n  hin  — ! ! <Er  wiHt 

sich  nieder.  Auf  die  Knie.> 

Frater  Coelestin  <zu  Hermine):  Also  — was  willst  du  mir  sag'n, 
Hermine?  — Wie  steht's  daheim  in  Wolfadi?  — Wie  geht's  dir. 
Miner  1 — ? 

Hermine:  Es  is'  gar  bald  ausg'sproch'n,  was  wir  zwei  mitein- 
ander  z spredi'n  hab'n.  — I'  bin  gestem  na'mittag  sdio'  'runter* 
g'fahr'n,  I'  hab'  bei  der  Friul'n  Theres  ubemacht't.  Es  is'  ja  jetz' 
scho'  ganz  gleith,  wo  ma'  fiber  Nacht  bleibt.  Es  mufi  ja  nimmer 
daheim  sein  — in  der  eigenen  Wohnung.  Ma'  kann  die  Nichte 
umeinand'  flankeln  — bald  dort,  bald  da  — ganz  zigeunerisdi.  — 
Es  is'  ja  sowieso  kein  Daheim  mehr.  I'  halt'  net  g'glaubt,  dab  i' 
no'  amal  unstit  werden  mubt'.  Dab  i'  umeinand'geister',  die  Nacht'.  — 
Ma'  braucht  ja  fast  kein'n  Schlaf  mehr  als  alt's  Leut'.  Es  is'  wie 
ein  langes  Herwadi'n  auf'n  letzt'n  Schlaf  — auf'n  lingst'n  — auf'n 
ewig'n.  — Na  also:  kurz  und  gut:  i'  hab'  dir  ein'n  Zivilanzug 
mit'bracht.  Er  liegt  drob'n  in  der  Wohnung  bei  der  Fraul'n  Theres. 
Er  liegt  uber'n  Stuhl.  Du  brauchst  nur  grad'  'naufgehn  und  ihn 
anziehn.  — D'  Fraul'n  Theres  ist  eing'weiht  in  die  Sadi'.  Der  Herr 
Benefiziat  Obst  eb'n  falls. 

Frater  Coelestin  <b«grdft>:  I'  soil  das  geistliche  G'wand  wieder 
ableg'n . . . ? 

Hermine:  I'  tu'  einfach  nimmer  1 anger  mit. 

Frater  Coelestin:  Aber...  du  selber,  Minerl,  bist  doch  mit 
allem  einverstand'n  g'wes'n...?! 

Hermine:  Ja.  Aber  jetz'  bin  i's  nimmer.  Nimmer  linger,  Nicht 
eine  Stunde  linger  mehr. 


344 


He  in  rids  Lautensadi  • Das  Gef&Sde 


Frater  Coelestin:  Aber  du  hast  doch  selber  das  ausdruddidie 
Versprech'n  geb'n...?! 

Hermine:  Wenn  i's  jetz'  aber  nimmer  halt'n  mag,  mein 
Versprech'n  — ? <Ganz  einfach  sagt  sie  das.)  — Wer  will  mi'  denn 
zwing'n — ? — Erst  einmal  sag'  ich's  dir.  Bei  der  Fraul'n  Theres 
drob'n  liegt  dein  Anzug.  — Wenn  das  net  nutzt  — das  heiBt, 
wenn  du  mir  net  glei'  folgst — , dann  widerruf'  ich  mein  gegebenes 
Versprech'n  offentlich!  Dann  blamier'  i'  Enk  alle  miteinander! 
Dann  lafi  i'  mi'  einfach  sdieid'n  von  dir!  Dann  kommt's  zu  einem 
ProzeB!  Dann  kommt's  zu  einem  ScheidungsprozeB!  Das  wird 
dann  ein  feines  Wasserl  auf  die  Muhle  von  andern  Konfessionen ! 
Ich  provozier'  in  aller  Offentlichkeit  — dos  sag'  ich  dir  — einen 
Skandal!  — Und  deine  Briefe  — alle  die  wahnsinnig'n,  die 
du  mir  's  letzte  Jahr  uber  aus'm  Kloster  g'sdirieb'n  hast  — ohne 

Wissen  deiner  Obern diesen  ganzen  Briefwechsel,  den 

du  poste  restante  mit  mir  g'fuhrt  hast,  den  tu'  ich  in  eine  libe» 

rale  Zeitung  — in  ein  Judenblatt'l. Was  braudist  du  mir 

soldie  aufregenden  Briefe  z sdhreib'n — ? Als  wie  >Abalard  und 
Heloisec  — ? — Drob'n  in  der  Wohnung  bei  der  Fraul'n  Theres 
liegt  ein  volliger  Anzug  von  dir. 

Frater  Coelestin:  Aber  — Hermine!  — weiBt  du,  was  das 
von  dir  ist — ? — Das  ist  ja  Erpressung  von  dir  — ! 

Hermine:  Erst  hab'  idi  mir  gedacht,  ich  geh'  einfach  ins 
Wasser  — ja ja  — ins  Wasser  geh'  idi. 

Fratet  Coelestin:  Mini — ! 

Hermine:  Du  muBtest  nur  einmal  sehn,  wie  in  ganz  Wolfach 
drob'n  d'  Leut'  uber  dich  lachen,  sobald  d'  Red'  auf  dich  kommt.  — 
Aber  dann,  hab'  i'  mir  'denkt,  wer'n  s'  nix  z lach'n  mehr  hab'n, 
wenn  i'  erst  ins  Wasser  'gangen  bin  — und  die  notigen  emsten 
Erklarungen  dafur  werd'  ich  auf  alle  Falle  zurucklass'n.  — <Sieghaft): 
Ja,  Manderl,  du  kennst  mi'  net,  was  i'  fur  eine  bin  — zu  was  fur 
einer  i'  gewor'n  bin.  — Also:  Drob'n  bei  der  Fraul'n  Theres  liegt 

dei'  G'wand. Unser  halbes  Vermdg'n,  was  du  dem  Kloster 

uberschrieb'n  hast:  soil's  verloren  sein — ! Das  setzst  d'  auf's 
Verlustkonto  fur  deinen  dummen  Streich,  fur  deinen  dummen— ! 
Wir  langen  mit  der  tibrig'n  Halfte  schon  auch  nodi,  wir  zwei  — 


345 


Heinridb  Lautensad  • Das  GefQBde 


denn  wir  wer'n  ja  doth  keine  gar  so  groBen  Sprunge  mehr  machen, 
wir  zwei.  — Also  — <ganz  starr):  es  is'  wirkli'  all's  uberlegt.  Und 
es  gibt  gar  kein  Zurtick  mehr  von  meiner  Seit'n.  — Komm'  mir 
ubrig'ns  net  mit  so'  Ausred'n,  daB  du  vielleidit  blamiert  bist,  wenn 
du  jetz'  aus'm  Kloster  ausspringst.  Blamiert  hast  du  di<h  viel- 
mehr  — vor  alien  Leuten  — genug  und  mehr  wie  genug  dadurch, 
daB  du  ins  Kloster  hinein'gangen  bist.  Deine  einzigste  — einzig 
moglidiste  Ehrenrettung  bleibt:  du  siehst  deine  Dummheit  ein.  — 
<Hart.  SAdtcnd):  Lauft  der . . . der  Tolpel  zweimal  an  jedem  Tag 
den  hohen  Mariahilfsberg  'runter  ins  Gymnasium  und  wieder  'nauf — ! 
Weifit  du,  wie  du  mir  in  deinen  heimlidi'n  Brief n geklagt  und  ge- 
jammert  hast  uber  diese  Steigerei — ? — Ja,  sind  denn  net  wenigst'ns 
deine  alt'n  Hax'n  no'  so  g'scheit,  daB  sie  dir  endli'  sag'n,  was 
du  fur  eine  entsetzlidie  Dummheit  begang'n  hast — ?! 

<In  diesem  Augenblidt  hort  das  Orgcispiel  samt  Gesang  drinnen  auf.  — GroBe 
Stiile.  — Alle  miteinander  treten  gespannt  naher  ans  Portal  — mit  Ausnahme  von 

P.  Felix.) 

Frater  Coelestin:  Jetz'  tut  der  hodiwurdigste  Herr  Bischof 
drinnen  die  Fragen  — 

P.  Guardian  (tritt  zu  Felix,  der  imtner  nodi  kniet/  ihn  aufrflttelnd) : Bruder 

Felix  — ! Jetzt  soli  deine  Frau  drinnen  — deine  liebe  Frau  drinnen  — 
das  Geliibde  ablegen  — ! 

P.  Konradus  <tut  emport):  Aber  so  laBt's'n  dodi— ! So  laBt's 
docfa  den  Bruder  Felix — ! 

P.  Guardian  (rottelnd):  Bruder  Felix — !! 

P.  Konradus  <auf  einen  Wink  zu  seinen  Getreuen  — spricht  mit  den 
PP.  Bruno,  Oswaldus  und  Evaristus):  »Vater  unser,  der  du  bist  im  Himmel, 
geheiliget  werde  dein  Name,  zukomme  uns  dein  Reich/  dein  Wille 
gesdiehe,  wie  im  Himmel,  also  auch  auf  Erden/  gib  uns  heute  unser 
tagliches  Brot,  und  vergib  uns  unsere  Schulden,  wie  auch  wir  ver- 
geben  unsem  Sdiuldigern/  und  fuhre  uns  nicht  in  Versuchung,  son* 
dern  erlose  uns  von  dem  Gbel.  Amen.« 

P.  Felix  <sidi  aufricbtend.  AufgestSrt  wie  aus  elnem  Traum):  Was  is's  — ?! 

P.  Edmundus  <stark>:  Rette,  Bruder  Felix  — ! Rette,  wie  du 
kannst  — ! — Jetzt  erst  geht's  selbige  S<hiff  unter,  Bruder 
Felix  — !!  In  diesem  Augenblidt  erst  — ! 


346  Hr  in  rid)  Lautensadi  • Das  GeCQ6de 


P.  Felix  (schrdt  wie  Irrsinnig  auf.  Springtauf.  Schrdt.  Taumelt  durdhs  Portal. 
Die  Stufen  hinunter.  Sdireiend.  Teilt  die  Menge.  SAreit):  LaBt's  midi  — !!  Laflts 

midi  zu  meiner  Frau  — !!  Helmtrud  — !!  Helmtrud  — !!!  Idi  will  zu 
meiner  Frau  — !!  Zu  meiner  Frau  will  idi  — !!  Ida  widerrufe  — !! 

Helmtrud  — !!!  <Und  so  — variierend  — fort.  Immer  femer.  I miner  mehr  in 
der  Kirdie  drinnen.  — Und  dann  still.  Still.) 

P.  Oswaldus  <die  VorgSnge  drinnen  beobaditend):  Sie  sdiaut  sidi  nidlt 
amal  nadi  ihm  um.  Nidit  die  geringste  Notiz  nimmt  sie  von  ihm.  — 
<Hetzend) : Aber  der  Skandal  — ! Der  Skandal  — !! 

P.  Rod) us:  Jetz'  fallt  ihr  langes  Haar  — fallt  — unter  der  Sdier'. 
P.  Evaristus:  Dodi  nur  eine  Lodte,  eine  einzige.  Das  ist  dodi 
hier  in  der  Kirdie  — vorm  Biscbof  und  vor  alien  Andachtigen  — 
bloB  pro  forma. 

P.  Rodius:  Na  ja.  Ganz  g'sdior'n  wird  s'  erst  nadiher. 

P.  Bruno:  G'sdior'n  wird  s'  uberhaupt  net.  BloB  g'stutzt.  BIoB 
kurz  abg'sdinitt'n. 

P.  Rodius:  Der  Ausdruck  g'sdioren  kommt  von  scheren , vom 
Wort:  die  Sdiere.  — Jetz'  gleitet  ihr  das  Nonnengewand,  das  sdiwarze, 
fiber  Kopf  und  Schultem.  — Eingekleidet  — ! 

P.  Oswaldus  <tlef>:  Aus !!  <Stille.) 

Frater  Coelestin  <lei»e  zu  seiner  Frau):  Na  siehst,  Minerl,  wie 

die  Frau  da  drin  — die  Frau  Grafin  — die  junge  — 

H ermine  (efeenso  leise):  Du  dummer  Kerl,  du  dummer  du. 

(Orgelspiel  set zt  ein.  Volksgesang:  »Gro6er  Gott,  wir  loben  di  A . . .«  Er  pflanzt 
sidi  fort.  Bis  hier  heraas.  Die  Mooche  stimmen  — zum  Tell  niederkniend  — ein): 

»Herr!  wir  preisen  deine  Starke, 

Vor  dir  neigt  die  Erde  sidi 
Und  bewundert  deine  Werke. 

Wie  du  warst  vor  aller  Zeit, 

So  bleibst  du  in  Ewigkeit. 

Alles,  was  didi  preisen  kann, 

Cherubinen,  Seraphinen 
Stimmen  dir  ein  Loblied  an, 

AJle  Engel,  die  dir  dienen, 

Rufen  dir  stets  ohne  Ruh' 

Heilig!  heilig!  heilig!  zu.c 


Hein  rid  Lautensad  • Das  Gef&Bde 


347 


w 


(SAon  glciA  bci  der  zweiten  Zeile  der  ersten  Strophe  entfernen  siA  Prater  Coe- 
lestin  und  Herminc  langsam  naA  (inks  vorne  hinaus.  Und  so  vie  sie  urn  A’e  EAe 

sind  — sAneli  ab!> 


VIERTER  AUFTRITT 

Die  Vorigen.  Ohne  Frater  Coefestin  und  Hermine.  Ein  Teil  Volks, 
BisAof  samt  Geleite.  Die  drei  soeben  eingekleideten  Novizinnen, 
worunter  die  ehemalige  Grafin  Hefmtrudis.  Die  Nonnen  all  mitsamt 
der  Oberin.  P.  Felix.  Die  Eltcrn,  Oberieutnant  Freiherr  Karl  von 
RuAti  und  die  ftbrigen  vier  Bruder  Helmtrudis',  sowie  noA  einige 
Anverwandte.  Benefiziat  Sebastian  Obst  aus  Wolfach.  Justizrat  Dr. 

Kreidle. 

(NoA  eh'  die  zweite  Strophe  verklungen,  drangt  sAon  ein  Teil  AndlAtiger  heraus: 
so  als  ob  die  KirAe  ein  Kessel  ware,  drin  endliA  das  Wasser,  das  die  Glaubtgen 
sind,  flbersiedet.  — Sedan n der  Zug  der  Nonnen,  mit  den  drd  soeben  eingeklddeten 
Novizinnen,  worunter  die  ehemalige  Grafin  Helmtrudis,  an  der  Spitze  und  der 
Oberin  als  BesAlufi.  — Aber  ungefahr  auf  derselben  Hohe  wie  Helmtrudis  treibt 
P.  Felix  wie  auBcrhalb  des  Stromes  mit.  Nur  noA  Augen  fur  seine  einstige  Frau 
— und  siA  mit  den  Handen  an  der  Klostermauer  forttastend.  — Nun  trltt  aus 
dem  Portal  der  BisAof  samt  Geleite.  — Das  Orgelspiel  ist  verrausAt.  — In  diesetn 
Augcnblick  droht  Grafin  Helmtrudis  zu  sinken:  Nonnen  stfltzen  sie  sogleiA  und 
aber  andere  Nonnen  wehren  P.  Felix  ab,  der  auf  die  Sinkende  zu  wollte,  — Der 
ganze  Nonnenzug  stodet!  — Der  BisAof  tritt  mitten  aus  seinem  Geleite  hervor. 
Die  Eltem,  Oberleutnant  Freiherr  Karl  von  RuAti  und  die  fibrigen  vier  BrOder 
Helmtrudis',  sowie  noA  einige  Anverwandte,  die  zusammen  mit  Benefiziat  Sebastian 
Obst  und  Justizrat  Dr.  Kreidle  hinter  dem  bisAofliAcn  Geleite  hcrausdringten, 

sind  gerade  noA  Zeugen  des  Auftritts.) 

BisAof  (emport  gebktcnd):  Herr  Pater  Guardian  — ! Bringen  Sie  mu- 
den  MensAen  wieder  zur  Vernunft! 

P.  Guardian  <*tarr>:  Euer  BisAofliAe  Gnaden 
ein  MensA! 

BisAof:  Er  entweihte  die  KirAe!  Er  lasterte  die  sakramentale 
Handlung! 

P.  Edmundus  <tritt  vor >:  Er  kr5nte  sie!  Mit  MensAtum  krdnte 


er  ist  nur 


er  sie 


l 


BisAof:  IA  verhange  die  sAwersten  Exerzitien  zur  Strafe 
uber  Sie  alie! 

(Alle  PP.  mit  Ausnahme  von  Felix  neigen  stumm  das  Haupt.) 

Bischof:  Ja,  idi  bin  mir  noch  nicht  ganz  gewiB,  ob  icb  wegen  St5- 


w Voi.  m/i 


uriqinE 


348 


Htinrfdi  Lautensacfi  • Das  Gef&Sdt 


rung  einer  heiligen  Handlung  nicbt  auA  die  weltliAen  GeriAte 
in  AnspruA  nehme. 

(Einige  Stille.  — Der  Zug  dcr  Nonnen  sowohl  als  auA  dcr  Bischof  samt  seinem 
Geleite  ziehen  water.  Im  Hintergrund  credits  urn  die  Edce«,  woher  sie  gekommen. 

— Volk  flutet  aus  der  Kirche  fiber  die  Bfihne.) 

Justizrat  Dr.  Kreidle  (das  Volk,  das  stocken  will,  nodi  antreibend) : 

I Den  Weg  frei  — ! Immer 


Immer  weiter,  verehrte  Anwesende 


weiter  — ! <Er  grOfit  im  Abgehen  die  Herren  Patres.) 

P.  Pelix  (immer  nodi  an  der  Klostermauer.  Unbeweglidi  der  Entsdiwundenen 
nachsdiauend). 

(Die  Eltern,  Oberleutnant  Frdhcrr  Karl  von  Ru<bti  and  die  fibrigen  vler  Brfider 
Helmtrudis',  sowie  nocb  einige  Anverwandte,  die  dnen  deutlidien  Bogen  um  P.  Felix 

madien,  geraten  dabei  ziemlich  in  den  Vordergrund  r edits.) 

Ein  Bruder  Helmtrudis':  Skandal  — ! 

Oberleutnant  Freiherr  Karl  von  Ruditi:  Pafit's  auf,  was  i' 
sag':  Unsere  Trudel  wird  auch  im  geisdiAen  Gewand  Are  Karriere 
maA’n.  I A seh'  sie  sAon  als  Abtissin,  wie  sie  die  allerhdAsten 
Furstlidikeit'n  an  der  Klosterpforte  empfangt  — vielleiAt  sogar  'n 
deutsA'n  Kaiser. 


(Die  ganze  vomehme  Sippe  ab. 

leer  von  allei 


Nodi  ein  Strom  Volks, 
bis  auf  samtliche  Patres.) 


Sodann  die  Bfihne 


FGNFTER  AUFTRITT 

Nur  nodi:  P.  Guardian,  P.  Konradus,  P.  Edmundus,  P.  Rochas, 

P.  Bruno,  P.  Oswaldus,  P.  Evaristus,  P.  Felix. 

P.  Felix  (mit  geschlossencn  Handen.  Auf  dem  Edcstcin  im  Hintergrund  rethta 
sitzend):  Was  hab'  iA  in  meiner  Hand?  (Er  5ffnet  die  HSndc):  Nix!  — 

Ni  At  einmal  eine  einzige  Lo  Ae  von  ihrem  Haar  in  meiner  Hand 

P.  Guardian  (zischend  zu  den  andern):  La  fit's  'n  — ! — (Energisch/ 
aber  ebenfalls  leise):  Kommt  S — ! 

(Die  Patres  ordnen  sidi  zum  Zug.) 

P.  Oswaldus  (halblaut):  Ja  aber  — wo  is'n  der  Frater  Coelestin?! 
P.  Guardian  (gebieterisch):  Weiter  — ! — Mars  A — ! 

(Alle  die  PP.  bis  auf  P.  Felix  ab.  Den  Weg,  den  sie  gekommen.  Nadi  redits  hinten 

zum  lnnufer  — zur  Seilflhre  hinab.) 


HeirtricB  Lautensadi  • Das  GefuBde 


349 


SECHSTER  AUFTRITT 

P.  Felix.  Zwei  Nonnen.  Eine  Arabertruppe  auf  dem  Schub.  Polizei- 
diener.  Gassenbuben.  Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger. 

Hermine,  seine  Frau.  Fraul'n  Theres. 

P.  Felix  <sicht  sich  um.  Sieht  das  Blumengewinde  am  Portal.  Wankt  darauf 
zu.  PflQckt  sich  eine  Blume). 

Zwei  Nonnen  (erscheinen  von  rechts  um  die  Ecke.  Mit  einer  Stehleiter 
und  einem  Korb.  Als  sie  P.  Felix  gewahren,  machen  sic  furcbtsam  Halt). 


<Von  recbts  hinten  herein  dringt  Larm.  Wachst. 


Eine  Arabertruppe  auf  dem 


Schub  kommt.  Begleitet  von  Gassenbuben.  Zwei  Polizeidiener  dirigieren  den 
ratternden  Planwagen  mit  zwei  Pferden.  Einige  zerlumpte  arabische  Gestalten 
schreiten  stolz  neben  dem  Gefahrt  her.  Na<h  links  vorne  hinaus.  Voruber . . .) 

(Bezirksgeometer  a.  D.  Alois  Pfaffinger  — der  vorige  Frater  Coelestin  — und 
Hermine,  seine  Frau,  kommen  von  ebenda,  von  links  vorne  herein,  wo  soeben  die 
Arabertruppe  hinaus  ist.  — Pfaffinger  ist  im  Zivilanzug.  Tragt  ein  Bundel.  — Dieses 
Bundel  scheint  ein  wenig  arg  sdinell  geschnurt,  mit  dem  Mdndisgewand  als  Inhalt.) 


P.  Felix: 
Arabien  vor 


Und  gaukelt  mir  ihr  Traum 


selbst  ganz 


<Er  la<ht  fast):  Wie  kamen  die  aucb  hierher 


hierher 


nadi  der  Batauer  Stadt 


? 


Pfaffinger  (befangen.  Wie  ein  Knabe):  Herr  Pater  Felix 


f 


Hab'n  Sie  die  Araber  g'seh'n 


? 


Mei'  Frau  erzahlt  mir  grad. 


die  war'n  gestern  sdio'  bis  bei  uns  in  Wolfadi  drob'n  — — die 
san'  auf'm  Sdiub 
P.  Felix  (erwacht). 

Pfaffinger  (sieht  an  seinem  biirgerlichen  Anzug  herunter.  Sich  en tschul digen d) : 

Mei'  Frau  wollt's  nimmer  leid'n,  dal)  idi  im  Kloster  bin.  Da  bin 


\ halt  wieder  ausg'sprungen.  Ein 


Abtriinniger!  In  dem  Paket 


is'  mei'  Kutt'n.  I'  will  s jetz'  glei'  auf  d'  Post  geb'n.  Oder  nodi  besser 
durdi  einen  Packtrager  hinaufschick'n. 

P.  Felix  (will  buBen,  ohne  es  in  der  Stimme  irgendwie  merkcn  zu  lassen): 

Aber  idi  kann's  ja  trag'n,  Herr  Bezirksgeometer.  (Er  langt  nach  dem 
BOndel.) 


Pfaffinger  (erschrodcen):  Herr  Pater  Felix 


II 


• • 


Hermine  (entsetzt):  Aber 


hodiwurdiger  — Herr  Graf 


11 


P.  Felix:  Idi  geh'  dodi  sowieso  'nauf  auf'n  Mariahilfsberg. 


(Er  bufit):  Idi  trag's. 


(Er  nimmt's.) 


Pfaffinger  (ausbrediend) : Idi  schreib'  heut'  nodi  an  Brief  'nauf 


an  'n  Herrn  Pater  Guardian 


warum  dal!  mich  meine  Frau  nimmer 


350 


HtinriS  Lauttnsad  * Das  GefUBde 


w 7 r r ' r r ^ T . r ' r . • • ~ T 


lafit.  — <Er  sAluchzt.  — Er  trdstet  sidi  setber  damit) : Aber  mein  V ermog'n 
— das  bleibt  dem  Kloster  — 

P.  Felix  <ga nz  nQd)t<rn.  Als  ob  Qberhaupt  nidits  gewesen  ware):  Adieu, 

Herr  Bezirksgeometer adieu,  gnadige  Frau  — 

Hermine  (fast  sdireiend):  Aber  das  Paket  — 

P.  Felix  (sieht  our  next  einmal  zu  der  sehr  fensterarmen  Klostermauer  auf. 
Verwahrt  sein  Blflmlein.  Und  sdiwingt  dann  das  Paket  flber  die  Sdiulter.  — Er 
bat  die  bdden  Person  en  da,  sdidnt's,  scfaon  wieder  ganz  vergessen.  Er  gebt.  — 
Aber  ganz  langsam.  FuB  vor  FuB  setzend.  Wie  einer,  der  Gehen  erst  wieder  lernt. 
Nadi  redits  hinten  hinaus). 

Fraul'n  Theres  (komrat  aus  der  Kirdie.  Sieht  die  Besdierung  — das  will 
sagen:  sic  erblidct  Pfaffinger  in  Zivil):  Icfa  bin  der  Beihilfe  Stfauldig. 

I'  hab'  eine  groBe  Sunde  begangen.  I'  hab'  mir's  uberlegt.  I'  wollt' 
erst  zum  Herm  Dompfarrer  geh'n,  urn  ihm  die  Sunde  gar  reuig 
zu  beichten.  Denn  der  Herr  Dompfarrer,  der  ist  in  der  ganzen  Stadt 
bekannt  als  gar  viel  streng.  Aber  jetz'  weifl  ich,  was  ich  tu'.  Icfa 
geh'  hinauf  zu  'n  Kapuzinern  und  bei (fat's.  Denn  die  drob'n  auf'm 
Mariahilfsberg,- die  sind  nocb  viel  strenger.  Denen  beiebt'  iefa's  — 

Paffinger  (in  der  Rkhtung  sdiauend,  in  der  P.  Felix  versdiwunden  ist): 

Wie  gen  Kalvari  geht  er  aufi  — !!  Mit  mein'm  Paket  auf'm  Buckel 
wie  'r  a'  Kreuz ! 

(Die  bdden  Nonnen  haben  angefangen,  das  Blumengewinde  vom  Portal  zu  nehmen.) 

(Vorhang.) 

ENDE, 


AfBert  EBrenstein  • BegraBnis  353 

nare  Peuscfael!  Viermal  binnen  vierzehn  Tagen  haben  wir  es  gehabt, 
und  noth  nicbt  Schlufi.  Freilich,  das  Kilo  kostet  siebzig  Kreuzer . . . 
Hans,  der  gerade  aus  der  Schule  kam,  empfing  auth  im  Vor- 
zimmer  die  erschuttemde  Trauernathricht  vom  Joseph.  »Welche  Tante 
Selma  ?«  iragte  er.  Denn  wir  haben  noch  eine  in  Kasdiau  und  eine 
Tante  genannte  Cousine  draufien  in  Hietzing.  Die  in  Kasdiau  war 
audi  alt,  aber  Gott  sei  Dank,  zu  ihrer  Leith  werd  ich  nicht  fahren 
mussen.  Die  Spesen  wiirden  zwar  nicht  den  Papa,  aber  immerhin 
die  Mama  bewegen,  midi  bei  dieser  nodi  zu  erwartenden  Trauer- 
fesdichkeit  auszusthalten  . . . Hans  stellte  fest,  die  Peusthelportion 
sei  klein  und  die  Sauce  nicht  allzu  reithlidi  vorhanden.  »Die  Ro2ena 
wird  draufien  alles  aufgeliressen  haben  !c  schimpfte  er.  Es  sei  ihr  von 
Herzen  gegonnt,  wenn  sie  mir  nur  morgen  die  Sdiuh  anstandig 
putzt . . . Ah,  der  Papa  war  audi  nicht  da.  Ja,  riditig:  die  Zeitung 
fehlte.  Die  brachte  er  immer  mittags  aus  dem  Bureau  mit.  Dafi  ith 
die  Zeitung  nitht  vermifit  hatte!  . . . Der  Papa  war  zu  einer  Leidie 
gegangen.  Das  ist  eine  seiner  Lieblingsbesthaftigungen.  Wenigstens 
sthnappt  er  Luft.  Am  Abend  wird  er  dann  erzahlen,  wer  mit- 
gegangen  ist  und  wieviel  Kranze  waren.  Dann  wird  er  den  Hans 
durdihauen,  denn  die  Auskunft  durfte  hothstwahrsdieinlich  miserabel 
ausgefalien  sein.  Oder  nein:  diesmal  wird  er  ihn  nitht  durchprugeln, 
weil  der  Hans  etwas  im  Ohr  hat  und  unlangst  erst  zwei  Nasen- 
operationen  uberstand . . . Also  der  morgige  Nachmittag  wird  futsch 
sein.  Und  ich  hab  mith  so  drauf  gefireut,  diese  narrischen  Zauber- 
marthen  und  Munchhauseniaden  vom  Lukian  zu  ubersetzen,  den 
magischen  Esel  und  die  wahre  Geschichte.  Und  hie  und  da  einen 
Blick  in  das  Budi  vom  Baber  zu  werfen.  Ausgeschlossen.  Ith  mufi 
mit.  Schon  dem  Eduard  zuliebe.  Und  der  Onkel  Ignaz  hat  mir  gewifi 
mehr  Gefalligkeiten  erwiesen  als  ich  ihm.  Es  schickt  sith,  dafi  ith  zum 
Begrabnis  seiner  Mutter  gehe.  Der  Eduard  wurde  mith  vielleitht  noth 
verstehen,  wenn  ith  nitht  kame.  Sdiliefilich:  wer  kann  mir's  denn 
sdiriltlich  geben,  dafi  ith  morgen  traurig  bin?  Am  Ende  werde  ith 
noth  durth  mein  Benehmen  Anstofi  erregen,  Niemand  garantiert  mir, 
dafi  mir  nicht  beim  Begrabnis,  beim  Kondolieren  plotzlich  ein  ver- 
rudcter  Einfall  vom  Lukian  durdis  Gehirn  schiefit  und  ohne  mith  zu 
fragen  den  Lathmuskel  in  Aktion  treten  lafit . . . Das  Schidtsal  geht 


354 


AfBert  EBrensttin  • Begr&Bnis 


furchterlidi  mit  mir  um.  Hatte  denn  die  Tante  nidit  nodi  langer  leberc 
konnen?  Wenigstens  bis  Montag?!  Dann  •ware  die  Leidie  am  Mitt- 
wodi  gewesen  und  da  hatte  ich  Vortrag  im  Seminar  gehabt,  der 
ware  unmoglidi  abzusagen  gewesen,  und  das  hatte  midi  wenigstens 
vor  dem  Bruder  des  Ignaz,  beim  Onkel  Siegmund,  entschuldigt. 
Obzwar  idi  einen  Sdimarren  auf  ihn  gebe.  Der  Rudolf  soil  audi  zur 
Leidie  kommen.  Es  ist  ja  seine  Grofimutter.  Sie  haben  ihm  nadi 
Bamberg,  der  tagsuber  betenden  Stadt,  telegraphiert.  Idi  wette,  der 
Kommis  kommt  mit  einer  goldenen  Uhrkette.  Sonst  ersdiiefie  idi  midi. 
Was?  Die  Tante  ist  gestem  mittag  gestorben!  Den  ganzen  Vormittag 
hat  gestern  die  Mama  auf  die  Floridsdorfer  gesdiimpft.  Auf  den 
Onkel  Siegmund,  weil  der  sie  bei  der  Geldaffare  von  ihrem  Bruder 
Heinrich  angeblidi  hatte  hineinreiten  wollen.  Auf  den  Onkel  Ignaz, 
weil  der  von  ihr  Geld  vorgestredct  haben  wollte,  dabei  aber  — ent- 
setzlidi!  — seine  Frau,  die  Tante  Risa,  in  einer  Persianerjacke  um 
dreihundert  Gulden  gehen  liefi.  Auf  die  Sdiwester  vom  Ignaz  und 
Siegmund,  auf  die  Charlott,  hat  sie  g'schimpft,  daB  die  ihren  »von 
Haus  aus«  gutmutigen  Mann  durch  fortgesetzt  hodimutige  Behand- 
lung  zu  dem  Kartenspieler  gemadit  hat,  der  er  ist.  Und  schlieBlidi 
auf  die  Tante  Selma  selbst,  weil  die  sich  nodi  einmal  verheiratet 
hat,  und  gar  mit  einem  Manne,  der  so  viel  Kinder  hat.  Alles  Geld 
vom  GroBpapa  sei  in  die  Floridsdorfer  hineingeronnen,  und  was 
hatte  man  davon?  Undank! ...  Ich  finde,  es  ist  doch  selbstverstand- 
lidi,  daB  der  GroBpapa  die  Tante  Selma,  seine  einzige  Sdiwester, 
unterstutzt  hat . . . Idi  hoffe  nur,  das  mit  der  Telepathie  ist  eitel 
Holler,  und  die  Sdiimpfworte  von  der  Mama  haben  nicht  der  Tante 
Tod  mitverursadit?  Die  Mama  hat  zwar  von  der  Krankheit  ihrer 
Tante  nidits  gewuBt,  aber  idi  hab  ihr  oft  genug  gesagt,  daB  die 
Fludie  von  Verwandten  moglidierweise  die  Kraft  besitzen,  von  Blut 
zu  verwandtem  Blut  zu  dringen,  Und  sie  selbst  hat  darauf  gesagt: 
»Man  kann  nidit  wissen  . . .« 

Idi  konnte  mich  eigentlidi  drin  im  Speisezimmer  niederlegen,  die 
Maroni  sdimedcen  mir  nur  beim  Maronibrater,  die  von  der  Mama 
sind  immer  viel  zu  hart.  Na,  gehen  wir.  Arbeiten  werd  idi  so  wie  so 
nidit  konnen.  Idi  sollt  zwar  eigentlidi  den  Lukian  ubersetzen,  bevor 
der  Termin  ablauft,  und  dann  habe  idi  nodi  ein  Gedidit  zu  zer- 


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355 


AIBert  EBren stein  • BtgrdBnis 


Z . * . . J . . / A . . . / ...  . i . . . W . . . « / ’ • . S < . . . / 


reifien,  well  idi  midi  am  Heimweg  heute  auf  einer  unbewufiten  Re* 
miniszenz  an  den  gottseligen  Ferideddin  Attar  ertappt  habe.  Es 
gibt  ja  sdion  so  wie  so  genug  Professoren  der  angewandten  Kryp- 
tomnesie  in  unserer  Literatur  . . . 

Gelautet  hat's.  Das  ist  entweder  die  Milch  oder  ein  Kollege  von 
mir,  den  idi  hinausschmeifien  werde.  Heute  spiel  idi  weder  Schadi 
nodi  Strohmandel.  Erstens  ist  eine  GroBtante  von  mir  gestorben, 
zweitens  wiegte  ich  midi  zwar  noth  heute  fruh  im  holden  Besitze 
von  sechs  Kreuzem,  dann  aber  kam  der  Brieftrager  und  brachte  ein 
Mahnschreiben  von  der  Bibliothek  und  nachdem  ich  einen  harten 
Kampf  dagegen  ausgefoditen  hatte,  dem  Mann  aus  Ironie  einen 
Kreuzer  Trinkgeld  zu  geben,  blieb  idi  infolge  des  vom  Sdiicksal 
verhangten  Strafportos  in  dem  Besitze  von  zve i in  einem  Stuck  ver- 
einigten  Helletn  . , . Gott  sei  Dank!  es  war  nur  der  Asdienmann, 
Asche  von  der  Fabrik,  die  bei  uns  Erspamis  halber  fiber  die  glim* 
mende  Kohle  gesdiuttet  wird,  Wie  sich  die  Mama  freuen  wird, 
dab  sie  nicht  zu  Haus  war.  So  hat  sie  ein  Stamperl  Sdinaps  er* 
spart . . . Was  soil  ich  eigendich  anfangen?  Zeitsdiriften  lesen?  Den 
>Frfihwind«  oder  den  >Nachtraben«  ? Das  Zeug  ist  unverdaulich. 
DjiB  die  Mensdien  nicht  den  Takt  haben,  ihre  diversen  Verlags- 
kritiken  in  den  Inseratenteil  zu  stecken.  Kritiken  gehoren  fiberhaupt 
unter  die  Annoncen.  Ob  er  nun  mit  seinem  Lob  oder  Tadel  nicht 
ganz  reinlidbe  Tausdi*  und  Revanchegeschafte  treibt,  immer  macht 
der  Beurteiler  Reklame  ffir  sidi  und  seine  Weisheit  . . . Komisch, 
wenn  so  viele  Leute  immer  wieder  auf  den  Literaturhumbug  hinein* 
fallen!  Was  ist  eine  literarische  Revolution?  Dickbauche  mit  donner* 
grfinen  Krawatten  erheben  sich  glatzenblitzend  vom  Kaffeehaustisdi 
und  machen  argerlich  Leuten  mit  blitzvioletten  Nasenringen  Platz,  die 
laut,  lockig  und  mager  langst  sdion  gierig  auf  die  Melange  mit  Apfelsaft 
der  Krawattophoren  geblickt  batten,  Alle  dreifiig  Jahre  Wiederholung 
der  Vorstellung.  Idi  verzidite  , . . Es  lautet  schon  wieder,  Nicht 
einen  Moment  kann  man  sdilafen!  Das  Dienstmadchen  sagt  >KfiB 
die  Hand*.  Das  ist  ein  Attentat  auf  midi.  Da  habe  ich  das  Ver* 
gnfigen,  der  alten  Tante  Fanny  die  Honneurs  zu  machen,  Leider 
ist  das  Zimmer  gut 
haben,  Gehortes  wiederzuerzahlen,  was  idi  uberaus  liebe,  Schade, 


geheizt:  also  durfte  ich  ziemlich  lang  die  Ehre 


356 


A/Bert  E Brens t* in  • BegrdBnis 


****** 


***** 


* 


daB  die  Mama  *leider«  nidit  zu  Hause  ist  — sie  und  die  Tante 
Fanny  konnen  einander  gegenseitig  nidit  ausstehen.  Idi  hab  sie  ganz 
gem,  sie  redet  sehr  wenig,  dafur  soil  man  aber  audi  ihr  in  einer  Tour 
erzahlen.  Idi:  >Sie  wissen  doth,  daB  die  Tante  in  Floridsdorf  ge- 
storben  ist.«  Sie:  >Ja,  idi  habe  die  Parte  in  der  Zeitung  gelesen. 
Weifit  du  vielleidit,  was  sie  gekostet  hat?c  »DreiBig  Gulden.* 
>Unversdhamt.«  Dann  aber  hatte  ich  genug  und  erklarte,  der  Doktor 
habe  mir  infolge  eines  sdileidienden  Brondiialkatarrhs  das  Reden  ver- 
boten.  »Traurig,c  sagte  die  Tante  und  liefi  es  dabei  im  Ungewissen, 
ob  sie  die  Verstorbene  damit  meine,  oder  midi.  Dann  aber  konnte 
sie  sidi  dodi  nidit  enthalten,  zu  fragen,  was  wir  heut  zu  Mittag  ge- 
habt  hatten.  Als  Antwort  bot  idi  ihr  Salmiakzutkerln  an,  sie  nahm 
und  ob  sie  hierauf  gesagt  hat:  »Sie  hat  es  fibers  tanden*  oder  *die 
Arme  hat  ausgelittenc,  ist  mir  nidit  mehr  erinnerlidi.  Denn  in  dem 
Augenblick  kam  der  kleine  Felix  ins  Zimmer  und  widmete  sich  der 
Tante,  nachdem  idi  midi  mit  den  Worten  »Idi  muB  lemen  gehen< 
verabschiedet  hatte.  Sollte  idi  vielleidit  der  Tante  Fanny  erzahlen, 
daB  die  Tante  Selma  gar  nidit  gestorben  sei,  mir  wenigstens  jede 
ihrer  Handbewegungen  vor  Augen  stand,  ihr  fireundlicher  Blick  und 
jede  der  Einzelheiten  ihres  Gesidites?  Sollte  idi  sagen,  roh  und  dock 
wahr,  nidit  ein  Jahr  mehr  oder  weniger  sollte  ein  Mensdi  leben, 
darauf  komme  es  nidit  an,  sdion  weil  das  Leben  nach  Jahren  zu 
zahlen  etwas  unendlidi  Falsdies  sei  . . . Sollte  idi  sagen,  daB  idi 
keinen  Untersdiied  zwisdien  Lebenden  und  Toten  madie,  da  wir  ja 
von  beiden  gleidierweise,  wenn  wir  mit  uns  allein  sind,  nidits  be- 
sitzen  als  eine  mehr  oder  minder  matte  Erinnerung  ihrer  Gestalt 
und  ihres  Wesetis,  des  Klangs  ihrer  Stimme  und  der  Art  ihrer 
Gesten,  eine  Erinnerung  ubrigens,  deren  Intensitat  nidit  einmal  ab« 
hangig  ist  von  dem  Grade  der  Zu»  oder  Abneigung,  die  wir  den 
einzelnen  entgegenbrachten.  Jeder  vemunftige  Mensdi,  der  einen  oko- 
nomischen  Gebraudi  seiner  Zeit  zu  madien  gewohnt  ist,  wird  die 
Toten  lieber  kommen  und  gehen  sehen  als  die  Lebenden.  Der  sinn- 
lidie  Eindruck,  auf  den  die  meisten  angewiesen  sdieinen,  ist  dem 
feiner  Organisierten  entbehrlich,  sogar  lastig,  sonst  wurde  das  langere 
Zeit  wahrende  oder  audi  nur  wiederholte  Zusammensein  mit  den- 
selben  Personen  sie  nidit  mit  jenen  Gefuhlen  versehen,  die  man  in 


AfSert  E 6 re n stein  • BegrdBnis 


357 


w 9****m*s**m*mnmamgmmMm*imm***4S*msm**mmmmm*m*m—mm**m****0m****si0*0*0M> 

der  Umgangsspradie  mit  >auf  die  Nerven  gehenc  zu  bezeidinen  ge- 
wohnt  ist.  DaB  wir  genotigt  sind,  im  Grunde  ewig  dieselben  Speisen, 
Getranke,  Frauen  und  W ohnungseinriditungsgegenstande  uber  uns 
ergehen  zu  lassen,  ware  genug,  diese  Pein  nun  noch  zu  verscharfen, 
indem  man  sidi  zwingt,  mit  anderen  Mensdien  zu  verkehren,  deren 
jeden  man  sich  ja  doch  nadi  hodistens  zweimaliger  Beobaditung  aus 
der  Westentasdie  zu  ziehen  und  vor  sith  auf  dem  Tisdie  agieren 
zu  lassen  getraut,  dazu  gehort  die  Geduld  eines  Dickhauters  oder 
normalen  Mensdien.  Aber  konnte  icb  das  der  Tante  Fanny  er» 
zahlen,  ihr  sagen,  daB  es  meine  Art  ist,  die  Lebenden  zu  betrauern ! 
Wurden  sie  und  die  anderen  Mensdien  midi  verstehen?  Kassandra 
hat  nie  den  Fall  Trojas,  ihrer  Bruder  nodi  ihrer  eigenen  beklagt/ 
diesen  Dingen  stand  sie  vielleidit  gleidigultig,  ja  Oberlegen  ironisch 
gegeniiber.  Jahre  vorher  bat  sie  geweint  und  geklagt  — die  ver- 
ruckte  Seherin,  die  alle  Dinge  kommen  sah  und  der  daher  alles 
Erleben  scbal  und  gemein  ward  . . . Die  da  drinnen  und  draufien, 
die  Durchsdinittstanten,  ihre  Stimme  horte  idi  schon  vor  Jahren  den 
Tod  audi  dieses  Mensdien  besudeln.  >Weldi  ein  Verlust  fur  die 
Maltsdii!  Die  ist  nun  vollstandig  Waise  und  hat  nun  gar  niemand 
mehr,  weil  jetzt  audi  ihre  Grofimutter  tot  ist!«  . . . . Einmal  und 
kein  zweitesmal  wieder  habe  idi  alle  mir  Nahen  betrauert,  damals, 
als  idi  mit  vierzehn  Jahren  meine  UrgroBmutter  sterben  sah,  und 
damit  es  audi  wirklidi  wuBte  und  begriff,  daB  icb  und  alle  sterben 
mussen.  Denn  bis  dahin  lebte  idi  in  einem  Feenlande.  Professoren 
und  Eltern  waren  mir  nur  eine  herbe  Prufung,  die  zu  uberstehen 
war,  bis  idi  von  Gott  und  den  Maditen,  die  zwisdien  uns  und  ihm 
sind,  einer  besseren  Daseinsform,  einer  Verwandlung  fur  wiirdig 
befunden  wurde.  Als  die  UrgroBmutter  starb,  sanft,  aber  eben  doth 
starb,  da  rannte  idi  hinaus  und  biB  ins  Gras  und  walzte  midi  in 
den  Pfutzen,  weinte  und  fludite  — ohnmaditig.  Seitdem  starb  mir 
niemand  mehr,  und  wer  dem  Ansdiein  nadi  spater  starb,  war  mir 
sdion  damals  mit  der  Grofimutter  begraben  worden.  Und  von  alien 
Begrabnissen,  die  ja  doth  keine  waren,  blieben  mir  nichts  als  haB- 
lithe  Erinnerungen.  Als  der  GroBpapa  starb,  die  ganzen  Ferien  vor- 
her betete  idi  zu  idi  weiB  nicht  wem,  den  Tod  nidit  mitansehen, 
das  Begrabnis  nidit  mitmacfaen  zu  mussen.  Idi  beneide  alle  die,  welche 


358 


A/Bert  E>  Bren  stein  • BegraBnis 


VMM 


MM# 


Unlogik  genug  besitzen,  bei  jedem  neuen  Tod  zu  weinen  und  Trauer- 
mienen  zu  hissen,  Diese  Leute  haben  oft  Gefuhl,  mein  Her z ist  aber 
seit  jenem  ersten  Tod  meiner  und  aller  versteinert  . . . Was  sollen 
diese  Begrabnisse?  Sie  sind  die  Ausdrudcsform  fur  die  Gefuhle  der 
meisten.  Das  Weinen  ist  kein  inneres  perennierendes,  es  ist  ein 
intermittierendes/  das  Begrabnis  ist  der  Ruf  der  Gesunden  nach 
dieser  auf  den  Einwurf  >Tod«  erfolgten  Funktion  des  Gefuhlsauto- 
maten.  Der  Ruf  (autet:  »Punktum,  StreusandU  , . . 

Die  Jause.  Die  Tante  war  schon  fort,  hingegen  der  Papa  da.  Bei 
dem  Begrabnis  der  alten  Martinsdiak  hatte  es  drei  Wagen,  vier  Kanze 
und  funf  Tranen  gegeben.  Dies  dacbte  ich  mir.  Als  idh  aber  horte,  das 
einfadie  Begrabnis  babe  zweihundertundfunfzig  Gulden  gekostet 


mein  Gott,  die  Pfaffen  sind  sdiredrfidi  teuer 


verhundertfachte  ich 


die  Anzahl  der  Tranen.  Von  den  Poppers  waren  die  Sdhne,  wefdie 
die  Alte  aus  gutem  Herzen  und  nidit  etwa  ge gen  bar  erzogen 
hatte,  nidit  dabei  gewesen.  Und  den  anderen  mufite  erst  der  Papa 
»Sdiliefilidi  beten  wir  dodi  alfe  zu  einem  Gott«  sagen,  bevor  sie  es 
mit  ihrem  Judentum  fur  vereinbar  hielten,  zur  Seelenmesse  zu  gehen. 
Nach  der  Jause  Zeitung,  Baber,  Lukian  und  dem  Felix  meinen  letzten 
Kreuzer,  weil  er  sidi  auf  dem  Eis  Zuckerln  kaufen  wollte.  Aus 
Berechnung:  er  mufite  mir  dafur  verspredien,  nidit  mit  den  Sesseln 
im  Zimmer  umeinanderzufahren,  wenn  idi  nebenan  arbeite.  Wenn 
ich  blofi  lerne,  geniert  midi  das  nidit,  aber  audi  nur  einen  vernunf- 
tigen  Satz  bei  dem  Gesdiarre  und  Gerutsdie  sdireiben  zu  mussen, 
ist  gehirnzerruttend.  Am  Abend  ersudite  ich  den  Papa,  morgen  da- 
hinzuwirken,  dafi  wir  nidit  etwa  aus  Mamas  verfluditen  Erspamis- 
rucfesiditen  bis  zu  der  Dampftramway  fahren  und  irrsinnigerweise 
uber  die  windgeliebte  Brudce  gehen  mussen.  Er  sagte,  wenn  idh  mir 
das  Geld  fur  die  Dampftramway  verdient  hatte,  solle  ich  mit  der 
fahren,  sonst  nidit.  Ich  bin  aber  sidier,  er  wird  mir  der  Mama  gegen- 
uber  morgen  die  Stange  halten.  Es  ware  audi  zu  bldd,  wegen  sedi- 
zehn  Kreuzern  mehr  einen  von  uns  krank  zu  machen,  der  nidit  die 
robuste  Konstitution  meiner  verehrten  Frau  Mama  besitzt.  Spat 
abends  kam  sie,  und  war  in  der  bittern  Kalte  allein  von  Florids- 
dorf  zu  Fufi  nach  Hause  gegangen.  Sie  sagte  mit  geheimer  Schaden- 
freude, die  sie  als  Mitleid  maskierte:  >Die  Charlott  sieht  elend  aus. 


359 


Af&trt  EBrenstiin  * BegraBnis 

Icb  glaube,  die  Arme  hat  wirklich  Tuber  kulose  . . . Und  jetzt  wird 
die  Maltschi  nicbt  mehr  die  Grafin  spielen  und  Hute  um  zwolf, 
funfzehn  Gulden  tragen,  wo  icb  mir  alle  zehn  Jahre  einen  um  zwei 
Gulden  mach'.  Der  Alte  hatt'  sie  am  liebsten  gleich  heute  hinaus- 
gesdimissen.  Gerecbte  Strafe  Gottes,  dab  jetzt  alles  in  seine  Kinder 
erster  Ehe  hineinrinnt  und  der  Ignaz  und  der  Siegmund  es  nicbt 
speisen.  Denkts  eucb  nur:  im  Testament  steht,  daft  der  ubertebende 
Teil  Universalerbe  ist,  und  jetzt  hat  der  Alte  sie  uberlebt  und 
kriegt  alles.* 

★ 

Gestern  nadit  lag  icb  trotz  des  sonst  einschlafemden  Bades  bis 
in  die  Fruh  wach.  Da  war  das  Begrabnis  der.alten  Bluska,  die 
dreiBig  Jahre  lang  beim  GroBpapa  in  der  Fabrik  gearbeitet  hat,  bis 
sie  Typhus  bekam,  und  von  der  Grofimama  und  mir  zum  Grab 
begleitet  ward.  Dann  der  Tod  der  UrgroBmutter,  die  uns  immer 
Madeiratrauben  gegeben  und  vor  der  Mutter  beschutzt  hat.  Einmal 
scbenkte  sie  mir  auch  einen  Funfer  von  dem  Wenigen,  was  sie  hatte, 
ohne  zu  ahnen,  daB  er  langst  auBer  Kurs  gesetzt  war.  Vielleicht  scbenkte 
sie  mir  ihn  dafur,  daB  icb  sie  fuhrte,  wenn  sie  mit  dem  Eigensinn 
des  Alters  heim  nacb  dem  viele  Stunden  entfemten  Werbotz  gehen 
wollte  und  mud  nach  einigen  Schritten  umkehrte,-  vielleicbt  aucb  wollte 
sie  micb  eingefleiscbten  Romanleser  aneifern,  ihrem  Rate:  »Lies  lieber 
Schiller  und  Kotzebue*  zu  folgen  . . . 

Und  einige  Zeit  spater  sprang  icb  hinunter  in  das  Wirtshaus  unten 
und  sagte  meinen  Freundinnen,  den  drei  Maddien,  stolz,  wie  trium- 
phierend  auf  eine  eigene  Leistung:  >Mein  UrgroBvater  ist  gestorben. 
Siebenundacbtzig  Jahre  ist  er  alt  geworden.*  >Heilige  Dreifaltigkeit,  so 
alt!«  Und  als  icb  im  Sommer  wieder  in  das  slovakische  Dorf  kam, 
war  der  Betstuhl  des  UrgroBvaters  schwarz  ausgescblagen  und  der 
GroBpapa  betete  auf  einem  anderen  Platz.  Die  Mama  aber  feierte 
einen  hygienischen  Triumph,  denn  nun  lodcte  micb  niemand  mehr  zu 
sicfa,  um  mir  einen  Loffel  des  stark  mit  Rum,  Wein  oder  Kognak  ver- 
setzten  Tees  zu  geben,  und  eine  Bezugsquelle  von  Kircfatagskreuzern 
war  nun  aucb  versiegt . . . Ein  Sommer  kam,  icb  hatte  meine  usuelle 
Nachprufung,  o Mathematik!  — aber  der  GroBpapa  war  schwerkrank. 
Oft,  wenn  er  aufmerken  und  am  Tischgespradi  teilnehmen  wollte. 


360  Albert  Ebrenstein  • Begrabnis 

******* ****************** 


wurde  er  sdilafrig  und  sein  Kopf  glitt  an  der  aufgestutzten  Hand 
nieder  zur  Tisdiplatte  . . . Und  dann  im  Herbst  die  Fahrt  zum  Be- 
grabnis mit  meinen  Cousins,  den  Hoisenfelds,  die  als  die  Alteren  mich 
trotz  meiner  Trauer  in  Lundenburg  leicht  uberredeten,  ebenso  wie  sie 
mir  zur  Zehnuhrjause  von  den  wundersdionen  Trauben  zu  kaufen, 
wofur  idi  midi  noch  heute  ohrfeigen  modite  . . . Denn  das  Abschied- 
nehmen  von  dem  Toten,  das  Ihn-um-Verzeihung-bitten  . . . und 
drauBen  vor  dem  Haus  das  Gesdiimpf  der  Sdinorrer  von  Motsdiid- 
Ian,  die,  weil  jeder  nur  eine  Krone  bekommen  hatte,  sdirien:  »Jadi 
hab  geglaubt,  es  ist  dos  e groiBe  Firma,  de  Singers  von  Maltsdi, 
daweil  . . . nidit  erleben  sollen  se!«  ...  und  das  Gesdirei  meiner 
Mama  und  ihrer  Sdi western  am  Grab:  *Mein  lieber,  siiBer,  guter 
Papal*  dies  ailes  ist  uber  midi  hingegangen,  und  wurde  aufgenommen 
von  einem  kalten,  seibstsGditigen  Herzen,  tranenlos,  weil  nidit  sdilecht 
genug,  Tranen  erpressen  zu  wollen,  und  dodi  mitfiihlend.  Nur  fuhlte 
idi  alles,  wie  ein  sdion  langst  Erlebtes,  und  fuhlte  wenig,  weil  idi, 
wie  stets,  benommen  war  vom  Sehen.  Idi  sah  und  horte  GroB- 
papas  Kompagnon  weinen  und  schludizen  — es  war  niemand  mehr 
da,  den  er  ahnlidi  betrugen  konnte,-  idi  sah  den  Sohn  weinen  — 
wer  wurde  ihm  jetzt  die  Sthulden  zahlen?  Und  ahnlidi  teilte  und 
erforsdite  idi  den  Sdimerz  eines  jeden,  wie  ein  groBer  Spiegel,  der 
wohl  jeglichen  Liditeindrudt  empfangt,  aber  bei  seiner  rezeptiven 
Tatigkeit  nie  dazu  kommt,  er  selbst  zu  sein.  Ein  Spiegel,  ein  Gram- 
mophon!  Ein  jeder  Hall  und  Schall  grub  sidi  in  mein  Gedaditnis 
ein,  idi  selbst  stand  nah  und  war  doch  weit,  weit  weg  und  doch  am 
selben  Ort:  und  sah  das  Begrabnis  meiner  nodi  lebenden  GroBmama! 
Damals  war  es,  daB  idi  midi  vor  mir  zu  fiirditen  begann.  Etwas 
Grauenvolles  lebte  in  mir,  mit  mir.  Idi  lebte,  fuhlte,  hofite,  weinte 
und  ladhte  und  nun  war  audi  nodi  etwas  auBerdem  da,  das  jeglidhes 
innere  und  auBere  Gesdiehnis  bald  fluditig,  bald  weitsdiweifig,  bald 
kunstlos,  bald  pointiert  in  das  keines  Widerstandes  fahige  Gehirn 
sdirieb.  DaB  es  mir  gegeben  war,  ohne  dies  zu  wollen,  tief  in  den 
geheimsten  Gedanken  der  mir  Bekannten  zu  wuhlen!  Und  nidit  das 
allein,  idi  wufite  die  Zukunft  eines  jeden  von  ihnen.  In  ihrer  An- 
wesenheit,  wahrend  sie  mit  mir  spradien,  begrub  oder  verheiratete 
idi  sie,  je  nadi  ihrem  Alter.  Und  ging  bei  ihren  Begrabnissen  mit. 


Afbert  E Bren  stein  • BegraBnis 


361 


wenn  sie  tnir  eine  Zigarette  anboten,  und  verheiratete  sie  bei  ihren 
Promotionen  . . . 

Wie  dcr  Vormittag  voruberzog,  weiB  icb  nicht.  Vermutlich  ging 
icb  in  Gedanken  mit  Eduard  nach  dem  Begrabnis  spazieren,  wie 
gewohnlich.  Ja,  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dafi  ich  ihn  um  seine 
Meinung  bat  uber  ein  oder  das  andere  Buch,  von  ihm  drohenden 
juridischen  Prufungen  sprach,  besorgt,  wie  es  sich  fur  einen  Cou- 
sin geziemt.  Vielleicht  audh  fragte  ich  ihn,  der  seine  GroBmutrer 
verloren  halte,  ob  ich  ihm  den  im  Erscheinen  begriffenen  Roman 
Babenbergs  fortsetzungsweise  oder  erst,  wenn  er  vollstandig  sei,  zu- 
kommen  (assen  solle.  So  bin  ich,  ich  kann  nicht  anders.  Der  Onkel 
Ignaz,  der  mich  gut  kennt,  sagte  mir  einmal:  »Wer  da  mit  Menschen- 
und  mit  Engelszungen  redete,  und  hatte  der  Liebe  nicht,  so  ware 
er  ein  tonend  Erz  oder  eine  klingende  Schelle.«  Nidits  nutzt  mir 
dieses  sein  Mich-Erkennen,  nicht  schutzt  es  mich  vor  meinen  Ge- 
danken: Da  ist  mein  Wissen  darum,  daB  die  Tante  Risa  den  Rudolf, 
den  Kommis,  fragen  wird,  wieviel  Gehalt  er  hat.  Und  ich  sah  schon 
die  Maltschi  mit  ihm  eine  zartlich-traurige  Gruppe  bilden,  die  zarte 
Schwester  an  den  starken  Bruder  gelehnt  . . . Mich  Elenden  sehe  ich 
stumm  und  befangen  umherirren,  bald  mich  verkriechend,  bald  die 
Worte  dieser  oder  jener  Gruppe  schluckend.  Es  muBte  mit  dem 
Teufel  zugehen,  wenn  ich  nicht  irgendeine  peinliche  Szene  hervor- 
rufen  sollte.  Und  innerlich  werde  ich  mich  bald  schamen,  bald  uber 
irgendwas  wutend  sein,  sicher  uber  den  Rabbiner,  nach  aufien 
aber  immer  gleichgiiltig  wie  nur  noch  der  dritte  Sohn  der  Tante 
Selma,  der  dicke  Moritz  aussehen  kann  — durch  zusammengebissene 
Zahne  und  verlegenes  Schweigen  eine  Art  Trauer  markieren  . . . Zu 
Mittag  gab  es  einen  Diskurs  uber  die  Kleidung,  weil  ich  mich  nicht 
bewegen  liefi,  eine  Winterhose  von  Joseph  statt  meiner  schleifiigen 
zu  nehmen.  Dann  gab  mir  der  Papa  ausnahmsweise,  ohne  sich  darum 
bitten  zu  lassen,  et/was  Geld,  woruber  die  Mama  zu  schreien  und 
zu  gestikulieren  begann.  Bauchgrimmen  von  den  Kohlruben  im  Herzen, 
machte  ich  mich  auf  den  Weg.  Ich  hasse  Begrabnisse  und  andere 
Familienfestlichkeiten.  Nun  gar  noch  verbittert  durch  die  Anwesen- 
heit  der  Mama.  Es  kam,  wie  ich  es  geahnt  hatte:  wir  fuhren  zur 
Dampftramway.  Und  in  der  Elektrischen  focht  die  Mama  mit  Blicken, 


362 


Afbert  EBrensttin  * BegraBnis 


„„f,f„tt„f,„t,9,„i9999f9JJ9?J909900009J0J9**9*9*9*9*99J09999900009099009000000999900000090000000049099900000J*0000*0J0930009m0*0*90+0090 

Gesten  und  kleinen  RippenstdBen  dagegen,  daB  der  Papa  dem  Kon- 
dukteur  cinen  Kreuzer  Trinkgeld  gab . . . He,  ich  hatte  midi  im  Traurig- 
sein  zu  uben.  Einmal  hab  ich  im  Gymnasium  so  intensiv  Zahn- 
sdimerzen  geheudielt,  daB  ich  wirklich  welche  bekam.  Ein  andermal 
Trauer  iiber  die  Sdiarlacherkrankung  der  Melanie  so  vollkommen 
in  Erscheinung  zu  bringen  gewuBt,  daB  mich  ein  Professor,  der  midi 
sonst  absolut  nidit  goutierte,  trosten  zu  mussen  glaubte  und  mir 
Jahre  hindurdi  keinen  Funfer  gab.  Einmal  aber  hab  idi  zu  gemeinsten 
Zwecken  Trauer  geheuchelt,  um  Trauer  zu  meudieln.  Einem  Dienst- 
maddien  war  die  Sdi  wester  gestorben.  Wir  sind  allein  zu  Ha  us  ge- 
wesen.  Sie  weinte,  idi  versuchte  sie  zu  trosten.  Sie  lehnte  sidi  er- 
mudet  an  midi  und  idi  streidielte  sie,  und  schlieBlidi,  obgleidi  sie  bis 
dahin  mich  absolut  nidit  gemodit  hatte,  glitten  wir  in  ein  Land,  das 
gewiB  nidit  an  diesem  Abend  zu  betreten  war.  Nadi  der  raffiniert 
gemeinen  Ausnutzung  dieser  psychologisdi  interessanten  Situation  und 
Seelenstimmung  bin  idi  mir  damais  recht  damonisdi  vorgekommen . . . 
Der  Joseph  remonstrierte,  aber  es  half  nidits:  »Eine  Strecke  gehen, 
eine  Strecke  fahren«  sagte  die  Mama,  und  hatte  dabei  furs  Gehen 
die  windige  Strecke  uber  die  Donaubrucke  ausgesudit,  weil  namlidi 
die  Dampftramway  um  zwei  Kreuzer  teurer  ist  als  die  StraBenbahn. 
Ein  an  die  Adresse  meines  Brondiialkatarrhs  geriditeter  Sturm  und 
infolgedessen  an  uns  vom  Papa  ausgeteilte  Bemzudterzelteln,  die, 
Aussage  der  Mama,  nach  Urin  schmedcten  und  niditsdestoweniger 
gierig  von  ihr  begehrt  wurden,  das  waren  die  nadisten  Ereignisse. 
Naher  und  naher.  Idi  bekam  Herzklopfen.  Vermisdit  mit  Gewissens- 
bissen.  Denn  idi  beging  eine  unehrenhafte  Handlung,  wenn  idi  dort, 
wo  idi  hodistens  meines  Todes  halber  eine  Art  Trauer  hatte  auf- 
weisen  konnen,  aus  Eitelkeit  und  *Was -wurden -sonst-die-Leute- 
sagen«  Bewegungen,  Mienen  und  Worte  der  Trauer  machte.  Ver- 
steinert  ist  meine  Seele  und  fuhlt  mit  keinem  Mensdien,  nur  hie  und 
da  mit  einem  Tier  oder  gleich  mit  ganzen  Volkem  Mitleid. 

*Wieviel  Leute  es  da  gibt,«  sagte  der  Papa  und  sdirieb  mir  vor,  wem 
idi  kondolieren  solle,  und  daB  ich  namentlidi  dem  alten  Onkel  und 
der  kranken  Charlott  beim  Weggehen  sagen  solle  *Gott  troste  Sie«. 
Ah,  Rabbiner  sind  auch  da,  Dort  in  der  Ecke  sitzt  der  alte  Raubvogel 
und  hinterbliebene  greise  Gatte.  Allen  nahen  Verwandten  der  Toten 


363 


A/Bert  EBrensttin  • BegraBnis 

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die  Hand  gegeben  und  mein  Beiieid  ausgedruckt.  Nur  vie  ich  zur 
Charlott  kam,  trat  ich  in  der  dunkeln  Nisdie  auf  den  nicht  bemerkten 
Sarg  und  in  meiner  Wut  und  Verlegenheit  gab  ich  dem  Eduard, 
den  sie  mir  foigen  hiefi,  nicht  die  Hand.  Tat  auch  wahrend  des 
ganzen  Begrabnisses  nichts  dergleichen.  Als  ob  wir  ganz  unbekannt 
miteinander  waren.  Denn  dort,  wo  du  nicht  mitfuhlen  kannst,  heuchle 
nicht  unnotig.  Und  wenn  ich  mit  ihm  gesprochen  hatte,  irgendein  ver- 
ruchter  Witz  ware  mir  do<h  entschlupft  und  am  Ende  gar  eine  lite— 
rarische  Reminiszenz.  Also  lieber  nicht.  Einen  groBen,  gutmutigen 
Schnurrbart  hat  er  ubrigens  bekommen,  seitdem  ich  ihn  nicht  sah, 
einen  Altmannschen , ahnlich  dem  vom  Ignaz.  Er  sieht  aus  wie  ein 
Mann  . . . 

Ein  offener  Sarg,  die  Tote  im  Bett  aufgebahrt,  das  hatte  sicher 
auf  mich  gewirkt.  Aber  eine  schwarz  ausgeschlagene  Kiste  muBte 
doch  durch  die  vielen  schwarz  ausgeschlagenen  Menschen,  ihre  mannig- 
faltigen  Gebarden  und  Korpergerausche  in  Schatten  gestellt  werden. 
Jetzt  freilich,  wo  ich  allein  bin,  verblaBt  das  andere,  es  verschwindet 
das  Gesicht  des  Onkels  Ignaz,  auf  dem  gesdhrieben  stand:  »Man  kann 
da  leider  nicht  helfen«,  vergeht  das  Gesicht  des  abgemagerten  Siegmund, 
unsichtbar  wird  der  Ballgehrock  des  Kommis,  der  vermutlich  jetzt 
tanzen  lernt,  wie  weggeblasen  ist  die  Goderljudin,  die  der  Robert 
geheiratet  hat,  samt  ihm,  der  mir  auf  meine  Phrase  eine  andere 
herausgab  — da  ist  nur  die  Tote  mit  ihrem  Haametz,  den  breiten 
fast  noth  schwarzen  Augenbrauen,  der  so  gar  nicht  entstellenden 
Warze  seitwarts  unter  den  merkwurdig  auseinandergeworfenen 
Lippen,  sie  bietet  mir  Badcereien  an,  und  wenn  ich  nicht  irre,  spielen 
wir  Lotto  . . . 

Gleich  nach  den  Kondolenzen  — ist  die  Maltschi  wirklich  so  a b» 
gemagert,  oder  macht  es  das  schwarze  Kleid?  — verschwand  ich, 
genet  unter  fremde  Damen,  die  sich  im  Vorzimmer  aufgestellt  hatten, 
als  hatten  sie  keine  Ahnung  davon,  dafi  jemand  Kohlriiben  gegessen 
haben  konne.  Und  gleich  nadhher  lang  marschiert  sei.  Ah,  es  sind 
die  vom  Geschidc  gerade  hierher  gesandten  Manaden,  die  mich  dafur 
bestrafen,  dafi  ich  nicht  an  ihren  Trauermysterien  teilnehme...  Wie 
die  Charlott  schlecht  aussieht!  Und  die  kleine  Martha  hustet  auch 
noch  von  ihrer  Rippenfellentzundung  her.  Die  Mutter,  die  Charlott, 

« voi.  m/i 


364  A f Bert  E Bren  stein  * BegraBnis 

**************************  t***********************'**********"******"**'' eeeeeeeeeeeeeeMeeeeeree********************************************** 

ist  tuberkulos,  ob  da  wirkliA  a At  Stunden  tagliA  SAuIe  bei  der 
ToAter  angezeigt  sind?  Lernen  soli  sie  auBerdem  noA  und  im  Ge- 
sAaft  und  in  der  WirtsAaft  mithelfen.  Bei  wenig  Bewegung  und  ohne 
Sport  kann  das  niAt  gut  tun.  NiAt  sAleAt  sieht  sie  aus,  trotz- 
dem,  das  ist  wahr.  Aber  kein  Arbeiter  wurde  es  si  A heutzutage 
gefallen  lassen,  so  lang  eingespannt  zu  sein.  DoA  dem  eigenen 
Kind  tut  man's  an.  Da  werden  Verordnungen  gegen  Kinderarbeit 
erlassen,  die  Geistesfabriken  aber  sperren  niAt  fruher  ...  IA 
werd  mit  dem  Eduard  einmal  ein  Wort  dartiber  reden  . . . Jetzt 
singen  sie  drinnen.  GelegentliA  werde  iA  einmal  einen  dieser 
zwiAerbehangenen  Briillaffen  ersAlagen.  Was  haben  die  dabei  zu 
tun?  NaAstens  verwandl’  iA  in  einem  MarAen  einen  unbarm- 
herzigen  Professor  in  die  Chevra  KadisAa!  Die  Tante  soli,  bevor 
sie  si  A zu  Bett  (egte,  oft  und  innig  gebetet  haben.  Hat  sie  am 
Ende  gewufit?  Dann  hatt'  sie  siAer  das  Testament  abgeandert  . . . 
Man  geht  sAon.  Der  Eduard  stiizt  seine  Mutter,  die  Charlott, 
und  weint.  Urn  seine  Mutter  oder  weil  die  GroBmutter  aus  ihrem 
Haus  getragen  wird.  Der  Rudi  hilft  ihm  stiitzen,  der  BursA  war 
von  jeher  ein  Aff.  Wie  ihm  gesagt  wurde,  sein  Vater  sei  tot,  hat 
er  stundenlang  monoton  geheult,  und  das  Gewein  war  no  A dazu 
Imitation.  VielleiAt  hat  er  gemeint,  man  erwarte  solAes  Dauer- 
gejammer  von  ihm  . . . xqveqoio  e^ojqoe  yooiol 

Nein,  von  Blut  war  in  diesem  Weinen  niAts  gewesen,  Es  kam 
aus  dem  Kehlkopf . . . Da  hinter  mir  erzahlt  einer  im  Zug  von 
Kampferinjektion  und  Sauerstoffzufuhrung.  Und  redet  noA  von 
sanftem  Tod.  Allerdings  ist  es  trotzdem  mogliA:  iA  glaube,  es  ist 
der  Arzt  der  Tante,  der  Doktor  Regenwurst,  der  hinter  mir  . . . 
Jetzt  rieA  iAs  erst:  mein  Herr  Bruder,  der  Joseph,  hat  siA  heut 
naAmittag  der  LeiAe  zu  Ehren  mit  MosAusseife  gewasAen.  Na, 
wenn  iA  der  Herrgott  war,  konnt  iA's  auA  niAt  anders  einriAten: 
der  eine  freue  siA  an  MosAusparfiim,  der  andere  an  ahnliA  pene* 
tranten  Einfallen  . , . Ah,  der  Spieler,  der  Mann  von  der  Charlott, 
ladet  uns  zum  Mitfahren  ein.  Er  sieht  aber  gar  niAt  iibel  aus,  von 
Trauer  keine  Rede.  Rote  Backen.  Mir  sAeint:  bei  mir  hat  der  Verstand 
die  Seele  aufgefressen,  bei  ihm  hat  das  GesAaft  der  Verdauungstrakt 
besorgt.  LeiAenhalle.  Die  Frau  SAarmann,  die  Stiefmutter  vom  Rudi 


AfBert  Ehrenstein  • Begrafittis 


365 


und  der  Maltschi,  spridit  midi  an.  Ob  idi  sie  nodi  erkenne?  »Aber 
natiirlidi.c  Aus  wem  rinnt  denn  noch  der  belanglosen  Reden  Strom 
wie  aus  einer  Bassena?  Des  Affen  geistige  Mutter.  Oh,  die  zu  FuB 
gehenden  nahen  Verwandten  kommen  sdion.  Was  ist  das?  Richtig! 
Drei  symmetrisdi  ausgestreckte  Muffe,-  der  sdiabige  gehort  der  Mama, 
die  andern  der  Risa  und  der  Goderljiidin.  Sdirecklidi:  der  Rabbiner 
wird  reden.  Sein  Tonfall  ist  so  idiotisdi,  als  ob  er  ein  ehemaliger 
Professor  von  mir  war.  Jetzt  singen  sie  auch  nodi.  Haltjegugu.  Was 
ist  denn  das?  Richtig,  unlangst  war  idi  beim  Koschatquintett  und  der 
Judizer  stieg  wieder  auf  in  meinem  Gehirn,  durdi  einen  ahnlidien 
Triller  der  Judenbuben  erweckt . . . Beim  Tod  von  meinem  GroB- 
papa  hat  auch  so  ein  Korybant  eine  Rede  gehalten.  Wenn  idi  da- 
mals  einen  Revolver  gehabt  hatte,  idi  hatt'  den  taktlosen  Hund  im 
Tempel  erschossen.  Gefressen  und  gesoffen  hat  er  dann  fur  zehn. 
Da  reden  nodi  die  Leute  von  Entwicklung.  Die  Elite  vielleidit  kommt 
vorwarts,  aber  audi  das  Volk,  die  Materie?  Wetten  mocht  idi,  der 
mitanisdhe  Priester,  der  dem  Ar*Tisup  taglidi  Zwetsdienknodel  ge- 
opfert  hat,  der  Chinamann  vor  fiinftausend  Jahren  in  Han-Tscheu-Fu, 
er  hat  ahnlidi  gesalbadert . . . Wenn  ein  GroBfiirst  durdi  die  StraBen 
fahrt,  briillt  es  Hurra,  wenn  der  Affenkonig  Hanuman  endlich  aus 
dem  Ramajana  hier  eintrafe,  gebe  es  ein  ebenso  groBes  und  eine 
Galavorstellung  in  der  Oper,  Die  Azteken  haben  es  auch  sdion  so 
gehalten  . . . 

So,  jetzt  werden  sie  nodi  einmal  weinen  und  ein  Hauferl  Erde 
auf  den  Sarg  werfen  . . . Beim  Riickweg  vom  Friedhof  ins  Trauer- 
haus  haben  wir  keinen  Wagen  gekriegt,  und  idi  bin  so  schnell  ge- 
gangen,  daB  ich  Lungenstechen  bekommen  hab.  Das  ist  die  geredite 
Strafe  Gottes!  Der  Mama  werde  idi  sagen,  es  ist  von  dem  Wind 
bei  der  Donaubriidce.  Das  Stedien  laBt  nidit  nach.  Wenn  idi  aber- 
glaubisdi  ware,  sagte  ich:  die  Tote  zieht  midi  nach,  weil  ich  ihr  auf 
den  Sarg  getreten  bin.  In  Wahrheit  mogen  in  soldien  Fallen  Angst 
und  Gewissensbisse  das  ihrige  getan  haben.  GewiB  ist  es  aber,  daB 
sidi  schon  viele  bei  Begrabnissen  erkaltet  und  iibergessen  haben. 
Oder  an  Alkoholvergiftung  gestorben  sind  . . . Jetzt  werden  doch 
hoflFentlidi  nicht  mehr  die  Frauenzimmer  das  Vorzimmer  unsicher 
madien.  Gott  sei  Dank,  nein!  Das  war  eine  Erlosung!  . . . 


366 


Albert  Ebrenstein  * BegraBnis 


Man  sitzt  scion  Sdiive.  Dann  werden  sie  die  Gebete  spredien.  Der 
Eduard  kommt  und  fragt  midi,  wie  er  sich  zu  verhalten  habe.  Idi  als 
Kauhen,  Priester,  Nachkomme  Aarons  musse  das  doch  wissen.  Ich  sag 
ihm,  er  soli  verschwinden,  er  tut's  aber  nidit.  Die  Gebete  sind  aus. 
Essen  soil  idi?  Keineldee!  Ich  habe  zwar  seitMittag  nichts  gegessen, 
aber  hier  mufite  midi  jeder  Bissen  toten.  Sie  sehen  es  alle  nidit,  wie 
die  Tante  nodi  aus  dem  Grab  kommt  und  die  Speisen  mit  notigenden 
Worten  herumreidit . . . Jetzt  glauben  die  Leut,  es  ist  aus,  und  sie 
dGrfen  wieder  ladien,  Sie  haben  gar  keine  Ahnung  davon,  daft  mit 
jedem  Toten,  der  ihnen  stirbt,  audi  ein  Stuck  ihrer  selbst  ins  Grab 
fallt.  Er  ist  sdion  da,  der  Moment,  den  idi  so  gut  kenne:  das  Gebift 
lodcert  sidi  sozusagen,  die  Mienen  ersdilaffen,  die  erzwungene  Trauer 
fallt  ab  und  der  ganze  Rhythmus  der  Gesichtszuge  wird  ein  anderer . . . 
Audi  der  Eduard  preftt  nidit  mehr  die  Lippen  so  heftig  aufeinander. 
Hat  er  vielleidit  daruber  geweint,  daft  er  nidit  weinen  kann?  Und 
erst  drauften  in  der  Kudie  die  Tante  Risa!  Die  (adit  mit  dem  Rudolf, 
der  richtig  einen  Augenblick  mit  der  Maltschi  eine  zartlidh-traurige 
Gruppe  gebildet  hat. 

Sie  lehnte  sich  an  ihn  . . . Idi  hatte  es  gewuftt:  die  erste  Frage, 
die  meine  verehrte  Frau  Tante  Risa  an  ihren  ehemaligen  Ziehsohn 
Rudolf  stellte,  war:  »Wieviel  hast  du  Gehalt  in  Bamberg?*  Es  hatte 
allerdings  audi  so  ausfallen  konnen/  die  Tante  Risa  fragt  ihn:  »Wie 
geht  es  dir?«  und  er  sagt:  »Danke.  Idi  hab  zweihundert  Mark 
monatlidi.*  Leider  besitzt  er  keine  goldene  Uhr,  oder  aber  er  stellt 
sie  nodi  nidit  vor.  Immerhin,  er  steckt  in  einem  Ballgehrock,  so  und 
soviel  Mark  Macherlohn  — das  ist  eine  Kompensation  und  idi  braudie 
midi  also  eigentlidi  nidit  zu  erschieften.  Gegenwartig  sagt  der  Sdiar- 
mann  nidht  »nein«,  sondem  »neec,  Als  er  aus  der  Sdiweiz  zuruck- 
kehrte,  gebraudite  seine  Zunge  dortigen  Dialekt.  Kame  er  aus  China, 
wohin  er  sowieso  mit  seinen  Sdhlitzaugen  und  seinem  sdiwarzgelben 
Teint  hingehort  — audi  von  dort  kame  er  als  Abklatsch  seiner  Urn* 
gebung  retour  . . . Warum  eigentlidi  die  Tante  Risa  in  einem  fort 
ladhte?  Sonst  sieht  sie  doch  eher  wie  eine  angehende  Meduse  aus. 
Wenn  idi  midi  unanstandig  benehme,  das  dringt  nidit  nadi  auften 
und  extradem  ist  es  nidit  dasselbe,  wenn  jemand  nie  zu  seinen 
eigenen  Gefuhlen  kommt,  weil  er  unwillkurlidi  den  anderen  Leuten 


AfBert  ESrenstein  • BegraSnis 


367 


in  der  Seele  herumstiert,  und  wenn  jemand  auch  soldier  Entsdiul- 
digung  verlustig  ist . . . Idi  traf  die  Tante  Selma  die  seltenen  Male,  da 
idi  sie  sah,  stets  im  Sonntagsgewande.  Hatte  die  Tante  Risa  andere 
Erfiahrungen  gemacht,  dann  konnte  idi  gleidi  mit  meiner  Psychologie 
einpacken.  Gewib  ladit  sie  aus  purer  Verlegenheit.  Moglicherweise 
war  aber  nur  die  Reaktion  eingetreten  und  das  Stimmfuhrende  in 
ihr  sdirie  »Punktum.  Streusandc.  Adieu.  >Es  hat  mich  sehr  gefreut, 
es  war  sehr  schon*  werden  viele  Trauergaste  gesagt  haben.  Sdinell 
nodi  den  Trauemden  die  Hand  gegeben.  Dem  Alten  sage  idi  ab- 
solut  nidit  »Gott  troste  Sie«.  Dieser  Mensdi  hat  ja  gar  keinen  Gott. 
Der  Charlott  sage  idi  es  audi  nidit,  die  weib  vom  Eduard,  dab  Gott 
nodi  immer  nidit  an  mich  glaubt.  Er  mub  was  Scfaones  von  mir  gedacht 
haben,  der  Eduard,  aber  er  wird  sdion  noch  erfahren,  warum  ich  den 
Maulkorb  angelegt  hab.  Bei  mir  ist  es  so : entweder  idi  red  gar  nidits, 
und  das  ist  gewohnlicfa  der  Fall.  Meine  Lieblingsbesdiaftigung.  Wenn 
idi  aber  zu  plappem  anfang,  dann  hore  idi  erst  dann  auf,  bis  idi  wirk- 
lich  etwas  zu  sagen  habe . . . Das  Seitenstedien  hat  nidit  nadigelassen. 
Gott  sei  Dank  hat  mir  der  Alte,  bevor  wir  weg  sind,  eine  Krone  ge- 
geben. Dab  mir  immer  so  was  passieren  mub:  bis  zum  Friedhof  Bauch- 
weh,  nadiher  andere  Schmerzen.  Wodurdi  dieTrauer  an  Naturlidhkeit 
gewann . . . Die  Mama  sagt:  »Gott  sei  Dank,  dab  die  Floridsdorffahrten 
jetzt  aufgehort  haben. < Dabei  geht  sie  immer.  »Der  Eduard  hat  einen 
sehr  sdidnen  Winterrock  gehabt.  Ja,  er  verdient!*  Das  ist,  weil  ich 
keine  Stunden  gebe  und  der  Eduard  welche  gibt.  »Qbrigens  ein  Gluck, 
dab  die  Tante  zuerst  gestorben  ist/  war  der  Onkel  zuerst  gestorben, 
hatten  wir  auch  zu  dem  Begrabnis  mussen:  wegen  der  Tante.  Wegen 
dem  alten  Gauner  werd  idi  kein  Geld  ausgeben,  das  soil  er  mir 
noch  wert  sein!  Nicfat  genug,  dab  alles  Geld,  das  der  Grobpapa 
hergegeben  hat,  jetzt  die  uns  gar  nicht  verwandten  Altmanns  kriegen!« 
Idi  gestatte  mir  die  Meinung,  dieses  Leidiengesprach  unterscheide  sidi 
in  nidits  von  denen,  weldien  sich  *das  Volkc  hinzugeben  pflege. 
>Und  wenn?  Modit  man  nicfat  meinen,  eine  Heilige  ist  gestorben? 
Was  hast  du  davon:  wie  die  selige  Tante  Selma  nodi  Witwe  war . . . 
aber,  was  sag  idi  dir  soldie  Sadien,  du  erzahlst  es  dann  dodi  sofort 
bruhwarm  deinem  Freund,  dem  Eduard.c  Dann  hatte  idi  genug  von 
Mamas  Leidienrede  und  sprang  in  die  gliicklidierweise  gerade  vor- 


368 


AfBerl  E ft re n stein  * BegraSnis 


00000000  0*0  0**000  00000000000 0000*00 00000000  000000040000*0 00000 000 000 0000 0 00000000000000000 00+00 000000000000000* 00 00 900000000000 0 000000 000000000 

beifahrende  Dampftramway.  Es  wird  zwar  wegen  dieser  gefahrlidien 
Verschwendung  langere  Zeit  zu  Haus  Skandal  geben,  aber  Abwedis- 
lung  schadet  dem  Repertoire  der  Mama  durdiaus  nidit.  Justement 
geb  idi  dem  Kondukteur  einen  Kreuzer  Trinkgeld.  Er  soil  ihn  mit 
dem  Brieftrager  teilen,  dem  idi  gestern  keinen  gab.  Oh,  das  ist  ja 
mein  alter  Freund,  der  Tramwaykondukteur  mit  dem  Globus  an 
der  Uhrkette.  Er  leidet  an  Grofienwahn,  dieser  Romantiker.  Wenn 
er  nodi  Revisor  bei  der  transsibirisdien  Bahn  ware!  Aber  so?!  . . . 
Am  Sdiottenring  ging  idi  in  eine  Konditorei.  Nein,  heute  esse  idi 
keine  Indianerkrapfen.  Glacierte  Maroni.  Fraulein!  Sie  mussen  midi 
nicbt  so  ansdiauen.  Erstens  habe  idi  nidit  so  viel  Geld  bei  mir, 
zweitens  durfte  idi  etlidie  Zeit  zu  keiner  Peri  gehen.  Seitdem  sidi 
nadi  dem  letztenmal  der  Herr  stud.  phil.  Jakob  Wardener  drei 
Wodien  unniitz  geangstigt  hat,  und  nidit  nur  himverbrannterweise, 
um  sidi  quasi  sidierzustellen,  nadi  Verkauf  mehrerer  Lehrbudier 
einige  Staatslose  erwarb,  ja  sogar  sdion  entsdilossen  war,  sidi  taufen 
zu  lassen,  um  nur  ja  dereinst  Aufnahme  in  der  neuen  Landesirren- 
anstalt  zu  finden  — seitdem  ist  es  fur  einige  Zeit  Rest . . . 

♦ 

Jetzt  liege  idi  sdion  den  dritten  Tag.  So  ein  verflixter  Katarrh. 
Am  End  bin  idi  audi  demnadist  sanft  gestorben.  Es  war  mir  pein- 
lidh,  auf  der  israelitisdien  Abteilung  des  Zentralfriedhofes  zu  liegen. 
Und  nodi  dazu  mufiten  wieder  andere  Leute  sidi  meinetwegen  mit 
Trauer  bestreidien  ...  fur  kurzeste  Zeit.  Die  Begrabnisse  soil  der 
Teufel  holen.  Wirklidi  wahr:  ich  gch'  zu  keinem  mehr.  Nidit  einmal 
bei  meiner  eigenen  Leich  geh  idi  mit.  Ich  wurde  zu  sdilechte  Witze 
dabei  machen.  Und  midi  hodistwahrscheinlidi  taktlos  benehmen  . . . 


A/**V' 


Gottfried  Senn  • Karyatidt 


Gottfried  Bentt: 

KARyATIDE. 

Entrucke  did)  dem  Stein!  Zerbirst 
Die  HShle,  die  did)  knecbtet!  Rausche 

Doth  in  die  Flur,  verhohne  die  Gesimse : 

Sieh:  durch  den  Bart  des  trunkenen  Silen 
Aus  seinem  ewig  uberrauschten 
Lauten  einmaligen  durdidrohnten  Blut 
Trauft  Wein  in  seine  Scbam. 

Bespei  die  Saulensud)t:  todersdiiagene 
Greisige  Hande  bebten  sie 
Verhangnen  Himmeln  zu.  StOrze 
Die  Tempel  vor  die  Sehnsudit  deines  Knies, 
In  dem  der  Tanz  begehrt. 

Breite  didi  hin.  Zerbluhe  did).  O,  blute 
Dein  weicbes  Beet  aus  grofien  Wunden  hin: 
Sieh,  Venus  mit  den  Tauben  gurtet 
Sid)  Rosen  urn  der  Huften  Liebestor  — 
Sieh'  dieses  Sommers  letzten  bfauen  Haud) 
Auf  Astermeeren  an  die  fernen 
Baumbraunen  Ufer  treiben,  tagen 
Sieh'  diese  letzte  Gluck-Lugenstunde 
Unserer  Sudlichkeit, 

Hothgewolbt. 


MS*** 


XX>Wk\ 


372  Eduard  Bern fie  in  • Vdffier  zu  Ha  use 

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VOLKER  ZU  HAUSE 

ERINNERUNGEN 

III. 

EIN  BOSER  WINTER  IN  CASTAGNOLA 

DER  Winter  1878/79  war  fur  die  Verhaltnisse  von  Lugano  und 

Umgegend  ungewohnlidi  hart  »Tanta  neve!  tante  neve!«  rief 
Prudenza  Prati  nicht  selten  aus,  wenn  sie  uns  das  Essen  brachte, 
und  versicherte  dann  jedesmal  wie  entsdiuldigend,  daB  Castagnola 
so  starken  Schneefall,  wie  diesen  Winter,  seit  langem  nicht  erlebt 
habe.  Aber  es  schneite  in  Castagnola  nicht  nur  ganz  gehorig,  es 
gab  eine  zeitlang  viel  Frost  und  Eis.  Am  Rande  unserer  Bergstrafie 
firoren  die  kleinen  Lachen  zu,  weldie  das  vom  oberen  Teil  des  Berges 
unter  dem  Schnee  herabrieselnde  Wasser  bier  und  dort  bildete.  Gber 
das  Eis  hinweg  flofi  dann  das  Wasser  mittags  auf  die  StraBe,  firor 
zur  Nachtzeit  dort  zu  Glatteis  und  machte  damit  den  Weg,  die 
StraBe  abwarts,  ziemlich  halsbrecherisch.  Fur  uns  unangenehm  genug, 
da  wir  reichlidi  Grund  hatten,  so  oft  als  moglich  hinunter  in  die 
Stadt  zu  laufen. 

Das  hing  mit  der  Tatsadie  zusammen,  daB  der  Winter  1878179 
fur  uns  audh  unter  anderem  Gesichtspunkt  sidi  sehr  hart  anlieB.  Wie 
sdion  beilaufig  erwahnt,  hatten  Karl  Hochberg  und  ich  uns  kaum  in 
Casa  in  Valle  hauslicfa  eingeriditet,  als  die  Nacbridit  eintraf,  daB  das 
vom  Reidistag  in  dritter  Lesung  angenommene  Ausnahmegesetz 
gegen  die  Sozialdemokratie  die  Zustimmung  des  Bundesrats  erhalten 
habe  und  sofort  verkundet  worden  sei.  Die  nachsten  Tage  unter- 
riditeten  uns  von  einer  Anwendung  des  Gesetzes,  die  unsere 
sdilimmsten  Befurditungen  ubertraf.  Nicht  nur  wurden  alle  in  sozial- 


Eduard  Bemftein  • VolSer  zu  House  373 

demokratischen  Verlagen  erschienenen  Brosdiuren,  wie  gemaBigt  ihr 
Inhalt  auch  immer  sein  mochte,  ohne  weiteres  verboten,  nicht  nur 
verficlcn  die  sozialdemokratischen  Zeitungen,  obwohl  sie  ihre  Hal* 
tung  dem  Gesetz  anzupassen  versucht  hatten,  ohne  Gnade  dem 
Verbot,  es  wurden  auch  die  Blatter  unterdriickt,  die,  von  den  sozial* 
demokratischen  Druckereigesdiaften  an  Stelle  der  verbotenen  Zeitungen 
herausgegeben,  farblos  gehalten  waren  und  sich  auf  einfache  Wieder* 
gabe  von  Nachrichten  beschrankten.  Wohl  hatte  bei  der  Beratung  des 
Gesetzes  der  Staatsminister  Graf  Eulenburg  am  14.  Oktober  1878  von 
der  Regierungsbank  aus  erklart: 

»Wenn  in  der  Tat  die  sozialistischen  FQhrer  und  Journalisten,  die  Herren 

9 

Liebknedit,  Most  und  wie  die  Herren  heifien,  wirklich  kGnftighin  in  friedlicher 
Weise  ihre  Tendenzen  vortragen  wollen,  warum  bedurfen  sie  dann  derselben 
Zeitschriften  wie  bisher?  Es  wird  ein  viel  sicfieres  und  deutlidieres  Kenn- 
zeicfien  sein,  wenn  sie  andere  Organe  mit  friedlicher  Tendenz  grunden,  und 
dem  steht  nichts  im  Wege.< 

Aber  diese  Worte  blieben  leerer  Klang.  Nun  das  Gesetz  da 
war,  half  keine  Berufung  auf  sie.  Von  ganz  wenigen  Orten  auBer- 
halb  PreuBens  abgesehen,  kummerten  sich  die  maBgebenden  Behorden 
in  keiner  Weise  urn  die  Erklarung  des  Ministers.  Ebenso  erwiesen 
sich  gewisse  juristisdie  Sicherungen,  die  der  von  Eduard  Lasker  ge- 
fiihrte  linke  Flugel  der  Nationalliberalen,  unterstutzt  durch  Zentrums- 
partei  und  Fortschrittspartei,  in  das  Gesetz  hineingebracht  hatte, 
als  vor  der  Polizeipraxis  wirkungslos.  Nach  der  ursprunglichen  Re* 
gierungsvorlage  z.  B.  hatten  alle  Vereine,  Druckschriften  usw.  dem 
Verbot  verfallen  sollen,  in  denen  auf  die  Untergrabung  der  be- 
stehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung  gerichtete  Bestrebungen 
in  einer  »den  offentlichen  Frieden  gefahrdenden  Weise«  zutage  treten 
wurden.  Lasker  und  Genossen  hatten  der  willkurlichen  Auslegung 
dieser  Satze  dadurch  einen  Riegel  vorzuschieben  gesucfat,  daB  sie  den 
dehnbaren  Begriff  >auf  die  Untergrabung  gerichtet«  durch  den 
bestimmteren  Ausdrudc  »auf  den  Umsturz  gerichtet*  ersetzten. 
Aber  was  vor  ihrer  Juristenlogik  als  eine  Mauer  gegen  das  Verbot 
der  Propagierung  sozialistischer  Reform  erschien,  erwies  sich  vor  der 
Logik  der  Polizeibehorden  als  bloBes  Spinngewebe,  das  man  mit  einem 
leichten  Besen  wegwischt.  Den  von  sozialdemokratischen  Geschaften 
herausgegebenen  farblosen  Zeitungen  gegeniiber  half  die  Polizei  sich 


374 


Eduard  Bern  fir  in  • Vo  flier  zu  House 

einfadi  damit,  daB  sic  sic  ftir  Fortsetzungen  der  vcrbotenen  Zei- 
tungen erklarte  und  deshalb  vcrbot. 

Auf  diese  Weise  wurde  die  verfolgte  Partei  nicht  nur  ihrer  Lite- 
ratur  und  PreBorgane  beraubt,  es  wurden  aucb  die  muhsam  mit 
Hilfc  von  Ersparnissen  der  Arbeiter  gegrfindeten  Druckereigenosse n » 
sdiaften  kurzerhand  zugrunde  geriditet  und  die  in  ihnen  besdiaftigten 
Personen  brotios  gemacht  Die  materielie  Schadigung  ward  noth  be- 
deutend  gesteigert,  als  im  November  1878  plotzlicb  ohne  jedes  Vor- 
kommnis,  das  auf  Unruhen  hatte  schlieBen  lassen  konnen,  der  im 
Gesetz  vorgesehene  sogenannte  kleine  Belagerungszustand  uber 
Berlin  und  Umgegend  verhangt  wurde  und  in  groBer  Zahl  Mit- 
glieder  der  sozialdemokratisdien  Partei,  die  meisten  davon  Familien- 
vater,  aus  Berlin  und  Umgegend  ausgewiesen  wurden. 

Man  kann  sicb  leicht  denken,  in  welcbe  erregte  Stimmung  uns, 
die  wir  Mitglieder  der  Partei  waren,  in  unserem  einsamen  Welt- 
winkel  die  von  diesen  Vorgangen  erzahlenden  Telegramme  versetzten, 
und  mit  weldier  fieberhaften  Spannung  wir  Briefen  und  Zeitungen 
aus  Deutsdiland  entgegensahen,  die  uns  genaueres  fiber  sie  beriditen 
sollten.  Die  in  Lugano  selbst  ersdieinenden  Zeitungen  lieBen  uns  in 
dieser  Hinsidit  ganzlidi  im  Sti<b.  Professor  *P . . . i's  Republicano« 
war  ein  rein  ortlidies  Kampfblatt,  und  die  einzige  tagliebe  Zeitung 
Luganos  und,  glaube  ith,  des  Kantons,  die  »Gazetta  Ticinese«,  ein 
bescheidenes  Blattdien  in  kleinem  Folioformat,  gab  die  wenigen  Na<b- 
richten  aus  dem  Ausland,  die  es  bradite,  in  konzentriertester  Form 
auf  ein  paar  Zeilen  reduziert  wieder. 

Mit  den  Sendungen  aus  der  Heimat  halte  es  nun  seine  eigene 
Schwierigkeit.  Es  war  die  Jahreszeit  gekommen,  wo  die  Gotthard- 
strafie  zeitweise  durdi  Schneefalle  unpassierbar  gemadit  wurde.  Da 
lagen  denn  mancbmal  die  fur  uns  bestimmten  Bdefe  und  Zei- 
tungen tagelang  auf  irgendeiner  Poststation  jenseits  am  Fufie  des 
Gebirges  und  harrten  der  Zeit,  wo  Arbeiter  einen  Weg  durdi  den 
Schnee  gebahnt  haben  wurden.  Rief  uns  in  soicher  Zeit  der  Brief- 
trager,  der  nur  einmal  taglich  nadi  Casa  in  Valle  hinaufkam  und 
von  uns  sehnsfiditig  erwartet  wurde,  sein  >niente  per  voi,  il  Gottardo 
<biuso«  zu,  so  blieb  uns,  wollten  wir  nidit  in  Geduld  abwarten, 
ob  der  nadiste  Tag  etwas  bringen  werde,  nichts  ubrig,  als  nadtmittags 


375 


Eduard  Bern  fie  in  • Voder  zu  House 

■ MMWWf,  t************************* ********  *****s*+********s******d*^***s++++m+pu***mm****9mA 

hinunter  nach  Lugano  zu  gehen,  dort  auf  der  Post  nachzufragen, 
ob  nicht  inzwischen  doch  etwas  fQr  uns  gekommen  sei,  und  dann 
im  Cafe  Terreni  den  Mailander  *SecoIo«  und  das  »Joumal  de 
Geneve*  nach  Meidungen  aus  Deutschland  durchzusehen. 

Es  waren  fast  nur  Hiobsposten,  die  wir  dort  fanden:  neue  Ver- 
bote,  neue  Ausweisungcn  und  noch  dazu  Verhaftungen.  Nidit 
wenige  der  Ausgewiesenen  und  teils  geschaftlich  schwer  Geschadigten, 
tells  geradezu  brotlos  Gemachten  waren  Leute,  die  uns  ganz  be- 
sonders  nahe  standen.  Was  sollte  aus  den  so  schwer  Betroffenen 
werden?  Und  was  aus  den  Drudcereien?  Eine  Zeitungsdruckerei, 
der  man  plotzlidi  den  Drudc  jeder  Zeitung  untersagt,  wird  dadurch 
fast  vollig  entwertet/  ihre  groderen  Maschinen  sind  plotzlidi  nur  nodi 
altes  Eisen.  Das  trugen  uns  die  Briefe  vor,  die  wir  so  sehnsGchtig 
erwarteten.  Von  alien  Seiten  vernahm  man  nur  Schilderungen  fiber 
eingetretene  Notlage  der  einen  oder  der  anderen  Art. 

Es  lag  in  der  Natur  der  Dinge,  dad  unter  soldien  Umstanden 
an  einen  Mann  wie  Hdchberg,  der  den  eingeweihten  Parteimitgliedem 
als  begfiterter  Gesinnungsgenosse  bekannt  war,  allerhand  Gesuche 
um  Hilfeleistung  kamen.  Zur  Ehre  der  Partei  darf  hinzugefugt 
werden,  dad  es  ihrer  nidit  allzuviele  waren.  Fur  die  Ausgewiesenen 
wurden  an  Ort  und  Stelle  in  der  Arbeitersdiaft  nicht  unbetrachtliche 
Summen  gesammelt,  die  ausreichten,  der  dringendsten  Not  zu  steuern, 
und  die  Ausgewiesenen  selbst  taten  mit  wenigen  Ausnahmen  ihr 
Bestes,  der  Partei  sobald  als  moglidi  die  Sorge  um  ihre  Existenz 
abzunehmen  oder  mindestens  zu  erleiditem,  wobei  sie  von  den  Ge» 
nossen  an  den  Orten,  die  sie  nun  aufeuchten,  nach  Kraften  gefordert 
wurden.  Die  an  Hodiberg  gelangenden  Gesudie  betrafen  meistens 
Geschaftsunternehmungen  — sei  es  der  Partei  selbst  oder  von  Partei- 
mitgliedern  in  exponierter  Stellung.  Da  handelte  es  sich  dann  aller- 
dings  gewohnlidi  um  grodere  Betrage,  was  indes  fur  Hodiberg  kein 
Grund  war,  seine  Hilfe  zu  versagen. 

Man  konnte  sogar  sagen:  ganz  im  Gegenteil.  Es  fiel  mir  bald 
auf,  dad  Hodibergs  Bereitwilligkeit  auszuhelfen  mit  der  Grode  der 
verlangten  Summe  wuchs.  Ging  ihn  wer  um  ein  kleines  Darlehen 
an  — sage  von  50  oder  100  Mark  — so  lief  er  leidit  Gefahr,  ab- 
gewiesen  zu  werden.  Kam  aber  ein  Gesudi  oder  Antrag  auf  einen 


376  Eduard  Bemftein  • Voffier  zu  Ha  use 

S*0*****—***01**W*9**W*—*— 999*91* *9*9— *9*—***— **************— ************************  ***  *************  ******************** 

VorsthuB  oder  cin  Darlehen  von  5000  oder  10000  Mark,  dann 
war  die  Wahrscheinlidikeit  ebenso  groB,  daB  diese  Summen  ohne 
langes  Zaudem  bewiliigt  wurden.  AIs  ich  Hodiberg  einmal  fiber 
diesen  ansdieinenden  Widersprudi  befragte,  antwortete  er  mir  mit 
nicbt  unebener  Logik:  *Leute,  die  kleine  Darlehen  haben  wollen, 
kommen  gewohnlich  zu  mir,  wenn  sie  sich  auf  andere  Weise  helfen 
konnten,  die  grofien  Summen  werden  fur  ernsthafte  Bedurfnisse  er- 
beten,  und  da  mag  ich  die  Verantwortung  fur  die  Abweisung  nicht 
auf  midi  laden. « Im  allgemeinen  traf  er  damit  wohl  das  Riditige. 
Audi  hing  seine  Abneigung  gegen  Darlehen  an  Einzelpersonen 
damit  zusammen,  daB  er  uberhaupt  ziemlidi  pessimistisdi  von  den 
Mensdien  dadite.  Obwohl  vier  Jahre  jfinger  als  idi,  was  in  unserem 
damaligen  Alter  ein  ins  Gewidit  fallender  Unterschied  zu  sein  pflegt, 
war  er  mir  in  bezug  auf  Weltkenntnis  entsdiieden  fiberlegen.  Idi 
war  zwar  in  der  Hauptstadt  geboren  und  aufgewadisen,  aber  von 
dem,  was  man  »die  Weltc  nennt,  wuBte  idi  bloB  theoretisdi  etwas. 
Der  Beruf  meines  Vaters  — Lokomotivfiihrer  — hatte  es  mit  sidi 
gebradit,  daB  wir  immer  nur  am  auBeren  Rande  der  Stadt  wohnten, 
und  da  das  Einkommen  redht  sdimal,  der  Kindersegen  aber  groB 
war,  so  konnten  wir  nur  in  Hausern  fur  »kleine  Leute«  wohnen. 
Dadurch  hatte  idi  wohl  enge  Fuhlung  mit  den  armeren  Volksklassen 
erhalten,  aber  um  meine  Mensdienkenntnis  blieb  es  dodi  redit  mangel- 
haft  bestellt.  Mein  Urteil  war  ein  rein  geffihlsmaBiges,  wahrend  Hodi- 
berg die  Mensdien  meist  rein  verstandesmaBig  beurteilte.  Das  war 
einer  der  Grfinde,  weshalb  wir  uns,  ohne  jemals  in  Konflikt  zu  ge- 
raten,  lange  Zeit  seelisch  nicht  naherkamen.  Ein  anderer  Grund  war 
die  Versdiiedenheit  unserer  Weltauffassung.  Idi  hing  der  materiali- 
stisdhen  Weltauffassung  an  und  wollte  von  keiner  Religion  etwas 
wissen,  Hodiberg  aber,  der  philosophisdier  Idealist  war,  raumte  den 
metaphysisdien  Weltvorstellungen  und  Religionen  mehr  als  bloB 
historische  Bereditigung  ein.  Wir  waren  vielleicht  daruber  zu  einer 
Verstandigung  gelangt,  wenn  nidit  Hodiberg  zu  meinem  groBen 
VerdruB  meine  wiederholten  Aufforderungen,  mir  seine  Ansdiauung 
einmal  im  Zusammenhang  genauer  zu  entwidteln,  stets  mit  der  Be- 
griindung  abgelehnt  hatte,  ihn  zu  verstehen  erfordere  eine  philo- 
sophische  Vorbildung,  uber  die  ich  nicht  verfuge.  Idi  wollte  das  nidit 


Eduard  Bern  fee  in  * Vofder  zu  House  377 

gelten  lasscn,  da  nadi  meiner  Ansicht  mindestcns  die  Grundgedanken 
einer  philosophischen  Auffassung  so  darstellbar  sein  miifiten,  dafi 
audh  ein  leidlich  gebildeter  Niditphilosoph  sie  erfassen  konne.  In- 
des  blieb  Hochberg  bci  seiner  Weigerung,  und  so  endeten  unsere 
Unterhaltungen,  sobald  das  Gesprach  auf  dieses  Thema  kam,  stets 
mit  einem  Mifiklang. 

Aus  einem  mir  bei  spaterer  Gelegenheit  zu  Gesicht  gekommenen 
Brief  Hochbergs  an  Richard  Avenarius,  mit  dem  er  befreundet  war, 
habe  ich  ersehen,  dafi  jener  damals,  von  Berkeley  und  Kant  ausgehend, 
zu  einer  Philosophic  gelangt  war,  der  sich  die  Welt  als  eine  Summe 
von  Empfindungen  darstellte.  Dies  mit  einer  Begriindung,  der  Ave- 
narius, der  Kritiker  der  reinen  Erfahrung,  starke  Einwande  ent- 
gegensetzte. 

Dafi  wir  in  der  Beurteilung  der  irdischen  Dinge  fast  umgekehrt 
zueinander  standen,  wie  in  der  theoretischen  Weltauffassung,  ver- 
anlaflte  beilaufig  Hochberg  eines  Tages,  als  ich  beim  Offnen  einer 
Buchersendung  meiner  Begeisterung  uber  Freiligraths  Gedichte  Aus- 
druck  gab,  zu  der  diesen  Widerspruch  beleuditenden  Bemerkung: 
»Sie  sind  viel  religidser  als  ich.c 

In  der  Tat  kann  man  sicherlich  in  einer  gewissen  Gegnerschaft  gegen 
die  kirchlichen  Religionen  ein  religioses  Moment  entdedeen.  Bei  mir 
war  jene  Gegnerschaft  bis  dahin  so  stark  gewesen,  dafi  midi  jahre- 
lang  kein  Mensch,  keine  Rudcsicht  auf  liebe  Personen  dazu  hatten 
bringen  konnen,  einem  kirchlichen  Akt  beizuwohnen.  Es  ware  mir 
in  zweifacher  Hinsidit  als  eine  Unwahrhaftigkeit  erschienen:  Un- 
wahrhaftigkeit  vor  mir  selbst  und  Unwahrhaftigkeit  vor  den  Glaubigen. 
So  dafi,  als  einmal  jemand,  bei  dessen  kirchlidier  Trauung  idi  hatte 
Trauzeuge  sein  sollen,  mir  die  Sache  mit  der  Erklarung  sdimadchaft 
machen  wollte:  »Tun  Sie  es  doch,  wir«  — er,  Braut  und  Familie  — 
»glauben  ja  audi  nichts«,  er  von  mir  die  Antwort  erhielt:  >Dann 
tue  ich  es  nur  um  so  weniger«,  was  eine  kleine  Katastrophe  zur 
Folge  hatte.  Erst  in  Castagnola  sollte  ich  nadh  vielen,  vielen  Jahren 
wieder  einmal  eine  Kirche  betreten.  Und  dies  ging  so  zu. 

Eines  Tages  erhielten  wir  die  Einladung  zum  Mittagessen  beim 
Dorfpriester,  dem  Bruder  unserer  Prudenza  Prati.  Schon  Wodien 
vorher  hatte  Prudenza  uns  von  jenem  bevorstehenden  Ereignis  vor- 


378  Eduard  Bemjiein  * Vo  flier  zu  House 

*09*9*9**99*  **9*  / ******  M*  *S990099090*9990******909****0****09***9*0099*90  99***00090999099099*999999099*9  #//!/###  0 

gesAwarmt.  Es  wurden  vier  oder  funf  andere  GeistliAe  beim 
Priester  zu  BesuA  sein  — Prudcnza  brauAte,  wenn  sie  von  ihrem 
Brudcr  spraA,  nie  den  Ausdrudc  »mein  Bruderc,  sondem  sagte 
immer  nur  mit  EhrfurAt  >il  prete«.  Wohl  oder  ubel  hatten  wir  die 
Einladung  annehmen  mussen,  aber  im  (etzten  Moment  lieB  siA 
HoAberg  entsAuldigen  und  bat  miA,  allein  hinzugehen.  IA  tat  es 
niAt  ohne  allerhand  Beklemmungen.  Mit  einem  halben  Dutzend 
katholisAer  GeistiiAer  zusammen  speisen,  was  wurde  das  abgeben? 
Wie  sollte  iA  miA  zum  Beispiel  bei  den  wahrsAeinliA  unvermeid- 
liAen  Gebeten  verhalten?  Byrons  »Er  heuAelte  mit  40-Pfarrerkraftc 
ging  mir  durA  den  Kopf.  Aber  meine  BefurAtungen  erwiesen  siA 
als  unbegrOndet.  Es  ging  beim  »prete«  ganz  unkirAliA  zu.  Vom 
Beten  bei  TisA  war  keine  Rede,  man  unlerhieit  siA  von  alien 
mogliAen  Dingen,  nur  niAt  vom  HimmelsgesAaft.  Mir  zur  ReAten 
saB  eine  altere  Patrizierin  aus  Graubiinden,  die  mit  ToAter  und 
SAwiegersohn  eine  niAt  weit  von  Casa  in  Valla  gelegene  Villa 
am  Berge  bewohnte.  Unterhalb  des  Gartens  ihrer  Villa  bildet  der 
Berg  eine  SAluAt,  und  von  der  erzahlte  die  Dame  mir,  als  iA  die 
malerisAe  Lage  der  Villa  pries,  daB  sie  ein  Brutnest  von  SAlangen 
sei.  Die  Kinder  ihrer  ToAter  seien,  wenn  sie  im  Garten  spielten, 
jedesmal  in  Gefahr,  von  Nattem  gebissen  zu  werden,  und  so  musse 
man  stets  Gegenmittel  gegen  Natterngift  im  Hause  haben.  Nun 
griff  ein  mir  zur  Linken  sitzender  GeistiiAer  in  die  Unterhaltung 
ein  und  erzahlte  uns,  wie  er  als  junger  MensA  haufig  SAlangen, 
die  naA  einem  Regen  aus  dem  Gemauer  herauskroAen,  um  siA 
zu  sonnen,  durA  einen  kraftigen  Hieb  mit  einem  StoA  auf  den 
Kopf  getotet,  ihnen  zu  Hause  die  Haut  abgezogen  und  sie  dann 
gebraten  habe.  Sie  hatten  ihm  jedemal  ein  gutes,  wohlsAmeckendes 
Abendbrot  geliefert.  AuA  sonst  erzahlte  der  Mann,  der  offenbar 
aus  den  armeren  Klassen  stammte,  allerhand  uber  die  Art,  wie  er 
siA  in  jungen  Jahren  billige  Genusse  versAafft  habe.  Er  spraA  ein 
ziemliA  gutes  DeutsA,  das  er  deshalb  betrieb,  weil  er  vorhatte,  auf 
einige  Zeit  naA  Einsiedeln  zu  gehen,  jenem  vielbesuAten  Wall- 
fahrtsort  im  Kanton  SAwyz,  der  den  Glaubigen  wegen  des  Klo- 
sters  des  heiligen  Meinrad  und  des  dort  aufgeriAteten  Standbildes 
der  sAwarzen  Muttergottes,  den  Unglaubigen  als  Geburtsort  des 


Eduard  Bern  fie  in  * Voder  zu  House 


379 


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bahnbrechenden  Mediziners  und  mystisdien  Naturphilosophen  Theo- 
phrastus Paracelsus  von  Hohenheim  ehrwurdig  ist. 

Erst  na<h  Beendigung  der  Mahlzeit  ward  mitgeteilt,  dal?  in  dem 
neben  dem  Pfarrhaus  gelegenen  Kirchlein  der  Nachmittagsgottesdienst 
beginne  und  es  in  jedes  freie  Wahl  gestellt  sei  hinuberzugehen.  Ich 
entschloB  mich,  der  Einladung  zu  folgen,  da  man  bei  mir  als  Landes- 
fremden  und  Nichtkatholik  nicht  im  Zweifel  sein  konnte,  daB  der  Zweck 
des  Besuches  nur  der  war,  einer  Zeremonie  als  Gast  beizuwohnen, 
indes:  aliquid  haerebat.  Im  Dorf  am  Berge  mit  seinen  zerstreuten 
Hausern  und  einer  Bevolkerung,  ftir  die  geistige  Anregung  so  gut 
wie  nicht  existierte,  schien  mir  die  Kirche  weniger  sinnwidrig  als  in 
der  Hauptstadt  mit  ihrer  Folle  von  Moglichkeiten  rationalistischer 
geistiger  Erhebung  und  Kirchenbesudiem  aus  reinem  Konventiona- 
lismus. 

Kehren  wir  aber  nach  Casa  in  Valle  zurfick.  Aucfa  die  von  Karl 
Hochberg  herausgegebene  Halbmonatsscfirift  »Die  Zukunft*  war  sehr 
bald  auf  Grund  des  Sozialistengesetzes  verboten  worden,  obwohl 
sie  lediglich  der  Darlegung  und  Entwiddung  der  sozialistisdien 
Doktrin  gewidmet  war,  diese  obendrein  auf  ethisdie  Prinzipien  zu 
begrOnden  suchte  und  jede  Behandlung  von  politisdien  Ereignissen 
und  Fragen  des  Tages  vermied.  Mit  dem  Verschwinden  dieser  Zeit- 
sdirift  ware  der  groBte  Teil  der  Tatigkeit,  fur  die  mich  Hochberg 
hatte  kommen  (assen,  weggefallen,  indes  trat  an  die  Stelle  der  Re- 
daktionskorrespondenz  nun  die  Korrespondenz  mit  Genossen  in  den 
Zentren  der  Bewegung  uber  die  Linderung  der  Wunden,  welche 
das  Gesetz  Individuen  und  Geschaiten  geschlagen  hatte  und  noch 
fortwahrend  schlug.  AuBerdem  aber  war  Hochberg  nicht  gewillt,  das 
Verbot  der  Zukunft  unbeantwortet  zu  lassen.  Von  der  als  Berufungs- 
instanz  gegen  VerfQgungen  der  Polizeibehorden  auf  Grund  des  Ge» 
setzes  eingesetzten  sogenannten  Reichskommission  war  eine  Auf- 
hebung  des  Verbots  freilidi  nicht  zu  erlangen.  Die  Mitglieder  dieser 
Kommission  aus  dem  hoheren  Richterstande  schienen  nur  zu  dem 
Zwedce  da  zu  sein,  fur  die  polizeilidien  Verbote  die  juristischen 
Argumente  zu  linden.  Lediglich  als  ein  ubereifriger  Polizeigewaltiger 
sogar  des  schwabischen  Professors  und  ehemaligen  osterreichischen 
Staatsministers  A.  E.  Schaffle  Schrift  »Die  Quintessenz  des  Sozialis- 


m voi.  m/i 


380 


Eduard  Bern  ft*  in  • Vdffter  zu  Ha  use 


mus«  verboten  hatte,  machte  die  Reichskommission  diesen  Genie- 
streich  gut  und  hob  das  Verbot  wieder  auf. 

Die  Schafflesche  Schrift  war  eine  im  Jahr  1874  zum  Gebraucb 
des  gebildeten  Publikums  abgefafite  objektive,  wenn  auch  nicht  durch- 
gangig  zutreffende  Darstellung  der  sozialistischen  Lehre,  wie  sie  da- 
mals  verbreitet  wurde.  Keine  Apologie  oder  Empfehlung,  aber  trotz 
einiger  kritischen  Zwischenbemerkungen  auch  keine  feindselige  Kritik. 
Hochberg,  dem  ganz  besonderes  daran  lag,  in  den  Kreisen  der 
akademisch  Gebildeten  Anhanger  fur  den  Sozialismus  zu  werben, 
beschlofi  nun,  dies  durch  eine  Massenverbreitung  von  Schaffles  Ab- 
handlung  zu  besorgen  , Menschen  mit  entwidceltem  Gerechtigkeits- 
gefuhl  brauditen  nach  seiner  Gberzeugung  nur  den  Sozialismus 
naher  zu  kennen,  um  sich  fur  ihn  zu  erwarmen.  So  bestellte  er  denn, 
nachdem  er  Schaffles  Zustimmung  eingeholt  hat te,  bei  dessen  Ver- 
leger  nicht  weniger  als  10000  Exemplare  der  »Quintessenz  des 
Sozialismus*,  und  die  haben  wir  dann  unter  Benutzung  von  AdreB- 
kalendern  aller  Art  an  angehende  und  amtierende  Juristen,  Medi- 
ziner,  Lehrer  usw.  in  ganz  Deutschland  versenden  lassen.  Allzu- 
viele  Konvertiten  werden  sie  kaum  gemacht  haben,  aber  bei  einem 
Teil  der  Empfanger  diirfte  das  Samenkorn  doch  auf  guten  Boden 
gefallen  sein,  und  jedenfalls  war  hier  ein  erster  Schritt  zur  Wieder- 
aufnahme  der  sozialistischen  Propaganda  unter  dem  Ausnahmegesetz 
geschehen.  Nicht  zufrieden  mit  dieser  Verbreitung  des  Schaffleschen 
Werkchens  in  Deutschland  veranlaBte  Hochberg  auch  Benoit  Malon, 
auf  seine,  Hochbergs,  Kosten  mit  Hilfe  seiner  Frau  die  »Quintessenz« 
ins  Franzosische  zu  ubersetzen.  Fur  das  deutsche  Publikum  grundete 
er  nun  eine  wissenschaftliche  Zeitschrift,  die  er  unter  dem  Titel 
»Jahrbuch  der  Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik,  herausgegeben 
von  Dr.  Ludwig  Richter*  in  einem  Zuricher  Verlag  erscheinen  lieB, 
und  die,  kaum  daB  der  erste  Halbband  heraus  war,  auch  sofort  dem 
sozialistengesetzlichen  Verbot  verfiel.  Hatten  die  Gewaltigen,  die 
das  Verbot  erlieBen,  das  Buch  etwas  genauer  und  mit  einigem  Ver- 
standnis  durchgelesen,  so  wurden  sie  es  sich  sehr  uberlegt  haben, 
ehe  sie  es  auf  den  Index  setzten.  Denn  es  enthielt  Zugestandnisse 
an  die  Kritiker  der  Sozialdemokratie,  die  gerade  im  sozialistischen 
Lager  groBe  Verstimmung  hervorriefen. 


Eduard  Bernftein  • Vofker  zu  House  381 

Alles  das  war  nodi  im  Werden,  als  Hodiberg  Anfang  Januar 
1879  cine  Rcise  nach  Deutschland  madite,  um  die  Zustande  an 
Ort  und  Steile  zu  studieren,  Es  sollte  ihm  eine  Belehrung  werden, 
auf  die  er  nidit  vorbereitet  war.  Er  hielt  sidi  einige  Tage  in  Berlin 
auf.  Am  zweiten  oder  spatestens  am  dritten  Tage  erreichte  ihn  be* 
reits  eine  Verfugung  des  Polizeiprasidiums,  dafi  er  auf  Grund  des 
§ 28  des  Sozialistengesetzes  aus  Berlin  ausgewiesen  sei  und  die 
Stadt  binnen  so  und  so  viel  Stunden  zu  verlassen  habe.  Der  be- 
zeichnete  Paragraph  unterstellte  die  Ausweisung: 

»Personen,  von  denen  eine  Gefahrdung  der  offentlichen 

Sidierheit  oder  Ordnung  zu  besorgen  ist.« 

Der  ruhige,  vollig  ethisch  geriditete  Ideologe  eine  Gefahr  der 
offentlichen  »Sicherheit  oder  Ordnung«  der  Hauptstadt! 

Nun  war  Hodiberg  mit  dem  damaiigen  Polizeiprasideqten  von 
Berlin,  Herrn  von  Madai,  der  vordem  Polizeiprasident  in  Frankfurt 
am  Main  gewesen  war  und  es  nidit  verschmaht  hatte,  Einladungen 
zu  den  Diners  der  Frankfurter  Bankiers  recfit  haufig  Folge  zu  geben, 
auf  soldien  Gesellschaften  bekannt  geworden.  Er  suchte  ihn  also  auf 
und  verlangte  zu  wissen,  wie  man  dazu  gekommen  sei,  ihn  aus- 
zuweisen,  welche  Handlungen  gegen  Gesetz  und  Ordnung  er  in 
Berlin  begangen  haben  sollte,  um  diese  Mafiregel  herbeizufuhren. 
»Oh«,  ward  ihm  zur  Antwort,  »direkt  ordnungsfeindliche  Handlungen 
haben  Sie  freilidi  nicht  begangen.  Abcr  Sie  sind  mit  den  Herren  A, 
B und  C zusammen  gewesen,  und  das  sind  Leute,  die  wir  als 
Sozialisten  kennen,  und  die  dem  fruheren  Mohrenklub  angehort 
haben  und  vielleicht  nodi  angehoren.«  »Mohrenklubc  nannte  sidi  eine 
Gruppe  von  Sozialisten,  die  Mehrzahl  davon  Studierte  oder  Stu- 
dierende,  die  sidi  im  Winter  und  Fruhjahr  1877/78  wodientlidi  in 
einem  Lokal  in  der  Mohrenstrafie  zu  geseliiger  Unterhaltung  und 
offers  audi  zur  Besprediung  theoretisdier  Fragen  zusammengefunden 
hatten,  und  von  denen  einige  audi  nadi  Verkundung  des  Gesetzes  den 
in  keiner  Weise  strafbaren  Verkehr  untereinander  fortsetzten.  Weil 
also  Hodiberg,  der  wiederholt  Gast  im  Mohrenklub  gewesen  war, 
seinen  Besuch  auf  einzelne  dieser  Leute  ausgedehnt  hatte,  die  selbst 
nidit  fur  genugend  gefahrlidi  eraditet  wurden,  um  der  Ausweisung 
zu  verfallen,  ward  er  ohne  Untersuchung  und  Urteilssprudi  kurzer- 


382 


Eduard  Bern  fie  in  • Voder  zu  House 

hand  mit  dieser  MaBnahme  bedacht  und  der  Presse  als  aus  det 
Hauptstadt  Verwiesener  bezeichnet.  Ein  Polizeistuck,  das  wahrschein- 
lich  von  dem  Gedanken  eingegeben  war,  den  wohlbabenden  Sozia* 
listen  fur  die  Unterstutzungen  zu  strafen,  die  er  der  geachteten 
Partei  zukommen  liefl.  Die  Rapporte  uber  Hochbergs  Verkehr  abcr 
hatte  zweifelsohne  ein  Student  geliefert,  der  spater  als  der  Polizei 
verkauft  entlarvt  wurde, 

Nach  Hochbergs  Ruddcehr  aus  Deutschland  stellte  sich  bald  heraus, 
daB  wir  nicht  mehr  lange  in  Casa  in  Valle  wurden  hausen  konnen. 
Sein  Gesundheitszustand  versdilechterte  sich  zusehends,  die  Krafte 
nahmen  unter  der  Wirkung  seiner  Hungerkur  immer  mehr  ab.  Da 
kein  Zureden  half,  ihn  von  ihr  abzubringen,  versuchte  ich  es  schlieB* 
lich  mit  einem  Staatsstreich.  Eines  Tages  kam  Hochberg  mit  einem 
Telegramm  in  der  Hand  auf  midi  zu  und  sagte  erregt:  »Um  Gotres- 
willen,  mein  Bruder  kommt  nadi  Lugano.  Jetzt  mufi  idi  sehen, 
sdinell  mit  alien  Mitteln  zu  Kraften  zu  kommen,  in  diesem  Zustand 
kann  ich  ihn  nicht  empfangen.«  Ich  stellte  midi  nach  Moglichkeit 
uberrascht,  hatte  aber  in  Wirklichkeit  nur  das  Gefuhl  der  Genug- 
tuung.  Ein  Brief  von  mir  an  Dr.  Karl  Flesdi,  worm  idi  diesem  den 
Stand  der  Dinge  auseinandergesetzt  und  Abhilfe  fur  dringend  not* 
wendig  erklart  hatte,  war  nicht  ohne  Wirkung  geblieben.  Flesdi 
hatte  sich  mit  Hochbergs  jQngerem  Bruder  in  Verbindung  gesetzt 
und  dieser  sofort  den  EntschluB  gefaBt,  unter  einem  sdiiddidien  Vor* 
wand  — eine  angeblich  notig  gewordene  Geschaftsreise  nadi  Mai* 
land  — selbst  nach  Lugano  zu  kommen.  Sein  Besuch  hatte  denn 
auch  zur  Folge,  daB  Hochberg  wenigstens  zunachst  die  Lebensweise 
etwas  anderte.  Und  dann  fing  er  an,  emsthaft  die  Frage  einer  Orts- 
veranderung  in  Betracht  zu  ziehen.  Das  Klima  Luganos  hatte  sidi 
nicht  als  so  milde  herausgestelit,  wie  er  vorausgesetzt  hatte,  die 
postalische  Abgeschlossenheit  aber  sidi  als  um  so  storender  erwiesen. 
Eine  Gbersiedlung  nach  einem  Ort  in  der  Schweiz,  der  bessere 
Postverbindung  mit  Deutschland  bot,  sollte  in  Kurze  vor  sich  gehen. 

Mir  kam  das  nicht  sehr  erwQnsdit.  Idi  hatte  midi  nach  und  nach 
in  die  italienische  Sprache  so  weit  hineingearbeitet,  daB  einige  Mo* 
nate  langeren  Aufenthalts  im  italienischen  Sprachgebiet  ausgereidit 
hatten,  mich  zu  einem  leidlichen  Gebraudi  der  Sprache  zu  befahigen. 


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383 


Eduard  Bern ft  ein  * Vofker  zu  House 

Jetzt  plotzlidi  abbrechen  hiefi  dagegen  das  wenige,  was  idi  mir  an- 
geeignet  hatte,  audi  nodi  gefahrden,  und  diese  Furcht  hat  sich  als 
nur  zu  begrundet  erwicsen. 

Auflerdem  ruckte  nun  das  Fruhjahr  heran,  und  die  sdione  Vege- 
tation Luganos  brach  sidi  mit  zunehmender  Kraft  Bahn.  Sdion  gegen 
Ende  Marz  fingen  die  Kamelien  im  Freien  an  zu  bluhen,  in  dem 
terrassenformig  aufsteigenden  Garten  der  Villa  Riva  standen  Kamelien- 
busdie  von  einer  fabelhaften  Grofie  in  Blutenpracfit.  Ebenso  fingen  die 
Obstbaume  auf  den  unteren  Abhangen  des  Monte  Bre  an  Bluten 
zu  treiben,  was  den  Reiz  des  Anblicks  von  Casa  in  Valle  aus  uber 
Berg  und  See  sehr  erhohte.  Etwa  50  Meter  unterhalb  seiner  ward 
mit  dem  Bau  einer  Villa  begonnen,  Lastkahne  brachten  Kalk  und 
Steine  dazu  von  anderen  Ortsdiaften  her  ans  Ufer,  und  Arbeite- 
rinnen  sdileppten  das  Material  in  Kiepen  auf  Serpentinwegen  den 
Berg  hinauf.  Beim  Aufstieg  schritten  sie  naturgemafi  mit  ihrer 
schweren  Last  Sdhritt  fur  Schritt,  still  und  geduckt.  Ging  es  aber 
mit  den  leeren  Kiepen  abwarts,  dann  sangen  sie  meist  Verse  irgend- 
eines  der  in  langgezogenen  Molltonen  auslaufenden  Volkslieder,  und 
sie  dabei  leichten  Trittes  in  Schlangenwindungen  den  W eg  hinab- 
wandem  zu  sehen,  gewahrte  einen  sehr  fesselnden  Anblick.  So  ver- 
einigte  sidh  vieles,  mir  den  Absdiied  von  Castagnola  schwer  zu  machen. 

Ein  Trost  war,  daB  es  hiefi,  wir  gingen  nadi  Gent.  Aber  ith 
dachte  dabei  nidit  an  die  landschaftlidien  Schonheiten  der  Umgebung 
Genfs  und  erst  in  zweiter  Linie  an  sein  regeres  politisches  Leben, 
sondern  ganz  grob  utilitarisdi  vor  allem  an  die  Moglichkeit,  midi 
wenigstens  in  einer  anderen  Fremdsprache,  dem  Franzosischen,  ver- 
vollkommnen  zu  konnen.  Indes  audi  das  sollte  nidit  sein.  Wohl 
reiste  Hochberg  eines  Tages  nadi  Genf,  um  dort  Quartier  zu  suchen, 
wahrend  idi  zu  Ha  use  Kisten  und  Kasten  zur  Qbersiedlung  bereit 
madite.  Dann  aber  kam  plotzlidi  ein  Telegramm:  >Wir  gehen  nadi 
Zurich,  kommen  Sie  sobald  als  moglich  dorthin.«  Idi  war  wie  nieder- 
gesdimettert.  Gegen  Zurich  hatte  sich  mir  als  Folge  der  beilaufigen 
Bemerkung  eines  Kenners  ein  lacherlidies  Vorurteil  eingenistet,  idi 
ahnte  nicht,  dafi  mir  die  freundliche  Limmatstadt  so  sehr  ans  Herz 
wachsen  sollte,  so  dafi  sie  nodi  heute  als  die  zweite  Heimat  in  mir 
lebt.  Es  gab  jedodi  keine  Wahl,  und  da  der  Gotthard  wieder  ein- 


384  Eduard  Bemjiein  • Voffier  zu  House 

mal  fur  den  Reiseverkehr  — diesmal  durdi  Fruhlingsschneefall  — 
gesperrt  war,  ging  es  uber  Mailand,  Turin  und  Genf  nadi  Limmat- 
Athen,  das  nun  auf  neun  Jahre  mein  Wohnort  werden  soilte.  Ich 
betrat  es  mit  einem  ahnlichen  Gefuhl,  wie  es  der  Erzvater  Jakob 
empfunden  haben  mufite,  als  er  die  Rahel  zum  Weibe  haben  wollte 
und  die  Lea  bekam. 


Gfossett 


385 


GLOSSEN 


Predigt. 

Sage  mir  einmai,  welches  Recht  hat  er, 
dir  gegenuber  zu  tun,  als  wenn  er  dein 
Herr  und  Gebieter  sei?  Er  ist  weiter  nichts 
als  dein  Mitburger.  Warum  muB  er  sich 
gegenGber  dir  ein  Gbergewicht  anmaBen 
wollen?  Welche  Grunde  hat  er,  die  ihm 
erlauben,  dicfa  zu  tyrannisieren  ? Sieh,  ich 
habe  die  groBte  Muhe,  das  einzusehen, 
und  es  ist  mir  ferner  ganz  unbegreiflich, 
weshalb  du  ihm  mit  so  wenig  Festigkeit 
gegenubertrittst.  Du  solltest  im  Verkehr 
mit  ihm  einige  Entschlossenheit  zeigen/ 
das  ware  ftir  dich  sowohl  wie  fur  ihn  ein 
groBer  Vorteil.  Vielleicht  plagt  und  qualt 
er  dich  nicht  viel  starker  mit  seiner  Herrsch* 
sGchtigkeit,  wie  du  mit  deiner  Nachgiebig* 
keit  ihn,  denn  man  kann  unter  Umstan* 
den  auch  mit  Sanftheit  und  Mattigkeit 
quafen.  Du  scheinst  mir  in  seiner  Gegen* 
wart  gleich  nur  immer  von  Beginn  an 
mutlos  zu  sein,  und  vermutlich  argerst  du 
ihn  damit,  denn  es  kann  nicht  anders  als 
Srgerlich  fur  ihn  sein,  dich  stets  so  zu  er* 
blicken,  als  raube  dir  sein  Anblick  sogleidh 
alien  Frohsinn.  Ich  glaube,  daB  du  dich  in 
dieser  Hinsicht  in  acht  nehmen  muBt, 
weniger  vor  ihm  als  vor  dir  selber.  Ich 
mochte  dir  empfehlen,  ihn  eine  Zeitlang 
zu  meiden.  So  wie  du  jetzt  mit  ihm  ver* 
kehrst,  sieht  man  dich  bei  jeder  gering- 
fugigen  Gelegenheit  angstlich  zu  ihm  hin* 
springen,  gleichsam  wie  um  dich  erkun* 
digen  zu  gehen,  ob  es  ihm  nicht  beliebe. 


dir  ein  paar  Ungnadigkeiten,  Gbeflaunig* 
keiten  und  VerdrieBlichkeiten  anzuwerfen. 
Das  ist  deinerseits  ein  ganz  falsches  System. 
Mit  Lastigfallen  erwirbt  man  sich  weder 
Respekt  noch  Liebe.  AuBerdem  wirst  du 
immer  dann  einen  VerdrieBlichen  vor  dir 
haben,  wo  du  zeigst,  wie  du  das  befflrch* 
test/  und  immer  dann  einen  gestrengen 
Herrn,  wo  du  zeigst,  wie  dich  seine  Meinung 
bekummert. 

Warum  druckt  und  unterjocht  er  dich? 
Offenbar  deshalb,  weil  du  ihm  Gelegen* 
heit  gibst,  dich  mit  durchaus  verwerflicher 
Ungerechtigkeit  zu  behandeln.  Glaube  mir: 
der,  der  ungerecht  ist,  kann  und  muB  fast 
ungluddicher  sein  als  der,  der  Ungerech* 
tigkeit  schluckt.  Es  befiehlt  dir  aber  nie* 
mand,  dich  ungerecht  behandeln  zu  lassen, 
und  so  handelst  du  recht  eigentlich  un* 
gerecht,  deswegen,  daB  du  Unrecht  hin* 
nimmst,  wozu  du  keinen  Grund  hast.  In 
dir  ist  ein  Mangel  an  Lebendigkeit/  du 
schlafst,  und  man  muB  dir  lebhaft  zu* 
rufen:  wadi  auf! 

Solange  du  dich  gegenuber  ihm  als  Folg* 
samen  gibst,  nimmt  er  dich  auch  als  solchen, 
aber  es  ist  fur  ihn  keine  Frcude,  sondern 
es  ist  ihm  eine  Pein,  dich  immer  wieder 
so  und  nicht  anders  nehmen  zu  mussen 
oder  nehmen  zu  sollen.  Du  laufst  zu  ihm 
hin  mit  Tranen,  prasentierst  ihm  immer 
ganz  ungeniert  dein  MiBgeschick.  Das  ist 
deinerseits  ein  Staatsfehler,  und  du  ver* 
dienst  dann  auch,  daB  er  dich  schlecht  be* 
handelt.  Bevor  man  zu  Menschen  geht. 


386  G fosse n 


**************************§********************************************, 

ordnet  man  sowohl  scin  Aufteres  wie  sein 
Inneres,  einc  BemGhung,  die  in  wenigen 
Minuten  bei  einigem  Fleift  und  einiger 
GesAidcfiAkeit  beendigt  1st.  Man  geht  mit 
seinem  GleiAgewiAt  und  mit  seinem 
SAmudc  unter  Leute,  nicht  aber  mit  den 
Zerzaustheiten  und  Aufgeregtheiten.  Wer 
eincm  Kummcr  naebsinnen  oder  einen 
belngstigenden  Gedankcn  verfolgen  will, 
der  bleibt  hGbsA  zu  Hause.  Das  ist  zu 
ein  fa  A,  als  da6  irgend  jemand  es  in  Frage 
stellen  konnte. 

Zugegeben,  daft  er  dein  Tyrann  ist/  du 
aber  gibst  dieser  sAmShliAen  und  un- 
feinen  Tyrannei  bestandig  Nahrung,  du 
bist  Ernahrer  und  Erhalter  der  Unfreiheit. 
Sei  einmal  aus  dir  heraus  firei/  geh'  mit 
deiner  Freiheit,  deiner  Befreitheit  zu  ihm/ 
cr  wird  sicb  dann  sicber  vie!  zarter  be- 
nehmen.  Du  mit  deiner  rasenden  Zartheit 
besAworst  immer  Unzartheiten  herauf. 
Sei  ein  wenig  barsA,  und  du  wirst  bald 
sehen,  wie  er  seinerseits  zarter  und  be- 
hutsamer  wird.  SArei  ihn  meinetwegen 
einmal  tGAtig  an,  was  ihm  cinfalle,  an 
was  er  denke  usw.  Das  kann  dir  und  ihm 
niAt  sAaden.  Der  HerrsAer  stutzt  dann. 
Man  mufi  die  Regenten  stutzig  maAen. 
Geh  mit  deiner  Zufriedenheit,  mit  deiner 
Genugtuung,  mit  deinem  Stolz,  mit  deiner 
Ehre  zu  ihm,  niAt  aber  mit  dem  Kummer, 
den  du  durAaus  niAt  das  ReAt  hast,  bei 
ihm  abzuladen,  als  wenn  er  der  Sammel- 
kasten,  Eimer  und  Kdbel  fGr  deine  Be- 
sorgliAkeiten,  NaAdenkli Akeiten  und  Mifl- 
vergnGgtheiten  sei.  Nimm  RGdcsiAt  auf 
ihn/  alsdann  muft  auA  er  auf  diA  Ruck- 
siAt  nehmen.  Zeige  ihm  ein  heiteres  Ge- 
siAt/  alsdann  wird  auA  er  dir  eine  heitere 
Miene  zeigen,  und  iA  glaube  niAt,  daft 
er  es  dann  an  HofliAkeit  und  Freund* 
liAkeit  noA  wird  fehlen  lassen.  Er  ist 
kein  unfeiner  MensA. 


********************************************************************* 

Du  leidest  unter  ihm  und  hast  zugleidi 
Mitleid  mit  ihm,  und  das  wirst  du  mir 
erlauben,  eine  reAt  sAIeAte,  toriAte  Ver- 
fassung  zu  nennen.  Erstens  hast  niAt  du 
ndtig,  unter  ihm  zu  leiden,  und  zweitens 
hat  niAt  er  notig,  siA  von  Ar  bemitleiden 
zu  lassen.  IA  fGr  miA  sehe  niAt  das  ge- 
ringste  BemitleidenswGrdige  an  ihm.  Das 
ist  mir,  wiederhole  iA,  der  reAte  nette 
Zustand:  auf  der  einen  Seite  peinigen  und 
dazu  Mitleid  herausfordern,  und  auf  der 
andern  Seite  Gepeinigtsein  und  dazu  Mit- 
leid mit  dem  Peiniger  haben.  Das  ist  mit 
einem  Wort  Krankheit,  aber  iA  halte  Aese 
Krankheit  bloft  fGr  einen  Mangel  an  Ge- 
sAickliAkeit  und  fGr  einen  Mangel  an 
BemGhen,  siA  daraus  hinauszuwinden.  Es 
ist  eine  Lust  am  Ungesunden,  Roman* 
haften  und  ein  Mangel  an  Fleift,  den  ge- 
sunden  und  guten  Zustand  herbeizufGhren. 
Wenn  du  glaubst,  daft  das  Unheil  und 
der  Unsegen  interessanter  und  erlebens- 
werter  seien  als  Heil,  Friedfertigkeit  und 
Segen/  wenn  du  denkst,  daft  gebildete 
Leute  naA  etwas  Feinerem,  Vornehmerem 
und  Hoherem  zu  streben  haben  als  naA 
ihrer  Seele,  Herz  und  Brust,  Zufrieden- 
heit und  Ruhc,  so  bist  du  ein  grofies  Kind, 
aber  iA  will  glauben,  daft  du  niAt  so 
kindliA  bist,  und  somit  Lebewohl. 

RoSert  Wa/ser. 

Lazarett. 

I. 

Sie  liegen  in  einem  grofien  Saal  mit  liAt- 
blidcenden  Fenstem,  burgunderroten  Holz- 
wanden  und  vielen  weiften  Betten.  Die 
Betten  stehen  steinstumm  wie  Eisbaren  am 
Meere  da.  Leise  vorsehend  gehen  die  Kran- 
ken  in  weiftblauen  Kitteln. 

Sie  sind  alle  zusammengekommen,  ernste 
Kopfe  in  braunem  Bart  und  tiefsuAenden 


V 


V 


G fosse  n 


Augcn.  Junge  GesiAter,  die  Leben  in  der 
Hand  halten,  als  trugcn  sie  erstgeborene 
Vogel  Aen.  AuA  gibt  es  altere,  die  goU 
dene  Reifen  am  Finger  tragen.  Aber  alle 
fuhlen  den  uneroffneten  WunsAkasten  der 
Heimat  in  sich.  Als  ware  der  SAlussel 
verloren. 

Den  Morgen  fiber  warten  sie.  Warten 
auf  den  Arzt.  Der  kommt  in  weifiem  Kittel 
wie  mittelalterliAe  Engel.  Er  hat  kluge, 
sAwarze  Augen.  Sieht  sie  an,  als  betraAte 
er  Kunstwerke. 

Die  Kranken  stehen  still.  Da  oder  dort 
sAarrt  ein  FuB.  Ein  eigentoniges  Klappern 
im  groBen  Saal. 

Alle  warten  auf  Freibeit.  Sehen  suchend 
in  die  Klugaugen  des  Ar2tes. 

Dort  steht  ein  Junger  und  zeigt  die 
Wunde.  Seine  Blicke  sind  blau  wie  Korn- 
blumen. 

Die  Klugaugen  des  Arztes  betraAten 
die  Wunde. 

Der  mit  den  Kornblumenaugen  halt  den 
Atem  an.  Wird  er  befreit  aus  den  Mauern? 
Die  andem  beugen  sich. 

Der  Arzt  gieBt  feinstrahliges  Chlorathyl 
auf  die  Wunde,  dafi  sie  erkaltet.  Und  die 
andere  Hand  sAneidet  mit  silberglitzern- 
dem  Messer: 

»Nur  ganz  ruhig  — noA  dieser  kleine 
Schmerz  — dann  werden  Sie  befreit. « 

Der  Jungkranke  atmet  den  ArztgeruA 
des  Chlorathyls  und  laAelt  im  SAmerz. 
Er  sieht  niAt  auf  sein  Blut,  das  weiBe 
Watte  saugt. 

Viele  blicken  zu  ihm,  der  Freibeit  sAon 
um  siA  ffihlt.  Denn  die  Hauser  drucken 
sAwer  auf  ihre  Seele.  Und  Freifuhlen  ist 
alies . . . 

II. 

Des  NaAmittags  aber  kann  man  durA 
die  liAtblinkenden  SAeiben  groBe  Wolken 
sehen.  Mit  den  helleren  Wolken  kommen 


MensAen,  um  die  Kranken  zu  tr5sten.  Es 
gibt  jedoA  auA  soIAe,  die  keine  T roster 
haben-  Viele  sind  aberglaubig  und  lassen 
siA  Karten  legen.  ManAe  sitzen  freude- 
los  in  den  Betten.  VersuAen  flimmernden 
Auges  zu  lescn.  DoA  ihre  Gedankenbilder 
sind  niAt  im  BuAe.  Sie  sind  in  der  Hei- 
mat. Bei  dem  allem,  das  sie  liebgewonnen 
haben.  Das  sie  selbst  gesAaffen  haben. 
Und  es  ist  so  vie!  SehnsuAt  naA  liebenden 
Treuhanden  in  ihnen.  Irgendwer  beginnt 
wie  ein  Boheme  mit  sAwarzem  Haar  die 
Klange  der  Harmonika  zu  rufen: 

»Und  war  iA  in  der  Heimat, 
bei  allem,  das  mi  A liebt . ..« 

Die  andern  horAen  auf. 

Das  ist  es,  was  alle  bindet:  die  Heimat  — 

Und  immer  starker,  starker  wird  Aes 
Singen  . . . 

». . . bei  allem,  das  miA  liebt . . .« 

NaA  diesem  Aufsingen  sAweigen  sie 
pldtzliA. 

Einer  ist  unter  ihnen,  der  keine  Beine 
mehr  hat.  BleiA  sieht  er  aus  wie  ein  Hei- 
liger.  Und  der  hat  keine  Heimat  mehr. 
Seine  BrQder  sind  alle  gefallcn  — 

». . . bei  allem/  das  miA  liebt . . .« 

III. 

Des  Abends  brennen  die  groBen  Gas- 
lampen  in  dem  Saab  Sie  brennen  dunkel, 
daB  die  Wande  blafi  aussehen.  Die  weiBen 
Betten  gelbliA  wie  sterbende  GesiAter. 
Die  Kranken  sitzen  an  den  Betten  mit 
grofien  Verbanden  gleiA  den  Ohren  eines 
Tieres.  FremdlandisA.  Mit  breiten  Be- 
wegungen  werfen  sie  die  Spielkarten. 

Erzahlen.  Vom  Kriege.  Der  Heimat. 
Einer  nimmt  das  Bild  der  Seinigen. 

Gemurmel  beginnt.  Die  Warter,  in 
weiBen  Kitteln,  ahnliA  heiligen  WaAs- 
kerzen,  gehen  durA  den  Saal. 

Stimmen  kommen  aus  der  Ecke.  Werden 


Oriciir 


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388 


diAer,  All  die  Kopfe.  Die  leben  crfQlIten 
Gesi  Ater.  Die  Knabcnkopfe  s Aauen  si  A um. 
Sie  werden  unruhig  wie  flieBendcs  W asser. 
Gehen,  die  Hande  auf  dem  Rtidcen,  um» 
her-  Die  burgunderrote  T ur  oflhet  si  A.  Da 
kommt  einer.  Tragt  das  Essen  herein.  Die 
weiBen  N5pfe  im  Gestcll.  Sie  eilen  herbei. 
Greifen  ihren  Napf.  Setzen  si  A an  ihr  Bett- 
Die  Loffel  klappem. 

Das  Essen  ist  in  ihrem  Leben  eine 
Grofitat.  Denn  sie  sind  mfide  von  dem 
da  drau&en. 

Dann  aber  kommt  der  sAwere  SAlaf. 
Und  vide  gibt  es,  die  im  SAlafe  stohnen, 
als  l5ge  ihre  Seele  allzufem  dcr  Heimat. 

Kar(  LoewenBerg. 

Berfitter  Treie  Sezession. 

llm  das  herrfiAe  Kunstwerk,  das  wir 
»Natur«  nennen,  zu  vollenden,  gebrauAte 
sein  SAopfer  die  drei  Dimensionen  der 
H6he,  der  Lange,  der  Breite/  gebrauAte  er 
unzlhlige  Stoffe  in  ewigen  Mis  Aungen : harte 
und  weiAe,  runde  und  kantige,  spitze  und 
gesAmeidige  KSrper/  unendliAes  LiAt  und 
ausldsAende  Finstemis/  Farben,  die  glGhen 
und  versinken  in  unersAopfliAcm  Leben. 
Und  alien  kostbaren  ReiAtum  breitete  der 
groBte  Kunstler  niAt  nebendnander  aus, 
sondern  dnes  stellte  er  in  das  andere: 
KorperliAkeit,  Farbe,  Leben  der  Ober* 
flaAe,  LiAt  und  — sein  letztes  Mittel!  — 
Bewegung-  Qber  alles  sAlieBliA  wolbte  er 
den  unendliAen  Him m el,  der  den  Dingen 
den  metaphysisAen  StaAel  gibt,  ihre  End* 
liAkeit  aufhebt,  sie  zu  grenzenlos  gewal* 
tigen  Zeugen  maAt  des  »Seinsc! 

MensAen,  die  mit  Pinseln  auf  einer  Lein* 
wandflaAe  dasselbe  leisten,  die  beweisen, 
daB  man  als  homo  sapiens  ganz  AhnliAes 
zu  liefern  imstande  ist  sAon  mit  zwel 
Dimensionen  und  mit  der  einen  einzigen 


Substanz  der  Olfarbe,  nennt  die  vox  populi : 
»K0nstler«.  MensAen,  die  zu  ehrfurAtig 
sind  vor  der  ersAtttternden  GroBe  der 
Natur,  als  daB  sie  Lust  empfinden  kSnnten, 
sie  zu  zcrstfldceln,  zu  verdunkeln  und  sie 
starr  zu  maAen,  sAimpft  Ae  vox  populi: 
« AsAeten* ! 

Dieses  MiBverstandnis  ist  nur  mogliA, 
weil  der  Allgemeinheit  das  Gefuhl  fQr  den 
kosmisAen  Charakter  der  Natur  ab* 
ha n den  kam.  Den  letzten  Generationen 
war  Natur  eine  Sammlung  von  Gegen* 
standen.  Sie  ubersahen  das  UnendliAe- 
Weil  sie  mit  Begriffen,  statt  mit  dem  Ge* 
fdhlc  lebten,  drangten  sie  allflberall  zu 
Fixierungen/  denn  das  GefQhl  ist  wohl 
beglOdit  im  Wandel,  im  SAweben/  aber 
der  Begriff  will  stabile  Treppenstufen.  Be* 
griffsmensAen  konnen  die  Natur  niAt 
lieben,  wenn  sie  sie  auA  malen.  Denn 
Natur  ist  ein  ewiges  Werden.  Verbal  von 
»nasci«  (entstehen)  abgeleitet,  ist  sie  ein 
unablassiges  Bauen,  ein  kosmisAes  Er* 
eignis.  Was  im  MensAen  noA  als  Rest 
besteht  von  seiner  kosmisAen  Heimat,  das 
lebt  in  dcr  hoAsten  aller  KOnste:  der 
ArAitektur.  Sie  ist  von  alien  Kflnsten  Ac 
natur*ahnliAste- 

Sonne,  Mond  und  Sterne  sind  niAt  das 
Thema  wahrerMaler.  HattenThoma,Kalk* 
reuth,  Hagen,  Trubner  jene  Innigkeit,  jene 
EhrfurAt  vor  der  Natur,  die  ihnen  naA* 
gerQhmt  wird,  so  wurden  sie  sie  niAt  »ver* 
malenc.  Besitzt  Thomas  ganzes  Werk  nur 
den  tausendsten  Teil  der  ruhrenden  An* 
mut,  die  ein  Zweiglein,  ein  BaumAen, 
eine  Blute  hat?  Besitzt  Trflbners  ganzes 
Werk  den  tausendsten  Teil  der  GroBe,  Ae 
ein  aus  dem  Dunkel  leu  A tender  Stem  hat? 
Sie  konnen  niAt.  Denn  zum  Erlebnis  *Stem« 
gehort  die  unenAiAe  Weite.  Es  ist  das 
biBAen  Gelb  auf  Blau  die  auBerliAste  seiner 
ErsAeinungskrafte.  Die  W uAtdes  tausend* 


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389 


//w  **  ***********  ft  * **  *********  //^//////^//  ///////  ////////  ///////////w///^////////y///////////////////////#////^//////////#/////^W/#r 


faltigen,  des  unausdeutbaren  Scins  — das 
ist  die  Natur,  ein  Universum,  ein  »A1U! 
Mft  dcr  Devise  »Auge  urn  Auge«,  die 
unter  Liebermanns  Selbstbildnis  in  der 
»Freien  Sezession*  stehen  konnte,  wird 
man  ihrer  Wunder  niemals  inne. 

Baumstamme  braasen  aus  der  Erde  wie 
maAtige  Wellen.  Der  Wald  steht  da  wie 
ein  grofies  Tier  mit  weidiem  Fell.  Man 
kann  die  Rinde  eines  Baumes  begreifen, 
aber  niemals  begreift  man  sie.  Eine  Span- 
nung  zwisAen  Nahe  und  weitester  Feme, 
zwisAenFremdheit  und  innigster  Vertraut- 
heit  macht  das  Herz  poAen.  Aber  Thoma 
setzt  »Staflfage«  in  seine  »LandsAaften« 
mit  dem  ausgesproAenen  ZweAe,  die 
Stimmung  der  Natur  im  MensAen  zu 
wiederholen,  was  monistisA  ganz  hubs  A 
ist-  DoA  die  Natur  hat  gar  keine  Stim- 
mung. Sie  ist  von  ihrem  SAopfer  niAt  als 
Vorlagewerk  fur  sentimentale  Maler  ge- 
meint,  sie  ist  uberhaupt  niAt  malerisA, 
sondern  vollig:  ArAitektur. 

Ein  Teil  der  Jugend  empfindet,  daft  die 
mensAliAeLeidensAafteinsAdneresThema 
der  Malerei  ist.  NiAt  die  meine  iA,  die  aus 
AuBerliAkeiten  groberer  Vorbilder  »mo- 
derne*  Knitter-,  Watte-  und  S Aa  Atelbilder« 
rezeptmaBig  herstellen,  sondern  jene,  die 
T emperament,Freiheit  und  Phantasie  haben : 
Artur  Degner,  der  zum  ersten  Male  rein 
und  gluckliA  strahlt,  Klaus  RiAter  und 
Magnus  Zeller,  Ernst  Altmann  f,  Rohlfs, 
Baugerter,  den  Plastiker  Honig.  Sie  und 
die  sAon  bekannteren  Heckel,  KirAner, 
Otto  Muller,  Kolbe  sind  frei  vom  Zwange 
einer  Formel.  Ihre  Arbeiten  haben  den 
Charakter  des  Gcsanges,  wahrend  die 
meisten,  allermeisten  Bilder  mehr  oder  min- 
der deutliA  »reden«.  Curt  Herrmanns  freie 
Isarbilder  nehme  iA  davon  aus. 

Acfoff  Be  fine. 


„lBr  seid  Mens  den" 

*Vous  etes  des  hommes«  heifit  das  Ge- 
diAtsbuA.  Ein  Franzose,  P.-J.  Jouve,  stoBt 
den  lauten  SArei  des  MensAen  aus.  Eine 
Widmung  dr  in,  fur  uns:  >Aux  freres  en- 
nemis.« 

Es  gibt  niAts  ErsAutternderes.  Eben- 
so  ungeheuer  klar,  so  riesig  weit  uber  die 
Mitwelt  gebogen,  so  aufstaAelnd  prokla- 
matorisA  sind  die  GediAte.  Paris  1915, 
Verlag  der  »Nouvelle  Revue  Fran^aisec. 
Ehre  diesem  Verlag.  Obwohl  fast  gewifi 
ist,  daB  Jouve  und  sein  Verlag  wahrend 
des  Krieges  fur  diese  Zeilen  hier  die  Be- 
sAimpfungen  der  Routiniers  des  Hasses 
erleiden  werden,  soli  dennoA  niAt  ge- 
sAwiegen  sein! 

Einmal  geht  dieser  Krieg  zu  Ende.  Es 
ist  Zeit,  daB  wir  endliA  wissen,  wer  auf 
seiner  Fahne  das  Bild  des  MensAen  tragt. 
Denen  Dank,  die  unsere  gottliAe  Geburt 
niAt  vergaBen. 

Wo  waren  wir!  WelAes  RcAt  hatte 
denn  dieses  halbe  Jahrhundert  zum  Leben! 
Denn  langer  als  fdnfzig  Jahrc  sind  Leser 
und  DiAter  gutgelaunte  Privatwesen,  sub- 
tile Amuseure  des  IA.  Hohepunkt  der 
EntgottliAung  des  MensAen,  der  Geogra- 
phielosigkeit  des  Bewufitseins,  der  Ent- 
irdisAung  der  Erde:  das  verantwortungs- 
los  eingekapselte  Gestaltertum.  In  Frank- 
reiA,  in  DeutsAland,  die  feierliAen  Kreise, 
in  denen  Symbole  auf  Maggiwurfelkonzen- 
tration  gepreBt  werden,*  immer  noA  die 
wertvollsten  Teilnehmer  der  Zeit.  Aber 
welA  einer  Zeit!  Ihre  DiAter  BesAauer 
des  Historis  Aen  ,*  und  nur  urn  des  SAauens 
willen,  sogar  ahnungslos  (!)  Bejaher  von 
Organisationen,*  sAon  formal  die  gestren- 
gen  Musikmeister  heutiger  Armeen.  Eine 
Welt  ohne  Entfalter,  ohne  Mens  A,  ohne 
SAopfer. 


390 


Gtossen 


Als  hatte  nie  die  Erde  sich  geoffnet! 
Aber  erscholl  nicht  aus  dem  Mund  der 
Erde  die  Stimme  des  Menschen?  Vor 
einem  halben  Jahrhundert  auf  amerikani- 
sdben  Boden  zum  ersten  Mai  des  Dichters 
Walt  Whitipan  ungeheure  Liebesstimme 
far  den  Menschen. 

★ 

Jouves  Gedichte  sind  nidbt  zum  Be- 
scbauen  da.  Sie  sind  da,  um  den  schwachen 
Menschen  zu  andern,  zu  starken,  zu  heilen. 
Seine  Verse  sind  nitht  fur  die  Plastik  der 
Museen  oder  die  Seltenbeit  der  Bibliophilie 
gemacbt.  Reimlos,  alexandrinerfem  / Zeilen 
sind  Scbreie  in  riesenhafte  Volksversamm- 
lungen/  Rhythmen  stoBen  hell  in  uns  hin- 
ein,  unsre  Knochen  zu  starken. 

Der  Mut  dieses  Mannes,  seine  Unab- 
hangigkeit,  seine  Liebe  far  die  Welt!  Der 
Mensch  ist  gebeugt,  Jouve  richtet  ihn  auf. 
Der  Kricg  geht  ja  flber  die  ganze  Erde. 
<Er  schUgt  mit  dem  Meer  bis  nach  Pata- 
gonien).  Drum  gilt  es  das  Leben  der 
Menschen  miteinander  aufderganzen 
Erde.  Politik.  Der  politische  Diditer  kommt 
herauf  (wieder,  seit  Whitman).  Der  Krieg 
hat  das  nicht  gemacbt,  er  hat  es  nur  ver- 
deutlidit.  Einige  von  uns,  und  drum  miB- 
achtet,  fordern  die  politische  Dichtung  seit 
Jahren.  Die  Forderung  wird  immer  mehr 
erfalft.  In  kurzem  sind  die  andern  mift- 
achtet,  die  uns  hdhnten:  die  Beschauer, 
die  Gestalter  von  langst  Gegebenem,  die 
Vermittler  von  Gefahlen.  MiBachtet  sind 
sie  als  armliche  Feiglinge,  jammerliche  Be- 
ruhigte,  gottverlassene  Beitreiber  von  Alibis 
fur  eine  verurteilte  Zeit. 

Die  Welt  wird  ihren  Dichtern  danken, 
den  politischen  Dichtern.  Sind  sie  wirklich 
heute  noch  mifiverstanden?  weiB  man  wirk- 
lich  nicht,  daB  ihre  Themen  nur  Mittel 
sind?  Die  Satire  bei  Sternheim,  dem  ersten 
politischen  Dramatiker  der  heutigen  Zeit 


(keine  Psychologic,  kein  Lyrismus/  es  geht 
um  Ideen!).  — Die  Musik  in  den  zehn 
Banden  von  Romain  Rollands  »Jean-Chri- 
stophe*  <Einen  bloBen  » Roman*  machte 
jeder  kleine  Pariser  Reporter  geschickter. 
»Jean-Christophe«  ist  aber  kein  Roman, 
sondern  eine  riesenhafte  Proklamation  fur 
unbedingtes  Menschentum !)  Doth  es  gibt 
schon  einen  immanenten  Dank  derWelt: 
vor  dem  politischen  Dichter  enthullt  sich 
alles  Reden  von  *Wortkunstc  als  SchwindeL 
Der  politische  Dichter  ist  in  alle  Sprachen 
der  Welt  ubersetzbar.  Er  braucht  nicht 
»Qbertragen«,  umgefuhlt,  umgedacht,  um* 
gedeutet  zu  werden.  Noch  im  eisenbahn- 
fernsten,  grenzseitigsten  Ausdrudc  ist  er 
ganz  da,  Gewalt  des  ersten  Tages  / schaffend. 

>Pour  l'Europec  ruft  Jouve  auf.  Uns 
fur  Europa: 

»Ein  Sang  far  Europa! 

Singen  fQr  Europa,  hoffen  fQr  Europa! 
Ich  bin  nur  geringfagig  Ze He/  irgend- 
einer  Europas/ 

Aber  wer  singt  ihn  — singt  ihn  denn 
die  Kehle  eines  Gewaltigen?  ~ 

Wer  will  ihn  singen,  tat  es  nicht  ich,  den 
stummen  Schmerz  in  alien  anderen? 
Wer  will,  tat  es  nicht  ich,  auffangen 
Die  Seelc,  herrschmSchtige  oder  erbarm- 
liche  Seele  der  Lebenden  und  der  Toten?c 

★ * * 

Keine  Beschreibung  von  Zustanden.  Un- 
sere  Forderungen  an  einen  solchen  Dichter 
werden  auBerordentlich,  nach  der  Hohe 
seines  Willens.  Mit  ihm  kampfen  wir  schon 
um  die  Riditigkeit  seines  Ziels  <dagegen 
mit  einem  bloBen  Lyrikler  hochstens  um 
die  Sicherhcit  seines  Ausdrudcs).  Vom  po- 
litischen Dichter  wissen  wir:  das  Ziel  ist 
nicht  die  Menschen  zu  ruhren,  sondem  sie 
zu  fahren.  Ihn  fragen  wir:  >Was  sollen 
wir  also  tun?« 


V 


v 


Gfossen 


J #/////////////>  ///////////W/W/W///  //////#/////###W/#,#/i//i//////////////////i///////////W///////////y///4/#W/Wy//W//»#>/ 


>Qye  faut-il  faire?«  heifit  das  SdiluB* 
gedkht  des  Budhes.  Jouve  ist  von  wildestcr 
Glaubigkeit  fur  die  Volker.  Abcr  ihn 
haben  alle  Sauren  des  Sdireckens  gebrannt, 
er  ist  ein  Wisscnder.  Der  feindlidie  Bru* 
der,  dem  die  Widmung  gilt  — ist  audi 
der  Skeptiker,  der  in  VerheiBungcn  mit 


der  Resignation  ewiger  Gesetzc  der  Er* 
fahrung  einbricht.  Nur  ungeheuerlidier  En* 
thusiasmus  kann  hier  siegen. 


auras 


darauf, 

Wort, 


ganz  still,  sein  letztes,  sdidnstes 
halb  sdion  gemurmelt  Qber  Vergangen* 
heiten,  und  ganz  sidier: 

3 . . . Tais*toi,  tais-toi,  va,  allons  en* 
scmbleU  Wie  stark:  ein  Wort  der  Ge* 
meinsamkeit  schlieBt  das  Buch. 


it  it  ★ 

Abcr  zu  uns!  Diditer  Jouve,  Politiker, 
Mensdi,  mein  Bruder, 

Wenn  wir  miteinander  sprachen,  gab  es 
namenlos  MiBverstandnisse! 

I <fi  sprache  gegen  die  Kunst  <und  fur  Sie  !> 

Aber  Sie  wurden  nur  aus  Hoflkhkeit  das 
Wort  zurudchalten : 

Ja,  veil  Ihr  Deutschen  die  Kathedralen 
zerstort 

Oder  Sie,  Sie  sudicn  einen  machtigen  Re* 
frain,  der  die  Massen  auf  den  StraBen 
vorwarts  treibt,  und  Sie  finden  ihn. 

Aber  idi  wGrde  Ihr  Wort  nur  fur  eine 
sch6ne  Phrase  halten, 

Denn  bei  uns  sind  die  sefadnen  Worte  fGr 
Dinge  da,  die  es  sdion  gibt. 

Sie  wurden  glauben,  ich  sei  teilnahmslos 
oder  brutal. 


Ich  wurde  glauben,  Sie  seien  ein  Hohlkopf. 

Wir  wurden  uns  entzweien  und  einen 
neuen  Krieg  brauchen,  um  wieder  Brfl* 
der  zu  werden! 

Nein. 

Es  kommt  nidit  auf  MiBverstandnisse  an. 

Es  kommt  darauf  an,  daB  wir  nidit  an* 
einander  zweifeln. 

Wir  wissen,  dies  ist. der  Freund.  Seien 
wir  Partei  fureinander: 

Seien  wir  Mensch! 

Jeder  von  uns  treibt  grauenhaften  Irrtum. 

Jeder  Irrtum,  den  wir  nicht  sahen,  hat 
Mensdien  getotet. 

Diditer,  Bruder,  Volkermensch ! 

Ich  weiB,  daB  es  wahnsinnige  limwege  gibt. 

Ja,  wir  werden  uns  lieben,  einander  un* 
bekannt  <wir  lieben  die  Bilder,  die  wir 
uns  voneinander  machen!) 

Aber  trafen  wir  einander  in  Wahrheit  und 
sagte  ich : Auch  Sie  glauben  nodi  zu  oft 
Ihren  Kriegszeitungen,  wie  idi  den  mei* 
nigen.  Aber  ich  weiB,  daB  wir  beide 
es  wohl  irgendwie  nicht  anders  konnen, 

Dann  wGrden  Sie  mir  eine  gespitzte  Ant* 
wort  geben.  Und  idi  wGrde  Ihnen  das 
nidit  verzeihen, 

Darum : es  tut  not,  wir  fassen  es  nidit  so 
weit  kommen. 

Jeder  von  uns  beiden  ist  ganz  gewiB  und 
denkt  doth,  er  sei  der  cinzig  Sidbere. 

Aber  ist  es  nidit  viel  wichtiger,  daB  wir 
beide  gemeinsam  wollen? 

Das  Sein  ist  wichtiger  als  die  Beschiftigung 
mit  dem  Sein. 

Gemeinsam  wollen! 

Eines  Tages  ist  der  Krieg  zu  Ende. 

Ludwig  RuSiner. 


INHALTSVERZEICHNIS 


I. 

AUFSATZE 

HEFT  SEITE 


Oskar  Baum,  Die  Gegner  des  Krieges IV  58 

Eduard  Bernstein,  Volker  zu  Hause.  Erinnerungen 

IV.  In  Zurich V 115 

Theodor  Daubler,  Henri  Rousseau VI  239 

Gustav  Landauer,  Friedrich  Holderlin  in  semen 

Gedichten VI  183 

Ludwig  Rubiner,  Legende  vom  Orient VI  252 

Rene  Schickele,  Der  Mensch  im  Kampf IV  1 


GEDICHTE 

Paul  Boldt,  Freundin  Horerin IV  76 

Valerij  Brjussoff,  I.  Schatten,  II.  Weib  (Nachdich- 

tung  von  Ch.  Strafier) IV  67 

Theodor  Daubler,  Sang  an  Palermo IV  48 

Max  Pulver,  Gedichte V 135 

Ludwig  Rubiner,  Das  himmlische  Licht V 91 

Ernst  Weifi,  Der  bunte  Damon V 161 

Franz  Werfel,  Neue  Gedichte VI  227 

III. 


DRAMATISCHES 

Carl  Sternheim,  Tabula  Rasa.  Ein  Schauspiei  in 

drei  Aufzugen IV  25,  V 139,  VI  214 


26  VoL  m/1 


IV. 

EPISCHES 

Gottfried  Benn,  Die  Reise  ..... 
Kasimir  Edschmid,  Winter.  Tage  . 
Ulrich  Steindorff,  Golgatha  .... 


HEFT  SEITE 


VI 


IV 


244 

162 

69 


V. 

GLOSSEN 


Han  ns  Braun,  Hauser VI  284 

Max  Herrmann,  Carl  Einstein IV  88 

Karl  Lowenberg,  Gefangenebegraben VI  282 

„ „ Der  daheimgebliebene  Mut  . . VI  283 

L.  R.,  Trdster V 180 

R.  S.,  Ziircher  Tagebuch  (Minderheiten.  Herve, 

Demain.  Pazifismus.) IV  79 

R.  S.,  Ziircher  Tagebuch  (Das  Leben  nach  dem 
Tode.  Die  elsassische  Frage.  Die  Schweiz. 

Literatur.) V 174 

Franz  Xaver  Schmitt,  Rudolf  Kayser  erinnert  an 

Wienbarg IV  83 

Robert  Walser,  Vier  Bilder VI  276 


VI. 

ZEICHNUNGEN 


Hermann  Huber,  Vier  Zeichnungen  . . 


. . . IV 


Q\ene  Scfn'cfcefe: 

DER  MENSCH  IM  KAMPF 

I. 

I J IE  Zertriimmerung  Deutschlands  ist  kein  Kriegsziel,  son- 
^ dem  eine  Reklame,  woran  in  den  Deutschland  feindlichen 
Landem  kein  ernsthafter  Politiker  glaubt. 

Ebenso  verhalt  es  sich  mit  den  phantastischen  Kriegszielen, 
die  man  der  deutschen  Regierung  unterschiebt  oder  die  in 
Deutschland  unier  der  ZHand  verbreitet  werden. 

In  Wirklichkeit  kampfen  die  Volker  um  ihre  Selbstbehaup- 
tung, 

seitdem,  nach  den  Schlachten  an  der  Marne  und  bei  den 
masurischen  Seen,  die  erhitzenden  Erinnerungen  an  die  knege- 
rischen  Streifziige  friiherer  Zeiten  plotzlich  zerrannen  und  an 
ihre  Stelle  die  neue  Wirklichkeit  der  Schiitzengraben  trat: 

dieses  Symbol  des  heutigen,  des  wirtschafthchen  Kampfes, 
der  mit  den  Mitteln  einer  groBen  industriellen  Organisation 
gefiihrt  wird,  vom  Fabnkanten  und  Arbeiter  hinter  der  Front, 
in  deren  Hand  der  kampfende  Soldat  bis  zum  Armeefiihrei  nur 
ein  Werkzeug,  der  Agent  einer  nesenhaften,  kaufmannischen 
Unternehmung  geworden  ist. 

Je  weiter  die  Kriegsschauplatze  sich  dehnen,  desto  abhangigei 
wird  der  Soldat  von  der  Maschinerie,  die  ihn  bewegt.  Vorstofie, 
wie  die  Offensive  der  Franzosen  in  der  Champagne,  die  Schlacht 
bei  Verdun,  der  Verlust  und  Wiedergewinn  Galiziens,  die  Uber- 
rennung  Serbiens,  erscheinen  lediglich  als  Versuche,  dem  Krieg 
wieder  zu  seinem  urspriinghchen  Charakter  zu  verhelfen.  Der 
Tefdzug  ist  tot,  das  europaische  Gleichgewicht  betatigt  sich 
morderisch,  genau  wie  es  sich  vor  dem  Krieg  diplomatisch  be- 
hauptete.  Dieser  Krieg  zeigt  deutlich : die  neue  Zeit. 


Rene  Schtckdc  * Der  Mensch  im  Kampf 


2 


Die  niederdriickende  Einkreisung  Deutschlands  ist  nicht  ge- 
lungen,  und  Deutschland  hat  den  « Ring »,  an  dessen  Anlage  die 
Geographic  mehr  beteiligt  war,  als  die  Diplomatic,  nicht  ge~ 
sprengt. 

Millionen  Tote  liegen  begraben,  zum  Beweis,  daB  die  neue 
Zeit  die  Losung  groBer,  zwischen  lebensfahigen  Volkem  be- 
stehender  Probleme  durch  Massengewaltsamkeiten  nicht  zulaBt. 

Uber  den  wirtschaftlichen  Wert  eines  Sieges  in  diesem  Zu- 
stand  hatten  die  Finanzmanner  der  kampfenden  Volker  zu 
urteilen.  Uber  die  Fragwiirdigkeit  geistiger  Gewinne  ist  schon 
heute  so  viel  zu  sagen,  daB  alle  kriegfiihrenden  Volker  fiir  die- 
selben  geistigen  Ziele  kampfen  mochten,  daB  die  moralischen 
Energien  iiberall  dieselben  sind  und  daB  die  seelischen  Ergeb- 
nisse  vermutlich  iiberall  die  gleichen  sein  werden.  Diese  Uber- 
einstimmung  in  der  geistigen  Fiihrung  des  Krieges  geht  soweit, 
daB  ungefahr  alle,  die  in  den  einander  feindlichen  Landern 
sprechen,  bis  auf  den  tyortfaut  dasselbe  sagen.  Nie  hat  ein 
einigeres  Europa  bestanden,  nie  war  die  Solidaritat  der  Volker, 
die  sich  zu  zerfleischen  suchen,  so  groB. 

Dafiir  kann  es  nur  zwei  Griinde  geben:  entweder  die  Re- 
gierungen  sehen  sich  gezwungen,  zur  Erreichung  ihrer  zweifel- 
los  entgegengesetzten  Ziele  die  gemeinsamen  Ideale  der  Volker 
anzunehmen,  es  sei  denn  sie  vorzutauschen , oder  sie  kampfen 
tatsachlich,  freiwillig,  sozusagen  sponian,  fiir  das  gemeinsame 
Ideal  samtlicher  Volker,  jede  von  innen  im  Glauben,  daB  sie  und 
gerade  sie  und  sie  allein  die  gemeinsamen  Ideale  zu  verwirklichen 
berufen  sei.  Ein  Vollstrecker  dieser  Ideen,  ein  Verwalter 
dieser  Ideale,  glauben  sie,  miisse  sein,  und  um  diese  hochste 
Menschheitsmission  morden  einander  die  Volker. 

Wahrhafter  Kampf,  so  er  vom  ganzen  Menschen,  vom 
Scheitel  bis  zur  Sohle,  gekampft  wird,  mit  dem  Einsatz  alles 
dessen,  was  er  besitzt  und  nicht  zuletzt  seiner  selbst,  ist  etwas 
furchtbar  Entschiedenes : ^od  oder  <Jieg.  Der  Mensch  muB  an 
die  Wirksamkeit  des  von  ihm  gebrachten  Opfers  glauben,  der 
Feind  ist  nur  noch  der  Vorwand  fiir  das  Mysterium,  das  sich  in 
ihm  von  Herz  zu  Him  vollzieht  und  durch  das  er  mit  seinem 


Rene  Schickele  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


3 

o 

Tiefsten  kommuniziert ; und  ein  deutscher  Dichter,  der  als 
Politiker,  auf  parteipolitischem  Boden,  ganze  und  halbe  Volks- 
genossen  mit  Inbrunst  hafite,  schreibt  dann  Gedichte,  wie  diese : 

Wisset,  die  ihr  Sturm  und  Wellen  stillt: 

Kampfe  werden  sein  und  Menschen  fallen, 

Machtige  der  Welt  erstehn, 

solang  Schwacbe  sich  um  Starke  drangen, 

HaB  wird  saen,  HaB  wird  mahn 

mit  Choralen  und  mit  Mordgesangen, 

und  die  alten  Schwiire  werden  hallen  — 

Liebe,  die  zum  einen  iiberschwillt, 
macht  das  andre  untergehn. 

Wisset,  die  ihr  stillt  die  tiefen  Wellen: 

Blut  will,  Blut  mufi  aus  dem  Bronnen  quellen, 
Schaferin  Erde  diirstet  nach  Blut. 


Wisset,  die  ihr  gute  Weisheit  lehrt: 

Herzen  werden  andre  niederschlagen, 

herrisch  und  zu  zwein, 

solang  Friihlingsnachte  sie  verziicken, 

Wut  und  Sanftmut  auf  sie  niederschnein 
Von  den  blauen,  lichtbekranzten  Briicken. 
Fortgeschwemmt  von  Liebesrufen,  Klagen, 
klangdurchbebt  und  unbewehrt 
brennen  sie  im  neuen  Schein. 

Wisset,  Meister  ihr  der  klugen  Worte, 
suchend  schafft  die  Sehnsucht  allerorte, 
Schaferin  Erde  verzehrt  sich  in  Glut. 

* 

Nur  wer  Leben  kennt,  begreift  das  Sterben, 
sterben  aber,  das  ist  schwer, 
so  man  jenen  Alten  glaubt, 
deren  Blick,  ganz  weit  und  leer, 
an  der  Stirn  verzittert  ihrer  Erben, 


y 


w* 


4 Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kamfif 

die  im  Krankenzimmerdammer 

lichtgefiillte  Hande  heben, 

schnell  wie  Hammer, 

und  den  Jungen,  die  erbeben, 

wenn  die  Nacht  sie  schwarz  umlaubt. 

Sollt  ich  auch  vom  Grauen  wissen, 
das  uns  Schreckhafte  beschleicht, 
wo  ein  Mensch  in  sich  zusammenbricht, 
will  ich,  vielleicht  selbst  erbleicht 
ach!  wie  jene  plotzlich  stillen  Kissen, 
dennoch  blutrot  in  die  Hohe  hissen. 

Wo  ein  Mensch  endlos  zusammenbricht, 
eine  Flamme  aus  dem  Triiben  sticht, 

Seele  weh  zu  Seelenhaftem  flieht, 

Blut  sich  wieder  erdehin  verzieht, 
sterbend  sind  wir  alle  Mutter,  die  gebaren! 

Wo  ein  Mensch  mit  mir  zusammenbricht, 

steig,  mein  Herz,  in  einem  Strahl  aus  Blut  und  Schwaren, 

steh  wie  ein  Panier,  das  Sieg  verspncht! 

Heute  mufit  du  leuchten,  mufit  du  schweben, 
heute,  heute,  wenn  auch  heute  nur 
iiberjuhelt  mein  Triumph  zu  leben 
den  Vernichtungsschrei  der  Kreatur. 

Blutrot  will  ich  in  die  Hohe  hissen 
und  entziickt  vom  Tode  wissen. 

* 

Und  dann  dies  entsetzliche  Gesicht: 

Ein  Schlachtfeld  mit  Haufen 
von  Leibern,  die,  aufgerissen,  dicht 
verglaste  Augen  an  offenen  Bauchen, 
von  Blut  und  Eingeweiden  iiberlaufen, 
und  die  sich  riihren,  und  die  keuchen, 


Rene  Schickele  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


und  eine  Nacht,  die  sie  allem,  nur  nicht  sich  selbst  entriickt, 
und  die  sie  wach  halt  und  langsam  in  die  Erde  driickt, 
Verblutendes  in  eine  Riesenwunde, 
und  hallendes  Schweigen  in  der  Runde. 


Die  Not  des  Ertrinkenden,  wenn  er  zum  letztenmal 
auftaucht  und  die  fern  verzitternden  Ufer 
da  sind  und  dann  ein  langer  blauer  Strahl 
ihn  ganz  durchbohrt,  vom  Himmel  sausend  . . . 

Im  hochsten  Stockwerk  des  brennenden  Hauses  der  Rufer, 
den  es  zuriickhalt,  hinauszuwehn  mit  dem  sausenden 
Glutsegel,  das  der  Atem  ernes  Feindes  schwellt, 
und  der  sich  sein  eigenes  Echo  in  die  Ohren  gellt, 
der  fliegend  sinkt  und  filhlt,  wie  die  roten  Flammen 
mit  grofien  Schlagen  ihn  ins  Schwarze  rammen. 


Wie  rote  dicke  Milch  erbrochenes  Blut 
der  Uberfahrenen,  das  Nachzittern  der  Glieder 
und  eine  einsame  Hand,  die  zartlich  tut, 
im  Fallen  seithch  fortgeschleudert, 
streicht  hm  und  her  und  hebt  sich  wieder 
so  sanft . . . und  wie  vom  Schmerz  gelautert. 

Die  Wolke  Unrat,  worin  der  eine  verdirbt, 
der  Schluckauf,  dran  der  andere  plotzlich  stirbt, 
der  lange  Kampf  auch  derer,  die  sich  wehren, 
ihr  zuckend  Hell  ins  Dunkel  auszuleeren! 


Dich  dran  zu  halten,  Bruder,  reich  ich  die  Hand, 

sieh  her,  ich  bin  der  Nachfahr,  der  dich  am  Wege  fand, 

und  wenn  du  still  bist,  werd  ich  welter  schreiten 

in  eine  Welt,  die  viele  Tode  weiten, 

so  sehr,  daC,  wenn  ich  selbst  den  letzten  Kampf  begmn, 

ich  wohl  schon  lange  nicht  mehr  auf  der  Erde  bin. 


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Rene  Schickde  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


(ERSTER  AUGUST  1914) 

Kam  eine  rote  Wolke  gezogen, 
entsturzten  ihr  drohende  Gestalten, 
wir  riefen,  um  sie  aufzuhalten, 
schon  waren  sie  durch  uns  geflogen 
und  hinterlieBen  einen  Brandgeruch, 

Bestiirzung  ringsum  wie  nach  einem  Fluch, 
und  dann  war  Krieg. 

Die  Traume  sind  ausgetreten, 

sie  zeigen  fletschende  Zahne  und  winken, 

wir  mochten  in  die  Kniee  sinken, 

die  Angst  und  Wut  in  Ruh  zu  beten. 

Die  wachen  Traume  haben  uns  umringt, 
wir  horen,  noch  fremd,  die  eigene  Stimme,  die  singt: 
Tod  oder  Sieg! 


* 

(UNTERWEGS) 

Was  ist  gestern?  Was  ist  heute? 

Was  ist  Wahrheit?  Was  ist  Trug? 

Sind  wir  nicht  die  eigene  Beute 
Und  uns  selbst  genug? 

Wo  ich  fiihle,  steigt  die  Erde  mal  um  mal, 
fallt  und  glitzert  leise  singend, 
steigt,  durch  Licht  und  Schatten  dringend, 
wie  die  bunte  Kugel  auf  dem  Springbrunnstrahl. 

Was  ist  Sterben  ? und  was  Leben? 

Tanz  aus  Dunkel,  Ruhe,  Licht  und  Schall! 
Allem  Sein  zutiefst  ergeben, 
lausch  ich  ferner  Tode  Widerhall. 


Rene  Schickde  * Der  Mensch  im  Kampf 


Qjnd  zufeizt: 

(BETE) 

Bete,  daB  aus  soviel  Schlachten 
dir  der  Geliebte  wiederkehr 
und  sein  Herz  dann  immer  bleibe 
so  stolz  und  klar  wie  seine  Wehr. 

Bete,  dafi  die  Totversunknen 
in  dir  und  alien  auferstehn, 
dafi  wir  stets  bei  unsem  Taten 
ihr  ernstes  Lacheln  vor  uns  sehn. 

Bete,  daB  die  Kraft  der  Opfer, 

so  dargebracht,  wie  nie  zuvor, 
sich  ein  Volk  noch  hingegeben, 
ein  ewig  Licht  sei  an  dem  Tor 

deines  Hauses  und  des  Reiches, 
durch  das  Geschlechter  Deutsche  gehn. 
Gleich  wie  Gottes  mog  ihr  Atem 
auf  unsern  hellen  StraBen  wehn. 

Bete,  daB  wir  alle  werden 
durch  ihren  Tod  so  stark  wie  frei, 
und  am  Ende,  daB  der  Deutsche 
ein  milder  Herr  der  Erde  sei. 

( GedicAte,  gtscfiritbtn  im  $uni>  $u(i  und  August  J9f¥) 


* 

Die  Freunde  des  Dichters  fielen,  von  Granaten  zerrissen,  von 
Bajonetten  gespieBt.  Er  hatte  eine  Gemeinsamkeit  mit  ihnen. 
Sie  waren  von  seinem  Fleisch  und  seinem  Blut.  Da  sie  tot  waren, 
rief  er  sie,  die  trotzdem,  die  iiber  alle  greifbaren  Begriffe  Leben- 


Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 


8 

digen,  die  Blutzeugen  ihrer  Gemeinsamkeit,  und  er  betete  fiir 
den  Fortbestand  ihres  leidenscbaftlichen  Willens. 

Denn  nichts  ist  sinnlos  fur  den,  der  Sinne  hat,  und  jedes  Blut- 
opfer  ist  der  letzte  Ernst. 

Ich  neige  mich  tief  vor  Charles  Peguy  und  beweine  Ernst 
Stadler.  Jener  war  seit  zwanzig  Jahren  darauf  vorbereitet,  fiir 
eine  Idee  zu  sterben,  die,  auf  dem  Schlachtfeld,  die  seine  bliebe, 
bleiben  mufite,  weil  es  seine  eigene  Idee  war  und  das  klar  ge- 
wollte  Opfer.  Er  schrieb  „Notre  Patrie“  und  Verse,  in  denen  er 
seinen  und  seiner  Kameraden  Tod  Jahre  im  voraus  segnete: 

„Heureux  ceux  qui  sont  morts  dans  les  grandes  batailles 

Couches  dessus  le  sol  a la  face  de  Dieu.“ 

Dieser  litt  unsaglich,  bis  er,  auch  er  einen  Sinn  fand  fiir  den  Tod, 
den  er,  auch  er  erwartet,  wenn  auch  nicht  so  gewollt  hatte, 
nicht  auf  der  Stelle,  wo  er  ihn  traf: 

„Aber  eines  Morgens  rollte  durch  Nebelluft  das  Echo  von 

Signalen , 

Hart,  scharf,  wie  Schwerthieb  pfeifend.  Es  war  wie  wenn 

im  Dunkel  plotzlich  Lichter  aufstrahlen. 

Es  war,  wie  wenn  durch  Biwakfriihe  Trompetenstosse 

klirren, 

Die  Schlafenden  aufspringen  und  die  Zelte  abschlagen  und 

die  Pferde  schirren. 

Ich  war  in  Reihen  eingeschient,  die  in  den  Morgen  stiefien, 

Feuer  iiber  Helm  und  Biigel, 

Vorwarts,  in  Blick  und  Blut  die  Schlacht,  mit  vorgehaltnem 

Ziigel. 

Vielleicht  wiirden  uns  am  Abend  Siegesmarsche  um- 

streichen ; 

Vielleicht  lagen  wir  irgendwo  ausgestreckt  unter  Leichen. 

Aber  vor  dem  Erraffen  und  vor  dem  Versinken 

Wiirden  unsre  Augen  sich  an  Welt  und  Sonne  satt  und 

gliihend  trinken.“ 


Rene  Schickele  ♦ Der  Mensch  itn  Kampf 


9 

o 

Waren  sie  Feinde? 

Sie  waren  Freunde  — Peguy,  der  politischere  Mensch, 
Stadler,  der  menschlichere  Politiker. 

Und  die  Politik,  die  nicht  die  ihre  war,  stellte  sie  als  feindliche 
Offiziere  einander  gegeniiber. 

In  der  weiten  Erde  Europas  liegen  sie  vereint  und  sind  ein 
einziger  Glaube  an  die  Zukunft  ihrer  grofien  Heimat. 

Wir  brauchen  nur  treu  zu  sein  und  zu  glauben. 

Auch  das  ist  — Politik.  Das  Fundament  unsrer  Politik.  Der 
Kampf  aber  auf  dieser  geheiligten  Statte  fordert  alle  blanken, 
unsentimentalen  Eigenschaften  des  Ringkampfers.  Fordert  alle 
blanken,  unsentimentalen  Eigenschaften  des  Ringkampfers. 
Hier  geht  es  um  die  Macht.  Hier  geht  es  um  die  Macht.  Wer 
die  Macht  dazu  hat,  macht  Kriege  oder  verhindert  sie.  Er  allein. 
Die  andern  folgen,  hingerissen,  dem  Plakat,  beugen  sich, 
schwankend,  dem  unheimlich  anziehenden  Schrecken  der 

Gewalt. 


II. 

A la  guerre  comme  a la  guerre : das  Wort  ist  nicht  von  einem 
Deutschen.  Im  Grunde  sind  alle,  aber  auch  alle  Militare  von  den- 
selben  Pnnzipien  durchdrungen,  die  nicht  einmal  sie  geschaffen 
haben,  sondern  die  ihnen  von  ihrer  Waffe  und  deren  auBersten 
Ausniitzung  aufgezwungen  werden.  Versteht  es  sich  nicht  von 
selbst,  dafi,  wer  einmaf  den  OCrieg  wiff,  den  Sieg  mit  alien  Mit- 
teln  zu  ernngen  sucht?  Der  Krieg  hat  langst  aufgehort,  ein 
Turnier  zu  sein ; vielleicht  ist  er  es  noch  bei  irgendeinem  Neger- 
stamm,  der  diesen  Sport  mit  fachmannischer  Gewissenhaftig- 
keit  und  iiberkommener  Artigkeit  pflegt.  Je  zivilisierter,  je  un~ 
knegenscher  die  Volker  aufwachsen,  desto  barbarischere  Formen 
muB  die  ihnen  ganz  ungemafie  Form  des  Massenmordes,  die 
der  heutige,  der  Volkerkrieg  ist,  annehmen.  Dies  gilt  nicht 
fiir  die  und  jene,  es  gilt  fur  ganz  Europa,  und  im  selben  Masse, 
wie  die  und  jene  sich  starker  oder  schwacher  fiihlen  und  nach 
dem  Umfang  der  ihnen  notig  erscheinenden  Anstrengung,  um 


Rene  Schickde  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


zu  siegen,  um  trofz  affem  zu  siegen.  Die  einzigen  ethischen  Kri- 
terien,  die  fur  ein  kriegfiihrendes  Volk  gelten  konnten,  waren  in 
den  Verhaltnissen  vor  dem  Krieg  und  der  geistigen  Verfassung 
der  Volker  bei  Kriegsschlub  zu  suchen. 

Ich  habe  im  Marzheft  des  vorigen  Jahrgangs  einige  der 
besten  Kriegsberichte  aus  den  feindlichen  Landem  nebenein- 
andergestellt : sie  waren  von  einer  erstaunlichen  Ubereinstim- 
mung.  Der  Deutsche  empfand  wie  der  Franzose,  ein  Russe  wie 
ein  Osterreicher.  Den  Zeitungsberichten  folgten  Bucher.  Der 
Verlag  Georg  Muller  in  Miinchen  hat  einen  „Deutschen  Krieg 
in  Feldpostbriefen“  erscheinen  lassen,  die  Libra  irie  Larousse 
in  Paris  ,,Les  Mots  herolques  de  la  guerre*4  gesammelt.  Nicht 
nur,  dab  die  Gedankengange  der  kampfenden  Soldaten  ein- 
ander  sinngemafi  decken,  ich  finde  in  den  Biichem  sogar  die 
gleichen  Anekdoten.  So  habe  ich  in  der  franzosischen  Kriegs- 
literatur  Ausspriiche  von  Soldaten  und  Armeefiihrern  gelesen, 
die  ich  als  Ausspriiche  deutscher  Soldaten  und  Armeefiihrer 
bereits  aus  der  deutschen  Kriegsliteratur  kannte;  Bismarcks 
Worte  von  1 866 : „Die  Kerle  sind  zum  Ktissen44  kehren,  als 
Bekenntnis  eines  franzosischen  Generals,  in  den  „Mots  heroi- 
ques de  la  guerre44  wieder : „Mes  soldats,  je  suis  depuis  le  debut 
4 genoux  devant  eux.44  Die  Methode  im  Kampf  stellt  sich  als 
ebenso  gemeinsam  heraus : „Aber  bald,  wahrend  die  Sonne  auf- 
ging,  bot  sich  uns  ein  Schauspiel  dar,  dessen  Beschreibung 
wirklich  lohnt.  Ungefahr  800  Meter  vor  uns  zeichnete  sich 
eine  Hiigelkette  vom  Himmel  ab.  Auf  deren  Rand  tauchten  zu- 
erst  die  Vorposten  auf,  dann  die  feindlichen  Einheiten,  die  sich, 
kaum,  dab  sie  die  Hohen  erreicht  hatten,  plotzlich  entfalteten. 
Haben  Sie  gesehen,  Herr  Leutnant,  fragt  mich  mein  Sergeant; 
es  ist  seltsam,  sie  manovrieren  wie  wir!  Man  konnte  glauben, 
dab  sie  ihre  Rekrutenschule  bei  unserm  Bataillon  durchgemacht 
hatten.44*  Hunderte  von  deutschen  Feldpostbriefen  haben  be- 
richtet,  dab  die  Bataillone  „wie  im  Manover44  vorgingen,  und 
in  andern  Tagebiichem  franzosischer  Offiziere  begegne  ich 


* Carnet  de  Route  d'un  Offider  d’Alpins,  Librairie  Militaire  Berger- Levrault 
Nancy,  S.  27 — 28. 


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Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 


II 


immerwieder  der  berufsfreudigen  Schilderung  von  dem  mano- 
vermafiigen  Ansatz  einer  Aktion, 

die  dann,  hiiben  wie  driiben,  von  gleicb  entsetzten  Herzen 
erlebt,  mit  gleich  erweiterten  Augen  gesehen,  in  die  furchtbare 
Raserei  des  Kampfes  bis  zum  Handgemenge  iibergeht.  . 

Greueltaten  geschehen,  wenn  man  den  vorliegenden  Zeug- 
nissen  glauben  kann,  hiiben  wie  driiben : „Als  ich  nach  dem 
Platze  kam,  sah  ich,  wie  Zivilpersonen  den  Verwundeten  die 
Kopfe  abschnitten  und  auf  Stangen  befestigten.  Ich  ritt  in 
groBtem  Galopp  zu  meiner  Schwadron  zuriick,  die  sofort  unter 
meiner  Fiihrung  nach  der  betreffenden  Stelle  aufbrach.  Wir 
fanden  die  Zivilpersonen  noch  ,bei  der  Arbeit*  und  nahmen  sie 
fest.“*  Und  in  den  vom  franzosischen  Ministerium  des  Aus- 
wartigen  zusammengestellten  Dokumenten**  enthalt  Num- 
mer  35  die  eigenhandig  geschriebene  Erklarung  eines  deutschen 
Soldaten  vom  57.  Infanterie-Regiment,  der  als  Kriegsgefangener 
im  Fort  Penthievre  in  Quiberon  untergebracht  ist : „Wir  brachen 
in  einem  Hause  ein  in  Metten  da  wurde  aus  einem  Hause 
geschossen,  wir  brachen  in  dem  Hause  ein  und  bekamen  den 
Befehl  das  Haus  zu  untersuchen,  aber  wir  fanden  nichts  in  dem 
Hause  wie  zwei  Frauen  mit  einem  Kind.  Es  wurde  aber  von 
meinen  Kameraden  gesagt  das  die  beiden  Frauen  geschossen 
hatten  und  wir  fanden  auch  einige  Waffen  nahmlich  Revolwer. 
Ich  habe  aber  nicht  gesehen  das  die  Frauen  geschossen  hatten. 
Els  wurde  aber  den  Frauen  gesagt  es  passierte  mchts  da  die 
Frauen  zu  sehr  weinten.  Wir  hoJten  die  Frauen  heraus  und 
brachten  die  Frauen  zum  Major,  da  erhielten  wir  den  Befehl 
die  Frauen  zu  erschieBen.  Der  Major  hieB  Kastendick  und  ge~ 
horte  dem  57.  Infanterie  Regiment.  Als  nun  die  Mutter  tot  war 
befahl  der  Major  das  Kind  zu  erschiessen  well  das  Kind  nicht 
allein  auf  der  Welt  bleiben  sollte  und  das  wie  die  Mutter  er- 
schossen  wurde  hielt  das  Kind  die  Mutter  noch  bei  der  Hand 
so  das  Kind  mit  zuriickgezogen  wurde.  Dem  Kind  wurden  auch 
die  Augen  zugebunden.  Ich  habe  die  Wahrheit  geschrieben,  ich 

* Der  deutsche  Krieg  in  Feldpostbriefen  I.  Verlag  Georg  Muller,  S.  36. 

**  Les  violations  des  Lois  de  la  Guerre  par  L'AUemagne  I,  S.  74. 


1 2 Rene  Schickele  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


habe  selbst  das  mitgemacht  weil  wir  den  Befehl  vom  Major 
Kastendick  und  vom  Reserve  Hauptmann  Diiltigen  bekamen.“ 
N.  S.  „Es  tat  mir  sehr  leit  als  ich  das  sah.  Dabei  standen  mir 
die  Tranen  in  den  Augen.“ 

Der  Dresdener  Staatsanwalt  Wulffen  gab  auf  die  Frage, 
weshalb  die  Kriminalitat  wahrend  des  Krieges  zuriickgegangen 
sei,  in  einer  deutscben  Zeitung  die  Antwort : Die  Kriminellen 
befinden  sich  an  der  Front.  Hier  haben  wir  eine  Folge  der  all- 
gemeinen  Wehrpflicht,  die,  auf  der  andern  Seite,  Gustave  Herve 
in  einem  Offenen  Brief  an  seine  Mutter  bestatigt : 

„Ich  wette,  du  hast  dich  durch  alle  die  Geschichten  von  den 
deutschen  Greueltaten  aufhetzen  lassen,  die  die  Zeitungen  ver- 
breiten.  Ich  kenne  dich : du  hast  dariiber  den  Schlaf  verloren. 
Du  siehst  in  Gedanken  deinen  Sohn,  wie  er  verwundet  am 
Rande  eines  Geholzes  liegt,  wie  er  von  Banditen  mit  derPickel- 
haube  ausgepliindert  wird,  worauf  sie  ihm  den  Rest  geben.  Ich 
will  nicht  bestreiten,  daB  es  hie  und  da  solche  Verwundete 
gegeben  habe,  die  von  Apachen  in  deutscher  Uniform  gemordet 
worden  seien.  Aber  welche  europaische  Armee  hat  denn  nicht 
ihre  Apachen?  Erinnere  dich,  was  unser  Artillerist  nach  jeder 
seiner  Kolonialexpeditionen  uns  erzahlte,  an  die  von  den  Unsem 
begangenen  Greuel,  deren  entriisteter  Zuschauer  er  manchmal 
gewesen  war.  Der  Krieg  ist  nichts  Schones ! Puh ! Ich  weiB  wohl, 
welcher  Ungeheuerlichkeiten  eine  losgelassene  Soldateska  fahig 
ist,  zumal,  wenn  sie  getrunken  und  nicht  gegessen  hat:  ich 
kenne  das  deulsche  Volk  gut  genug,  um  dir  versichern  zu  konnen, 
daB  die  Greueltaten,  die  alle  Zeitungen  fiillen,  von  einer  Hand- 
voll  Apachen  begangen  wurden,  und  daB  die  iiberwaltigende 
Mehrheit  der  deutschen  Offiziere  und  Soldaten  unfahig  waren, 
einen  franzosischen  Verwundeten  anzuriihren,  es  sei  denn,  um 
ihm  zu  helfen.“  * 

Die  Entente  hatte,  in  Belgien,  die  abgehackten  Kinderhande, 
wir,  in  OstpreuBen,  die  abgeschnittenen  Frauenbruste.  Die  eine 

* Gustave  Herv£,  La  patrie  en  danger,  Recueil  in  extenso  des  articles  publics  par  G.  H. 
dans  la  t Guerre  sociaie  • du  ler  juillet  au  lc*r  novembre  1914.  Paris,  Bibliotheque  desouvragea 
documentaires.  S.  115 — 116.  Der  Artikel  erschien  am  24.  August  1914. 


Rene  Schickde  * Der  Mensch  im  Kampj 


13 


Halfte  dieser  Geschichten  besteht  aus  Legenden,  um  nicht  zu 
sagen  Liigen,  deren  Bildung  jedem  Kenner  der  Massenpsychose 
wohlbekannt  ist;  die  andere  aus  Tatsachen,  die  ausdem  kdrper- 
lichenundseelischenZustandder  entfesselten  Bestie  im  Menschen 
hervorgehen,  und  die  das  grauenvollste  Schauspiel  sind,  das 
Menschen  einander  bereiten  konnen. 

Bisher  war  nur  vom  Soldaten  und  Offizier  die  Rede.  Zwei 
Beispiele,  daB  der  gleiche  Geisteszustand  die  Gesamtheit  der 
in  den  Kampf  gerissenen  Menschenmenge  umfaBt  bis  zu  den 
hochsten  Heerfiihrern.  Ich  habe  sie  genommen,  wie  sie  gerade, 
in  Armeslange  erreichbar,  vor  mir  lagen. 

Aus  einem  Tagesbefehl  des  Generals  Franchet  d’Esperey  an 
seine  Armee,  nach  der  Schlacht  bei  Montmirail : 

,, Soldaten,  auf  den  denkwiirdigen  Schlachtfeldern  von  Mont- 
mirail, Vauchamps  und  Champaubert,  die,  vor  hundert  Jahren, 
die  Zeugen  der  Siege  waren,  die  unsere  Vorfahren  iiber  Bluchers 
PreuBen  davontrugen,  hat  unsere  kraftvolle  Offensive  den  Wider  - 
stand  der  Deutschen  gebrochen. . Der  erste  Erfolg  ist  nur  ein 
Vorspiel.  Der  Feind  ist  erschiittert,  aber  noch  nicht  endgiiltig 
geschlagen. . Niemals  bestand  dringendere  Pflicht,  dem  Vater- 
land  alles  zu  opfern.  Ich  griiBe  die  Helden,  die  in  den  letzten 
Kampfen  gefallen  sind,  und  wende  mich  in  Gedanken  an  die  Sie- 
ger der  nachsten  Schlacht.  Vorwarts,  Soldaten,  fur  Frankreich  !“* 

Ansprache  des  deutschen  Kaisers  im  Hauptquartier,  nach  der 
Schlacht  in  Lothringen: 

„Kameraden!  Ich  habe  Sie  hier  versammeln  lassen,  damit  wir 
uns  gemeinsam  des  Sieges  freuen,  den  unsere  tapferen  Kamera- 
den  in  Lothringen  errungen  haben.  Deutsche  Truppen  aller 
Stamme  haben  in  tagelangem  Ringen,  in  opferfreudigem  Mut 
und  unerschiitterlicher  Tapferkeit  den  Feind  zuriickgeschlagen 
unter  Fiihrung  des  bayerischen  Konigssohnes.  Unsere  Truppen 
waren  vertreten  in  alien  Jahrgangen.  Aktive  Soldaten,  Reserve 
und  Landwehr,  sie  alle  zeigten  denselben  Schneid,  dieselbe 
Tapferkeit,  das  gleiche  Gottvertrauen  und  riicksichtsloses  Drauf- 

* Les  mots  hlroiques  dc  la  guerre,  S.  122. 


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Rene  Schickde  * Der  Mensch  im  Kampf 


gehen.  Dafiir  haben  wir  vor  allem  unsem  Dank  zu  richten  an 
Gott  den  Allerhochsten.  Ich  gedenke  in  Ehren  der  Gefallenen, 
welche  ihr  Herzblut  verspritzt  haben,  wie  wir  es  nachmachen 
wollen.  Sie  haben  es  getan  in  unerschiitterlichem  Gott vertrauen . 

Noch  viele  blutige  Kampfe  stehen  uns  bevor.  Wir  wollen  und 
miissen  siegen.  Unseren  tapferen  Kameraden,  die  uns  voran- 
gegangen  sind  zum  Siege,  ein  dreifaches  Hurra  !“* 

Und  noch  ein  anderes  fallt  auf.  Deutsche  wie  Franzosen 
klagen  bei  Beginn  des  Krieges  iiber  die  „Feigheit  der  Feinde**, 
die  sich  „in  jeder  Erdfalte  verkriechen".  Das  war  noch  eine 
Erinnerung  an  den  (Fe[dzug,  Erinnerungen  zumal  an  1870  — 71 , 
denen  bald  die  eintrachtliche  und  moglichst  ausgiebige  Beniit- 
zung  des  Schiitzengrabens  folgte. 


III. 

„DAS  GROSSE  JAHR“ : Dies  ist  der  Katalog  des  Verlags- 

hauses  S.  Fischer  in  Berlin  fiir  1914 — 15.  In  der  Einleitung 
stehen  Satze,  die  ein  Staatsmann  vom  Schlage  Eduard  Davids 
geschrieben  haben  konnte : 

„Ein  Verlag  ist  allerdings  keine  Industrie,  und  man  sagt  ihm 
nicht  ohne  weiteres  etwas  Riihmenswertes  nach,  wenn  man 
findet,  daB  er  sich  schnell  und  geschickt  fiir  den  Krieg  umge- 
schaltet  habe.  Wohl  stellt  der  Krieg,  sofern  er  ein  geistiges 
Ereignis  ist,  sofern  er  zu  einem  geistigen  Ereignis  werden  soil, 
auch  ihm  Aufgaben  mancher  Art;  aber  wenn  er  sie  erfiillt,  ist 
sein  eigenstes  Werk  noch  nicht  getan.  Denn  nicht  nur  soil 
auch  er  den  Forderungen  einer  im  Fordem  unnachsichtigen 
Zeit  gerecht  werden;  — er  hat  die  noch  groBere  Pflicht,  ihm 
anvertrautes  Gut  durch  die  Brandung  eben  dieser  Zeit  hdl 
hindurchzutragen 

Wohingegen  ein  anderer  Passus  von  Moritz  Heimann  verfaBt 
sein  diirfte: 


• Der  deutsche  Krieg  in  Feldpottbriefen  I,  £L  154—155. 


Rene  Schickele  * Der  Mensch  itn  Kampf 


15 


„Sie  (die  Literatur),  die  von  Natur  schon  fur  alles  Schick- 
salhafte  empfindlicher  als  der  biirgerliche  Sinn  ist,  muBte  sich 
obenein  von  heimlichen  und  offentlichen  Feinden  sagen  lassen, 
dafi  die  groBe  Stunde  nicht  ihre  Stunde  sei,  und  sie  erlebte 
buchstablich  das  Gleichnis  des  griechischen  Dicbters: 

Hoch  in  die  Wolken  entfiihrte  die  Nachtigall  plotzlich  der 

Habicht, 

Festinden  grimmigen  Klauen  die  liebliche  Sangerin  haltend. 

Jammerlich  klagte  die  Arme  ihr  Leid.  Doch  herrisch begann  er : 

Torichte,  schreie  nicht  so!  Viel  machtiger  bin  ich  an  Starke. 

Wie  mir  beliebt,  so  schlepp’  ich  dich  fort,  wie  schon  du  auch 

singest. 

Habe  ich  Lust,  so  speise  ich  dich.  Sonst  magst  du  entrinnen! 

Also  zur  Nachtigall  sagte  der  dunkelbefiederte  Habicht. 

Jedoch  der  Habicht  ist  ein  Prahler.  Er  glaubt  wohl,  dafi  er 
die  Sangerin  verspeisen  konne,  doch  er  tut  es  nicht.  So  scharf 
seine  Fange  sind,  unversehens  und  ihm  selbst  zur  Uberraschung, 
ganz  unbegreiflicherweise  muB  er  sie  offnen,  und  das  befreite 
Lied  behalt  seine  Macht  und  seinen  Sieg.“ 

Die  Verhandlungen  in  unseren  Parlamenten  stort  dje  geistigen 
Fiihrer  bei  S.  Fischer  nicht,  und  Herr  Sanger,  der  vor  dem 
Krieg  Bernstein  hochschatzte,  bevor  er  den  alten  Kampfer,  der 
auf  ein  Lebenswerk  zuriickblickt,  als  einen  politischen  Narren 
hinstellte,  Hardens  politischen  Scharfblickriihmte  und  in  David 
und  Scheidemann  staatsmannische  Talente  entdeckte,  Herr 
Sanger,  dessen  Chroniken  vordem  Anglomanie  ausschwitzten, 
stapelte  Argumente  auf,  die  die  Herren  Reventlow  und  Oertel 
mit  einem  hohnischen  Lacheln  wiedererkannten.  Thomas  Mann 
vergniigte  sich  so  lange  und  so  absichtsvoll  mit  Friedrich  dem 
GroBen,  bis  die  groBe  tragische  Figur  zu  einem  Bosewicht  ge- 
worden  war,  dem  der  Literat  mit  Verstandnis  auf  der  Hinter- 
treppe  seiner  schonen  Seele  begegnete,  und  Lucia  Dora  Frost, 
von  der  ich  annehme,  daB  sie  erne  Frau  ist,  entdeckte  und  ent- 
wickelte  in  der  „Preu6ischen  Pragung“  einen  erschreckenden 
Kannibalismus,  liber  den  Nietzsche  sich  krank  gelacht,  und 
den  der  Soldat,  der  preuBische  Soldat  ausgespien  hatte. 


27  Vol.  m/1 


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Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 


Da  steht  im  {Catalog  des  weitern,  zu  Beginn  einer  kleinen 
Betrachtung  von  Moritz  Heimann,  zu  lesen:  „Der  Krieg  von 
1870/71  hat  uns  die  nationale  (soil  vermutlich  heifien:  die 
staatliche)  Einheit  gebracht,  dieser  soil  uns  die  moralische 
(wohl:  die  nationale)  Einheit  bringen.  Wir  haben  erreicht  und 
wollen  es  nicht  mehr  verlieren,  daB  wir  miteinander  reden 
konnen.“ 

Wie  schon ! 

Aber  so  antwortet  mir  nicht,  in  schlechtem  Englisch,  ich 
und  einige  andere  seien  Franzosen,  wenn  wir  deutsch  reden. 

Versuchen  Sie,  bitte,  Moritz  Heimann,  mit  einem  Konserva- 
tiven  zu  reden,  der  ein  Kerl  ist,  dann  werden  Sie  mir  vielleicht 
recht  geben,  dafi  eine  Verstandi  gung  zwischen  uns  leichter 
ware.  Gehen  Sie  doch  mit  Ihren  Freunden  in  unsere  Redak- 
tionen  und  Parlamente,  lassen  Sie  sich  als  unsichtbaren,  um  so 
aufmerksameren  Cast  mitnehmen  in  die  AusschuBsitzung  einer 
Partei  oder  nur  in  die  Halle  des  Reichstags.  Suchen  Sie  zu 
erfahren,  von  moglichst  zuverlassigen  Zeugen,  wie  die  Welt- 
geschichte  gemacht  wird,  und  Sie  werden  die  Nachtigall 
sorgfaltig  in  die  Hand  nehmen,  statt  mit  ihr  das  Experiment 
des  Habichts  anzustellen. 

Wie  die  Weltgeschichte  gemacht  wird?  Lesen  Sie  die 
„Gedanken  und  Erinnerungen“  von  Bismarck  und  verweilen 
Sie  einen  Augenblick  beispielsweise  bei  einer  Szene,  die  den 
Stempel  der  politischen  GroBe  tragt.  Sie  ist  sehr  dramatisch. 
Weshalb  ich  nicht  miide  werde,  Menschen  vor  sie  hinzustellen, 
die  bisher  fur  die  Mechanik  der  Biihne  empfanglicher  waren, 
als  fur  die — meist  groberen  — Kunstgriffe  dessen,  der  Welt- 
politik  macht. 

Der  4.  Oktober  1859. 

Bismarck  ist  Wilhelm  I.,  der  der  Konigin  in  Baden-Baden 
einen  Geburtstagsbesuch  gemacht  hat,  bis  Jiiterbog  entgegen- 
gefahren  und  erwartet  ihn,  im  Dunkeln  auf  einer  umgedrehten 
Schiebkarre  sitzend,  in  dem  noch  unfertigen,  „von  Reisenden 
dritter  Klasse  und  Handwerkern  gefiillten  Bahnhof“.  Bismarck 
hat  zur  Erbauung  der  Budgetkommission  sein  Stahlrad  ge- 


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Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 


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schlagen.  Vor  den  Magen  hat  er  es  den  Herren  im  Bratenrock 
gestoGen  — „was  zwar  nicht  stenographiert,  aber  in  den  Zei- 
tungen  ziemhch  getreu  wiedergegeben  war“  — daG  PreuGen  nicht 
mit  Reden,  Vereinen  und  Majoritatsbeschliissen  geholfen  sei, 
sondern  daG  es  einen  Kampf  kosten  werde,  „der  nur  durch 
Eisen  und  Blut  erledigt  werden  konne“.  Er  will  den  Konig,  der 
von  der  (Snyfanderin  kommt,  nicht  nach  Berlin  hineinlassen, 
ohne  zuvor  die  Hand  auf  ihn  gelegt  zu  haben.  Ein  Blick  in  das 
miide,  verdrossene  Gesicht:  Der  Konig  ist  ,,unter  der  Nach- 
wirkung  des  Verkehrs  mit  seiner  Gemahhn  sichthch  in  ge- 
driickter  Stimmung“.  Kaum  offnet  Bismarck  den  Mund,  da 
fahrt  der  Monarch  ihn  an: 

„Ich  sehe  ganz  genau  voraus,  wie  das  alles  endigen  wird. 
Da  vor  dem  Opernplatz,  unter  meinen  Fenstern,  wird  man 
Ihnen  den  Kopf  abschlagen  und  etwas  spater  mir.“ 

Es  beginnt  der  Dialog!  Bismarck  hatte  erraten,  und  es  ist 
ihm  spater  von  Zeugen  bestatigt  worden,  daG  der  Konig 
wahrend  des  achttagigen  Aufenthalts  in  Baden-Baden  mit  Va- 
nationen  liber  das  Thema  Polignac,  Strafford,  Ludwig  XVI. 
bearbeitet  worden  war..  Also: 

,,Als  er  schwieg,  antwortete  ich  mit  der  kurzen  Phrase:  ,Et 
apres,  Sire?4  — ,Ja,  apres,  dann  sind  wir  tot !‘  erwiderte  der 
Konig.  ,Ja‘,  fuhr  ich  fort,  ,dann  sind  wir  tot,  aber  sterben 
miissen  wir  friiher  oder  spater  doch,  und  konnen  wir  anstandiger 
umkommen?  Ich  selbst  im  Kampfe  fur  dieSache  meines  Komgs 
und  Eure  Majestat,  indem  Sie  Ihre  komghchen  Rechte  von 
Gottes  Gnaden  mit  dem  eignen  Blute  besiegeln,  ob  auf  dem 
Schafott  oder  auf  dem  Schlachtfelde,  andert  mchts  an  dem 
riihmhchen  Einsetzen  von  Leib  und  Leben  fur  die  von  Gottes 
Gnaden  verhehenen  Rechte.  Eure  Majestat  miissen  nicht  an 
Ludwig  XVI.  denken;  der  lebte  und  starb  in  einer  schwach- 
lichen  Gemiitsverfassung  und  macht  kein  gutes  Bild  in  der  Ge- 
schichte.  Karl  I.  dagegen,  wird  er  nicht  immer  eine  vornehme 
histonsche  Erscheinung  bleiben,  wie  er,  nachdem  er  fur  sein 
Recht  das  Schwert  gezogen,  die  Schlacht  verloren  hatte,  un- 
gebeugt  seine  konighche  Gesinnung  mit  seinem  Blute  bekraftigte  ? 


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Rene  Schickele  * Der  Mensch  itn  Kampf 


Eure  Majestat  sind  in  der  Notwendigkeit  zu  fechten,  Sie  konnen 
nicht  kapitulieren , Sie  mils  sen,  und  wenn  es  mit  korperlicher 
Gefahr  ware,  der  Vergewaltigung  entgegentreten.“ 

Je  langer  ich  in  diesem  Sinne  sprach,  desto  mehr  belebte 
sich  der  Konig  und  fiihlte  sich  in  die  Rolle  des  fiir  Konigtum 
und  Vaterland  kampfenden  Offiziers  hinein  . . Er  fiihlte  sich 
bei  dem  Portepee  gefafit  und  in  der  Lage  eines  Offiziers,  der 
die  Aufgabe  hat,  einen  bestimmten  Posten  auf  Leben  und  Tod 
zu  behaupten,  gleichviel,  ob  er  darauf  umkommt  oder  nicht. 
Damit  war  er  auf  einen  seinem  ganzen  Gedankengange  ver- 
trauten  Weg  gestellt  und  fand  in  wenigen  die  Sicherheit  wieder, 
um  die  er  in  Baden  gebracht  worden  war,  und  selbst  seine 
Heiterkeit . . Er  war  der  Sorge  vor  der  „Manoverkritik“,  welche 
von  der  offentlichen  Meinung,  der  Geschichte  und  der  Gemahlin 
an  seinem  politischen  Manover  geiibt  werden  konnte,  iiberhoben. 
Er  fiihlte  sich  ganz  in  der  Aufgabe  des  ersten  Offiziers  der 
preuBischen  Monarchic,  fiir  den  der  Untergang  im  Dienste  ein 
ehrenvoller  AbschluB  der  ihm  gestellten  Aufgabe  ist.  Der  Be- 
weis  der  Richtigkeit  meiner  Beurteilung  ergab  sich  daraus,  daB 
der  Konig,  den  ich  in  Jiiterbog  matt,  niedergeschlagen  und 
entmutigt  gefunden  hatte,  schon  vor  der  Ankunft  in  Berlin  in 
eine  heitre,  man  kann  sagen,  frohliche  und  kampflustige  Stim- 
mung  geriet,  die  sich  den  empfangenden  Ministern  und  Be- 
amten  gegeniiber  auf  das  unzweideutigste  erkennbar  machte.“ 
Bismarck  spricht  dann,  sozusagen  in  einer  Regiebemerkung, 
sehr  sicher  von  „ihren“,  des  Konigs  und  seinen  Verhaltnissen 
und  „ihrer  Situation**,  er  sagt,  daB  die  immerhin  „emst“  ge- 
wesen  seien.  Es  waren  noch  keine  zwei  Monate  verflossen,  seit- 
dem  der  protestantische  Mephistopheles  seinem  Faust,  der 
immerhin  der  „Kartatschenprinz“  gewesen  war,  das  groBe 
Biindnis  angetragen  hatte.  Im  idyllisch  gelegenen  Babelsberg 
hatte  er  den  Konig  iiberzeugt  — vielmehr  war  es  ihm  „gelungen“, 
wie  er  sagt,  den  Konig  zu  uberzeugen  — daB  es  sich  fiir  ihn 
nicht  um  Konservativ  oder  Liberal  in  dieser  oder  jener  Schat- 
tierung,  sondern  um  Konigliches  Regiment  oder  Parlaments- 
herrschaft  handle,  und  daB  diese  unbedingt  und  auch  durch 


Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 


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eine  Periodeder  Diktatur  abzuwenden  sei.  „Ich  sagte:  ,In  dieser 
Lage  werde  ich,  selbst  wenn  Eure  Majestat  mir  Dinge  befehlen 
sollten,  die  ich  nicht  fur  richtig  hielte,  Ihnen  zwar  diese  meine 
Meinung  offen  entwickeln,  aber  wenn  Sie  auf  der  Ihrigen 
schliefilich  beharren,  lieber  mit  dem  Konige  untergehn.als  Eure 
Majestat  im  Kampf e mit  der  Parlamentsherrschaft  im  Stiche 
lassen ‘ 

Bismarck  hat  spater  immer  wieder  betont,  dab  diese  Auf- 
fassung  von  seinem  Beruf  keine  prinzipielle  gewesen  sei,  wie  sie 
etwa  jeder  Minister  jedem  Herrscher  gegeniiber  betatigen  miisse. 
Vielmehr  solle  man  lhren  Ursprung  und  ihr  Ende  in  seinem 
ganz  personlichen  Gefiihl  fur  Wilhelm  I.  suchen.*‘ 

Er  befand  sich  im  Konflikt  mit  dem  Enkel. 

Sprechen  wir  doch  einmal  nicht  von  der  jiidischen  Frage, 
die  mit  noch  viel  mehr  Ideologien  belastet  ist  oder,  wenn  Sie 
wollen,  um  soviel  verklarter  leuchtet  in  der  Finsternis  des  poli- 
tischen  Himmels,  als  die  elsassische  Frage,  der  ich  auch  mit 
Fleisch  und  Blut  verwachsen  bin  . . Sprechen  wir  von  deutscher 
Politik,  von  der  Politik  des  deutschen  Reiches,  das  aus  24  Bundes- 
staaten  besteht,  und  das  noch  lange  nicht  in  die  Briiche  ginge, 
selbst  wenn,  wie  ein  Esel  in  England  phantasierte,  die  indischen 
Reiter  ihre  Lanzenspitzen  Unter  den  Linden  leuchten  lieBen. 
Von  politischen  Wiinschen,  die  auf  dem  Wege  der  Verwirk- 
lichung  sind  oder  nicht  sind  — wobei  wir,  in  diesem  oder  jenem 
Sinne,  mithelfen  konnten  — von  politischen  Tatsachen,  die  wir 
nicht  so  oder  so  auslegen  wollen,  sondem,  wie  sie  sich  im  Ver- 
haltnis  zwischen  Parteien  und  Regierung  und  in  der  Regierung 
selbst  und  im  Haushaltsplan  ausdriicken.  Wir  haben  es  mit  dem 
Habicht  zu  tun,  nicht  mit  der  Lerche,  mit  Machtkampfen, 
nicht  mit  rhythmischen  Allegorien.  (Wie viel  Tausende  von  Jung- 
lingen  und  Mannern  liegen,  getotet,  auf  den  Schlachtfeldern 
Europas !) 

Im  Vorwort  Ihres  Katalogs  deuten  Sie  an,  was  Sie  wollen. 
Sie  wollen,  grob  gesagt,  Ihre  innerpolitischen  Gegner  iiber- 

* Zum  erstenmal  angefuhrt  im  Septemberheft  1913  der  WeiBen  Blatter,  ein  Jahr  vor 
dem  Krieg. 


20 


Rene  Schickde  * Der  Mensch  im  Kampj 


listen,  etwa  wie  die  Mehrheit  der  sozialdemokratischen  Reichs- 
tagsfraktion.  Der  Versuch  wirdunsalleteuerzu  stehen  kommen. 
Erstens  ist,  seit  langem,  vorgesorgt,  daB  kommandierende  Gene- 
rale  bei  uns  schongeistigen  oder  dalilahaften  politischen  Ver- 
suchungen  einigermaBen  gewachsen  smd.  Zweitens  sehe  ich  in 
den  Reihen  der  „groBen  deutschen  Linken“  keinen  einzigen 
Odysseus,  der  fahig  ware,  sein  Spiel  auch  nur  bis  zum  Ende 
durchzufiihren.  Die,  von  denen  man  eine  Weile  annahm,  daB 
sie  der  ungeheuren  intellektuellen  Anstrengung,  die  ein  solches 
jahrelang  dauerndes  Manover  verlangte,  gewachsen  waren,  sind 
ja  langst  von  den  Gedanken  besessen,  die  sie  nur  fur  die  ge- 
botene  Zeit  annehmen  wollten ; werden  von  ihnen  beherrscht, 
lassen  sich  durch  sie  lenken  und  sind  seit  geraumer  Zeit  an  lhre 
Gegner  ausgeliefert.  „Right  or  wrong,  my  country !“ : ein  Stand- 
punkt,  auf  dem  sich  mit  Ehre  leben  und  sterben  laBt.  Seine 
freiwillige  Anerkennung  durch  alle,  die  einander  in  der  inneren 
Politik  ihres  Landes  bekampfen,  macht  die  (Ration  aus.  Er  be- 
deutet  mit  nichten,  daB  sich,  innerhalb  der  nationalen  Gemein- 
schaft,  eine  Gruppe  der  andern  ausliefere.  Wer,  der  sehen  kann, 
sieht  denn  nun  aber  nicht,  daB  inzwischen  die  entscheidenden, 
auf  Generationen  hinaus  bestimmenden  mnerpohtischenKampfe 
— nicht  etwa  erst  vorbereitet,  sondern  bereits  mit  aller  Wucht 
ausgefochten  werden  ? 

Es  bleibt  nur  eine  Hoffnung : die  Diktatur  jener,  die  aus  dem 
Kriege  heimkehren.  Die  Diktatur  iiber alle diese  Intellektuellen: 
selbsternannte  Siegelbewahrer  und  Kommentatoren  von  Ge- 
fiihlen,  die  andere  haben,  von  Taten,  die  andere  tun,  Sanger 
und  falsche  Gleichgewichtskiinstler  auf  dem  hohen  Seil  in  alien 
Lander  n. 

Zitieren  Sie  nicht  selbst  in  IhremBeitrag  aus  dem  Brief  eines 
Freundes:  „Die  knappe  Uniform  reiBt  einen  zusammen,  man 
zieht  sich  den  Dienst  iiber  die  Ohren  und  weiB  sonst  nichts. 
Es  wird  schon  gehen.“  Vielleicht.  Die  knappe  Form  des  haus- 
lichen  Lebens  wird  sie  zusammenreifien,  die  Not  wird  ihnen 
die  Haut  von  den  Ohren  ziehn,  und  sie  werden  wieder  einiges 
wissen,  was  sie  vergessen  hatten. 


Rene  Schickelc  * Der  Mensch  im  Kampf 


21 


Die  ,,Intellektuellen“?  Ein  Schimpfwort  fur  Leute,  denen 
das  Sitzfell  juckt  bei  den  Anstrengungen,  die  andern  auferlegt 
werden.  Kein  Wunder,  da  doch  selbst  ein  Anatole  France, 
der  immer  den  ..Triumph  der  Vernunft“  predigte,  in  einem 
Band  ,,Sur  la  voie  glorieuse“  Artikelchen  sammelte,  deren  Mittel- 
maBigkeit  auch  einen  chauvinistisch  gewordenen  Greis  be- 
schamen  sollte,  und  Remy  de  Gourmont  kurz  vor  seinem  Tod 
durch  die  selbe  Prozedur  endlich  den  Freispruch  von  dem 
furchtbaren  Vorwurf  des  „Asthetentums“  erreichte.  Gerhart 
Hauptmann,  der  in  der  Begeisterung  der  ersten  Kriegsmonate 
schlechtere  Verse  schrieb,  als  Korner  sie  iiber  sich  gebracht 
hatte,  und  der  Bergson,  den  er  vermuthch  me  lesen  mochte, 
einen  „Modephilosophen“  nannte,  hat  es  nicht  besser  gemacht, 
Richard  Dehmel  sich  nicht  griindhcher  vor  dem  wildgewordenen 
Burger  rehabilitiert. 

Die  ..geistigen  Fiihrer  der  Nation44  haben  einander  nichts 
vorzuwerfen. 

Dagegen  mochte  es  einen  wundern,  wenn  nicht  die  Nationen 
iiber  kurz  oder  lang  die  Entbehrlichkeit  solcher  geistigen  Fiihrer 
einsahen. 

Es  ist  wahr,  solang  die  Schuster  nur  Schuster  sind,  sollten 
sie  besser  bei  lhrem  Leisten  bleiben.  Barres,  Kipling,  D’An- 
nunzio — ja,  und  welche  literarische  GroBe  hatten  denn  wir 
bei  den  Kanonen?  Rudolf  Herzog?  Lauff?  Bloem?  — die 
brauchten  sich  wenigstens  nicht  erst  einen  Platz  im  kriegeri- 
schen  Aufruf  ergattern,  sie  besaBen  ihn  vor  der  Morgenrote; 
vermuthch,  well  sie  vordem  iiber  Dinge  nachgedacht  hatten, 
die  deutsche  Dichter  seit  60  Jahren  von  lhrem  Kothurn  herab 
fiir  Stankereien  pohtischer  Parteien  anzusehn  behebten.  Die 
alten  Griechen  schienen  ihnen  naher,  als  ihr  Abgeordneter,  wes- 
halb  ihr  Abgeordneter  von  ihnen  ebenso  entfernt  blieb,  wie  sie 
von  den  alten  Gnechen  waren.  Ich  glaube,  man  nannte  das 
Ideahsmus. 

Ideahsmus?  Von  einem  geistig  und  oft  auch  materiell  hoch- 
stehenden  Menschen  verbrecherische  Gleichgiiltigkeit  gegen  die 
leibhchen  und  g'  istiger.  Bediirfnisse  seiner  Volksgenossen  — 


22  Rene  Schickele  * Der  Mensch  im  Kampf 

wenn  es  nicht  einfach  Dummheit  war!  Leser,  denen  hierbei 
etwa  Goethe  einfiele,  verweise  ich,  der  Kiirze  halber,  auf  die 
„Kampagne  in  Frankreich"  und,  um  eine  geistige  Verfassung 
grofier  Deutscher  in  jener  Zeit  zu  beriihren,  auf  Kant  und 
Beethoven.  Dieser  zerrifi  die  Eroica,  die  er  Bonaparte  gewidmet 
hatte,  jener,  dem  die  Jakobiner  aus  sehr  politischen  Griinden 
ans  Herz  gewachsen  waren,  dachte  liber  Napoleon,  mit  eben- 
soviel  politischer  Klugheit,  geringer,  als  Goethe,  dem  der  Welt- 
kaiser  in  Weimar  mit  geistigem  Augenaufschlag  begegnete,  als 
feinsinniger  Kenner,  nach  hundert  derben  Schlachten,  von 
„Werthers  Leiden". . 

Ihr  predigt  dem  Deutschen  seine  Geschichte,  die  Struktur 
und  die  Tendenz  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  — und 

habt  recht.  Nur,  daB  diese  weit  iiber  1870,  1866,  1864 

zuriickreicht,  und  daB  die  Wurzeln  deutschen  Volkstums  — und 
gar  fur  einen  geistigen  Menschen  — anderswo  und,  Gott  sei 
Dank,  ein  wenig  tiefer  liegen.  Hinter  dem  englischen  Impe- 
rialismus  nachzuhinken,  im  Augenblick,  wo  dieser  Imperialis- 
mus  im  Begriff  war,  sich  aufzulosen,  um  die  Katastrophe  des 
Heidis  zu  verhindern,  darin  sehe  ich  keinen  Fortschritt.  DaB 
wir  keine  auch  nur  annahernde  Beriihrung  mit  dem  religiosen 
Panslavismus  haben,  wifit  Ihr  so  gut  wie  ich.  Nachdem  die 
Deutschen  eine  Nation  geworden  sind,  brauchen  sie  nur  in  die 
neuen  Schlauche,  die  mit  Gewalt  bestellt  wurden  — eine  histo- 
rische  Tatsache,  die  wir  nicht  leugnen  konnen  — den  alten 
deutschen  Wein  fiillen,  wozu  es  — auch  dies  konnte  sich  eines 
Tages  als  eine  historische  Tatsache  erweisen  — ganz  und  gar 
nicht  der  selben  Gewalt  bediirfte,  sondern  nur  einer  Vorberei- 
tung  der  Geister.  Und  daB  Ihr,  die  Ihr  nicht  mit  Gewehr  und 
Handgranate  kampft,  den  standhaften  Zinnsoldaten  spielt,  statt 
die  einzigen  Wege  zu  bereiten,  die  zu  gehn  Euch  bestimmt  sein 
konnte,  darin  siindigt  Ihr,  seid  Pfaffen  und  Rabbiner  und  ins- 
gesamt  die  Kammerdiener  hochst  tiichtiger  Herrn,  die  Euch, 
wenn  Ihr  Eure  Schuldigkeit  getan  habt,  ebenso  iibersehn  werden, 
wie  ihre  Frauen  ihre  Zofen  iibersehn,  oder  aber,  wenn  Ihr  un- 
wahrscheinlicherweise  aufmucken  und  Euch  an  empfindhchen 


Rene  Schickele  ♦ Der  Mensch  im  Kampf 


23 


Stellen  des  offentlichen  Lebens  mausig  machen  solltet,  den 
verdienten  FuBtritt  versetzen  werden,  dessen  Kraft  in  der  langen 
Ubung,  in  seiner  ..Tradition"  besteht,  die  Ihr,  Ihr,  Ihr  hym- 
nisch  besungen  habt, 

statt  die  Geschehnisse  mit  E u r e r Tradition,  Eurem  Geist, 
Eurem  Zulcunftswillen  zu  durchsetzen  und,  was  jenen  ihre 
gewaltige  Stellung  geschaffen  hat,  die  andem  Cure  Geschichte 
mitmachen  zu  lassen. 

Bismarck  ist  nicht  davor  zuriickgeschreckt,  das  Schlagwort 
vom  „Reichsfeind“  in  den  politischen  Kampf  zu  werfen.  Er  war 
bereit,  wie  Ihr  wiBt,  wenn  Ihr  seine  Bucher  und  die  Literatur 
iiber  ihn  kennt,  im  Notfall  auch  vor  einigem  andem  nicht  zu- 
riickzuschrecken,  um  sein  Ziel,  das  seine  zu  erreichen.  . 

Kampft  fiir  das  Deutschtum,  fur  Euer  Deutschtum  und  nicht 
fiir  Eure  Niederlage,  im  Land  und  in  der  Welt.  Denn,  wenn 
Ihr  schon  die  Welt  nach  Eurem  Bild  gestalten  wollt  — GroBen- 
wahn  einer  blutigen  Stunde ! — so  miiBt  Ihr  mit  Euch  beginnen. 


Carl  Slernheim  * Tabula  Rasa 


Car f Sternheim : 

TABULA  RASA 

EIN  SCHAUSPIEL  IN  DRE  I AUFZOGEN 

PERSONEN: 

Wilhelm  Stan  der 

Isolde  Stander,  seine  Nichte  und  Miindel 

Heinrich  Flocke 
Arthur  Flocke,  sein  Sohn 
Nettel  Flocke,  seine  Tochter 

Werner  Sturm 
Paul  Schippel 
Bertha,  Magd  bei  Stander 

Der  Arzt 

Die  Szene  ist  dauemd  die  biirgerhch  behagliche  Wohnstube  Standers. 

ERSTER  AUFZUG. 

ERSTER  AUFTRITT. 

Bertha:  Nach  fiinf  Jahren  Dienst  hatte  man  Aufbesserung 
verdient. 

Stander:  Ich  bin  Arbeiter  wie  du,  simpler  Glasblaser,  und 
habe  nicht  das  Recht,  von  anderen  Dienste  zu  fordern.  Du 
dienst  mcht  bei  mir  — unser  Verhaltnis  ist  em  — 

Bertha:  Von  dem  wollte  ich  nicht  sprechen. 

Stander:  Beruht  auf  einem  Gegenseitigkeitsvertrag,  nach 
dem  gegen  Unterhalt  und  Ernahrung  du  die  Fiihrung  meines 
Haushalts  freiwilhg  iibernahmst. 

Bertha:  Mit  einem  Monatslohn. 

Stander:  Einem  Geschenk,  das  ich  jeden  Monatsersten 


26  Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


wiederhole.  Hast  du  dir  einfallen  lassen,  es  vor  den  Nachbarn 
hinzustellen,  als  seist  du  Magd  im  Haus? 

Bertha:  Ich  spreche  mit  niemandem. 

S t a n d e r : Was  sollte  die  Welt  denken ! Ein  Arbeiter,  der  fiir 
sich  arbeiten  lafit,  ein  Proletarier,  der  Sldaven  halt! 

Bertha:  Wenn  ich  aber  um  halb  sechs  Uhr  friih  aufstehen 
mufi! 

Stander:  Ubereinkunft ! 

Bertha:  Schweine  flitter n,  den  Abtritt  raumen! 

Stander:  Gesellschaftsvertrag ! 

Bertha:  Bis  in  die  Nacht  mich  schinde,  um  im  Bett  noch 
keine  Ruh’  zu  haben. 

Stander:  Das  geht  dich  als  Weib  an.  1st  aufierhalb  der 
Abmachung. 

Bertha:  Sie  wollen  mir  den  Lohn  nicht  erhohen? 

Stander:  Du  hast  zum  Donnerwetter  keinen ! Freiwilliger 
Vertrag. 

Bertha:  Ich  will  einen  neuen  mit  Ihnen  machen.  Fiinf 
Mark  monatlich  mehr.  Freiwillig. 

Stander:  Du  freiwillig.  Aber  ich  nicht.  Das  ist  doch  der 
Unterschied  zwischen  Dienstbarkeit  und  freiem  Verhaltnis : Der 
Sklave  lafit  sich  die  Sklaverei  bis  auf  den  Pfennig  vom  Herm 
entgelten.  Du  aber  widmest  dem  Genossen  deine  Kraft  auf 
Gegenseitigkeit  und  wahrst  Menschenwiirde. 

Bertha:  Wenn  ich  aber  wie  ein  Tier  fiir  ihn  schuften  mufi. 

Stander:  Aus  freiem  Antrieb.  Was  du  an  Entschadigung 
von  mir  erhaltst,  wiegt  deine  Arbeit  nicht  auf.  Folglich  kann  der 
Lohn  nicht  Veranlassung  sein,  aber  — deine  menschliche 
Tugend.  Du  bist  ganz  einfach  tugendhaft,  Bertha;  mufit  es 
selbst  gar  nicht  wissen.  Es  geniigt,  dir  strahlt  jetzt  das  Auge; 
du  fiihlst,  da  ichs  dir  zugestehe,  innen  grofies  Gliick.  Ja,  Dicke, 
menschlich  wohlbereitet  und  damit  basta! 

Bertha:  War’  nur  der  Schweinestall  nicht! 

Stander:  An  einem  Morgen  — du  fiihlst  dich  stark,  hast  gut 
geschlafen  und  merkst,  was  du  im  Grunde  fiir  ein  unabhangiges 
Geschopf  bist,  raumst  du  ihn  einmal  griindlich  und  von  alien 


YO 


Carl  Siernheim  * Tabula  Rasa 


27 


Seiten  auf.  Er  braucht’s.  Das  ist  der  Segen  eines  solchen  Ver- 
tragsverhaltnisses : da  man  zu  nichts  gezwungen  ist,  treibt  einen 
das  Bediirfnis,  sich  selbst  zu  iibertreffen,  zu  immer  grofierer 
Arbeitsleistung.  Und  du  bist  ein  Muster  dieser  Regel. 

Bertha:  Fiinf  Mark. 

Stander:  Fragst  du  dich,  was  du  glinstigenfalls  mit  deinem 
Leben  vermochtest,  heiBt  die  Antwort:  was  du  auch  wirklich 
leistest.  Diese  GewiBheit  ist  hochster  Lohn  des  Daseins,  den 
ich  nicht  iiberbieten  kann. 

Bertha:  Dann  soli  ich  in  meinem  alten  Kleid  das  Fest  mit- 
machen  ? 

Stander:  Dahin  hats  Zeit,  und  wer  weiB,  was  noch  ge- 
schieht. 

Bertha:  Aber  der  Tag  kommt  bestimmt,  an  dem  die 
Fabriken  hundert  Jahre  stehen. 

St  ander:  Sicher.  Doch,  ob  ein  Mensch  Lust  haben  wird, 
ihn  zu  feiern?  Wart’s  ab. 

Bertha:  Dann  ist’s  zu  spat. 

Stander:  Dein  prachtvolles  BewuBtsein! 

Bertha:  Schon. 

Stander:  Das  leuchtende  Auge! 

Bertha:  Nur  — 

Stander:  Wie  hiibsch  du  bist,  Madel,  vor  lauter  gutem  Ge- 
wissen  und  Gliick. 

Bertha:  Ach  Herr  Stander! 

Stander  (tatschelt  sie):  Siehst  du. 

Bertha  (an  ihn  gelehnt):  Sie  haben  am  Ende  recht. 

St  ander:  Und  nun  noch  ein  Stiindchen  fest  an  die  Arbeit. 
Und  stehst  du  von  morgen  ab  um  fiinf  Uhr  auf,  wirds  nicht 
ungem  gesehen. 

Bertha  (exit). 

Stander:  Ihre  standige  Unzufriedenheit  halt  sie  lebendig, 
ist  ein  wirkliches  Gliick  fur  mich. 

* 


y 


28 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


ZWEITER  AUFTRITT. 

Isolde  (tritt  auf). 

Stander:  Ich  sterbe  vor  Hunger,  und  du  trodelst  drauBen. 
Spukt  auch  bei  dir  das  Jubilaum? 

Isolde:  Wlr  Madchen  iiben  groBartige  Bilder  undTanze ein. 
Stander:  Gut.  Spater.  Schliefi  ab. 

Isolde:  Die  Tiiren  sind  zu. 

Stander:  Den  Vorhang  herunter! 

Isolde  (laBt  den  Vorhang  herab). 

Stander:  Was  bringst  du? 

Isolde:  Fischmayonnaise,  ein  Rehkotelett  in  Gelee. 
Stander:  Der  Sherry? 

Isolde:  1st  da.  (Sie  stellt  aus  einem  Korbchen  alles  auf  den 

Tisch.) 

Stander  (beginnt  gierig  zu  essen). 

Isolde:  Noch  ein  Bund  Radieschen,  die  friihesten  auf  dem 

Markt. 

Stander:  Nicht  hervorragend  die  Mayonnaise;  das  01  an 
der  Grenze  der  Bedenklichkeit. 

Isolde  (hat  eine  Spieluhr  in  Gang  gesetzt). 

Stander:  Herrgott,  das  Wichtigste  vergiBt  du  ja! 

Isolde:  1st  auch  besorgt.  (Sie  gibt  ihm  einen  verschlossenen Brief- 
umschlag.) 

Stander  (steckt  das  Papier  zu  sich):  Ihr  Madchen  mit  Tanzen 
und  lebendem  Bilderkram  seid  auch  die  einzigen,  die  hier  Lust 
spiiren,  irgend  ein  Fest  zu  feiern.  Der  Rest,  wir  dreitausend 
Arbeiter  von  Rodau  mit  lastiiberhauften  Weibern  undAnhang, 
sind  angeschmiedete  Sklaven,  die  nicht  die  mindeste  Neigung 
haben. 

Isolde:  Angeschmiedet  ? 

Stander:  Vom  Hahnenschrei  bis  zur  Dunkelheit  an  die 
Maschinen.  Nie  eigene  Person.  Glasstaub  in  den  Lungen. 
Schwindsucht,  schlieBlich  Faulen  auf  dem  Mist.  Betaubten  uns 
nicht  Alkohol  und  Nikotin,  wir  rissen  die  stahlernen  Ungetiime 
vom  Platz,  schmissen  sie  zum  Fenster  hinaus  und  befreiten  uns 
mit  einem  Ruck  zu  bescheidenem  LebensgenuB. 


Carl  Sternhcim  * Tabula  Rasa 


29 


Isolde  (hat  ihm  den  Fnsiermantel  umgelegt  und  beginnt,  sein  Haar 
mit  schaumendem  Wasser  zu  waschen). 

Stander:  Je  alter  ich  werde,  um  so  wemger  begreife  ich 
unsere  Lammesgeduld.  Just  so  em  Jubilaum  gabe  uns  Prole- 
tariern  die  beste  Gelegenheit,  mit  den  Besitzern  der  Werke 
griindlich  abzurechnen.  Etwa:  die  Fabrik  steht  hundert  Jahre, 
Dutzende  von  Millionen  sind  verdient.  Der  Arbeiter  hat  sie 
geschafft.  Was  wurde  an  lhn,  was  an  die  Eigentumer  bezahlt? 
Wo  ist  da  um  Gotteswillen  Gerechtigkeit?  Gibt  es  unter  uns 
mcht  solche,  die  knapp  vierzehn  Mark  die  Woche  verdienen? 
Es  ist  eine  Schweinerei.  Und  dazu  ein  Jubilaum  mit  Fackeln 
und  bengalischer  Beleuchtung!  Das  Volk  hat  Milch  in  den 
Knochen,  la6t  sich  durch  Almosen  emlullen,  sonst  miifite  es, 
statt  Feste  der  Fabnkanten  zu  feiern,  endlich  mit  gepanzerter 
Faust  auftrumpfen. 

Isolde:  Glaubst  du  wirklich? 

Stander:  Ich  spreche  stets  nur  Uberzeugungen  aus,  das  weifit 
du  aus  Erfahrung.  Habe  ich  dir  verschwiegen,  nach  deinem  ein- 
undzwanzigsten  Jahr  gab  ich  dir  nur  darum  noch  Unterhalt,  weil 
lm  Zusammenleben  deine  hiibsche  Erscheinung  mir  Spafi  macht 
und  die  mit  mir  angestellten  Aufmerksamkeiten  mich  ergotzen. 

Isolde  (n  immt  ihm  den  Fnsiermantel  ab  und  IriiBt  lhn). 

Stander:  Da  du  unter  keinen  Umstanden  selbst  nennens- 
wert  arbeiten  willst,  sagte  ich,  mufit  du  die  Talente  wetzen,  den 
Mann,  den  du  eingefangen,  zu  unermiidlicher  Leistung  fur  dich 
zu  spornen.  Das  geschieht,  indem  du  seine  Phantasie  ent- 
flammst.  Die  Basis  dafiir  schufen  deine  Eltern,  als  sie  dir  auf 
meinen  Rat  den  iiberspannten  Namen  Isolde  gaben.  Was  du 
aber  bis  heute  aus  eigener  Kraft  hinzugetan,  reicht  zu  grofien 
Hoffnungen  bei  weitem  nicht  aus. 

Isolde:  Was  soli  ich  denn  noch  — ? 

Stander:  Methodischer  Klavier.  . 

Isolde:  Arthur  ist  ohne  Gehor,  unmusikalisch. 

Stander:  Eben  darum  bieten  Beethoven  und  Konsorten 
hundert  Schlupfwinkel  fur  deinesgleichen.  Mehr  franzosisch, 
das  er  mcht  versteht,  und  Schiller. 


30  Carl  Sternheim  * T abula  Rasa 


Isolde:  Schiller  ist  veraltet. 

S t a n d e r : Erprobt  ist  er.  Was  kann  Vernunft  gegen  das  eine 
Wort:  Ehret  die  Frauen,  sie  flechten  und  weben?  So  etwas 
wirkt  im  Streitfall  wie  bombensicheres  Bollwerk.  Da  du  dich 
unbedingt  von  deinem  Mann  masten  willst  — sieh  deinen 

Bauch  — 

Isolde:  Ich  habe  kein  Korsett  an.  (Sie  raumt  den  Tisch  ob 

und  bringt  das  Zimmer  wieder  in  Ordnung.) 

Stander:  Du  bist  eine  Fresserin  und  nichts  wird  ihn  im 
Wachstum  hindern. 

Isolde:  Und  meine  ausgeschnittene  Blouse  fiirs  Fest,  die 
schon  neue  Riischen  hat  und  geplattet  ist? 

St  an  der:  Kein  Wort  mehr  davon.  Wollen  sehen,  ob  Ge- 
rechtigkeit  zulafit,  wahrend  das  Elend  und  die  Unfreiheit  der 
arbeitenden  Klasse  gerade  hier  zum  Himmel  stinkt,  daB  kapi- 
talistische  Orgien  gefeiert  werden.  Erst  habe  ich  der  Gesell- 
schaft  mal  einen  Kniippel  in  die  Rader  geworfen.  Gleich  wird 
Wirkung  zu  spiiren  sein. 

Isolde:  Und  ich  sollte  die  Abundantia  und  den  UberfluB 
darstellen,  weil  ich  korperlich  am  entwickeltsten  bin.  Die  Arme 
wohltuend  ausgebreitet  und  das  Bein  gehoben.  (Sie  macht  die 
Stellung.) 

Stander:  Die  Stellung  kannst  du  im  Leben  schon  noch  ver- 
werten.  Im  iibrigen  — morgen  mehr  und  gute  Nacht! 

Isolde  (exit). 

Stander  (erbricht  den  Briefumschlag  und  liest):  ,,Wir  teilen 

Ihnen  mit,  daB  wir  Sie  fur  getrennte  Dividendenscheine  mit 
Mark  elfhundertfiinfzig  Valuta  dato  erkannt  haben ; ferner,  daB 
wir  fur  Sie  gekaufte  Mark  sechstausend  vereinigte  Rodauer 
Glasfabriken  in  Ihr  Depot  iibernehmen.  (Er  offnet  in  der  Mauer 

einen  Kasten  und  schliefit  das  Papier  hinein.)  (Man  hort  einen  scbrillen 
Pfiff  und  noch  einen.)  Was  fiir  ein  Indianerpfiff  ? (Er  sieht  zum 
Fenster  hinaus.)  Sturm ! Werner  Sturm.  Mit  solchem  Firlefanz 
fallt  er  mehr  auf,  als  kommt  er  geradewegs  zur  Haupttiir  hinein. 
Hoffentlich  schlaft  Flocke  schon.  (Exit  links  und  tritt  gleich  darauf 

mit  Sturm  wieder  auf.) 

* 


Carl  Sternheim  • T abula  Rasa 


31 


DRITTER  AUFTRITT. 

Sturm:  Geradenwegs  vom  Bahnhof  komme  ich  um  nahere 
Auskunft  und  Belehrung. 

Stander:  Du  weifit  aus  meinen  Briefen  die  Hauptsache. 

Sturm:  Ich  will  das  Ding  im  Handumdrehen  fingern,  dafi 
es  schillert.  Eine  unfehlbare  Methode  habe  ich,  dosige  Kopfe 
zu  rebellieren.  In  zwei  Tagen  raucht  hier  aufier  den  Kaminen 

alles. 

Stander:  Die  Kerls  sind  nicht  dumm.  Du  mufit  syste- 
matisch  vorgehen. 

Sturm:  Wie  werde  ich  denn  nicht?  Erst  System  auf  den 
Tisch  gehauen,  dafi  die  Bagage  hiipft:  Herrschaft  des  Prole- 
tariats, Klassenkampf  bis  zur  Vemichtung  der  Gegner.  Dafiir 
lafi  mich  sorgen. 

Stander:  Langsam  ihnen  eins  nach  dem  andern  beibringen. 

Sturm:  Und  vor  allem  gleich  ein  paar  zuverlassige  Schlag- 
worte  jedem  in  die  Fresse.  Da  habe  ich  eine  ganze  Speisekarte 
Zehn  Jahre  arbeite  ich  nach  bewahrtem  Rezept.  Hast  du 
Schnaps  ? 

Stander  (zieht  aus  der  Hose  die  gewohnliche  Branntweinflasche). 

Sturm:  Nichts  Besseres? 

Stander  (schtittelt  den  Kopf) : Knappe  Zeiten. 

Sturm:  Auf  den  Tisch  springe  ich,  und  dann  gehts  mit 
Alarm.  (Erschreit:)  Genossen!  Aktionarbataillone  und  lhre  Pro- 
fitrate  wiirgen  euch  schliefilich  den  Magen  aus  dem  Hals. 

Stander:  Hier  handelt  es  sich  eigentlich  um  lokale  Fragen. 

Sturm:  Alles  wurzelt  im  grofien  politischen,  allgemeinen 
Ideal. 

Stander:  Das  sitzt  uns  tief  in  den  Knochen ; unnotig,  davon 
zu  sprechen. 

Sturm:  Im  Gegenteil  behaupte  ich:  lokale  Fragen,  die  sich 
stets  um  okonomische  Vorteile  drehen,  um  Bequemlichkeiten 
einzelner  Gruppen  vor  der  grofien  Masse,  bedrohen  geradezu 
die  ewige  Sichtbarkeit  unserer  politischen  Forderungen. 

Stander:  Es  liegen  besondere  Verhaltnisse  vor. 


28  Vol.  m/1 


0*0 


32 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Sturm:  Nichts  Besonderes ! Als  deine  ersten  Zeilen  mit  dem 
Notschrei  kamen,  du  fxirchtest,  hier  stiirbe  durch  reichliche  und 
fortwahrende  Konzessionen  die  Unzufriedenheit  des  Prole- 
taries aus,  da  sah  ich,  du  hiebst  in  die  gleiche  Kerbe  mit  andern 
Besorgten,  aber  bewuBter  und  fester.  Da  wufite  ich,  Rodau  ist 
der  Platz,  endlich  im  Angesicht  ganz  Deutschlands  die  Genossen 
in  flammender  Proklamation  vor  ihrer  Neigung  zur  Verweich- 
lichung  durch  Fiirsorge  aller  Art  zu  warnen. 

St  an  der:  Aber  — 

Sturm:  Schreiende  Schande  ist  der  Versuch  der  Kapitalisten, 
durch  sogenannte  Wohlfahrtseinrichtungen  die  Massen  zu 
kodern,  Verbrechen  aber  die  Neigung  unserer  Fiihrer,  solche 
Dinge  zu  fordern  und  ihrerseits  zu  iiberfordem. 

Stander:  Immerhin  — 

Sturm:  Wie  kann  in  einem  Unternehmen,  in  dem  dem  Ar- 
beiter  Konsum,  VorschuB-  und  Kreditvereine,  Speise-,  Bade- 
und  Erholungsanstalten,  Sauglings-,  Waisen-,  Blinden-  und 
Kriippelfiirsorge,  neben  Kranken-,  Unfall-,  Angestellten-  und 
Invaliditatsversicherung  den  irdischen  Riicken  decken,  ihm  noch 
dringendes  Bediirfnis  an  einer  Umgestaltung  der  Lage  seiner 
Klasse  beseelen? 

Stander:  Aber  — 

Sturm:  MuB  nicht  die  Sucht,  sich  nach  alien  Himmelsrich- 
tungen  durch  Renten  zu  sichern,  das  Kontroll-  und  Verant- 
wortlichkeitsgefiihl,  seinen  theoretischen  Sinn  schwachen,  da  sie 
alle  Sinne  auf  das  praktische  Leben  lenkt?  Die  Partei  ist  dir  tief 
verpflichtet,  weil  du  durch  deinen  Hinweis  Gelegenheit  gabst, 
hier  ein  Exempel  zu  statuieren. 

Stander:  Neben  diesen  richtigen  Voraussetzungen  wollte 
ich  — 

Sturm:  Du  nennst  mir  die  maBgebenden  Genossen.  Ge- 
wissermafien  die,  die  auf  groBere  Arbeitergruppen  EinfluB 
haben.  An  sie  piirsche  ich  mich  zuerst  heran. 

Stander:  Grund  meiner  Aufforderung  an  dich,  zu  kommen, 
war,  rund  heraus,  eine  Arbeiterbibliothek. 

Sturm:  Bibliothek? 


Carl  Sternheim  * T abula  Rasa 


33 


Stander:  Die  Glasblaser  von  Rodau  fordern  aus  Griinden 
der  Menschlichkeit,  um  endlich  zu  wissen,  von  wannen,  wohin 
im  Leben  eine  grofiziigige  Volksbiicherei,  die  trotz  des  vor  der 
Tiir  stehenden  Hundertjahrfestes  die  Leitung  der  Werke  nicht 
bewilligen  will. 

Sturm:  Aber  da  baben  wir  die  Korruption. 

Stander:  Stellst  du  eine  Biicherei  mit  Badeanstalten  und 
Genossenschaftsschlachtereien  auf  eine  Stufe 

Sturm:  Unbedingt  tue  icb  das. 

Stander:  Fur  mich  gibt’s  da  wesentliche  Unterschiede.  Auf 
ein  Bad  kann  ich  verzichten,  die  Fortbildung  des  Proletariats 
durch  Bucher  aber  ist  auch  zur  Erkenntnis  des  w i r k 1 i c h 
gottgewollten  Systems  Notwendigkeit. 

Sturm:  Ihre  ungebrochene,  zielbewufite  Sehnsucht  Iesen 
sich  die  Leute  auseinander,  schniiffeln  sie  an  tausend  Dingen, 
die  sie  mchts  angehen  oder  die  sie  nicht  verstehen.  Bucher  sind 
eine  Briicke  mehr  zur  Oberschicht,  denn  mit  Ausnahme  von 
Parteischriften  sind  sie  samtlich  von  Bourgeois  geschrieben. 

Stander:  Shakespeare,  Goethe,  Schiller? 

Sturm:  Schiller  erst  recht!  Dagibts  nichts  als  Herrschaften, 
die  aus  Mangel  an  wirklicher  Arbeit  und  Sorge  urns  taghche 
Brot  Zeit  haben,  ihre  nachsten  Verwandten  zu  morden.  Das  ist 
smnlos  fur  unsere  Welt.  Grofibiirgerliche  Vorstellungsreihen  in 
Spiritus. 

Stander:  Sittengesetze? 

Sturm:  Das  Sittengesetz  unserer  Zeit  wird  geboren  aus  dem 
Kampf  der  Massen  urns  Dasein. 

Stander:  Du  scheinst  radikal  — 

Sturm:  Ich  bin’s.  Und  legt  ihr  die  Ruten  noch  geschickter, 
den  Leim  der  Bourgeoisie  wittere  ich  in  alien  Schlupfwinkeln. 
Wir  wollen  den  Erdball,  alle  Gesetze  der  Spiefibiirger  aus  den 
Angeln  drehen,  wir  brauchen  ihre  Moral,  ihre  Fiirsorge  und  vor 
allem  ihre  Bucher  nicht.  Eine  neue  Welt  mit  nagelneuen  Be- 
griffen  wollen  wir.  Die  Zeit  liegt  in  Wehen.  Das  merkt  ein 
Stockblinder.  Nach  innen  und  au!3en  wankt  unser  Boden  poli- 
tisch.  Wer  ein  Mann  ist,  wagt  heut  schon  lrgendwo  sem  Leben. 


34 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Der  Proletarier  das  seine  an  einem  reinen  ideellen  Sozialismus. 
Keine  Bibliothek,  aber  ein  spieBbiirgersaurefreies  Rodau  schaffe 
ich  dir  eins,  zwei,  drei.  VerlaB  dich  auf  Sturm,  alter  Freund. 

St  an  der:  Sehr  schon  alles  in  allem.  Nur  vielleicht  ein 
wenig  gemafiigter. 

Sturm:  Gemafiigt?  Da  hattest  du  einen  andern  suchen 
miissen.  Lauheit  ist  gerade  jetzt  Todsiinde.  Ich  halte  es  unver- 
briichlich  mit  Befreiung  durch  politische  Enteignung.  Punktum. 

Stander:  Na  gut,  dann  schon. 

Sturm:  In  diesem  Sinn  von  morgen  ab  mit  Dampf. 

Stander:  Na  schon. 

Sturm:  Weil  du  miide  bist,  jetzt  nicht  mehr  das  notige  Feuer 
aufbringst.  Einverstanden  ? 

Stander:  Gut. 

Sturm  (ernst):  Konfiskation ! Revolte! 

Stander:  Na  schon. 

Sturm:  Gasthaus  zum  Hahn,  so  hieB  das  Ding  am  Bahnhof 
wohl?  Da  wohne  ich  also.  Und  mit  Hochdruck  morgen. 

Stander:  Schon,  schon. 

Sturm  (mit  Handedruck  exit). 

Stander:  Ein  theoretischer,  torichter  Mensch.  Was  so  ein 
Bursche,  tieferer  Zusammenhange  unkundig,  ohne  im  Wesent- 
lichen  zu  niitzen,  im  Einzelnen  fiir  Unheil  anrichten  konnte! 
(Er  setzt  sich  und  schreibt.)  „An  die  Unionbank.  Ich  bjtte  Sie, 
fiir  mich  Mark  achttausend  nominal  vereinigte  Rodauer  Glas- 
fabriken  zum  Kurs  bis  190  Prozent  zu  verkaufen.“  Ein  kon- 
fuses,  konspiratorisches  Scheusal!  Und  so  etwas  lauft  frei 
herum . 

* 

VIERTER  AUFTRITT, 

Heinrich  Flocke  (tritt  auf). 

Stander:  Flocke,  jetzt  noch?  Was  gibts? 

Flocke:  Mit  dem  Elf-Uhrzug  kommt  Arthur.  Telegramm. 

Stander:  So  plotzlich? 

Flocke:  Wenn  nur  nichts  Ftirchterliches  passiert  ist. 


Carl  Stcrnhcim  ♦ Tabula  Rasa 


35 


St  ander:  Was  kann  einem  ausgewachsenen  Journalisten 
Schreckliches  zustoBen? 

Flocke:  Ich  zittere  immer,  kommt  der  Junge.  Sein  Er- 
scheinen  hatte  noch  nie  ruhige  Griinde. 

Stander:  Ruhe  ist  jetzt  fiir  keinen  zu  hoffen.  Am  wenigsten 
fiir  dich.  Unter  unseren  FiiBen  schwellt  ein  Vulkan. 

Flocke:  Nein! 

Stander:  Ich  stehe  nicht  an,  dir  zu  erklaren : unsere  Existenz 
gilt  mir  fiir  aufs  aufierste  gefahrdet. 

Flocke:  Stander! 

Stander:  Wobei  ich  mit  nichts  als  einem  Miindel  besser 
gestellt  bin  als  du  mit  sechs  unmtindigen  Kindem  zu  dem 
Zeitungsschreiber. 

Flocke  (sich  den  Angst  schweiB  trocknend):  Um  Gotteswillen  — 

erklare  doch! 

Stander:  Dafi  du  nicht  selbst  das  Ungliick  kommen  sahst ! 
Aber  stumpf  wie  die  Sau  lebst  du  am  Trog.  Das  Jubilaum 
ganz  einfach!  — Im  Gleichgang  der  Tage,  mit  Kontrolle  des 
Einkaufs,  der  Produktion,  Auszahlung  der  Gehalter  — dem 
standigen  Geschaft,  ist  vom  Generaldirektor  bis  zum  Lehr- 
jungen  jeder  froh,  erfiillt  er  sein  tagliches  Pensum.  Keine  Ver- 
anlassung  zu  Extratouren. 

Flocke:  Natiirlich  — 

Stander:  Da  aber  naht  das  Fest,  das  aufiergewohnliche.  Das 
hebt  ruckhaft  fiir  Augenblicke  alles  aus  dem  gewohnten  Geleis. 
Nach  riickwarts  und  vorwarts  wird  geschaut,  vigiliert,  recher- 
chiert,  kontrekontrolliert.  Uberblicke,  Tabellen  und  Statistiken 
werden  im  Schweifi  des  Angesichtes  fiir  die  staunende  Mensch- 
heit  gefertigt,  sich  selbst  und  anderen  zu  imponieren.  Da  kommt 
mit  einem  alles  unter  die  Lupe.  Verstehst  du  endlich? 

Flocke:  Ich  beginne. 

Stander:  Da  stofit  das  forschende  Auge  auf  Besonderheiten 
des  Betriebs,  hakt  plotzlich  der  schiirfende  Sinn  in  einen  er- 
staunlichen  Posten  ein:  zwei  alte  Glasblaser  f 

Flocke:  Allmachtiger ! 

Stander:  Flocke  und  Stander. 


36 


Carl  Siernheim  ♦ Tabula  Rasa 


FI  ocke:  Barmherzigkeit ! 

Stander:  Thronend  iiber  dreitausend  Proletariern  mit  acht- 
hundert  bis  zweitausend  Mark  Jahresgehalt  — angestellt  der 
eine  — Flocke  mit  fiinftausendsechsbundert,  Stander  mit  sechs- 
tausendvierhundert  Mark  jahrlich.  Sage  und  schreibe. 
Flocke:  Aber  doch  K u n s t blaser  beide. 

Stander:  DaB  ich  nicht  lache!  Was  hat  zum  Donnerwetter 
Kunst  in  unseren  Betrieben  zu  suchen?  Das  sind  ja  Fossilien, 
Mammute  die  beiden.  Storen  unser  glattes  Massengeschaft. 
Liegen  uns  im  Weg,  wuchern  als  parasitare  Geschwiire  an 
unser em  gesunden  Leib.  SchmeiBt  sie,  pfeffert  sie,  hangt  die 
Blutegel ! 

Flocke  (wird  ohnmiichtig). 

Stander:  Flocke!  Er  hat  wirklich  schlapp  gemacht.  (Mit 

kaltem  Wasser  bringt  er  Flocke  wieder  zu  sich.)  Besser,  alter  Knabe  ? 
Jedenfalls  hast  du  inzwischen  begriffen. 

Flocke:  Stander ! (Er  jammert.) 

Stander:  Flenne  nicht ! Hab  ich  recht  ? 

Flocke:  Unbedingt.  Meilenweit  werfen  sie  uns  hinaus, 
stofien  mit  Fiifien.  Wir  sind  verloren.  (Weint.) 

Stander:  Erstens  waren  war  nicht  verloren.  Fur  uns  hat  die 
Konkurrenz  immer  ein  Platzchen. 

Flocke:  Nicht  zu  gleichen  Bedingungen. 

Stander:  Auch  zu  solchen  Bedingungen  vielleicht.  Dasnur 
fiir  den  Notfall.  Zuerst  aber  gilt  es,  sich  zur  Wehr  zu  setzen. 

Flocke:  Zwei  vereinzelte  alte  Blaser!  Rettungslos  sind  wir 
verloren ! 

Stander:  Nein!  Was  war  zu  tun? 

Flocke:  Ja  was? 

Stander:  Die  Moglichkeit  mtiBte  man  ihnen  beschneiden, 
Nachforschungen,  Spezialstudien  machen  zu  konnen.  Mit  Un- 
vorhergesehenem  iiber  die  taglicheArbeit  hinaus  sie  beschaftigen. 

Flocke:  Wie? 

Stander:  Man  warf  ihnen  einen  Kniippel  zwischen  die 

Beine. 

Flocke:  Du  folterst  mich. 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


37 


Stander:  Man  zeigte  ein  wenig  Talent. 

Flo  eke:  Aber  wie? 

Stander:  In  die  beiderseitig  ungetriibte  Zufriedenheit  fahrt 
plotzlich  die  stiirmische  Forderung  der  Arbeiter. 

Flocke:  Die  Bibliothek!  (Er  Idatscht  in  die  Hande.) 

St  ander:  Und  nicht  mit  lumpigen  fiinfzig-  oder  hundert- 
tausend  Mark.  Ein  Monumentalbau  mit  bedeutender  Biicherei, 
mit  Fonds,  Bibliothekaren  und  Angestellten  wird  verlangt. 
Voranscblag  rund  eine  Million.  Festgeschenk  der  Gesellschaft 
an  die  Arbeiter. 

Flocke:  Du hattest zuerst den Gedanken.  Ich weiB es genau. 

Stander:  Meinem  Kopf  ist  der  Plan  entsprungen.  Dann 
gab  es  einen  bangen  Augenblick  lang  die  Befiirchtung,  der 
Aufsichtsrat  bewilligt  die  Forderung  der  Angestellten. 

Flocke:  Er  lebnte  sie  gottseidank  ab. 

Stander:  Nicht  der  Kostenhohe  wegen.  Aber  seine  Ge- 
schenke  an  uns  Iafit  er  sich  nicht  vorschreiben. 

Flocke:  Ja,  ja.  (Er  kichert.) 

Stander:  Ich  aber  mache  den  Genossen  klar:  Geschenke 
mogen  wir  iiberhaupt  nicht.  Bei  solcher  Gelegenheit,  dem 
Generaliiberblick  iiber  unsere  Tiichtigkeit  hatten  wir  das 
Recht,  grofi  und  bedeutend  zu  fordern. 

Flocke:  Bravo! 

Stander:  Die  Bewegung  hin  und  wieder  nahm,  wie  voraus- 
gesehen,  taglich  an  Umfang  zu,  und  heute  beschaftigt  die  Leiter 
der  Werke  mit  Konferenzen,  gemischten  Kommissionen  und 
Beratungen  so  gut  wie  ausschliefilich  die  Entscheidung  der 
Frage. 

Flocke:  Ausgezeichnet ! (Er  schiittelt  Stander  die  Hande.) 

Stander:  Langsam;  die  Gefahr  ist  nicht  voriiber.  Immer 
wieder  gibt  es  Augenblicke,  in  denen  beide  Parteien  auf  dem 
Punkt  stehen,  im  Hinblick  auf  das  deutlich  gemeinsame  In- 
teresse  zur  Einigung  zu  kommen.  Besonders  m den  letzten 
Tagen  war  die  Gefahr  grofi. 

Flocke:  Wirklich. 

Stander:  Geschickt  arbeitet  Direktor  Schippel  mit  senti- 


38 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


mentalen  Regungen,  die  auch  den  aufsaBigsten  Arbeiter  bei 
dem  Gedanken  an  hundert  Jahr  tiichtiger  Arbeit  bewegt,  auf 
einen  Vergleich  hin. 

Flo  eke  (seufzt). 

St  an  der:  Gestem  wars  einmal  fast  so  weit,  daB  man  sich 
hiiben  und  driiben  geriihrt  in  die  Arme  sank.  Da  habe  ich  nun, 
weil  meine  eigenen  Bewegungen  gebunden  sind,  es  sebeinen 
mufi,  als  wiinsche  ich  auf  der  Basis  unserer  erfiillten  Wiinsche 
schnellen  Frieden,  hab’  ich  mich  um  Hilfe  nach  Berlin  ge- 
wandt,  mir  einen  entschlossenen 

Flocke  (kichemd):  Friedensstorer. 

St  an  der:  Energischen  Agitator  verschrieben,  der  vor 
einer  Stunde  angekommen  ist. 


FI 


ocke: 


Brillant ! 


Stander:  Noch  immer  nicht  in  Ordnung.  Dieser  Freund 
und  Kupferstecher  geht  weit  iiber  das  von  ihm  Gewollte 
hinaus  ,*  die  Gesellschaft  iiber  die  kritische  Zeit  hin,  ein  wenig 
zu  verwirren.  Er  ist  radikal,  will  aufs  Ganze. 

Flocke:  Auf  welches  Ganze? 

Stander:  Revolution! 


FI 


ocke: 


Allgiitiger ! 


Stander:  Droht  mit  Umsturz  und  Enteignung.  Flocke 
aus  deinem  sauer  Ersparten  besitzt  du  seit  heute  durch  Kauf. 


(Er  vibergibt  ihm  einen  Brief.) 

Flocke:  SchweiBgroschen. 

Stander:  Aus  dreifiigjahriger  harter  Arbeit  mit  deinenFausten . 

FI  ocke:  Fiir  meine  sechs  Wiirmer  im  Fall  der  Not. 

Stander:  Viertausend  Mark  Rodauer  Glasaktien  zu  190 
Prozent.  Durch  das  Auftreten  dieses  Burschen  ist  dein  Not- 
pfennig  in  starken  Teilen  gefahrdet. 

Flocke:  Wie  konntest  du  solchen  Halunken,  Rinaldo 
Rinaldini ? 

Stander:  Meine  zwingende  Gedankenfolge  legte  ich  klar. 

Flocke:  Du  flattest  dich  vergewissern  miissen.  Jetzt  ist 
meine  arme  Brut  vielleicht  des  letzten  beraubt.  Besser  war  dir 
der  Gedanke  an  die  Bibliothek  nie  gekommen. 


Carl  Stcmheim  * Tabula  Rasa  39 


Stander:  Die  Schniiffelei,  Generalrevision ! 

Flo  eke:  Wahrhaftig! 

Stander:  F iinftausendsechshundert ! Sechstausendvier- 
hundert ! 

Flocke:  Heiland! 

Stander:  Kommt  doch  mal  her!  Seht  den  Posten:  Zwei 
alte  Kunstglasblaser. 

Flocke  (achzt) : Blutgesch  wiire ! 

Stander:  Wir  wollen  ihnen  etwas  blasen! 

Flocke:  Meine  sechs  Wiirmer  bei  Wasser  und  Brot. 
Stander:  Es  darf  nicht  geschehen.  Wir  miissen  — 
Flocke:  Was? 

Stander:  Zuerst  miifite  — wie? 

Flocke:  Aber  was? 

Stander:  Er  muB  — 

Flocke:  Aber  wer,  wann,  wo? 

Stander:  Sturm  muB  — sofort  — 

Flocke  (fast  an  ihm  niedergleitend) : Hilf  Wilhelm! 

* 

FONFTER  auftritt. 

ArthurFlocke  (tritt  auf) : Da  seid  ihr . Als  ich  oben  niemand 
fand  — 

Flocke  (auf  ihn  zu):  Was  ist  geschehen? 

Arthur : Nichts  Besonderes.  Urlaub. 

Flocke:  Du  verschweigst  mir  nichts? 

Arthur:  Weder,  Vater,  werde  ich  von  der  Polizei,  noch  vom 
Gerichtsvollzieher  gesucht,  habe  keinen  Eisenbahnunfall  hinter 
mir,  eine  ansteckende  Krankheit  nicht  zu  verbergen. 

Flocke:  Es  geht  dir  gut? 

Arthur:  Ausgezeichnet ! 

Flocke:  Aber? 

Arthur:  Ohne  Aber.  (Zu  Stander:)  Guten  Abend,  Onkel 
Wilhelm.  Was  macht  Isolde?  Ist  es  zu  spat,  sie  zu  sehen? 

St  ander:  Morgen. 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


40 

Arthur:  Und  ihr? 

Stander:  Ziemlich. 

Arthur:  Besonderes? 

Flocke:  Leider. 

Arthur:  Euer  soziales  Gewissen? 

Flocke:  Na! 

Arthur:  Erzahlt.  Ich  brenne. 

Stander:  Kennst  du  Sturm? 

Arthur:  Werner  Sturm? 

Flocke:  Wer  ist  Sturm? 

Stander:  Werner  Sturm. 

Arthur.  Aber  ja.  Was  ist  mit  ihm? 

Stander:  Hier  ist  er. 

Arthur:  Zu  welchem  Zweck? 

Stander.  Ich  rief  ihn. 

Flocke:  Leider. 

Arthur:  Was  geht  vor? 

Stander:  Vor  geht  das  Jubilaum  oder  erst  Vorbereitungen 

zum  Hundertjahrsfest  unserer  Fabriken. 

Arthur:  Richtig! 

Stander:  Ferner:  die  Genossen  haben  ein  grofiziigiges 
Leseunternehmen  fur  diesen  Tag  von  den  Gesellschaften 
gefordert.  Aufwand  rund  eine  Million  Mark. 

Arthur:  Achtung! 

Stander:  Die  Direktion  hat  den  Antrag  abgelehnt. 
Arthur:  Hort,  hort! 

Flocke:  Jawohl. 

Stander:  Doch  wir  bestehen  inzwischen  auf  unserer  For  - 
deru.ig. 

Arthur:  Und  Sturm? 

Flocke:  Ist  eben  — 

Stander:  Sollte  sorgen,  daB  die  Genossen,  jedenfalls  vor 
den  Festtagen  nicht,  faulen  Frieden  schliefien. 

Arthur:  Aber  er  wird  euch  ein  fur  allemal  den  Platz  in 
Grund  und  Boden  verhetzen,  smnlosen  Kampf  aufs  Messer  an- 
streben.  Er  ruht  nicht,  bis  die  Existenz  der  Werke  in  Fragesteht. 


Carl  Sternhcxm  ♦ Tabula  Rasa 


41 


St  ander:  Ich  kannte  ihn  vor  emem  Dutzend  Jahre; 
wufite  mchts  von  seiner  Entwicklung. 

Arthur:  Er  hat  keine.  Steht  auf  dem  Standpunkt  von 
1793.  Terroristischer  Aufwiegler. 

St  ander:  Sprach  schlieBlich  von  Konfiskation  des  Eigen- 
tums.  Revolution. 

Arthur:  Da  habt  ihr’s. 

St  ander:  Und  nannte  das  einen  idealen  Soziahsmus. 

FI  ocke:  Heiland  im  Himmel!  (Zu  Arthur):  Stimmt  das? 

St  ander:  Ich  war  von  seinen  Anwiirfen  iiberrascht. 

FI  ocke:  So  ist  doch  um  Gottes  wiilen  der  Sozialismus 


nicht 


wegnehmen,  totschlagen  ? 


Arthur:  Du  bist  selbst  Sozialist.  Frag  dein  Herz. 

FI  ocke:  Em  durchaus  friedhebender  Mensch  bin  ich. 

Arthur:  Du  und  Onkel  Wilhelm  Sozialisten. 

FI  ocke:  Aber  man  macht  sich  dabei  wenig  Gedanken. 

Stan  der:  Man  macht  sich  Gedanken,  doch  sind  die  An- 
sichten  im  standigen  FluB.  Man  kann,  was  da  eigentlich  ge- 
wollt  wird,  nicht  klipp  und  klar  sagen. 

FI  ocke:  Aber  gewifi  nicht  rauben  und  morden! 

S t a n d e r : Du,  der  an  der  Quelle  sitzt,  mufit  formuheren 
konnen. 

Arthur:  Warum  hast  du  statt  Sturms  nicht  mich  gerufen? 

Stander:  Fur  unsere  Zwecke  schienst  du  ein  wenig  zu 
sanfter  Natur. 

Arthur:  Aber  hellen  Verstandes.  Sturm,  heftig  und  dumm, 
leidet  an  Uberschatzung  der  schopferischen  Kraft  revolutionarer 

Gewalt. 

Stander:  Und  was  willst  du  und  demesgleichen? 

Arthur:  Eroberung  der  politischen  Herrschaft  durch  das 
als  Partei  orgamsierte  Proletariat. 

F 1 o c k e : Doch  Eroberung ! 

Arthur:  Aber  nicht  auf  gewaltsamem,  sondern  dem  fried- 
lichen  Weg  der  Entwicklung.  An  die  Stelle  des  „bevorrechte- 
ten‘‘  tntt  der  gleichberechtigte  Burger.  Die  Sozialdemokratie 
lost  die  bishenge  Gesellschaft  nicht  auf  und  proletansiert  lhre 


42 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


Mitglieder,  sondern  hebt  den  Arbeiter  aus  der  Stellung  des 
Proletariers  in  die  des  Burgers  und  verallgemeinert  Burgertum. 

F 1 o c k e : Wahrhaftig  ? 

Stand er:  Aber  das  ist  ganz  neu! 

Arthur:  Das  ist  auch  nicht  neu. 

Flocke:  Ausgezeichnet  ist  es.  Da  kann  man  sicb  als 
Sozialdemokrat  ja  ordentlich  sehen  lassen.  Sturm  aber  scheint 
ein  ausgemachter  Betriiger,  der  Unwissende  mit  Vorspiege- 
lungen  vom  Weg  der  Tugend  lockt. 

Stan  der:  Ein  Dummkopf. 

Arthur:  Er  predigt  einfach  die  Lehre  im  Urzustand. 

Stan  der:  Aber  weiB  von  ihrer  — quasi  — Entwicklung? 

Arthur:  Leugnet  sie. 

Flocke:  Um  im  Triiben  zu  fischen.  Stehlen  ist  freilich 
leichter  als  sich  hinaufentwickeln. 

Arthur:  Hier  muB  ihm  das  Handwerk  gelegt  werden. 

Flocke:  Er  soil  uns  den  Frieden  nicht  storen. 

Arthur:  Er  darf  die  Propaganda  gar  nicht  beginnen.  Wann 
kam  er? 

Stander:  Vor  einer  Stunde. 

Arthur:  Dann  fand  er  keine  Gelegenheit  — 

Stander:  Hat  auBer  mir  kaum  noch  jemand  gesprochen. 
(Zu  Arthur:)  Stell  ihn! 

Flocke:  Heut  noch! 

Stander:  Augenblicklich. 

Arthur:  Es  ware  das  beste. 

FI  ocke:  Erbleichen  wird  er  bei  deinem  Anblick. 

Arthur:  Wissen  jedenfalls:  neben  uns  gibt  es  fur  ihn  keinen 
Wirkungskreis.  Wo  wohnt  er? 

Stander:  Im  Hahn.  Laufst  du,  triffst  du  ihn  noch  wach. 

Flocke:  Lauf,  lauf! 

Arthur  (exit). 

* 


Carl  Sitmheim  * Tabula  Rasa 


SECHSTER  AUFTRITT. 

St  an  der:  Das  ist  wirklich  nicht  iibel.  Wie  donnerte  er 
gegen  den  Bourgeois.  Erhabene  Weltdichter  hat  er  beschimpft, 
und  nun  steilt  sich  heraus 

Flocke:  Man  miifite  mit  solchen  Subjekten  kurzerhand 
tabla  rabla  machen. 

Stander:  In  der  Sozialdemokratie  ist  nicht  die  Rede  von 
Ach  und  Krach,  kein  Grund  zur  Aufregung. 

Flocke:  Hochst  friedlich  spielt  die  Geschichte  sich  ab. 
Arthur  ist  doch  ein  Hauptkerl. 

Stander:  Ausgleich  durch  Entwicldung.  Gleichberech- 
tigte  statt  bevorrechteter  Burger.  Das  ist  ailes.  (Er  zerreifit  den 

Brief  an  die  Bank.) 

Flocke:  Wie  es  mit  den  iibrigen  Dingen  des  Lebens  auch 
ist.  Erst  Hund  und  Katze  zum  Sprung  auf  Tod  und  Leben 
gegeneinander.  SchlieBlich,  da  man  mitsamt  auskommen  mufi, 
gibt’s  Mittel  und  Weg.  Der  eine  laBt  hier,  der  andere  dort 
nach,  man  befiihlt  die  Angelegenheit  von  alien  Seiten  und 
einigt  sich.  Frieden  will  der  Mensch  am  letzten  Ende. 

Stander  (nach  einer  Pause):  Aber  — haben  wir  vollkommene 


Ruhe 


und  wir  hatten  sie  bis  vor  kurzem 


Flocke:  Hier  kriimmte  keiner  einer  Fliege  ein  Haar. 

Stander:  Aber  dann 

Flocke:  Was? 

Stander:  Flocke! 

Flocke:  Was  gibt’s  wieder? 

Stander:  Was  es  immer,  vor  fiinf  Mmuten,  einer  halben 
Stunde  gab.  Den  reinen,  durch  nichts  gestorten  Frieden 
wollen  wir  auch  nicht.  Der  ist’s  ja  gerade,  der  uns  in  der 
Existenz  bedroht.  Sie  sollen  oben  in  der  Leitung  nicht  iiber 
Biichern  sitzen  diirfen 

Flocke:  Sechstausendvierhundert,  fiinftausendsechshun- 
dert  meinst  du? 

Stander:  Und  Arthur  will  mehr:  Nicht  voriibergehenden 
Ausgleich  — endgiltig  durchgreifende  Verstandigung  und  Zu- 


Carl  Slernheim  ♦ Tabula  Rasa 


44 

friedenheit.  Das  heiBt  aber,  sich  selbst  ans  Messer  liefern. 
Gewinnt  er  EinfluB  auf  die  Genossen,  wird  der  mit  alien 
Wassern  gewaschene  Schippel  im  Taumel  der  Festesvorfreuden 
ein  geradezu  inniges  Band  durch  ihn  um  Arbeitgeber  und 
Arbeiter  schlingen.  Ziigeln  hatte  man  Sturm,  ihn  beaufsichtigen 
miissen.  Aber  nicht  ohne  weiteres  ihn  ausschlieBen. 

Flocke:  Ich  hole  Arthur  zuriick. 

Stander:  Sich  besprechen,  die  Grundlinien  des  Vorgehens 
genau  festlegen,  muBte  man  unbedingt  vor  jeder  Tat. 

Flocke:  Ich  laufe. 

Stander:  Sonst  wird  unter  Umstanden  dein  Sohn  und  sein 
allgemein-biirgerlicher  Taumel,  schafft  man  nicht  eine  be- 
deutende  Gegenbewegung,  uns  gefahrlicher  als  der  gute  Sturm. 

Flocke:  Ich  hole  ihn. 

St  ander:  Hab’  ich  denn  nicht  recht? 

Flocke:  Absolut.  Ich  fliege. 

Stander:  Fass  ihn! 

Flocke  (exit). 

Stander:  Da  hatt’  ich  ums  Haar  die  schonste  Dummheit 
gemacht.  Flocke,  der  Sanftmiitige,  hat  sich  in  seinem  Blond- 
kopf  von  Sohn  sublimiert.  Schalmeien  und  Psalmen  konnen 
wir  hier  im  Augenblick  so  wenig  gebrauchen  wie  eine  Revolte ; 
aber  ganz  so  gutmiitig,  schlummerrollenhaft  kann  auch  der 
Soziahsmus  in  Wirklichkeit  nicht  sein.  Denn  hatte  Arthur 
recht,  ware  so  der  Wind  in  der  Partei,  dann  ist  mein  Planchen 
schlecht.  Was  kiimmerte  den  Kapitalisten  unsere  Bibliothek, 
was  braucht  er,  uns  um  den  Bart  zu  gehen,  springt  selbsttatig 
des  Proletariers  geheime  Sehnsucht  ihm  entgegen? 

Wie  auch  Sturm  gefahrlich  wiirde,  liefie  man  ihn  frank  und 
frei  tun.  Das  war  ein  tolles  Tempo,  als  er  vomKatheter  schrie. 
Andere  Flamme  als  beim  lahmen  Flockchen:  Diktatur  des 
Proletariats,  dafi  die  Bagage  hiipft!  HeiBa,  das  war  Rasse. 
Immerhin  echtes  Lebensgefiihl.  Kommt  er  mit  dem,  ohne 
daB  man’s  gewahr  wird,  im  richtigen  Moment  an  die  Schwefel- 
bande,  ginge  freilich  in  Sekunden  die  Bescherung  in  die 
Luft.  „In  zwei  Tagen  raucht  auBer  den  Kaminen  alles. 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


45 


Aber  wie  will  man  trotz  Arthurs  eigentlich  hinter  seine  Schliche? 
Wie  hat  man  vom  Aufstehen  bis  zum  Hinlegen  ihn  immer  an 
der  Kette?  Ein  Pfiff  geniigt  doch  da  ins  Pulverfafi:  ,,Aktio- 
narbataillone  wiirgen  Euch  das  Eingeweide  bis  auf  die  Stiefel.“ 
Am  Ende  hat  er  auf  dem  Heimweg,  im  Wirtshaus  noch 
jemand  erwischt  ? Aber  warum  nicht  ? Es  ist  kaum  elf.  Einen? 
Viele?  Die  ganze  Gesellschaft  sitzt  beim  Bier,  er  tritt  ein  — in 
diesem  Augenblick  kann  die  Brandrede  steigen. 

Und  da  halte  ich  Arthur  auf,  der  ihn  aufhalten  soli?  Bin  ich 
von  Sinnen  — wart  mal  — ich  laufe  selbst.  Vor  allem  aber 
muB  der  Brief,  muB  an  die  Bank  ein  Telegramm  fort.  Wer 
besorgt  das?  Wer  hindert  Flocke,  Arthur  nicht  zu  hindern? 

(Er  ruft  zur  Tiir  links  und  ruft  hinein):  Bertha! 

Bertha  (tritt  auf). 

Stander:  Lauf,  wie  du  bist,  geradeaus.  Du  triffst  Herrn 

Flocke  nicht  weit  von  hier.  Umkehren  soli  er,  ohne  weiteres 

zuriickkommen,  der  Alte.  (Er  drangt  sie  hinaus,  lauft  an  den  Tisch 
zu  Papier  und  Tinte.) 

Zu  185  verkaufe  ich,  180  sogar.  Wenn  nur  die  Briider  nicht 

diese  Nacht  schon  etwas  untemehmen,  und  morgen  friih  die 
Borse  weiB!  (Er  schreibt.) 

Ich  bitte,  Mark  achttausend  nominal  Rodauer  Glasfabriken  — 
(Er  springt  auf  und  ans  Fenster.)  Wenn  sie  ihn  nur  noch  erwischt! 

Vielleicht  ist  Sturm  gleich  ins  Bett  gefallen ; nach  der  Reise, 
mancherlei  Getrank  war  er  hundsmiide.  Arthur  freilich  bringt 
es  fertig,  ihn  im  Schlaf  zu  iiberfallen.  (Man  hort  von  obenher 
Kinderstimmen  weinen.)  Ruhe! 

Sie  knegen  sich  in  die  Haare,  Arthur  vermag  moghcherweise 
durch  dies  und  das  Pression  auszuiiben,  findet  den  genialen 
Dreh  und  zwingt  ihn  zur  Abreise  mit  dem  Nachtzug,  bevor 
man  bei  Tageslicht  niichterner  Vernunft  noch  einmal  hin 
und  her  iiberlegt  hat.  Und  morgen  friih  sitze  ich  mit  dem 
Heilsarmeebruder  hier  allein,  pax  vobiscum  in  der  Patsche! 

(Erneutes  Kindergeschrei.) 

Ruhe!  (Er  zerreifit  das  Papier.)  Das  Telegramm  hat  bis  morgen 
friih  Zeit.  Selbst  muB  ich  die  Geschichte  einrenken  (exit). 


46 


Carl  Siernhetm  ♦ Tabula  Rasa 


SIEB ENTER  AUFTRITT. 

(DurcK  die  offene  Tiire  sieht  man  das  erleuchtete  Treppenhaus  und  als- 
bald  eins  — zwei  — fiinf  — sechs  Kinder  im  Nachtkleid  iiber  das  Gelander 
spahen,  herabkommen,  in  die  Stube  treten,  sich  um  das  alteste,  etwa  fiinf- 
zehnjahrige  [Nettel  Flocke]  scharen  und  Papa!  plarren.  Dazu  von  oben 
wiitendes  Hundegebell.) 

Vorhang. 

Ende  des  ersten  Aufzugs. 


X •//.  •//.  •//.  •//.  XX 


Theodor  Ddubler  ♦ Sang  an  Palermo 


cG6eodor  (Daubfer: 

SANG  AN  PALERMO 

Der  Mond  lafit  sich  von  Wolken  aus  Porzellan  umdrangen. 
Sie  fliegen  leicht  und  haben  eine  Schaumglasur. 

Verbauschte  Engel,  aufgebaumte  Leibermengen 
Umgrotten  hoch  den  Mond  wie  eine  Silberuhr. 

Der  Mond  verkiindet  unerforschte  Weltenstunden. 

Die  Helden  baun  ihr  Schiff  ; die  Meere  sind  erstaunt. 
Delphine  wollen  Vorbedeutungen  bekunden, 

Und  auch  die  Wogen  sind  zu  Rausch  gelaunt. 

Die  Winde  liegen  schwer  in  aufgereckten  Volkersegeln. 

Wie  starr  und  unerwartet  kam  der  bleiche  Traum. 

Die  Schiffe  wittern  nach  den  Dampf-  und  Flammenkegeln : 
Das  war  einmal!  Und  was  geschah,  erwacht  als  Schaum. 

Em  groBer  Fels  erscheint,  halb  Sarg,  halb  Vorbestimmung. 
Die  weiBen  Wellenkamme  klammern  sich  heran. 

Die  Segelschiffe  wagen  die  Geschickserklimmung, 

Sie  stehen  in  des  mondbewohnten  Berges  Bann. 

* 

Die  Sarazenenstadt  ist  angststarr  auferstanden ! 

In  Ziegelfliese  eingesilbert  fliegt  der  Mond. 

Sie  halt  den  leisen  Spielball  leicht  in  Zauberbanden : 

Er  kann  nicht  untergehn,  da  er  in  Sagen  thront 


Theodor  Ddubler  ♦ Sang  an  Palermo 


49 


Die  Wasserbecken  sind  dem  Silbersinn  verfallen 
Und  spiilen  ihren  Gischt  zur  Mondkugel  empor. 

Verwiinschte  Seiltanzer  erglimmen  zwischen  Hallen, 

Mit  einem  taubenetzten  Perlenschimmertor. 

Die  Haremsdamen  blicken  traurig  zu  den  Vasen 
Voll  Madchenschlankheit  in  vertraumtem  SchleierweiB. 
Kamelien  fangen  an  im  Garten  zu  verglasen: 

Ein  altes  Eis  ist  da,  das  von  den  Dingen  weiB. 

Der  Berg  scheint  in  der  Mondstadt  schwebend  aufgegangen, 
Er  blinkt  so  klar,  daB  er  in  jedem  Traum  erscheint. 

Er  sollte  sarghaft  liber  diesen  Gauen  hangen : 

Sein  Dasein  war  von  Anfang  an  schon  vorgemeint. 

* 

Die  Sarazenen  blicken  mit  gekriimmten  Sabeln 
Den  Seglern  kiihn  entgegen,  die  wie  Sicheln  sind. 

Die  Feinde  sichten  sich  zugleicb  zwischen  den  Nebeln: 

Die  einen  starkt  der  Mond,  die  andern  liebt  der  Wind. 

Auf  einem  Vorgebirge  hat  die  Schlacht  begonnen. 

Der  Sultan  fiihrt  seine  Saharaschar  zum  Sieg. 

Die  Schiffe  sind  in  Silberschlingen  eingesponnen : 

Der  Mond  greift  an:  die  Wucht  zur  See  verliert  den  Krieg. 

Die  mondgewohnten  Mohren  haben  stolz  gewonnen! 

Nun  kriimmt  sich  weiB  um  ihre  Nachtgestalt  ein  Leib. 

Die  Sieger  iiberkommen  weiche  Weiberwonnen, 

Die  Lust  wird  groB:  ihr  Silbern  schmiegt  sich  aus  dem  Weib. 

Em  hoher  Berg  ward  in  der  Vollmondnacht  geboren. 

Er  starrt  als  Sarg  und  iiberdacht  den  Leiberkauf. 

Der  Mohrenkonig  hat  die  Vollmondschlacht  verloren, 

Denn  das  gekriimmte  Weib  stand  plotzlich  strahlend  auf. 

* 


50 


Theodor  Daubler  * Sang  an  Palermo 


Normannen  sind  zu  Wall  und  Hafen  vorgedrungen. 

Der  Einbruch  in  die  Macht  des  Mondes  war  vollbracht. 

Ein  neues  Leuchten  ist  am  Meere  aufgesprungen : 

Der  Stern  der  Freiheit  hat  aus  uns  gelacht. 

Normannenhelme  iibertrumpfen  grell  die  Mauem. 

Die  Mohren  flohen : ihre  Burgen  sind  verwaist. 

Zypressen  fangen  an  in  Schlossem  zu  erschauem ; 

Die  Brunnensprache  schweigt : der  Mond  ist  rasch  vergreist. 

Ein  schwarzer  Halbmond  sind  die  Barken  der  Normannen. 
Sie  machen  auf  die  letzten  Sarazenen  Jagd. 

Sie  konnen  auf  der  Flotte  ihre  Bogen  spannen : 

Bei  Vollmond  haben  sie  den  Mohrenkampf  gewagt. 

Der  Sarg  ist  da:  die  Schlacht  liegt  unter  ihm  begraben. 

Der  Berg  wird  zur  erhabnen  Ewigkeit  der  Stadt. 

Der  Geist  beschenkte  uns  mit  ungeglaubten  Gaben. 

Die  See  gebar  das  Volk,  das  sie  erwogen  hat. 

* 

Mein  Pilgerberg,  ich  will  zu  deinem  Frieden  steigen. 

In  guter  Schluchtenruhe  werde  ich  gesund. 

Die  starken  Traume  sollen  sich  bewufit  verzweigen, 

Ihr  Friihlingsgrunen  spriiht  aus  meinem  kiihlen  Mund. 

Die  Frucht,  die  Blute  diirfen  sich  zusammenneigen, 

Denn  Saat  und  Ernte  gebe  meine  Dichtung  kund. 

Mein  Pilgerberg,  du  ahnelst  einem  Sarkophage, 

Doch  deine  Form  verklart  der  Frohsinn  alter  Tage. 

Der  Berg  betaut  sich,  meine  Schritte  sacht  zu  spiiren. 

In  seine  Kliifte  fliichtet  manches  miide  Pferd. 

Mich  soil  der  Spiirsinn  zu  dem  rechten  Tiere  fiihren, 

Dann  werde  ich  vom  Pferd  im  Heilsuchen  belehrt. 

Mein  Finger  mag  an  klepperstatt  ein  Rofi  beriihren 
Dann  reit  ich  es  und  beide  bleiben  unversehrt. 


Theodor  Daubler  * Sang  an  Palermo 


51 


Gesundes  Tier,  uns  geben  Mond  und  Wolken  Kunden, 

Wir  bleiben  fiir  den  Ritt  durch  unsem  Traum  verbunden. 

Palermo,  deine  StraBen  wollen  wir  durcbreiten. 

Mein  Liebeswunsch  wird  wunderbar  zu  einer  Tat. 

Wie  sich  Genesungskreise  wirksam  weit  verbreiten : 

Den  Erkem  der  Normannenburg  bin  ich  genaht. 

Ich  soil  zu  frohem  Tuen  schwankes  Traumen  leiten: 

Das  RoB  blieb  stehn.  Es  hat  den  Wagemut  bejaht! 

Nun  klimmen  grelle  Rosen  zu  den  hohen  Fenstem, 

Ich  greife  zu  und  ginge  es  mit  Schreckgespenstem ! 

Die  Rosenhecke  iiberringeln  schwere  Flechten. 

„Ich  griiBe  dich,  geliebteste  Normannenmaid!“ 
Enttraumungslust,  Gestalt,  du  kommst  zu  frohen  Rechten, 

Ich  bin  zum  Klimmen  durch  den  Rosenbusch  bereit. 

Wie  schlecht,  wenn  Wiinsche  keine  Wollustwunder  brachten, 
Die  Freude  iiberfliegt  verfehlter  Welten  Leid. 

Mein  RoB,  so  wieher,  stampfe,  drohen  mir  Gefahren; 
Umlaubt  uns  Traume,  daB  die  Leute  nichts  gewahren. 

Ich  taste  mich  hinan  am  Flattern  deiner  Haare. 

Sie  halten  meine  Hand,  sie  gleichen  Gold  und  Blut 
Von  strahlenden  Orangen.  Wo  ich  dich  gewahre, 

Umrankt  uns  auch  Granatapfelgeast.  Die  Glut 
Auf  deinen  Wangen  flackert  fahl.  Ich  oflenbare 
Den  Blumen  deiner  Huld  der  Leidenschaften  Glut. 

Wir  sind  noch  tiefer  als  in  einem  Traum  versunken, 

Kein  Schlummer  hatte  uns  geweckt,  zu  Lust  gewunken. 

Wir  sind  vermahlt  I Und  auch  erqualt,  bis  zur  Besinnung 
Vergangnen  Rausches,  war  das  ganze  Wissen : Wir. 

Ich  spur  es  wohl : hier  gibt  es  nie  Entrinnung, 

Denn  die  Verstrickung  ist  Geschick ! Vergib  sie  mir. 

Ich  wahle  dich : du  warst  die  innigste  Gewinnung 


0*0 


52  Theodor  Dihtbler  * Sang  an  Palermo 


Von  unsrer  Furcht:  und  was  da  kommt,  entkorpre  dir! 
w le  wunderbar  die  Flucht  durch  Traumesparadiese, 
Durch  Furcht  hindurch : wie  ruhig  wurde  unsre  Wiese. 


Die  Wiinsche,  unsre  Wollust,  wurden  wirklich  Wunder! 

Ich  weiB  die  Wahrheit,  wie  ein  Baum  sich  selbst  belaubt. 

Du  warst  noch  nie  so  urvergniigt  und  nie  gesunder: 

Wir  klauben  Furcht  auf  Furcht,  die  sich  aus  uns  erlaubt. 

Ein  Flutenschutz  der  Einsamkeit  wird  dunkler,  runder, 

Du  wirst  von  keinem  Laut  der  Traulichkeit  beraubt. 

Ich  bin  noch  nie  so  tief  in  deinem  Gluck  gewesen : 

Du  gibst  das  Wir:  ein  unerklarlich  leises  Wesen. 

Auf  einmal  angstigt  sich  das  Laub  in  meinen  Zweigen ! 
Verfahlt  biickt  uns  Zitronengold  und  miide  an. 

Wie  sich  Zypressenwipfel  unterm  Winde  neigen, 

Wie  pocht  dein  Herz,  da  unsre  Freude  kaum  begann. 

Mein  Pferd  ist  da.  Es  kann  sich  durch  die  Aste  zeigen. 

Ich  muB  hinweg:  was  halt  mich  schon  in  anderm  Bann? 

Der  Herbst  ergelbt,  das  wird  ein  Welken  und  Vergessen. 

Wer  hat  sich  zu  Geschlechtsgespenstigkeit  vermessen! 

Ich  mufi  auf  einem  Klepper  wie  der  Spanier  schwanken. 

Die  schlichten  Esel  gehen  ihres  Wegs  vorbei 

Und  Bettler  schleichen  sich  heran  wie  Angstgedanken : 

Ich  will  nicht  glauben,  daB  ich  wahr  und  wirklich  sei! 

Wo  sind  die  Reichtiimer,  die  blaB  vor  mir  versanken? 

Jetzt  bin  ich  wach ! Erwacht  bis  knapp  unter  den  Schrei ! 
Verbleibe,  Qual,  kann  ich  den  Weckungsschreck  vermeiden! 
Mein  Schlaf  und  Pferd,  bewahrt  euch  brav,  ich  traue  beiden. 


Der  Sarg  erscheint.  Dort  steht  er  bei  erstaunten  Palmen. 
Palermos  Rerg!  Nun  lenk  ich  langsam  meinen  Traum. 
Palermos  Palmen  gleichen  althekannten  Psalmen, 

Ich  aber  sdune  icden  fruchtbehangnen  Baum. 


Theodor  Ddubler  ♦ Sang  an  Palermo 


53 


Zum  kahlen  Fels!  Mein  Pferd,  zu  den  betauten  Halmen! 
Im  Wind  zu  sanftem  Gras ! Und  unten  Blau  und  Schaum ! 
Wir  werden  zaghaft  den  Genesungsberg  betreten. 

Mein  Pferd,  dein  leises  Gehn  begleitet  still  mein  Beten. 


Am  Vorgebirge  soli  der  Wind  die  Schlafen  kiihlen ! 

Ich  denke  iiber  Mond  und  Wolken  einsam  nach 
Und  fange  an  der  Freien  Schreckensart  zu  fiihlen. 

Ich  weifi,  daB  hier  der  Schopfer  mit  den  Sternen  brach ! 

Nun  sind  die  Volker  eignem  Walten  iiberlassen. 

Kein  Schicksal  mehr!  DieMenschen  bergen  Sieg  undSchmach. 

An  diesen  Kanten  kann  ich  die  Zermalmung  fassen. 

In  die  das  freie  Rom  Karthagos  Knechte  warf ; 

Doch  alle  Sterne  fingen  an  die  Urbs  zu  bassen ! 

Dort  silbem  Berge,  die  ich  nicht  betreten  darf, 

Denn  fern  erteilen  noch  Gestirne  eine  Sendung ; 

Die  Vorgebirge  aber  sonderten  sich  scharf. 

Hier  feiern  wir  den  Wind.  Er  gibt  uns  rasch  die  Wendung. 
Wir  iibertrumpften  ihn  und  wurden  Feuerwind! 

Das  kahle  Land  erwartet  der  Begabten  Spendung. 

Der  tiefe  Ernst!  Du  bist  nicht  mehr  ein  wildes  Kind! 

Vom  Schopfer  sind  wir  los  und  sollen  Geist  gebaren. 

Uns  helfe  kem  Gebet,  seitdem  wir  Freie  sind ! 

EntschluB  und  Vorsicht  miissen  sich  gerecht  bewahren : 

Es  ging  ein  Stern  in  unsre  Seele  herrlich  ein. 

Zu  neuem  Leuchten  sollen  wir  die  Welt  bekehren! 


Die  Liifte  um  Sizilien  sind  verziickt  und  rein. 

Auf  seinen  Vorgebirgen  horst  du  auf  zu  knieen: 
Wir  segnen  durch  den  eingebornen  Stemenschein. 


54 


Theodor  Daubler  ♦ Sang  an  Palermo 


Den  Meeren  sei  aus  deiner  Priesterhand  verziehen. 

Die  Siinde  sch  tittle  ich  aus  dem  versaumten  Baum. 

Der  Sonne  haben  wir  die  Deutlichkeit  verliehen ! 

Die  jungen  Walder  trage  ich  aus  unserm  Traum. 

Aus  voller  Gtite  sollen  neue  Strome  flieBen 
Und  Silberfische  setzt  das  Wissen  in  den  Schaum. 

Wir  konnen  unsre  Innigkeit  in  Tiere  gieBen : 

Die  Taube  flog  aus  eines  Mannes  Schopferhand. 

Und  Wanderpflanzen  wollten  unsem  Pfad  umsprieBen. 

Vertreib  das  Tier,  doch  wo  du  muBt,  da  schaffe  Land. 

Wir  dtirfen  blaue  Auen  furchtbar  tiberwtisten. 

Wir  knoten  bald  das  Todes-  und  Geburtenband. 

Verktindet,  dafi  die  Wesen  ihre  Brunst  verbtiBten. 

Vereinsamt  euch  und  tiberlebt  die  eigne  Zeit. 

Bedenkt,  wie  lieblich  wir  den  Zwang  durch  Sang  verstiBten. 

Ich  bin  zu  einem  frischen  Freiheitssatz  bereit! 

Das  eitle  Tier  in  dir  wird  sich  hintibersetzen. 

Wohin  ? Auf  Schollen,  die  schon  Priester  vorgeweiht. 

Wir  sollen  dann  die  Beute  schreckenbleich  zerfetzen : 

Der  Feind  ist  unsre  eigene  Frage  als  Gestalt. 

Und  er  wird  uns,  wir  ihn  zum  selben  Ende  hetzen. 

Doch  aus  der  Volksbesonnenheit  kommt  die  Gewalt. 

Auf  Vorgebirgen  treffen  sich  verwandte  Ahnen 
Und  bleiben  stumm,  wenn  Flut  an  Flut  zerprallt. 

Die  schroffen  Zacken  sollen  dich  zu  Taten  mahnen, 

Der  Sturm  beackert  euch  die  Meere  wie  ein  Feld : 

Versteckte  Wanderwunder  unter  den  Orkanen. 


Theodor  Daubler  * Sang  an  Palermo 


55 


Beherrsche  fromm  die  See,  im  Flug  befrei  die  Welt ! 

Das  Pfliigen  sei  dir  Pflicht,  das  Fliegen  Selbstbestimmung : 
Aufs  Menschenblut  sind  alle  Hoffnungen  gestellt. 

Was  in  den  Wind  gerat,  meint  irgendwie  Erklimmung. 
Erbhcke  in  den  Wellen  ein  geweihtes  Spiel. 

Du  bist  der  Sturm,  so  hisse  Segel  der  Elrgrimmung! 

Die  Flotte  riiste,  doch  es  bleibt  in  dir  das  Ziel! 

Du  schiirst  die  Kriege,  die  wir  fiirchterlich  verlieren. 

Drum  wappne  ich  mein  Wesen  mit  Gewehr  und  Kiel. 

Du  wirst  das  Ich  mit  Indiens  Heimlichkeiten  zieren. 

Das  grofie  Wissen  vibergliickt  den  Sternenraum. 

Mein  Menschenwittem  forderst  du  bei  deinen  Tieren : 

Nur  in  dir  selbst  bekenne  deinen  letzten  Saum. 

* 

Ich  mochte  gierig  nach  den  roten  Sternen  greifen. 

Ich  bin  das  Vorgebirge  auf  dem  groBen  Meer. 

Ich  soli  im  Winde  Weltenungeheuer  streifen : 

Gestime,  stiirtzt  nicht!  Seid  ihr  zu  bedeutungsschwer  ? 

Was  bin  ich,  wenn  mich  kein  bekanntes  Tier  begleitet? 

Ein  eitler  Reiter  ohne  sein  verwegnes  Pferd. 

Wie  meine  Sehnsucht  ihre  Wittrungsreisen  weitet 
Und  jeder  Sangansatz  doch  ewig  wiederkehrt! 

Mein  Tier,  du  hast  mich  armen  Bleichen  ganz  verlassen. 

Von  keinen  Abenteuern  kehr  ich  kiihner  heim. 

Was  soli  mir  so  ein  kaltes  Sternungen  erfassen, 

Els  kam  zu  andem  Weltungen  in  uns  der  Keim. 

Ich  wiinsche  mich  zuriick  zu  Gliick  und  Gliicksversuchung 
Und  iiberstufe  alle  Leistung  zum  Erfolg. 


56 


Theodor  Daubler  * Sang  an  Palermo 


Ich  suche  nach  verschwundner  Stunden  LustverbucHung 
Und  ich  bewurzle  mich  bewufit  in  unserm  Volk. 

* 

Die  Stadt  mit  ihrem  Berg  hat  eine  Vorbedeutung: 

Der  Wandel  und  dazu  ein  alterhabner  Sarg. 

Auch  meine  Schlangenhalfte  braucht  vom  Bauch  an  Hautung: 
Nun  kennst  du  deinen  Lurch,  den  ich  vor  mir  verbarg. 

Ich  starre  kalt  hervor  zu  den  bewegten  Sternen 
Und  kenne  keine  Anderung  im  echten  Ernst. 

Els  konnen  Erzsterne  von  meinen  Reden  lernen, 

Verkannte  Welt,  ich  merke,  wie  du  dich  entfernst. 

Vergniigter  Leib,  entschliipfe  mir  mit  hundert  Zungen. 

Wir  sind  von  uns  getrennt,  damit  du  mir  gehorst. 

Du  Schlangenlust,  dir  ist  ein  guter  Schwung  gelungen, 

Ich  staune,  wie  du  dich  mit  grausem  Rausch  betorst. 

Aus  unsrer  Tierverlangerung  ist  Gott  gekommen. 

In  deinem  Zwiespalt  machte  er  die  Lider  auf. 

Die  Menschen  sind  als  Schlangen  an  das  Land  gesch wommen . 
Gedarm  und  Hirn  sind  ein  verschlungner  Schlangenknauf. 

* 

Die  Schlangen  sind  in  meinem  Wesen  die  Empfmdung; 

Im  ganzen  bin  ich  Lowin,  satzbereites  Tier. 

Die  Schlangen  sind  in  meiner  Seele  Uberwindung 
Der  kalten  Ansprache  des  andern  Ichs  in  mir. 

Ich  bin  die  Sphinx,  ein  Vorgebirge  in  der  Wiiste. 

Mein  Katzenkorper  walzt  vielleicht  den  Schwanz  im  Meer. 
Der  Geist  vollendete  die  strenggepriifte  Biiste, 

Doch  meine  Halbheit  wirft  sich  schreckhaft  hin  und  her. 


Theodor  Ddtihler  * Sang  an  Palermo 


57 


Wie  furchtbar  mich  der  Wiinsche  Sprunggeliiste  reizen, 

Der  Sterne  Anblick  aber  stammt  mich  streng  zuriick. 

Ich  fuhle  pyramidisch,  wenn  sich  Wtirden  spreizen, 

Ich  kenne  die  Gestirnverinnigung  durchs  Gliick. 

Im  Geiste  sind  die  Schlangen  meine  WiBbegierde. 

Ich  fuhle  mich  in  Siinden  dunkler  Stuben  ein. 

Ich  forsche  nach  den  Eitelkeiten  jeder  Zierde: 

Ich  kann  auf  einmal  im  Bewufitsein  Andrer  sein. 

* 

Ich  kann  die  Stadt  mit  ihrem  Berg  in  mir  bezahmen. 

Wir  sind  gereift  und  schleppen  unsern  Sliden  mit. 

Du  wirst  dich  keusch  der  strahlenden  Gesundung  schamen, 
Doch  halten  Leiber  mutig  mit  der  Einsicht  Schritt. 

Bekannte  Stadt,  ich  halte  deinen  Berg  in  Ehren. 

Verkannter  Berg,  die  Stadt  verschafft  dir  demen  Rang. 

Ihr  miifit  euch  gegenseitig  Ruhm  und  Pracht  bescheren, 

Und  eure  Einheit  dauert  eine  Menschheit  lang. 

Verschwiegen  fahren  Schiffe  ein  in  Bucht  und  Hafen. 

Und  doch  geschieht  sofort  bei  ihrer  Ankunft  Larm. 

Der  Sarg,  vor  dem  sich  hohe  Kundentrager  trafen, 

BeschlieBt  die  Einfalt  durch  das  witzige  Geschwarm. 

Stets  unentwegt  bekennt  sich  unsre  Welt  zur  Dauer. 

Ein  alter  Hafen  schliefit  am  Abend  semen  Damm; 

Wer  einfuhr,  den  umrundet  eine  dunkle  Mauer, 

Und  Wolken  horchen,  Fragen  wagt  ein  Wogenkamm. 


58 


Oskar  Baum  ♦ Die  Gegner  des  Krieges 


Os  (car  ZBaum : 


DIE  GEGNER  DES  KRIEGES 


E 


Qedanfcen  des  bfinden,  sefir  feinen  (Prager  Ridkers  Qber  den 
OCrieg;  efier  ‘Tlotizen  und  ‘Detra cfitungen,  a/s  ein  Programm. 

S muB  von  vornherein  angenommen  werden,  dafi  jeder, 


* — 1 welcher  politischen  oder  philosopKischen  Richtung,  wel- 
chem  Beruf  oder  Stand  er  auch  angehore,  grundsatzlich  fur  die 
Abschaffung  des  physischen  Krieges  sei.  Wer  an  eine  Art 
Gottesgericht  glaubt : daB  dem  Recht  immer  die  groBere  Kraft 
innewohne,  wer  in  Nietzsches  Namen  fur  den  Schwachern,  wohl- 
gemerkt  den  physisch  Schwachern,  das  Joch  oder  den  Unter- 
gang  mit  distanzierter  Allgiite  als  fiir  ihn  notwendig  und  geradezu 
begliickend  herabbetet,  mit  dem  kann  ich  mich  ebensowenig 
wie  mit  irgend  einer  Art  von  Aberglauben  auseinandersetzen. 
Er  wird  historische  Beweise  finden,  und  ich  werde  Gegenbeweise 
heranziehen,  und  wir  werden  zu  keinem  Ende  kommen,  weil 
wir  nichtum  ein  Wissen,  sondern  um  etwas  Geglaubtes  streiten, 
das  auf  einem  gewissermaBen  religiosen  Gefiihl  beruht,  das  wir 
in  niemandem  zeugen  oder  iiberzeugen  konnen. 

Ich  will  mich  nur  mit  der  Moglichkeit  und  den  Wegen  zur 
Abschaffung  des  Krieges  beschaftigen  und  mit  denen,  die  in  der 
Welt  von  heute,  in  den  Dezennien  vor  dem  Kriege  etwa,  die  all- 
gemeine  Abriistung,  den  ewigen  Frieden  nur  von  einem  ent- 
sprechenden  MaB  allseitigen  guten  Willens  abhangig  fanden 
und  uberall  nur  den  riickstandigen  Frevel  chauvinistischen  Starr  - 
sinns  im  Wege  sahen. 

Diese  Gegner  des  Krieges,  die  seine  Verhiitbarkeit  mit  zomi- 
gem  Kindertrotz  fordern,  kann  man  ungefahr  in  zwei  Typen- 


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Oskar  Baum  * Die  Gegner  des  Krieges 


59 


gruppen  einteilen,  die  freilich  einander  seit  jeher  in  erbitterter 
Todf  eindschaft  gegeniiberstehen : Der  Bourgeois  und  der  Anar- 
chist. 

Zwischen  dem  schlimmsten  klebrigsten  SpieBer,  der  nur  fur 
sein  eigenes  Leben  und  Eigentum  fiirchtet,  der  den  starksten 
Beweis  gegen  den  Krieg  darin  sieht,  daB  er  weh  tut,  und  dem 
auBersten  Gegner  unserer  Gesellscbaftsordnung,  der  den  Krieg 
als  Erziehung  zum  Gehorsam,  als  dauernde  Schadigung  und 
Unterbrechung  des  Wachstums  unabhangigen  Sonderwillens 
haGt,  gibt  es  natiirlich  eine  Menge  Kreuzungen,  Miscbungen, 
Schattierungen . 

Eine  dritte,  freilich  sehr  kleine  Partei  einer  seltenen  Spielart 
von  Traumern  muB  ich  noch  hinzurechnen,  ernste  Denker 
darunter,  Dichter  und  religiose  Schwarmer,  die  die  Entmateriali- 
sierung  der  Interessen  und  Ziele  in  ihrer  Gesellschaft,  die  Reini- 
gung  der  menschlichen  Seele  von  grobem  Eigennutz  fur  den 
einzigen  moglichen  und  notwendigen  Weg  halten:  den  Sieg 
reiner  weltumfassender,  den  hochsten  ethischen  Forderungen 
zugewandter  Ideen  iiber  GenuBsucht  und  Erwerbsgier.  Die 
korperlichen  Bediirfnisse  wlirden  vonuns  heute  iibertrieben  und 
iiberschatzt,  meinen  diese ; sie  wiirden,  wenn  eine  solche  religiose 
Welle  iiber  die  Seelen  hinginge,  nicht  mehr  im  Vordergrund 
stehen.  Der  Handel  der  bodenarmen  Volker  und  der  natiirliche 
Reichtum  der  andern  brauchten  nicht  mehr  in  Raubtierhafi  und 
mit  Verbrecherlist  als  Waffe  gegeneinander  gefuhrt  zu  werden, 
sondern  sie  konnten  einen  klugen  Ausgleich  finden  oder  durch 
opferfreudige  Hingabe  aller  an  alle  sich  aufheben,  da  das  Geflihl 
der  Zufriedenheit  und  des  erfiillten  Rechts  im  andern  jedem 
selbst  Bediirfnis  ware. 

Andre  denken  sich  einen  Ausgleich  ahnlich  wie  zwischen 
Famihenmitgliedem,  wie  zwischen  Provinzen  eines  Reiches, 
eine  Repartierung  der  Lasten,  Pflichten  und  GenuBmoglich- 
keiten  der  Welt  auf  die  einzelnen  Nationen  als  Glieder  der 
Menschheit  wie  zwischen  den  Mitgliedem  einer  Organisation, 
einer  Aktiengesellschaft,  einer  Produktivgenossenschaft.  Aller 
Wettbewerb  wird  auf  Ideengebiete  iibertragen,  nur  geistige 


60  Oskar  Baiun  ♦ Die  Gegner  des  Krieges 

Kapitalien  werden  angehauft  und  das  Streben  nach  Vollkommen- 
heit,  Selbstlosigkeit  und  Gerechtigkeit  wird  zur  Folge  haben. 
da8  die  Rcste  der  Bosheit  und  Herrschbegier  aus  Mangel  an 
Reibungsflachen  und  an  Entschuldigungsmoghchkeiten  durcb 
das  gleiche  Tun  der  andern  entkraftet,  veremsamt  absterben. 
Wer  dachte  da  nicht  an  Tolstoi  und  an  die  einzigen  unbesieg- 
baren  Antimilitaristen,  jene  sanften  demiitigen  Sektierer,  die 
alle  schwerste  Arbeit  ohne  Murren  auf  sich  nehmen  und,  natiir- 
lich  auch  schon  im  Frieden,  durch  die  hartesten  Strafen  nicht 
dahin  gebracht  werden  konnen,  erne  Waffe  zu  beriihren. 

Es  ist  leicht,  in  der  Tonart  des  gebrauchlichen  Pessimisnius. 
in  gewohntem,  verachtlichem  Mifitrauen  des  Menschen  gegen 
alle  Veredelbarkeit  seiner  Gattung  diese  Ideologen  zu  verspotten. 
Unterden  vielenwirklichunuberwmdlichschemendenSchwieng- 
keiten  mochte  ich  nur  die  eine  nennen,  dafi  vielleicht  erst  alle 
Volker  unseres  Erdballs  mit  ihrem  jetzt  so  verschiedenen  Geistes- 
zustand  und  Kulturcharakter  in  einem  bestimmten  Zeitpunkt 
plotzlich  auf  die  gleiche  Stufe  gebracht  werden  und  in  solcher 
Geistes-und  Herzensentwicklung  gleichen  Schritt  halten  miifiten . 
Konnte  doch  nur  durch  das  genau  gleichzeitige  Verschwinden 
aller  irgendwie  gearteten  Siegesbediirfnisse  die  vollkommene 
Friedlichkeit  eintreten. 

* 

Aber  man  will  die  Hoffnung  nicht  fiir  Phantasterei  halten : 
der  Geruch  der  Leichenfelder  kreuz  und  quer  durch  Europa, 
der  Mord  an  der  Jugend  und  Manneskraft  der  halben  Welt 
werde  endlich  eine  Ahnung  da  von  aufdammern  lassen,  dafi  der 
Vereinskram  eincr  ungeistigen  Politik,  die  Wochentagssorgen 
des  Berufs,  der  Unterhaltung  und  gesellschafthchen  Gewohn- 
heiten  nicht  das  Nachsthegende  seien,  dafi  die  hohern  Dinge, 

die  Menschheitsfragen 
in  den  Kopfen  von  Dichtern,  Philosophen  und  ahnlichen 
Sonderhngen  wohlbewahrt  und  emgeschlossen  dachte,  das 
Dringendste  und  Wichtigste  bedeuteten : dafi  die  Theorien 
von  den  Pflichten  und  Rechten  des  Einzelnen  dem  Volk  und 


, die  man  in  ungelesenen  Biichern  und 


Oskar  Baum  * Die  Gegner  des  Krieges 


der  Menschheit  gegeniiber,  von  der  Tragweite  unscheinbarer 
taglicher  Vorkommnisse  in  der  innern  und  auBern  Politik,  die 
verschiedenen  Bewegungen  1m  Geistesleben  Europas  jeden 
Schuster  und  Kaufmann,  jede  Hausfrau  und  jedes  Schreib- 
maschinenmadchen  naher  angingen,  weit  mehr  ihre  personlichste 
Angelegenheit  waren,  von  denen  ihr  Leben  und  ihre  Zukunft 
abhmg,  als  ihre  Geschaftseinnahmen  und  das  Befinden  ihrer 
Familienangehorigen.  Vielleicht  kommt  dann  die  Erkenntnis, 
dafi  die  allgemeine  Denk-  und  Lehrpflicht  zuweilen  wichtiger 
ware,  als  das  allgemeine  Wahlrecht,  daB  das  Recht  anderer  an- 
zuerkennen  und  lhm  Opfer  zu  bringen,  mehr  Unrecht  aus  der 
Welt  schaffen  wiirde,  als  unerbittlich  auf  dem  eigenen  Recht  zu 
bestehen  und  es  ohne  Interesse  fur  die  Keime  des  guten  Willens 
im  andem  mit  aller  Kraft  zu  erstreiten,  dabei  nur  eine  Sorgfalt 
des  Bedenkens  und  Abwagens  kennend : die  Berechnung  der 
Kraftunterschiede  und  des  voraussichtlichen  Lohnes  der  An- 
strengung.  MuB  man  denn,  wenn  man  von  fremdem  Eigennutz, 
von  MiBgunst  und  Habsucht  angefallen  wird,  zur  Abwehr  flugs 
die  eigene  Selbstsucht  und  Machtgier  entgegenstellen  ? 

Wenn  ein  Volk  auszieht,  um  einen  Teil  seiner  Volksgenossen 
von  fremder  Herrschaft  zu  befreien  — bleibt  es  denn  je  dabei 
stehen?  Jedes  halt  es  fiir  seme  selbstverstandliche  Pflicht,  seine 
Erfolge  und  seme  Macht  ohne  Riicksicht  auf  die  eben  noch  mit 
selbstgeglaubtem  Begeisterungsfeuer  verfochtenen  idealen  Forde- 
rungen  der  Einheit  und  Selbstandigkeit  andrer  Volker  bis  an 
den  auBersten  Rand  des  Moglichen  auszuniitzen.  Manches  Volk 
geriet  vielleicht  nur  deshalb  unters  Joch,  weil  es  ausholte,  um 
ein  anderes  zu  erdriicken  und  die  Krafteverhaltnisse  falsch  be- 
rechnet  hatte.  (Die  Polen  entrechten  heute  noch  in  ihrer  Macht- 
sphare  die  Ruthenen,  und  der  Verlust  ElsaB-Lothringens  war 
letzten  Endes  nur  die  Folge  der  franzosischen  Geliiste  nach  dem 

Rhein.)  # 

Smd  diese  heiligen  nationalen  Aufgaben,  mit  denen,  wemg- 
stens  seit  es  verantwortliche  Regierungen  gibt,  so  ziemlich  jeder 
Krieg  begriindet  wird,  vielleicht  nur  die  Maskierung  einer  wirt- 


62 


Oskar  Baum  * Die  Gegner  des  Kriegcs 


schaftlichen  Jagd?  Ich  glaube  es  nicht.  Der  Mensch  ist  in 
seinen  tiefsten  Beweggriinden  nicht  so  niichtem.  Seine  Phan- 
tasie  hat  mehr  Anteil  an  seinen  grofien  aufiertaglichen  Elnt- 
schlieBungen,  als  er  selbst  weiB.  Die  Vision  aufschnellenden 
Volksreichtums,  die  Vorstellung,  in  fremden  Landstrichen  als 
Herr  und  Eroberer  zu  walten,  und  der  Begriff  der  Staatsver- 
groBerung,  der  HeimatsvergroBerung  ist  ungemein  aufreizend. 
Schon  die  Veranderung  auf  dem  Bilde  der  Landkarte,  dieser  fur 
alle  noch  so  alt  gewordenen  Schiilergehirne  unerhorte  Eingriff 
in  das  festgelemte  Reich  des  Bestehenden ! Vielleicht  erscheint 
nur  darum  dem  naiven  Volksmann  der  Krieg  imponierender, 
urspriinglicher  und  natiirlicher,  als  das  niichterne  Ruhebe- 
wahren,  Verhandeln,  Nachgeben,  die  Anstrengung,  daB  keine 
Veranderung  eintrete. 

Sieg  oder  Tod,  groBer  Gewinn  und  groBer  Einsatz,  nament- 
hch  der  groBe  Einsatz  lockt  den  tief  eingeborenen  Spielerhang 
der  Menschen  hervor.  Es  mag  weit  niitzlicher  und  angenehmer 
sein,  aber  es  hat  nichts  mit  sich  FortreiBendes,  sich  zu  vertragen 
und  mit  jedermann  auszukommen.  Die  geistigen,  die  ethischen 
Forderungen  werden  darum,  wenn  sie  die  materiellen  Interessen 
aus  dem  Mittelpunkt  des  Menschheitstrebens  verdrangen 
wollen,  Phantasielockungen  mit  sich  fiihren  miissen,  wie  die 
Religionen  ihre  „Sagen“,  ihre  Jenseitslieblichkeiten  und  Schrek- 
ken,  die  Wunder  der  Offenbarung,  den  Begriff  der  Allmacht 
eines  Wesens  und  fiir  die  grober  organisierten  Seelen  die  sym- 
bol ischen  Zeremonien,  die  Gotzen  oder  Heiligenbilder.  Fiir  das 
endgiiltige  Begraben  und  Vergessen  des  Kriegsgedankens  tate 
eine  Friedensvorstellung  not,  die  mit  den  Phantasieanregungen 
des  Heldischen  wetteifern  kann.  Els  ist  schwer  zu  befehlen,  daB 
nicht  der  die  Oberhand  behalten  soil,  der  das  Schone,  sondem 
der  das  Richtige  sagt. 


Nur  einen  einzigen 
gutzumachen  ist:  zu  sterben.  Wie,  wenn  Goethe  mit  19  Jahren 
gefallen  ware?  Oder  die  anderen:  Kant,  Helmholtz,  Bismarck, 


Fehler  gibt  es,  der  im  Leben  me  wieder 


Oskar  Baum  * Die  Gegner  des  Krieges 


63 


Beethoven,  Bach?  Man  kann  antworten:  Wer  weifi,  wie  viele 
im  dreifiigjahrigen  und  in  den  andern  Kriegen  gefallen  sind! 
Die,  die  wir  haben,  konnten  nur  werden,  was  sie  sind,  weil  jene 
den  Boden  fur  sie  erstritten. 

Nun,  wenn  fiir  oder  wider  solche  unbeweisbaren  Dinge  ein 
Wort  erlaubt  sein  soli:  findet  niemand,  dafi  es  nach  der  Revo- 
lution und  dem  napoleonischen  Blutregen,  nicht  nur  geistig,  sehr 
matt  und  leer,  namentlich  in  Frankreich  war?  Es  sei  abgesehen 
davon,  dafi  es  als  Staat  den  ersten  Platz  in  der  Welt  an  England 
abtreten  mufite.  Aber  vielleicht  ist  das,  was  wir  fiir  die  Bliite 
der  bis  dahin  grofiten  Kulturnation  hielten,  was  um  jene  Zeit 
abbrach,  nur  ein  Ansatz  gewesen.  Erst  als  die  durch  den  Krieg 
nicht  gelichteten  Kinderreihen  Generation  wurden,  kamen  die 
Balzac,  Hugo,  Berlioz. 

Ich  nahere  mich  damit  allerdings  bedenklich  dem  eingangs 
verachteten  Standpunkt  des  Bourgeois,  das  Hauptargument 
gegen  den  Krieg  darin  zu  sehen,  dafi  er  weh  tut.  Wer  von  uns 
hatte  aber  auch  nichts  vom  Spiefier,  vom  Anarchisten  und  vom 
religiosen  Schwarmer  zugleich  in  sich?  Tolstoi  ritt  taglich 
wahrend  des  japanisch-russischen  Krieges  mehrere  Stunden 
weit  zum  nachsten  Telegraphenamt,  um  die  neuesten  Kriegs- 
nachrichten  zu  erfahren.  Er  nahm  parteiischen  Anted  an  den 
blutigen  Operationen,  am  Ausgang  des  Kampfes. . . Erne  un- 
bedingte,  ausnahmslose  und  vollstandige  Ablehnung  des  Krieges 
ist  in  Wahrheit  durch  keine  der  genannten  Typengruppen  ver- 
treten.  E i n e n Krieg  sieht  selbst  der  Anarchist  fiir  notwendig 
und  wiinschenswert  an : die  Revolution.  Den  Kampf  um  Glau- 
bens-  und  Gewissensfreiheit  sanktioniert  wohl  auch  der  Schwar- 
mer fiir  Entmaterialisierung  der  Menschheitsinteressen  und  wird 
ihn  nicht  unter  alien  Umstanden  fiir  vermeidbar  erklaren.  Und 
der  Bourgeois  wird  durch  die  Bejahung  des  Staates  zu  dem 
Kompromifistandpunkt  gedrangt:  ,,Nur  im  aufiersten  Notfall.“ 
Fiir  ihn  miifite  man  also  eine  Tabelle  aller  erfindlichen  politi- 
schen  Vorkommnisse  anfertigen,  damit  er  bestimmen  konnte, 
bei  welchem  noch  nicht,  und  bei  welchem  schon  die  Bezeich- 
nung  „aufierst“  gelten  diirfe. 


30  Vol.  m/i 


64 


Oskar  Baum  * Die  Gegner  des  Krieges 


Manche  erhoffen  auch  vom  natiirlichen  Entwicklungsgang  der 
Zivilisation,  indem  sie  den  Kampf  jedes  gegen  jeden  in  der  Ur- 
zeit  mit  dem  Ringen  unserer  Tage  vergleichen,  das  fast  die  ganze 
Menschheit  in  zwei  reinlich  getrennte  Lager  scheidet,  die  baldige 
tJberwindung  dieser  Form  des  Konkurrenzkampfes  unter  den 
Volkern;  aber  die  Einfiihrung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  in 
England,  in  China  — vielleicht  folgen  mal  auch  noch,  etwa  zur 
Einschiichterung  Japans,  die  Vereinigten  Staaten  — lafit  cen 
Schlufipunkt  dieser  Epoche  nichteben  fiir  bevorstehend  erwarten. 

Der  Glaube  an  eine  automatische  Entwicklung  der  Kultur  und 
Zivilisation  langte  langst  bei  der  Uberzeugung  an,  dafi  deren 
Hochstand  zu  Faulnis  und  Schwache  fiihren  miisse,  dafi  Un- 
kultur  Jugend  und  Zukunftsmoglichkeit  bedeutet.  Freilich, 
aufier  etwa  durch  die  morose  Griesgramigkeit  dieser  Kultivierten 
ist  das  durchaus  nicht  leicht  zu  beweisen.  Dann  ware  ja  auch  ein 
Krieg  mit  rohester  Kriegsfreude  die  Zeit  der  Bliite,  der  Frische 
und  kommenden  Kraft  eines  Volkes,  das  Zeichen  seiner  unver- 
brauchten  Seele,  und  der  sanfte  religiose  Traum  von  einer  Herr- 
schaft  des  Geistes  auf  Erden,  einer  verniinftigen  Giite  aller 
Volker  das  Zeichen  und  die  Prophezeiung  vollendeter  Alters- 
schwache  , . . Wer  dagegen  wollte  nicht  glauben,  dafi  die  heuti- 
gen  germanischen  Stamme  ebenso  gewaltig  wie  ehedem  siegen 
wiirden,  wenn  sie  ins  Romerreich  einbrachen?  Wer  wiederum 
konnte  leugnen,  dafi  die  Franzosen  und  Englander  sich  heute 
ganz  ebenso  tapfer  schlagen  wie  zu  Napoleons  Zeiten,  — und 
welche  Strecken  der  Zivilisation,  vielleicht  auch  Kultur  sind  in- 
zwischen  zuriickgelegt  worden! 

Ich  glaube  nicht,  dafi  Mark  und  Muskeln  eines  Volkes  durch 
Geistigkeit,  durch  die  Jahrhunderte,  die  hinter  ihm  liegen,  ge- 
schwacht  werden,  dafi  sein  Charakter  sich  verandert ; ich  glaube, 
dafi  das  Auf-  und  Abschwellen  seiner  Tatkraft,  sein  „Jena“  oder 
„Sedan“,  vom  jeweiligen  innern  Antrieb,  von  der  Intensitat  des 
Glaubens  an  sich  und  seine  Tat  abhangt. 

Ich  glaube,  dafi  ein  Volk,  in  dessen  Charakter  es  liegt,  der  Welt 
den  ewigen  Frieden  bringen  kann,  wenn  es  physisch  — sicherer 
vielleicht  noch,  wenn  es  geistig  zur  Herrschaft  gelangt. 


Oskar  Baum  ♦ Die  Gegner  des  Krieges 


65 


Das  mochte  ich  mir  als  den  kiirzesten  und  verhaltnismafiig 
einfachsten  Weg  vorstellen;  moglicher  erscheint  er  mir  jeden- 
falls  urn  einige  Grade,  als  daB  die  Gegner  des  Krieges  in  alien 
Staaten  eine  sieghafte  internationale  Partei  zu  grlinden  ver- 
mochten,  oder  dafi  neue  Schiedsgerichte  und  neue  Vertrage 
etwas  anderes  wiirden,  als  ein  Mittel  mehr  im  alten  Diplo- 
matenspiel. 


Valeri j Brjussoff  * I.  Schatten  67 


(Qaferij  ftrjussoff: 

I.  SCHATTEN 

Aus  den  Schatten  der  Leidenschaft  schmiegt  sich’s,  umarmt  es, 
verfliichtet  im  Dunkel  und  lockt  um  das  Pfiihl; 
es  verkriimmen  sich  Riicken  und  beugen  sich  Briiste, 
ein  brennend  Arom  umschwelt  das  Gewiihl; 
ein  kraftlos  Erheben,  ein  willenlos  Schmiegen, 
ein  Vergraben  der  Finger  ins  Schulternoval ; 
als  Gestorbner  verfolg’  ich  die  schamfremden  Schatten 
bei  erregendem,  rauchendem  Kerzenfanal. 

Ich  verfolge  im  Schimmer  gebildnerte  Kniee 

und  sich  rauchelndes  Haar,  HuftenweiBmarmorglanz, 
und  im  Wirbel  empor  ringelt  rauchend  die  Flamme, 
schmiegt  Farben  und  Leib  zum  chaotischen  Tanz! 

* 

O du  Morgenweite  aufschaumender  Meerbucht 
und  des  schamhaften  Tags  zinnobemes  Licht, 
o ihr  lenzigen  Tone  im  silbernen  Herzen, 

und  Maria,  dein  Marchenbild,  heilig  und  schlicht! 

O du  Tag  nach  der  Nacht  des  wilden  Gestehens, 
du  Liebesmorgen,  wie  Perlmutter  rein, 
o Morgen  und  Brise  und  Sonne  und  Moven,  — 
als  Abglanz  dein  Lacheln,  alliiberall  dein! 

Ein  bestrahlter,  verliebter,  befangener  Knabe, 

ein  entkrafteter , schwimm’  ich  im  strandlosen  Traum, 
und  im  Wirbel  empor  ringelt  rauchend  die  Flamme, 
schmilzt  Farben  und  Traum  zu  chaotischem  Schaum ! 


68 


Valeri j Brjussoff  * Il.Weib 


II.  WE  I B 

Ich  sah  ein  Weib,  gekriimmt  von  Qual  und  Pein, 
und  es  entbloBte  schamlos  seine  Glieder. 

Es  ward  ein  jedes  Stohnen  wildes  Schrein. 

Grau  gab  das  Licht  sein  Schmerzensantlitz  wieder. 
Aus  zahnzerbiBnen  Lippen  floB  das  Blut. 

Der  starre  Zorn  war  seinen  Blicken  eigen. 

Und  seltsam  grob  war  seiner  Worte  Wut. 

Zuweilen  mochten  wohl  die  Krampfe  scbweigen, 
dann  schwieg  es  schwer,  wie  ein  verendend  Tier. 

Wenn  es  nachher  sich  fiebernd  walzte,  wandte 
und  sich  von  neuem  streckte,  starr  und  stier, 
sah  man,  wie  es  nun  alles  haBlich  kannte, 

wie  nun  Vemunft  und  Liebe,  alles  schwand. 
Wunsch  blieb  nur  eines : daB  die  Quai  verginge  . . 
Berauschend  herrschte  Blut-Geruch  und  'Brand. 

0 Madchen!  Unsrer  Garten  Schmetterlinge ! 

Des  Walzers  Weise  lockt  euch  auf  den  Ball, 
und  wie  Magnolien  seid  ihr  lichte  Dinge. 

Auch  eure  Stunde  kommt,  daB  ihr  im  Kampf 
ans  Lager  stemmen  miiBt  und  euch  verlieren, 
die  Lider  kneift,  den  Mund  verzerrt  vom  Krampf 

und  werdet  Tieren  gleich  — auch  ihr  — 

gleich  Tieren! 

(% Ibersetst  von  CSarfot  St  roster.) 


Ulrich  Steindorff  * Golgatha 


69 


Qttricfi  Steindorff: 

GOLGATHA 

EINE  ERZAHLUNG 

Neulich  erzahlte  jemand;  und  da  wurden  alle  stumm.  Denn 
es  war  das  Leid  selber,  das  den  Mund  auftat.  Die  Worte  fielen 
wie  Hande  voll  Sand  auf  einen  Sarg,  und  es  gab  durch  alle 
Sinne  ein  hartes  Echo. 

Was  sind  zwolf  Tage  fur  einen  Lebendigen  ? 

Zwolf  brennende  Lichter,  die  der  Morgen  anziindet  und  der 
Abend  loscht.  Zwolffaches  Leid  oder  zwolffaches  Gliick,  aber 
doch  jedes  mit  dem  Glanz  des  anderen  aus  Vergangenem  oder 

Kommendem . 

Zwolf  Tage  halten  zum  mindesten  einen  Sonntag  in  ihrem 
SchoB,  einen  Tag,  der  irgendwie  feierlich  ist  oder  sich  doch 
irgendwie  feierlich  gebardet.  Sie  sind  ein  Marsch,  ein  Gang, 
ein  Schreiten  vom  Hochher  ins  Niedere  oder  vom  Tiefen  hoch 
hinauf;  oder  beides;  oder  kernes  von  beiden,  wenn  groBes 
Geschehen  ebene  Wege  ausgeworfen  hat.  Aber  sie  sind  leben- 
dige  Natur,  haben  stets  Raum  zu  einem  Innehalten,  Ausrasten, 
Atemholen  fiir  einen  Lebendigen. 

Unselige  Zeit,  wenn  sich  zwolf  Tage  anders  abwandeln. 
Denn  dann  wird  ein  Gott  gekreuzigt  und  der  schauerhche  Gang 
nach  Golgatha  neu  gegangen.  Oder  der  Krieg  wirft  gotthch 
Auferstandenes  dem  Rad  der  Natur  in  die  Speichen,  dafi  alles, 
alles,  alles  Leben  stillesteht. 

* 

Ein  diirrer  Sommertag.  Eine  Sonne,  die  im  Staub  wandert, 
Eine  LandstraBe,  die  runzhg  ist,  well  das  Elend  in  Kolonnen 
iiber  sie  hingefahren  ist. 


70  Ulrich  Steindorff  ♦ Golgatha 


Eine  Baumreihe  wie  aus  einer  Spielzeugschachtel,  kiinstlich ; 
mit  Farben,  die  wie  abgegriffen  sind.  Strohfahnen  um  halbge- 
brochene  Aste  von  Platane  zu  Platane,  ein  zerfasertes  Band, 
das  sich,  alien  gemeinsam,  ins  Unendliche  fortschleiert. 

Felder  ohne  Frucht.  Wiesen  ohne  Griin,  ohne  Vieh : tot. 
Hofe  ohne  Hauser.  Hauser  ohne  Giebel,  ohne  Dach,  ohne  Fach : 
offene  Wunden.  Brunnen  ohne  Rad,  ohne  Tiefe,  ohne  Wasser: 
blind. 

Und  dabei  ein  Stuck  Welt  zwischen  zwei  Stadten,  die  ein- 
mal  ihren  Inhalt  gegenei nander  ausgeschiittet  haben,  vom 
Morgen  bis  zum  Abend,  als  es  noch  Morgen  und  Abend  gab 
und  nicht  dies  gleichgiltige  Auf-  und  Niedergehen  der  Sonne. 

Zwischen  zwei  Stadten  im  tiefen  Galizien.  Wer  weiB  davon  ? 
Es  konnte  auch  irgendwo  in  Kurland  sein,  irgendwo  im  ElsaB, 
in  Frankreich,  in  Polen,  in  Serbien,  in  Mazedonien,  in  Ost- 
preuBen.  Warum  soli  es  nicht  in  Galizien  sein?  Was  sonst 
Gegenden  voneinander  unterscheidet,  fehlt,  weil  alles  fehlt, 
was  war.  Denn  das  Elend  ist  in  Armeen  dariiber  hingestampft. 

* 

Mitten  im  Grau  ein  Lebendiges.  Ein  Wanderer  im  Staub. 
Geht  Gott  durch  die  Welt  und  spricht  sein:  „Siehe!“?  Wahr- 
lich : Gott  mufi  der  sein,  der  da  einsam  geht,  wo  das  Mensch- 
liche  emgeebnet  ist  zum  Grab. 

Schritt  fiir  Schritt  geht  er  den  langen  Weg,  gebeugt,  als  lase 
er  sein  Evangelium  in  den  harten  Zeilen  der  StraBe. 

So  wandert  die  Jugend,  wenn  Friihling  ist  und  Liebe.  So 
wandert  eine  Mutter,  wenn  tragender  Herbst  ist.  Aber  ein 
Greis  im  brennenden  August? 

* 

Em  Tag,  zwei  Tage,  drei  Tage.  Wie  lange  er  schon  auf  seinem 
Wege  war  ? Es  begegnete  ihm  niemand,  der  ihn  fragte.  Dem 
einsamen  Sucher  rinnt  der  Sand  der  Zeit  ohne  Saum,  ohne 
Marke.  Aber  aus  einem  Briefblatt  war  es  zu  lesen,  daB  er  lange 
suchte;  aus  den  Falten,  die  briichig  waren  vom  Offnen  und 


JJlrich  Steiniorff  * Golgatha  71 


Wiederoffnen,  aus  den  Flecken  von  unsicheren  Handen,  nicht 
in  den  vier,  fiinf  geschriebenen  Zeilen.  Da  stand  nur  sein  Ziel, 
nicht  seine  Zeit.  Die  Stadt,  die  hinter  ihm  lag;  die  Stadt,  die 
vor  ihm  lag.  Und  dann  eine  Strafie  ohne  Namen,  nicht  die 
grofie,  von  tausend  Radern  grofispurig  in  die  Felder  rechts  und 
links  vielfach  ausgebreitete,  sondern  die  enge,  ebenfalls  ost- 
warts.  Und  dann  drei  Baume.  Leicht  zu  finden:  drei  hohe 
Baume  hinter  einer  Hohe.  Unverkennbar : drei  unzerschossene 
Baume. 

Und  dann  auf  der  zweiten  Seite  des  Blattes:  die  Graber, 
das  Grab:  der  Sohn,  vielleicht  allein,  vielleicht  mit den anderen ; 
jedenfalls  das  Kreuz  mit  seinem  Namen. 

Aber  kein  Wort  davon,  wie  weit  die  Graber  hinter  den 
Baumen,  die  Baume  hinter  der  Hohe,  die  Hohe  hinter  wer 
weifi  wie  viel  Hohen  hinter  der  Stadt. 

* 

Auf  dem  Tisch  von  einem  kleinen  Laden  lag  der  Brief  vom 
Tode  eines  einzigen  Sohnes.  Dort  wurde  er  zum  ersten  Male 
entfaltet.  Mitten  am  hellen  Tage  war  er  gekommen,  und  es 
wurde  dunkel ; mitten  im  Larm  der  GroBstadt,  und  es  wurde  still. 

Der  Tod  eines  Sohnes  in  Galizien,  in  Kurland,  in  Flandern. 
Wer  glaubt  an  den  Tod,  der  fern  gestorben  wird?  Welke  Ge- 
danken  bliihen  auf,  alte  Bilder  farben  sich  jung.  Erlebtes  steht 
auf  und  wird  tausendfach  lebendig.  Und  es  schreien  Angste 
vielerWochen,  brechenTranen  los,  schiitten  sich  aus  und  werden 
wieder  still. 

Wer  ist  Biirge  fiir  den  Tod?  Ging  nicht  auch  Mutter  Maria 
zur  Gruft  und  fand  sie  leer? 

Krieg,  Kreuzgang  der  Millionen,  Schrecken  der  Mutter  und 
der  Vater  mit  Botschaften,  die  Ihr  nicht  versteht,  mit  dem  Tod, 
den  Ihr  nicht  seht,  den  ewigen  Lampen  der  Hoffnung,  die  nicht 
ausbrennen.  Am  Tag  der  groBen  Heimkehr  werdet  Ihr  stehen 
und  durch  die  Reihen  der  Kommenden  suchen.  Noch  tausend 
Mai  wird  dieTiir  aufspringen  und  Ihr  werdet  erschrecken,  tau- 
send Mai  eine  Stimme  horen,  die  verklungen  ist. 


72 


Ulrich  Stcindorff  * Golgotha 


Selig  sind,  die  ihre  Toten  begraben  diirfen  und  wissend  schla- 
fen  gehen. 

Die  Tiir  vor  einem  kleinen  Laden  ging  zu.  Ein  alter  Vater 
wollte  suchen, wissen,  suchen  im  Ungewissen.  Trotz  seiner  Armut 
ging  er  und  lieB  alles  hinter  sich,  was  ihn  erhielt.  Fiir  Menschen, 
die  ihn  fragten,  hatte  er  keine  Antwort ; fiir  Sorgen  der  Zukunft, 
die  ihn  ansprachen,  keine  Stimme.  Sein  Einziges,  Letztes  war 
nicht  mehr.  Nichts  war  mehr  fiir  ihn  auf  Gottes  weiter  Erde 
als  ein  toter  Leib.  Den  wollte  er  heimholen  in  seiner  Armut, 
betten  konnen,  zudecken,  weich,  weich  zudecken. 

Er  war  ohne  Tranen,  denn  man  weint  nicht,  solange  man 
sucht. 

« 


VierTage,  fiinf  Tage,  sechsTage.  Hinter  der  Hohe  die  Baume. 
Drei  unzerschossene  Baume.  Nackte  Stamme  und  nackte  Aste 
mitten  im  Sommer.  Phantastische  Weiser  zu  einer  unendlichen 
Grabermulde. 

Kreuze,  Kreuze,  Kreuze.  Namen,  Namen,Namen.  Tausend 
Sohne  von  tausend  Eltem. 

* 


Man  mufi  alt  sein,  um  ruhig  suchen  zu  konnen.  Junge  Augen 
iiberblicken  rasch,  aber  sie  lassen  Liicken  beim  Sprung  vonKreis 
zu  Kreis.  Langsam  Schritt  fiir  Schritt  gehen,  ist  Zucht  des 
Lebens. 

Der  Vater  ging  und  las,  ohne  Angst,  ohne  Hast,  plotzlich  mit 
der  Sicherheit  aller  Friedhof ganger,  daB  er  finden  wiirde.  Ver- 
wischte  Buchstaben,  die  Wind  und  Regen  hatten  loschen  wollen ; 
fliichtige  Zeichen,  die  irgend  ein  Befehl  nicht  hatte  vollenden 
lassen,  nichts,  gar  nichts  entging  dem  Gebeugten.  Er  stand 
an  groBen  Grabem,  die  Auskunft  gaben  ohne  Namen,  und  an 
kleinen  Grabern.  Schritt  fiir  Schritt  ging  er  und  Stunde  um 
Stunde.  Und  Wort  umWort  tilgte  er  aus  der  Fibel  desTodes, 
die  da  offen  aufgeschlagen  lag. 

Lange  vor  Abend  noch  fand  er : den  Sohn ; den  Jungen,  seinen 
Jungen.  Ein  Kreuz  zwischen  Kreuzen,  ein  Grab  zwischen  Gra- 
bern, einen  Toten  unter  tausend  Toten. 


Ulrich  Steindorff  * Golgotha 


73 


Irgend  etwas  fiel  in  ihm,  fiel  und  schlug  hart  auf.  Es  war  kein 
Erschrecken,  war  auch  kein  Entsetzen  vor  der  Wahrheit. 

Aus  dem  brennenden  Sand,  mitten  in  der  ungeheuren  Leere 
wuchs  ein  Unbekanntes  auf,  eine  grellrote  Blume  mit  zackigen 
Blattem,  wuchs  liber  den  Himmel  hin,  kroch  vom  Jenseits  iiber 
die  Flache,  brannte  in  Flammen  zwischen  all  den  Grabern,  roter 
und  roter,  und  zerbarst  in  Nacht. 

Als  es  Morgen  wurde,  weinte  er. 

* 

Am  achten  Tage  schnarrte  der  Wind  um  die  Baume  an  der 
Hohe,  und  dieWolken  flogen  rabenschwarz  dicht  liber  die  Sand- 
kamme  hin. 

Ein  Gefahrt  pfliigte  den  Kiesweg  aufwarts,  ein  gespenstisches 
Gefahrt  im  grauen  Mittag.  Zwei  hohe  Rader  mit  Speichen,  die 
Granatsplitter  angenagt  hatten ; vielleicht  der  letzte  Rest  einer 
Munitionskolonne.  Zwei  Strange  und  ein  miides,  abgefallenes 
Kosakenpferd.  Und  derVater  zwischen  den  Radem  auf  einem 
Brett,  das  imWippkreuz  iiber  die  Achse  gelegt  und  gebunden  war. 

Was  kann  eine  Stadt,  die  derKrieg  leer  gebrannt  hat,  geben? 
Eine  Stadt  ohne  Handel,  ohne  Wandel ; eine  Stadt,  der  kaum 
mehr  Menschen  geblieben  sind  als  stehende  Hauser?  Dem 
Zahlenden?  Nichts!  Dem  Suchenden?  Dinge  ohne  Wert,  die 
dem  Augenblick  Schatze  werden.  Dem  Bittenden?  Wenn  er 
hungert,  wohl  ein  Stiick  hartes  Brot.  Wenn  er  ein  Vater  in 
Qual  ist  und  Greis  und  den  toten  Sohn  holen  will,  undwieder- 
zukommen  verspricht?  Das  letzte  Lebendige:  ein  Pferd. 

Wenn  es  nun  unterwegs  stirbt  ? Aber  warum  soli  es  eher 
sterben,  als  die,  die  es  leihen?  Es  ist  so  vieles  gestorben  gestern, 
vorgestem,  alle  die  Tage.  Einmal  mufi  der  Tod  doch  weiter- 
ziehen,  weiter,  weiter.  So  karge  Emte  lohnt  sich  nicht. 

* 

Die  Ziigel  hangen,  der  Graue  braucht  sie  nicht.  Aber  auf 
halber  Hohe  greift  sie  der  Alte,  lafit  sich  zu  Boden,  geht  neben 
dem  Pferd  und  biegt  quer  ab.  Erst  iiber  eine  versenkte  Rasen- 


74  Ulrich  Steindorff  * Golgotha 


briicke,  die  ein  GeschoB  aus  dem  Graben  gehoben  hat,  dann 
iiber  den  oden  Sand,  miihsam,  weit,  in  den  tagemden  Dunst 
hinein. 

Irgendwo  hat  vor  kurzem  noch  eine  Miihle  gestanden.  Mehr 
hatte  ihm  der  Giitigste  nicht  schenken  konnen.  Das  Miihlhaus 
war  nicht  mehr,  aber  die  Steine  und  gebrochene  Fliigel.  Fliigel, 
die  mit  grauem  Zinkblech  beschlagen  waren.  Einmal  hatten  sie 
wie  ein  Lichtrad  iiber  Land  geblinkt,  aber  auch  nur  ein  ein- 
ziges  Mai. 

Durch  denTag  klang  Arbeit,  friedsame  Arbeit ; ein  Hammem 
imTakt.  Der  Vater  richtete,  bog  vier  Seiten  zu  einem  Sarg.  Es 
war  ein  rissiger  Sarg.  Stricke  muBten  ihn  halten. 

* 

Von  dieser  Stunde  an  wuchs  ihm  die  Zeit  ins  Gigantische. 
Schritte  wurden  zu  Meilen,  Augenblicke  zu  endlosem  Dasein. 
Der  Vater  erlebte  noch  einmal  sein  Leben  im  Leben  seines 
Sohnes.  Kinderjahre  stiirzten  sich  wider  ihn  mit  ihrem  Gliick, 
Knabenjahre  schlugen  iiber  ihn  zusammen,  Reife,  Fallen.  Ein- 
zelne  Worte  tonten,  und  der  Ton  dehnte  sich  und  klang  nicht 
aus ; klang  nicht  aus. 

Wind  fuhr  iiber  das  Land  und  driickte  alles  fest  aneinander, 
schniirte  die  Brust  ein  und  hielt  den  Atem  fest. 

Wie  weit  doch  ein  Weg  ist,  wenn  man  das  Ziel  kennt  und 
sich  angstet.  Und  wie  man  sich  angstet,  wenn  man  Schritt  fur 
Schritt  dem  Grauenvollen  naherkommt,  das  man  erreichen  muB. 
Wer  fahren  konnte,  geht  zu  FuB,  und  wer  zu  FuB  geht,  halt 
inne,  ohne  doch  zu  rasten. 

Die  ganze  Welt  wird  unwirklich  vor  der  groBen  Angst  eines 
Menschen.  Der  Himmel  spannt  sich  in  trostloser  Feme,  streng 
und  eisig,  und  der  Boden,  auf  den  man  tritt,  schmiegt  sich 
samten  unter  dem  FuB.  Was  sich  greifen  laBt,  schmilzt  in  den 
Handen.  Das  Harte  wird  versohnlich  und  das  Versohnliche  hart. 

Wer  nie  gebetet  hat,  betet  um  ein  Wunder.  Wer  nie  geglaubt 
hat,  kniet  in  Gethsemane. 

* 


Ulrich  Steindorff  ♦ Golgotha 


75 


Drei  Stiche  mit  der  Grabgabel  in  den  kalten  Sand.  Nur  drei 
Stiche ; dann  nahm  der  Vater  die  Hande  und  schiirfte  die  ein- 
gesunkene  Erddecke  iiber  dem  Toten.  Handvoll  auf  Handvoll. 

Der  Wind  stand  still  und  die  Wolken  standen  still.  Seine 
Gedanken  setzten  aus  und  sein  Herz. 

Eme  schwarze  Wunde  in  dem  gelbgrauen  Tuch  einer  Uni- 
form, wohl  eine  Fingerspanne  iiber  dem  stumpfen  Knopf  der 
linken  Tasche. 

Und  der  Alte  trug,  ein  wandelndes  Kreuz,  den  toten  Sohn 
vorbei  an  den  tausend  Kreuzen,  fort  iiber  das  Golgatha  zwischen 
den  Hiigeln.  * 

Die  Baume  an  der  Hohe  schnarrten.  Das  Pferd  schrak  zu- 
riick.  Der  eine  Strang  straffte  sich  seitlich,  scblug  wie  eine 
schwirrende  Sehne  von  unten  her  gegen  das  wippende  Brett, 
gegen  den  Sarg,  dass  er  sich  aus  dem  Gleichgewicht  schob  und 
dumpf  auf  den  Boden  stieB.  Der  Alte  wurde  gehoben  und  fiel. 

Langsamer  wurde  die  Fahrt,  miider  die  Schritte  am  tiefen 
Abend,  in  der  dunklen  Nacht,  in  der  lichterlosen  Stadt. 

Dort  hielt  der  Vater  Totenwache,  bis  ihn  ein  Gespann  von 
weither  mitnahm  mit  all  seiner  Last.  Und  am  zwolftenTage  miin- 
dete  sein  Weg  in  die  breite  StraBe  von  der  Grenze  zur  Heimat. 

* 

Mitten  in  der  groBen  Stadt  ein  alter  Mann,  der  seinen  Sohn 
eingebracht  hat  vom  Felde  des  Todes.  Mitten  im  Larm  ein 
stiller  Mensch  voll  dunkler  Gesichte  mitten  am  Tage. 

Woher  kam  der  Schmerz  ? Wohl  eine  Fingerspanne  iiber  der 
Uhrtasche  saB  er,  bohrte  sich  tief,  fror  sich  ins  Innerste.  Kam 
er  von  dem  Sturz  zwischen  den  hohen  Radern  ? Kommt  denn 
ein  Leiden  anders,  als  vom  Stiirzen  irgendwoher  ins  Tiefe? 

Neulich  erzahlte  jemand:  ein  Arzt. 

Der  alte  Vater  hatte  gesprochen,  von  seinem  Sohn  gesprochen, 
vom  Gefundenen  und  vom  Heimgebrachten.  „Er  war  jung“, 
hatte  er  gesagt  und  die  harten  Finger  iiber  dem  Herzen  ge- 
spreizt.  „Er  war  jung“,  hatte  er  gesagt  und: 

„War  das  alles  notig  ?“ 


76 


Paul  Boldt  * Freundin  Horerin 


CEauf  EBofdt: 


FREUNDIN  HORERIN 

Die  Gegenwart  der  Nacht  macht  alles  schlimmer. 
Die  Phantasien  der  Lust  entlaufen  schnode, 

Die  Uhr  schreit  hafilich  in  der  Herzeinode, 

Ins  Zimmer  fliegen  die  friiheren  Zimmer. 

Unter  die  Stirne  flieht  die  Gliederherde. 

Im  Mund  weifikleinen  Zahnelichtes  schreit  es, 

Und  Schrecken  wachst  im  Antlitz  wie  ein  zweites : 
Ach,  ach,  es  friert  iiber  mich  hin  aus  Erde. 

Und  das  BewuBtsein  glaubt  noch  nicht  einmal 
Der  chemischen  Erlosung  von  dem  Leide. 

Das  Antlitz  abgestreift  an  eine  Weide, 

Mit  Felderarmen  liegen  wir  im  Tal. 

Ich  mufite  haltlos  altem  aus  der  Jugend 
In  dieser  weiBen,  hauserigen  Stadt. 

Auf  krummem  Himmel  frei  zu  stehen  matt, 

Den  Schadel  in  die  Martermauern  fugend. 

Im  Himmelsgrund  voll  Schatten,  Wind  und  StraBe 
Erscheinen  wir,  die  sich  bewegend  tun. 

Aus  Augen  fliegt  liber  den  dunklen  Schuhn 
Der  Regen bogen  durch  die  Antlitzmasse. 


77 

Antlitze  kommen  auf  in  dem  Tierhaar, 

Die  Einzelaugen  an  die  meinen  spiilend. 

Und  ein  Gesicht,  Auswuchs  der  Seele,  fiihlend 
Einschwebte  Stirn  zur  Stirne,  scheues  Paar. 

Wir  arbeiten.  Mich  freut  es,  dich  zu  sehn 
Freundinnenlippenrot,  anthropomorph. 

Wir  bauen  in  die  Stadt  uns  kleines  Dorf 
Schadelbluthauser  und  Armealleen. 

Das  Herz  geht  in  den  Handen  hin  und  her. 

Die  Augen  fiillen  sich  an  einem  Strahl, 

Mit  Baumebildern,  Stadten  an  dem  Meer. 

Der  Strahl  ist  aus  der  Sonne,  Tag  geheiBen. 


Paul  Boldl  * F reundin  Horcrin 


* 

' 


Glossen 


GLOSSEN 


lurcher  C agebuc 6. 

MINDERHEITEN. 

Wohl  haben  die  Volker  und  die  Indi- 
viduen  jetzt  vollauf  mit  der  Gegenwart 
zu  tun.  Nur  dafi  es,  recht  betrachtet, 
keine  Gegenwart  gibt.  Jeder  Han- 
delnde  bereitet  Zukunft,  jeder  Ruhende 
halt  sich  bei  seiner  Vergangenheit  auf. 
Selbst  die  Pausen  zwischen  Vergangen- 
heit und  Zukunft  sind  Krisen,  die  iiber 
das  Riickwarts  oder  das  Vorwarts  ent- 
scheiden,  gemischt  aus  Vergangenheit 
und  Zukunft,  die  einander  bekampfen. 
Es  iiegt  nahe,  daB  heute  die  „politi- 
schen  Erzieher44  der  Volker,  die  diese 
Eigenschaft  der  freiwilligen  oder  un- 
freiwilligen  Unterwerfung  unter  die 
Machthaber  verdanken,  mit  Vorliebe 
iiber  Minderheiten  spotten,  — denen 
sie  zuweilen,  in  ihrem  Innersten,  selbst 
angehoren.  Jedoch,  die  Minderheit 
von  heute  kann  morgen  zur  Mehrheit 
werden. 

Die  Widerstande,  die  sich  in  den 
verschiedenen  Landern  den  Minder- 
heiten entgegenstellen,  entsprechen 
auch  im  allgemeinen  dem  freien  ofpiel 
derKrafte  in  den  politischen  Landern. 
In  demokratisch  regierten  Landern 
haben  Minderheiten  eine  gewaltige  Be- 
deutung.  Je  absoluter  ein  Landregiert 
wird,  desto  wirkungsloser  bleiben 
Handlungen  von  Minderheiten,  es  sei 


denn,  die  Minderheit  stiitze  die  Macht 
— gegen  einzelne,  wobei  sie,  die  zur 
Macht,  das  heiBt  zur  Mehrheit  strebt, 
sowohl  aus  der  Tatsache  ihrer  Minder- 
heit, wie  aus  dem  Machtprinzip  den 
doppelten  Nutzen  zieht.  Man  nennt 
eine  solche  politische  Gruppierung 
„Fronde‘\  Und  ich  werde  zu  jeder 
Minderheit  mehr  Vertrauen  haben,  als 
zu  einer  Mehrheit,  die  es  nicht  ver- 
steht,  ihrem  politischen  Hauptapparat 
den  Dynamo  einer  motorisch  diese 
ihre  Minderheit  antreibenden  und 
ihre  Gegenwartspolitik  ubertreibenden 
Energie  anzuschlieBen.  Alle  groBen 
politischen  Parteien  besitzen  ihre  zen- 
trifugalen  Krafte. 

Jeder,  der  nicht  „mitmacht“,  aber 
zum  Aufiersten  entschlossen  ist,  um 
die  Moglichkeit  zu  schaffen  „mitzu- 
machen44,  stellt  eine  politisch  gewich- 
tige  Minderheit  dar.  Da  aber  die  poli- 
tische Maschine  — ich  kann  es  nicht 
oft  genug  wiederholen  — ein  an  Um- 
fang  und  Kompliziertheit  gewaltiger 
Apparat  ist,  der  sich  nicht  von  heut  auf 
morgen  aufbauen  laBt  — das  Fiasko 
der  Rooseveltschen  Sezession  in  Ame- 
rika!  — , so  miissen  sich  die  Minder- 
heiten, um  wirksam  zu  werden,  organi- 
sieren.  Jeder,  der  sich  politisch  be- 
tatigt  hat,  weifi,  was  von  den  Idealen 
seiner  Partei  bis  zu  den  ersten  prak- 
tischen  Versuchen,  sie  zu  verwirk- 
lichen,  auf  dem  Weg  liegen  bleibt.  Die 


3i  Voi.  m/i 


80 


Glossen 


Parteiganger  des  Herrn  von  Heyde- 
brand  und  die  Glaubigen  des  echten 
oder  des  vorgestellten  Marx  enden  auf 
ihren  Wahlgangen  beim  Bauem  oder 
beim  Arbeiter,  im  Gutshof  oder  im 
Wirtshaus,  und  die  entscheidenden 
Argumente  fur  die  Gewinnung  eines 
Mannes,  der  nun  fur  oder  wider  eine 
Weltanschauung  stimmen  soil,  geben 
selten  liber  die  aktuelle  Bediirfnisfrage 
hinaus  — was  ich  nicht  nur  begreife, 
sondern  billige.  Denn  die  Voraus- 
setzung  einer  Propaganda  fiir  eine 
groBe  Idee  ist  das  Interesse  fiir  die 
Lebenshaltung  uberhaupt,  sodann  fiir 
die  mdglichst  baldige,  die  moglichst 
sichere,  die  moglichst  bedeutende 
Hebung  der  materiellen  Lebenshaltung 
von  Menschen,  an  deren  Geistigkeit 
man  appelliert. 

Der  Parteisekretar,  der  in  Wahlver- 
sammlungen  spricht,  pflegt  es  materiell 
um  vieles  besser  zu  haben,  als  die  Men- 
schen, die  ihm  Ohr  und  Herz  offnen. 

Leidet  die  Idee  darunter?  Manch- 
mal,  und  dann  haben  wir  es  mit  plat- 
tester  Demagogic  zu  tun.  Sonst: 
finden  wir  uns  mit  der  cCe<AnUc  der 
politischen  Arbeit  ab,  so  sie  durch  dick 
und  diinn  zur  Idee  hinstrebt,  die  es  zu 
erkampfen  gilt  mit  den  Mitteln,  fiir  die 
die  Masse  — mit  Recht  — in  erster 
Linie  empfanglich  ist. 

Eine  Politik  des  Geistes  wird  sich 
der  selben  Mittel  bedienen  miissen,  wie 
etwa  eine  landschaftlich  beschrankte 
Kartoffelpolitik.  So  dafi  im  Grunde 
die  Demokratie  als  politische  Einrich- 
tung  ebenso  aristokratisch  ware,  wie 
eine  Aristokratie,  die  sich  gegen  sie 
wehrt.  Auf  den  erreichten  Gipfeln 
stellt  sich  der  Sinn  des  politischen 
Kampfes  ein,  der  Weg  hinauf  kann  im 


besten  Fall  nur  der  gleiche  sein  fiir  alle 
Parteien.  SchluBf olgerung : es  mu8 
immer  wieder  und  gerade  jetzt  gewarnt 
werden  vor  sentimentalen  Individual 
lismen,  vor  Programmen  und  Mani- 
fested die  schone,  richtige  Worte  ent- 
halten,  ‘Worte , wenn  nicht  der  poli- 
tische Apparat  fiir  sie  arbeitet.  Die 
Verfasser  miissen  sich  in  den  bestehen- 
den  Apparat  eingliedem,  wenn  sie 
nicht  ein  neues,  wirksames  Hebelwerk 
schaffen,  wozu  die  Anstrengung  einiger 
Generationen  gehort,  miissen  den  Ap- 
parat selbstgelenldg  bedienen  und  kon- 
trollieren.  Politische  I deale  haben  wir 
seit  hundert  Jahren,  so  prachtvolle,  wie 
sie  nur  sein  konnen.  Verwirklichungen 
lassen  auf  sich  warten.  Die  politische 
Maschine  hat  immer  und  iiberall  die 
politischen  Ideale  zerrieben.  Unsere 
politische  Tragodie.  Die  Redner  der 
Frankfurter  Paulskirche  waren  grofie 
Politiker  gewesen,  wenn  sie  etwa  Bis- 
marck und  seine  politische  Wissen- 
schaft  auf  ihrer  Seite  gehabt  hatten. 
Sie  hatten  sie  gegen  sich,  und  die  Ge- 
sc*  ~hte  machte  sie  zu  Rhetoren. 

Der  Dilettantismus  in  politischen 
Dingen  bei  uns  ist  haarstraubend.  Die 
„geistigen  Fiihrer*4  des  Volkes  schreien 
nach  politischer  Erziehung,  — aber  sie 
haben,  mit  dem  [Correspondent en  eines 
groBen  deutschen  Blattes  in  Paris,  die 
dortigen  Radikalsozialisten  fiir  radikale 
Sozialisten  gehalten,  wahrend  die  fran- 
zosischen  Radikalsozialisten  in  Wirk- 
lichkeit  etwa  unsern  Freisinnigen  ent- 
sprechen,  und  sehen  heute  noch  in 
Caillaux  den  franzosischen  Deutschen- 
freund,  obzwar  jedermann  in  Frank- 
reich  weifi,  daB  er,  wenn  uberhaupt 
etwas,  gar  nichts  anderes  vermag,  als 
fiir  die  ffuerre  d oat  ranee  eintreten. 


Glossen 


Auf  anderen  Gebieten  ist  es  nicht 
besser  . . . Ich  fiibre  absichtlich  nur 
..Kleinigkeiten44  an. 

..Politische  Erziehung?44 

Es  ware  Zeitf  ernsthaft  damit  anzu- 
fangen.  Der  jetzige  Zustand  bote  die 
beste  Gelegenheit  dazu,  wenigstens  in 
Angelegenheiten  der  auswartigen  Poli- 

tik. 

HERVfi. 

Im  ersten  Aufsatz  des  Heftes  erin- 
nere  ich  an  die  aufrechte  Haltung,  die 
Gustave  Herve  zu  Beginn  des  Krieges 
in  seiner  Zeitung  „La  Guerre  sociale44 
einnahm.  Nicht  nur,  daB  er  in  seinen 
Leitartikeln  leidenschaftlich  gegen  die 
Schreikrampfe  der  nationalistischen 
Presse,  den  Spionenfang  und  den 
DeutschenhaB  einer  durch  Routiniers 
aufgeregten  Menge  anging,  — in  den 
Redaktionsraumen  seiner  Zeitung  er- 
offnete  er  ein  ..Deutsches  Konsulat44, 
durch  dessen  Vermittlung  Deutsche, 
Osterreicher  und  Ungarn,  die  in  Paris 
zuriickgeblieben  waren,  geschiitzt  und 
versorgt  wurden.  Deutsche  Frauen  mit 
ihren  Kindern  fanden  Aufnahme  in  den 
Familien  franzosischer  Sozialisten.  Er 
lieB  sie  auch  nicht  im  Stich,  als  sie  in 
die  Konzentrationslager  abgeschoben 
wurden.  Die  , .Guerre  sociale44,  die  vor 
dem  Krieg  zweimal  in  der  Woche  er- 
schienen  war,  kam  nun  taglich  heraus 
und  wurde  in  kiirzester  Zeit  eines  der 
meistgelesenen  Organe  der  franzosi- 
schen  Presse.  Das  ist  sie  bis  heute  ge- 
blieben.  Nur  heiBt  die  „Guerre  so- 
ciale14 seit  dem  1.  Januar  1916  „LaVic- 
toire44,  und  man  kann  nicht  daran  zwei- 
feln,  daB  Herve,  der  friiher  die  franzo- 
sische  Fahne  auf  einem  Misthaufen 
aufpflanzen  wollte  und  als  Anti  milita- 


rist radikalster  Farbung  viele  Jahre 
seines  Lebens  im  Gefangnis  zubrachte, 
sich  heute  die  Sympathien  der  radikal- 
sten  Militaristen  erworben  habe,  — 
derart,  daB  die  Zensur  ihm  zur  Zeit  der 
franzosischen  Offensive  in  der  Cham- 
pagne die  heftigsten  Artikel  gegen  hohe 
und  hochste  Offiziere  durchgehen  lieB, 
denen  er  vorwarf , daB  sie  ihre  Truppen 
gegen  Drahtverhaue  schiclcten,  die 
nicht  zuvor  von  der  Artillerie  zerstort 
worden  seien.  Diese  Artikel  durften  er- 
scheinen,  gleichzeitig  mit  denen  des 
royalistischen  Fiihrers  Charles  Maurras, 
worin  vom  Militarkommando  die  un- 
verziigliche  Fiisilierung  Herves  ver- 
langt  wurde.  Die  franzosische  Zensur 
hatte  also  wenigstens  Methode.  Als  ich, 
nach  langer  Zeit,  wieder  einen  Artikel 
von  Herve  lesen  konnte,  war  er  „An 
eine  besorgte  Seele44  betitelt  und 
schloB  mit  der  Aufforderung : „0  mon 
frere  paysan,  tu  peux  tuer  ces  hommes 
avec  serenite44 : Mein  Bruder,  du  kannst 
diese  Leute,  die  Deutschen,  alle,  ohne 
Gewissensbisse  toten,  mit  erhabenem 
Gleichmut.  Nicht  einmal  Karl  Lieb- 
knecht  findet  Gnade  vor  ihm.  Er  hat 
ihn  nach  alien  Seiten  gedreht  und  ge- 
wendet,  ihn  fur  unwiirdig  befunden 
und  verurteilt.  Wie  das  kam?  Durch 
die  Enttauschung,  die  das  deutsche 
Volk  im  allgemeinen  und  besonders  die 
Sozialdemokraten  ihm  bereiten  muBten. 
Er  hat,  als  friiherer  Rechtsanwalt, 
gegen  die  deutsche  Partei  ausfiihrhch, 
mit  Rede  und  Gegenrede,  den  ProzeB 
gefiihrt  — nicht  mehr  als  der  Syndika- 
list,  der  er  ein  Leben  lang  mit  riick- 
sichtslosem  Mute  war,  sondern  als 
Blanquist,  zu  dem  die  Ereignisse  und 
sein  Temperament  ihn  gemacht  haben. 
Sein  Fall  ist  typisch.  Vielleicht  komme 


82 


Glossett 


ich  dazu,  ihn  mit  der  notwendigen  Aus- 
fiihrlichkeit  zu  schildern. 

Ich  habe  den  Mann  gekannt.  Er  ist 
nicht  der  Hanswurst,  fur  den  so  man* 
cher  heutige  deutsche  Radi  kale  ihn 
auf  den  internationalen  Kongressen 
halten  mochte,  — weil  er,  fur  seine 
Oberzeugung  verurteilt,  mit  Lachen 
und  durchaus  ohne  viel  Aufhebens  ins 
Gefangnis  iibersiedelte.  Wer  wollte 
ihn  einen  Fuhrer  nennen?  Aber:  wo 
waren  denn  unter  den  Leichenbittern 
der  deutschen  Unentwegten  die  Fuh- 
rer? Vor  lauter  Demagogen  sah  man 
keine  Politiker  mehr,  vor  lauter  Schrift- 
gelehrten  keinen  Vlann.  Sie  mogen 
einander,  nachdem  Bebel  und  Jaures 
tot  sind  und  im  Glauben  an  die  letzte 
Illusion,  die  sie  mit  diesen  Namen  ver- 
kniipfen,  voile  Absolution  erteilen. 

„DEMAIN.44 

Seit  dem  15.  Februar  1916  erscheint 

in  Genf  eine  Halbmonatsschrift  „De- 
main*1  die  Henri  Guilbeaux  heraus- 
gibt.  Sein  Programm:  „Demain  sagt, 
was  die  Presse  ihren  Lesern  sorgsam 
verschweigt:  Ansichten  von  Schrift- 
stellern,  Kiinstlern,  Soziologen,  die 
Menschen  geblieben  sind,  und  ver- 
offentlicht  vielfaltige  und  zahlreiche 
Dokumente  aller  Art,  die  nur  einigen 
Privilegierten  bekannt  sind.44  In  der 
dritten  Nummer  interessieren  Zu- 
schriften  franzdsischer  Soldaten:  „Ich 
kehre  heute  an  die  Front  zuriick.  Ich 
kann  es  nicht,  ohne  dir  ein  Bravo  fur  dei- 
ne  tapfere  Zeitschrift  zuzurufen.44  Ein 
anderer  verspricht,  die  Zeitschrift  ,.viel 
herumzuzeigen,  um  sie  bekannt  zu 
machen44.  Die  Zeitschrift  erscheint  bei 
J.  H.  Jeheber  in  Genf,  28  Rue  du  Mar- 


che. Sie  ist  bunt,  lebhaft,  tapfer  und  in 
ihrem  Glossenteil  ein  wahrer  Tauben- 
schlag,  wo  sich  die  sagenhaften  Ol- 
zweige  haufen,  Vorboten  des  Friedens 
aus  alien  Himmelsrichtungen.  Der 
Herausgeber  geht  in  seiner  Auffassung 
liber  die  Probleme,  die  der  Krieg  auf- 
geworfen  hat,  weiter  als  sein  Meister 
und  Freund  Romain  Rolland,  den  er  in 
einer  Flugschrift  gegen  ebenso  dumme 
wie  maBlose  Angriffe  franzdsischer  Li- 
teraten  und  Joumalisten  verteidigt  hat. 
Natlirlich  hat  die  groBe  Presse  in  Frank- 
reich  getan,  wie  arofie  *Pressen  immer 
und  ungefahr  iiberall  zu  tun  pflegen: 
sie  hat,  nach  einer  langen  Reihe  sorg- 
faltig  gesteigerter  Injurien  gegen  Ro- 
main Rolland,  bei  welcher  Arbeit  der 
„ Matin 44  sich  besonders  hervortat,  von 
der  Verteidigung  durch  Guilbeaux,  die 
statt  aus  Beschimpfungen  aus  Argu- 
menten  be  stand,  keine  Notiz  ge- 
nommen. 

PAZIFISMUS. 

Diese  Zeitschrift  rechnet  sich  nicht 
zur  pazifistischen  Literatur.  Ich  glaube 
nicht,  daB  wir  eine  Regelung  der 
Gegen satze  im  Leben  der  Volker,  die 
beileibe  nicht  nur  wirtschaftlicher  Na- 
tur  sind,  erleben  werden.  Jedenfalls 
wird  das  Ende  des  Krieges  kaum  durch 
einen  „Sieg  der  Vemunft44  erreicht 
werden,  ebensowenig  wie  seine  Be- 
endigung,  sie  mag  sein  wie  sie  wolle, 
die  erwahnten  Gegensatze  aus  der  Welt 
schaffen  kann.  Es  ist  und  wird  eine 
Unsumme  Kleinarbeit  zu  verrichten 
bleiben,  um  auch  nur  die  Basis  wen ig- 
stens  fiir  eine  vemunftgemaBe  Rege- 
lung von  Dingen  herbeizufuhren,  die 
ganz  allein  Angelegenheiten  der  Ver- 
nunft  sind. 


Glossen 


83 


Die  Leute  irren,  die  vom  Pazifismus 
mehr  erwarten,  als  die  Herstellung  und 
— wenn  ich  so  sagen  darf  — Konsoli- 
dierung  einer  Atmosphare,  und  tun 
den  reprasentativen  Fuhrern  des  Pazi- 
fismus unrecht.  Der  Pazifismus  ist 
keine  politische  Bewegung,  sondern 
eine  geistige  Verfassung,  in  der  Indi- 
viduen  sich  befinden,  behaupten  und 
handeln. 

Im  dritten  Heft  der  „Internationalen 
Rundschau*4  driickt  sich  ein  berufener 
Fiihrer  des  Pazifismus,  Dr.  Alfred 
Fried,  also  aus: 

„Wenn  man  aber  eine  Definition 
der  pazifistischen  Bewegung  in  ihrer 
Gesamtheit  geben  will,  so  muG  man 
zu  einer  negativen  Feststellung  greifen. 
Die  Einheit  liegt  nicht  in  dem,  was 
ihre  so  verschieden  gearteten  Anhanger 
wollen,  sondern  in  dem,  was  sie  n i c h t 
wollen.  Nur  die  Ablehnung  des  gegen- 
wartigen  Zustandes  der  zwischenstaat- 
lichen  Beziehungen  und  der  sich  dar- 
aus  ergebenden  Verhaltnisse  bildet  das 
einigende  Band  der  Bewegung.** 

Ich  mochte  den  Pazifismus  mit  der 
Enzyklopadie  vergleichen:  keine  poli- 
tische Bewegung,  aber  ein  Wille,  der 
sich,  vielgestaltig,  auslebt.  Es  ist  leicht 
zu  sagen,  daG  etwa  Voltaire  der  An- 
stifter  der  groGen  Revolution  gewesen 
sei.  Jedoch,  diese  war,  weit  von  Vol- 
taire, sogar  von  Rousseau  nicht  unbe- 
trachtlich  entfernt,  ein  politischer  Ge- 
waltakt,  und  vortreffliche  Kameraden, 
die  auf  der  Flote  die  Macht  desGeistes 
zu  variieren  pflegen.mdchte  ich  — nicht 
auf  Taine  und  andere  Historiker,  nein, 
nur  gam  menschficA  und  durch  das 
Beispiel  eines  Einzelschicksals  viel- 
leicht  liberzeugender,  als  durch  jedes 
geschichtliche  System,  auf  das  Schick- 


sal  eines  Rivarol  hinweisen  und  zweier 
Dutzende  von  andern  Geistigen,  die 
mit  der  Explosion  des  politischen  Er- 
eignisses  aufflogen. 

das  sie  in  jeder  Weise  vorbereitet 
hatten, 

und  das,  fur  die  Oberlebenden,  im 
Verlauf  von  zehn  Jahren  seine  Gewalt 
gegen  sie  kehrte  nach  Gesetzen,  die 
starker  waren,  als  sie.  Der  Geist  kann 
und  soli  administrieren,  die  Politik  ge- 
hort  zur  Exekutive.  Deshalb  wird  eine 
starke  Politik  immer  zur  Exekutive  hin- 
streben.  So  unmoglich  es  mir  scheint, 
einen  lebendigen  Menschen  zu  zwei- 
teilen  in  einen  „Philosophen**  (im 
Sinne  der  Enzyklopadisten  und  Pazi- 
fisten)  und  in  einen  brutaleren  Poli- 
tiker,  so  sehe  ich  darum  doch  nicht 
ein,  warum  der  Politiker  nicht  ein 
Philosoph  oder  der  Philosoph  ein  Poli- 
tiker sein  solle.  Ich  erinnere  mich  an 
eine  — polemische  — Schilderung  des 
Philosophen  Peguy,  die  den  Politiker 
Jaures  als  Interpreten  Bergsons  und 
an  den  Seineufern  hinhallenden  Sanger 
Hugo’scherStrophen  zeigte:  im  Hand- 
gemenge  des  Dreyfushandels  und  poli- 
tischer  Kampagnen.  Die  Forderung, 
die  heute  dringender  ist,  als  je,  bleibt: 
die  Ablehnung  des  parteipolitischen 
Routiniers  als  politischen  Fiihrers,  die 
Notwendigkeit,  daG  ein  solcher  Fiihrer 
ein  „Reprasentant  seines  Volkes44  sein 
miisse.  Der  Reichstagsabgeordnete 
Franck,  ein  friihes  Opfer  des  Krieges 
wie  Piguy  und  Jaures,  gait  fast  als 
Dandy,  weil  er  zuweilen,  im  Smoking, 
Berliner  Theaterpremieren  besuchte, 
ein  anderer  deutscher  Reichstagabge- 
ordneter  wurde  lacherlich,  als  ein  poli- 
tischer Gegner  im  Reichstag  Verse  von 
ihm  vortrug,  ein  anderer,  weil  er  im 


84 


Glossen 


Theaterbetricb  ein  soziales  Problem 
entdeckt  hatte,  wieder  ein  anderer,  weil 
er  sich,  mit  unendlicher  Vorsicht,  fiir 
modeme  Malerei  interessierte.  Da- 
gegen  wohnte  ich  in  der  franzosischen 
Kammer  einem  heftigen  Angriff  auf 
Maurice  Barr£s  bei,  den  der  Gegner 
mit  einer  keineswegs  banalen  Wiirdi- 
gung  des  Verfassers  von  „Le  Jardin  de 
Berenice*4  und  anderer  „bedeutender 
Werke  des  franzosischen  Geistes**  ein- 
leitete;  und  wenn  in  England  Bernard 
Shaw  zuweilen  als  ein  Narr  hingestellt 
wird,  so  liegt  das  teils  an  seiner  un- 
iiberwindlichen  Neigung,  Spasse  zu 
machen,  die  ihm  ernst  sind,  teils,  beim 
Englander,  an  der  Eigenschaft  des 
Dichters  als  Kelte.  Den  haben  aber 
selbst  in  England  diese  Umstande  nicht 
zuriickgehalten,  im  politischen  Kampf 
eine  betrachtliche  politische  Rolle  zu 
spielen.  Der  Politiker  fiihrt  aus,  der 
Schriftsteller  bereite  die  Politik  vor. 

Das  zweite  Kaiserreich  zerbrach  in 
Sedan.  Wer  kann  wissen,  ob  es  nicht 
Sedan  iiberlebt  hatte,  wenn  nicht  Mil- 
lionen  Kopfe  durch  „Napoleon  le 
Petit**,  die  „Chatiment$*'  und  einige 
hundert  andere,  minder  bedeutende 
Geisteswerke  auf  die  Katastrophe  vor- 
bereitet  gewesen  waren  ? 

Victor  Hugo  beging  iibrigens  einen 
grofien  Fehler,  den  Politiker  wie  Ben- 
jamin Constant,  Chateaubriand,  La- 
martine, Renan,  Barres  sorgfaltig  ver- 
mieden:  er  machte  aus  dem  Red- 
nertisch  des  Senats  eine  Biihne  fiir 
literarische  Kleinkunst.  Also  konnte  er 
keine  direkten  politischen  Erfolge  da- 
vontragen.  Bei  uns  hat  Friedrich  Nau- 
mann  die  Stellung  eines  Reprasen- 
tanten  des  geistigen  Deutschland  mit 
Erfolg  erstrebt.  In  jeder  Partei  sitzen 


ein  paar,  die  mehr,  als  parteipoli- 
tische  Kampfhahne  sind,  Konrad  Haus- 
mann  und  Haas  bei  den  Freisinnigen, 
ein  halbes  Dutzend  im  Zentrum,  Calker 
bei  den  Nationalliberalen  — die,  sollte 
man  meinen,  in  dieser  Beziehung  eine 
gewisse  Tradition  haben  — einige,  die 
nie  sprechen,  bei  den  Konservativen, 
die  wenigsten  unter  den  Sozialdemo- 
kraten.  Aber  wer  wiiBte  nicht,  daB  sie 
von  ihrem  Wissen  um  Geistiges  bisher 
einen  schamlos  priiden  Gebrauch  ge- 
macht  haben,  in  der  Hinterstube  von 
Zeitschriften  und  in  den  Wandelgangen 
des  Reichstags,  wo  die  bequemen  Klub- 
sessel  stehn  ? 

Damach  wird  man  es  mir  nicht  libel- 
nehmen,  wenn  ich  Adolf  Grabowsky 
die  grofite  Achtung  bezeuge,  von  dem 
ich  nicht  weiB,  welche  Erfolge  er  in 
seiner  — der  freikonservativen  Partei  — 
haben  wird,  der  aber  fiir  seine  Sache, 
die  ganz  und  gar  nicht  die  meine  ist, 
seine  ganze  Person  einsetzt  in  einem 
MaBe,  daB  nicht  einmal  das  Geschwatz 
seines  Mitarbeiters  Oskar  A.  H. Schmitz 
ihn  kompromittieren  kann?  Er  war 
kulturkonservativ,  lange,  bevor  andere, 
seine  Gegner,  bei  Ausbruchdes  Krieges 
sich  plotzlich  zu  Kulturkonservativen 
aufrafften,  er  machte,  neben  der„Zeit- 
schrift  fiir  Politik*1,  das  „Neue  Deutsch- 
land**, an  dem  sich  seither  „bewuBt° 
gewordene  Journale  wie  die  „Siid- 
deutschen  Monatshefte**  ein  Beispiel 
nehmen  sollten,  und  war  und  ist  und 
bleibt,  durch  all  das,  in  all  dem  ein 
Dichter  von  Rang,  der  Schopfungen 
des  kiinstlerischen  Geistes  mit  ganze m 
Herzen  aufnimmt  und  die  geringste 
geistige  Anregungmit  Jeidenschafthcher 
Freudeannahme.  Ichwiinschte.er  saBe 
auf  den  Banken  der  Freikonservativen 


Glossen 


85 


imParlament  und  gewanne  seine  Partei- 
genossen  fur  den  unvermeidlichenRiick- 
zug  auf  die  nationale  Kultur,  der  sich, 
bei  den  konservativen  Parteien  der 
andem  europaischen  Lander,  langst 
vollzogen  hat.  Denn  es  ist  klar,  dafi 
von  seiner  Partei  in  zwanzig,  in  fiinf- 
zig,  in  hundert  Jahren  nichts  mehr 
bestehen  wird,  wenn  sie  diesen  Weg 
nicht  einschlagt. 

Man  braucht  Gegner,  um  vor warts 
zu  kommen,  und  je  besser  sie  sind, 
desto  besser  wird  die  nationale  Politik 
sein,  die  der  Angelpunkt  fiir  alle  Politik 
bleibt  — und  der  Weg  zur  Verwirk- 
lichung  aller  Utopien. 

Der  Pazifismus? 

Keine  Partei.  Keine  politische  Be- 
wegung. 

Die  Diagnose  einer  Krankheit,  an 
der  die  Menschheit  gesunden  kann. 

*Rudo(f  OCayser  erinneri  an 

Wienbarg. 

In  Ernst  Joels  „Flugblattern  an  die 
deutsche  Jugend,  ausgegeben  von  der 
Berliner  Freien  Studentenschaft*4  hat 
Rudolf  Kayser  das  12.  Heft  mit  Bruch- 
stiicken  aus  L.  Wienbargs:  „Astheti- 
schen  Feldziigen44  gefiillt.  Er  bemerkt 
dazu  in  einem  kurzen  Vorwort: 

„Es  ist  von  deutschen  Manifesten 
zwischen  Lessing  und  Nietzsche  der 
hellsten  und  wichtigsten  eines,  mit 
kiihner  Leidenschaft  geschrieben.  Es 
ward  das  Programm  jener  die  Romantik 
ablosenden  Literaturrichtung  des  ,jun- 
gen  Deutschland*.  Miide  des  Astheti- 
zismus  und  passiven  Individualismus, 
unter  den  Wirkungen  der  Julirevolu- 


tion  und  der  politisierenden  Philo- 
sophic Hegels  erhoben  die  Jungdeut- 
schen  ihre  Forderungen:  das  Denken 
auf  die  Wirklichkeit  zu  lenken,  die 
Kunst  wollend  und  politisch  zu 
machen  . . 

Aus  den  Bruchstucken  seien  einige 
Satze  hervorgehoben : 

„Dir,  junges  Deutschland,  widme 
ich  diese  Reden,  nicht  dem  alten.  Ein 
jeder  Schriftsteller  sollte  nur  gleich  von 
vornherein  erklaren,  welchem  Deutsch- 
land er  sein  Buch  bestimmt  und  in 
wessen  Handen  er  dasselbe  zu  sehen 
wiinscht.  Liberal  und  illiberal  sind  Be- 
zeichnungen,  die  den  wahren  Unter- 
schied  keineswegs  angeben.  Mit  dem 
Schilde  der  Liberalitat  ausgeriistet  sind 
jetzt  die  meisten  Schriftsteller,  die  fiir 
das  alte  Deutschland  schreiben,  sei  es 
fiir  das  adlige,  oder  fiir  das  gelehrte, 
oder  fiir  das  philistrose  alte  Deutsch- 
land, aus  welchen  drei  Bestandteilen 
dasselbe  bekanntlich  zusammengesetzt 
ist . . . Dir,  junges  Deutschland.widme 
ich  diese  Reden,  fliichtige  Ergiisse 
wechselnder  Aufregung,  aber  alle  aus 
der  Sehnsucht  des  Gemiits  nach  einem 
besseren  und  schoneren  Volksleben 
entsprungen.  Ich  hielt  sie  als  Vor- 
lesungen  auf  einer  norddeutschen  Aka- 
demie,  hoffe  aber,  sie  werden  den  Ge- 
ruch  der  vier  Fakultaten  nicht  mit  sich 
bringen,  der  bekanntlich  nicht  der 
frischeste  ist.  Ja,  begeisternd  ist  der 
Anblick  aufstrebender  Jiinglinge,  aber 
Zorn  und  Unmut  mischt  sich  in  die 
Begeisterung,  wenn  man  sie  als  Ziicht- 
linge  gelehrter  Werkanstalten  vor  sich 
sieht.  Sklaverei  ist  ihr  Studium,  nicht 
Freiheit.  Stricke  und  Bande  miissen 
sie  flechten  fiir  ihre  eigenen  Arme  und 
FiiBe,  dazu  verurteilt  sie  der  Staat.  Die 


Glossen 


Ungliicklichen,  wie  haben  sie  mich  ge- 
sucht  und  geliebt,  als  ich  ihnen  die 
Freiheit  wenigstens  im  Bilde  zeigte  ... 
Zu  warnen  aber  sind  junge  Manner  von 
Kraft  und  Talent,  sich  nicbt  unbedacbt 
jener  edlen  Tauschung  hinzugeben,  als 
ob  sich  dennoch  ein  zeitgemaBer  und 
volkstlimlicher  Wirkungskreis  fiir  sie 
auf  unsern  Universitaten  erschwingen 
lasse  . . . Denkt  daran,  daB  alle  groBen 
Deutschen  der  neueren  Zeit  nur  zu 
ihrem  Ungliick  deutsche  Universities- 
lehrer  geworden  sind,  daB  ein  Fichte, 
Schelling,  Niebuhr,  Schleiermacher, 
geborene  Tribunen  des  Volkes,  fiir  das 
Volk  und  ihren  eigenen  hoheren  Ruhm 
verloren  gegangen  sind.  Fichtes  Reden 
an  die  deutsche  Nation  verhallten  nicht 
bloB  deswegen  in  den  Wind,  weil  die 
Nation  taub  war,  sondern  weil  zwischen 
ihr  und  ihm  eine  Scheidewand  aufge- 
richtet  war,  die  selbst  Fichtes  eherne 
Stimme  nicht  zu  durchdringen  ver- 
mochte  . . . 

Betrachte  ich  die  geistige  und  leib- 
liche  Lebendigkeit  j’ugendlicher  Volker, 
z.  B.  einst  der  Griechen  und  unseres 
eigenen  Volkes  und  vergleiche  diese  mit 
den  curopaischen  der  Gegenwart,  so 
sehne  ich  mich  unter  jenen  geschichts- 
losen  Menschen  zu  leben,  die  nichts 
hinter  sich  sehen,  als  ihre  eigenen  Fufi- 
stapfen  und  nichts  vor  sich  als  Raum, 
freien  Spielraum  fiir  ihre  Kraft . . . Wir 
sind  krank  an  unserer  Historic,  und  wir 
werden  vielleicht  dariibcr  hinsterben, 
ehe  wir  uns  den  Mut  fassen,  den  un- 
heilbaren  Sitz  unserer  Krankheit  ein- 
zusehen  und  uns  dem  wunderbaren 
Genius  anzuvertrauen,  der  verjiingend 
durch  die  Welt  schreitet.  Jedoch  steht 
dem  Triibsinnigen,  das  in  dieser  An- 
sicht  fiir  uns  liegt,  der  Spruch  der  Hoff- 


nung  gegeniiber,  daB  ein  Augenblick 
alles  umgestalten  icann,  so  im  Schicksal 
des  Einzelnen,  als  im  Schicksal  der 
Volker  und  Nationen.  Was  aber  der 
Jugend,  als  dem  Element  im  Staat,  das 
die  neue  Geschichte  bildet,  jedenfalls 
obliegt,  ist  der  feste  Vorsatz,  nach 
Kraften  den  bezeichneten  Weg  einzu- 
schlagen,  ist  der  feste  Wille,  sich  immer 
entschiedener  von  der  Liige  loszu- 
sagen,  immer  deutlicher  sich  des 
Gegensatzes  zwischen  dem  Alten  und 
Neuen  bewuBt  zu  werden,  jung  und 
jugendlich  zu  leben,  das  Handwerk 
fahren  zu  lassen  und  die  Kunst  zu  er- 
greifen,  das  Unschone  in  Wort  und  Tat 
an  sich  und  andem  nicht  zu  dulden, 
ihr  Ohr  dem  Wehen  des  nahen  Geistes 
nicht  zu  schlieBen  und,  weder  ge- 
dankenlos  und  leichtfertig  dahinlebend, 
noch  schwermutig  briitend,  die  Bliiten 
des  Lebens  und  der  Wissenschaft  mit 
jugendlicher  Unschuld  und  Heiterkeit 
zu  pflegen. 

Es  muB  anders  werden,  das  sollte 
das  Gefiihl  sein,  das  sich  aller  bemach- 
tigte . . . Bildung  ist  ein  weites  Wort 
und  laBt  sich  viel  darein  fassen  . . . 

Wo  die  Grundwurzel  dieses  Obels 
liege,  ist  leicht  abzusehen.  Die  Grie- 
chen hatten’s  Ieichter,  sich  zu  bilden, 
sie  wuchsen  schon  als  Kinder  in  solche 
Bildung  hinein.  Religion,  Politik,  Mo- 
ral, der  Himmel  selbst  begiinstigte  sie. 
Wir  haben  es  dagegen  schwer,  oft  ist 
uns  alles  entgegen,  wir  werden  von  friih 
auf  hierhin  gerissen,  dorthin  gerissen, 
sind  eine  Beute  der  widersprechend- 
sten  Neigungen  und  haben  nirgends 
einen  breiten  sichem  Grund,  urn  in  Ge- 
meinschaft  mit  andem  darauf  fortzu- 
wandeln.  Es  mangelt  uns  an  groBen 
gemeinsamen  Zwecken,  es  mangelt  uns 


Glosscn 


am  offentlichen  Leben,  und  warm  die 
Schwingungen  des  griechischen  Geistes 
zwischen  Wissenschaft  und  Staat,  zwi- 
schen  Wahrheit  und  Schonheit,  zwi- 
schen Religion  und  Poesie,  zwischen 
Himmel  und  Erde  gleichmafiig  hin  und 
her  gingen  und  sich  nie  aus  der  Bahn 
entfemten,  so  schwanken  die  unsrigen 
ohne  rechtes  MaB  bald  zu  der  einen, 
bald  zu  der  andern  Seite  liber,  und  es 
konnen  in  einem  Hause  der  tiefsinnigste 
und  abstrakteste  Philosoph,  der  plattste 
Lebemensch,  der  wiitendste  Demagoge 
und  der  ledernste  Philister  wohnen. 

Es  f ehlt  uns  also  an  gemeinsamen  Mit- 
teln  der  Bildung,  weil  es  uns  an  AuBer- 
ungen  des  gemeinsamen  Lebensfehlt . . . 

Das  bloBe  Wissen  hat  kein  inneres 
MaB  und  Ziel,  es  geht  ins  Unendliche, 
sein  Stoff  zerflieBt  in  Zenttrillionenteil- 
chen  . . . Wissen  als  solches  kann  nicht 
Aufgabe  und  Zweck  des  Lebens  sein, 
weil  dasselbe  mafilos  mit  dem  An- 
wachsen  des  Stoffes  sich  selbst  zerstort 
und  aufhebt44  . . . 

* 

Wienbargs  Aufrufe  sind  mehr  als 
achtzig  Jahre  alt,  Aber:  es  lebe  der 
Optimismus!  Rudolf  Kayser  schrieb 
in  Kurt  Hillers  Sammelbuch  „Das 
Ziel44,  das  in  diesem  Jahr  erschien,  den 
Aufsatz:  „Krieg  und  Geist44 ; er  gipfelt 
in  einem  Kredo: 

„Dem  deutschen  Geiste  ist  es  bis 
heute  nicht  gelungen,  sich  in  ahnlicher 
Weise  wie  der  franzosische  und  der 
englische  Geist  politisch  auszupragen. 
Die  Forderung  Lagardes,  den  Staat  in 
einen  Zustand  iiberzufiihren,  der  mit 
der  Nation  wie  eine  Haut  wachst  und 
sich  andert,  hat  sich  bei  uns  am  wenig- 
sten  realisiert.  Im  deutschen  Reiche 
ist  eher  ein  Regime  symbolisiert,  als  die 


in  ihm  lebende  Nation  und  ihre  Kultur. 
So  ist  es  kein  Wunder,  daB  die  Wege 
des  deutschen  Geistes  und  des  deut- 
schen Reiches  bislang  in  verschiedenen 
Ebenen  liefen.  Fiirchtete  Nietzsche  ja 
sogar  ,die  Niederlage,  ja  Extirpation 
des  deutschen  Geistes  zugunsten  des 
deutschen  Reiches*.  Dieser  Gefahr 
sind  wir  durch  den  gegenwartigen 
Krieg  nicht  nur  entronnen,  sondern 
weit  mehr  ist  gewonnen:  zum  ersten 
Male  fiihlen  sich  in  Deutschland  Geist 
und  Staat  zusammengehorig,  sie  sind 
gemeinsam  bedroht. 

Aus  dieser  Tatsache  erwachsen  For- 
derungen  fur  die  Zukunft.  Nicht,  daB 
ich  sie  als  den  ,Zweck4  dieses  Krieges 
verkiinden  will.  Es  handelt  sich  viel- 
mehr  darum:  das  wirklich  Schopfe- 
rische  dieser  Tage  fiir  die  Zukunft  zu 
sichem.  Und  dies  ist  vor  allem:  die 
gegenseitige  Durchdringung  der  Inter- 
essen  des  Staates  und  des  Geistes.44 

Und  Rudolf  Kayser  schlieBt: 

„Wir  wissen  nicht,  welchen  Weg 
dieser  Krieg  uns  offnen  wird,  wohl 
aber,  daB  ein  neuer  Weg  beginnt.  Ihn 
wollen  wir  schreiten  mit  dem  stahl- 
harten  Willen  zur  Tat.  Wir  machen 
augenblicklich  die  furchtbarste  Schule 
des  Aktivismus  durch.  Die  Erfolge 
werden  und  diirfen  nicht  ausbleiben. 
Wir  hatten  uns  dem  politischen  Leben 
entfremdet,  seitdem  die  offentlichen 
Parteien  aufhorten,  Leidenschaften  zu 
sein.  Sie  begingen  mehr  oder  weniger 
den  Selbstmord  des  Tolerantseins,  im 
Dienste  des  politischen  Geschafts,  in 
Verleugnung  ihres  eigenen  Wollens. 
.Parteien  dulden  sich/  Damit  ver- 
loren  sie  die  Moglichkeit,  dem  Geiste 
zu  seiner  Auspragung  im  Staate  zu  ver- 
helfen.  Der  Geist  wird  nunmehr  selbst 


Glossen 


Poiitik  treiben  und  in  ihr  seine  Formu- 
lierung  finden.  Dann  werden  such  die 
Verflachungen  des  Denkens  und  die 
wirtschaftlichen  Auswiichse  einer  zur 
Bliite  gekommenen  Bourgeoisie  nicht 
wiederkehren  wie  nach  Deutschlands 
letztem  Siege. 

Die  neue  Geistigkeit  wird  nicht  im 
Nationalismus  stecken  bleiben,  sondem 
wie  friiher  das  Schopferische  aller  Vol- 
ker  aufnehmen  und  verarbeiten.  Nur 
daB  sie  den  Staat  und  seine  Schicksale 
nicht  mehr  gleichgiiltig  beiseite  laBt 
und  dadurch  Gefahr  lauft,  auch  die 
Nation  zu  verraten.  Der  Geist  wird 
das  Blut  im  Staatskorper  Deutschlands 
werden,  und  diese  Zusammengehorig- 
keit  wird  beider  Leben  bereichem.44 

‘Frans  9Caver  Schmitt. 


Carf  Ginsfein. 

,/Wir  sind  des  Wialefaikers,  des 
<Jc6auspielers,ja  des  asfcetischen 
tisten  (dieses  weifien  Gammes)  liber* 
drdssig  — wir  fordem  Pilcher,  wefche 
die  Ulandlungen  sidrfcen  und  organi* 
sieren,  Wilder,  ohne  die  Uiemmungen 
des  verfdhrenden  IKostdms , welch e 
die  5 e si  cite  steigem " 

( ‘PofititcA*  &nm*r£ungtn.  1912.) 

Wichtiger  noch  als  in  normalen  Zeit- 
lauften  ist  es  jetzt,  sich  auf  das  zu  be- 
sinnen  und  dariiber  sich  Rechenschaft 


Handbreit  vor  dem  eigenen  Schild, 
aber  den  wenigen,  die  vorausschntten 
und  steilere  Wege  bereiteten,  ihres 
Lohnes  kein  Tiipfelchen  mehr  vorent- 
halten  bleiben.  Schwerer  wird  dann 
das  Gewicht  ihres  Werkes  sich  er- 
weisen  und  ihrer  stillen  Stetigkeit  ge- 
rechte  Wiirdigung  und  mehr  als  das 
beschieden  sein. 

Carl  Einstein  ist  ein  solcher  Organi- 
sator,  Schrittmacher  der  Kommenden, 
eine  Stimer-Natur  mit  RichtmaB  und 
Femglas.  In  der  standhaft  zielentschlos- 
senen  Zeitschrift  „Die  Aktion**  finden 
sich  zuerst  Aufsatze  von  ihm  liber 
literarische,  politische,  psych ologische, 
kunstkritische  Probleme,  eindringlich 
intellektuelle  Arbeiten,  die  oft  in  wenig 
Zeilen  Anregendes,  Bereicherndes  fur 
lange  bargen  und  das  wohlausgeriistete 
Gedankenatelier  eines  Kopfes  von  elast- 
ischer  Oberlegenheit  und  gesch&rfter 
Sehkraft  enthiillten.  Skizzen  wie  MLe- 
gende44  (April  1913)  oder  „Der  Ab- 
schied44  Qxi\\  1913)  muten  wie  Vor- 
studien  an,  und  in  dem  Essay  ttOber 
den  Roman44  (1912)  war  schon  ein 
exaktes  Programm  aufgestellt : der 
ganze  plauschende  Hokuspokus  land- 
laufiger  Belletristik  (philosophischer 
Schwa tz,  Anekdotenkram,  Lyrisches, 
Schilderung)  ist  abzutun ; „das  Absurde 
zur  Tatsache  machen  I Kunst  ist  eine 
Technik*  tatsachliche  Bestande  und 
Affekte  zu  erzeugen.44  Anwendung  und 
Beweis  dieser  Theorien  soil  dann  der 


abzulegen,  was  an  neuen  Werten  vor-  Roman  „Bebuquin  oder  die  Dilettanten 
handen  ist  und  der  Zukunft  wartet,  zu  des  Wunders44  sein,  (erschienen  im 
sammeln  fur  die  helleren  Tage,  wenn  Verlage  der  Wochenschrift  „Die  Ak- 
die  Wasser  sich  verlaufen  haben  und  tion44,  Berlin- Wilmersdorf  1912),  ein 
der  Berge  Spitzen  wieder  hervor-  Paradigma,  mit  dem  eine  neue  Epoche 
kommen.  Dann  wird  vieles  schweigen  derEpikbegonnen  werden  diirfte.Statt 


miissen,  was  nicht  weiter  sah,  als  die  Erzahlerei,  Reporterlust, 


Kinonahe 


Glossen 


89 


noch  der  bestgebauten  „Geschichten44 
alten  Stiles  soli  hier  eine  Disziplin  Fi~ 
gur  werden,  die  voller  Entwicklungs- 
moglichkeiten  steckt . Statt  des  im  Grun- 
de  nicht  mehr  sehr  variablen  Aufiens 
wird  der  tausendfaltige,  noch  unange- 
tastete  Schatz  des  Innens  in  Angriff 
genommen  von  einer  Hand,  die  den 
diffizilsten  Apparat  sicher  zu  bedienen 
weiB.  Kein  irgendwie  in  Personen  oder 
Sachen  eingehakter  Konflik  spielt  sich 
zwischen  den  bekannten  Kulissen  einer 
stets  vorratigen  Korperwelt  ab,  sondern 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die 
ganze  Tragikomodie  des  Intellekt-Le- 
bens  (die  Geographic  des  Kosmos 
„Hirn“)  wird  zum  erstenmal  als  Stoff- 
gebiet  epischer  Belichtung  freigemacht 
und  zurDebatte  gestellt.  Jetzt  geht  es 
um  Komplizierteres,  als  um  Zufall- 
hemmungen  und  Augenblickshinder- 
nisse,  die  ein  Arrangement  im  Husch 
erledigt  — der  hartere  Kampf  des  Er- 
kennens  ist  das  Motiv  mit  alien  seinen 
Ekstasen,  Gebeten,  Grotesken,  Bit- 
ternissen,  Winkelziigen,  Widersprii- 
chen  und  unstillbaren  Sehnsuchten 
liber  jede  Erfiillung  hinaus.  („Stoff- 
losigkeit,  Stofflosigkeit44,  knirschte  er 
vor  Wut.44)  Neue  Hollenwanderungen 
sind  zu  bestehen,  aber  die  Purgatorien 
heissen  Logik,  Erotik,  Ideologic,  Ro- 
mantik,  Selbstbetrug,  und  der  Tod  ist 
mehr,  als  Losung  der  Dissonanzen  und 
erhalt  endlich  seine  schlichteste  Ver- 
klarung.  Einem  so  exklusiven  Futuris- 
mus  (im  besseren  und  besten  Sinne 
des  Wortes),  der  heut  noch  in  trost- 
loser  Einsamkeit  dasteht,  bleibt  kaum 
etwas  anderes  iibrig,  als  sich  die 
Schwermut  seines  Abseits  durch  Ironie 
zu  erleichtern,  und  natiirlich  verfiihrt 
schon  das  BewuBtsein  einer  exponier- 


ten  Souver&nitat  dazu,  gelegentlich  aus 
seinem  Gesetz  eine  Akrobatik  zu  ma- 
chen.  „Kein  Ding  gerat,  an  dem  nicht 
der  Obermut  sein  Teil  hat44,  heiBt  es 
bei  Nietzsche.  Man  darf  ja  auch  nicht 
vergessen,  daB  Einstein  sich  faktisch 
erst  die  seinem  Wollen  entsprechende 
neue  Sprache  schaffen  muBte,  daB  er 
also  gezwungen  ist,  manchmal  gleich- 
sam  durch  ein  Kunststiick  sich  selbst 
zu  iiberbieten.  Abgesehen  da  von  und 
abgesehen  von  einer  gewissen  Anamie 
hat  das  Buch  doch  die  Konsequenz 
und  dasGIeichgewicht  seiner  erstrebten 
Struktur,  und  man  wird  spater  hier 
ankniipfen,  und  GrundriB  seiner  neuen 
Gattung  wird  diese  Bild  gewordene 
Philosophic  werden,  dieses  konzen- 
trierte,  unmittelbare  Denk-Epos,  in 
dem  der  Tatbestand  bis  zur  Durch- 
sichtigkeit  gelautert  und  das  Schwingen 
an  burlesken  Trapezen  noch  artistisch 
grazios  und  beherrscht  ist.  Es  ist  ein 
Aussichtspunkt  in  die  Zeit  hinein,  wo 
der  Geist  wieder  mehr  vorstellen,  wo 
das  Groschenleid  der  Herzen  oder  der 
Hiillen  nicht  mehr  so  erschiittemd 
genommen  und  der  Oberschlag  allge- 
mein  sein  wird,  daB  die  Erregungen 
der  Seelen  immer  etwas  Aufgepappeltes 
und  Kitschnachbarliches  behalten,  der 

Geist  aber  Explosionen,  Jagden, 
Schlachten  und  Triumphe  schenken 
kann,  die  unvergleichlich  rein  und 
fruchtbar  sind.  Und  dafi  der  Geist  das 
energische  und  machtvolle  Agens  zur 
Zukunft  ist! 

Wie  diese  Zukunft  schon  heut  in 
den  Kompositionen  bildender  Kunst 
sich  andeutet,  das  zu  untersuchen,  un- 
ternahmen  Einsteins  Kundgebungen 
iiber  Ausgestelltes,  Maler,  Malerkritiker 
und  dergleichen.  Und  von  der  Orien- 


Glossen 


tierung  iiber  Tendenzen,  die  er  dabei 
vorfand,  kam  er  als  zu  einem  mogli- 
chen  gemeinsamen  Ausgangspunkt  zur 
Negerplastik,  der  er  einen  grundlegen- 
den  Band  widmet.  Der  Verlag  der 
WeiBen  Bucher  in  Leipzig  bringt  ihn 
in  schlechthin  idealer  Ausstattung  her- 
aus.  In  ein  paar  knappen  Kapiteln  von 
strammem  GuB  wird  ein  Bezirk,  der 
bisher  so  gut  wie  verschiittet  und  ver- 
achtet  liegen  geblieben  war,  vom  grdb- 
sten  Unrat  gesaubert,  und  ein  hoff- 
nungsvolles  Gebiet,  das  AnmaBung 
und  Vorurteil  versperrt  hielt,  in  seiner 
Fruchtbarkeit  entdeckt  und  ernsthafter 
Verwertung  zuganglich  gemacht. 
Geradezu  vorbildlich  fur  Kunstkom- 
pendien  jeder  Art  mochte  ich  die  An- 
lage  des  Buches  nennen,  insofern  sie 
den  Hauptakzent  auf  Anschauung  legt 
und  den  einundzwanzig  Seiten  Erlau- 
terung  mit  hundertundneunzehn  Seiten 
untadelhaft  reproduzierter  Bildtafeln, 
vor  denen  man  in  Andacht  versinken 
und  den  ganzen  Hellenismus  wie  eine 
gekrauselte  Operettengelecktheit  preis- 
geben  kann,  eine  zureichende  Kon- 
trolle  und  Bestatigung  verleiht.  Ober- 
zeugend,  in  pragnant  festlegender  For- 
mulierung  wird  ein  kurzgef aBter  Kanon 
fur  eine  besser  zu  informierende  Wis- 
senschaft  gepragt.  Der  Neger  und  seine 
Kunst  erfahrt  eine  glanzende  Ehren- 
rettung,  und  die  afrikanische  Plastik 
wird  gegeniiber  unsrer  eignen,  konti- 
nentalen,  stark  von  malerischen  Surro- 
gaten  durchkreuzten  als  die  ungemin- 
derte  und  restlose  Lei  stung  des  Drei- 
dimensionalen,  Kubischen  erwiesen. 


„Die  Negerplastik  hat  isoliertdie  reinen 
plastischen  Formen  geziichtet44,  sie 
gibt  „eine  klare  Fixierung  des  unver- 
mischten  plastischen  Sehens  gegeniiber 
den  uns  gelaufigen,  europaischen  Aus- 
weg-Losungen44.  In  praziser  Gliede- 
rung  werden  diese  Sichtungen  und 
Bescheinigungen  herausgefeilt  und  ein 
gehaltvolles  Werk  von  bedeutender 
Tragweite  aufgestellt,  dessen  beilaufige 
Glossen  uber  die  Methode,  das  Tato- 
wieren,  die  Maske,  den  Egoismus  des 
Beters  (wieder  an  Stirner  gemahnend) 
ein  ganzes  Rudel  tiefersondierender 
Priifungen  in  Schwung  setzen  miissen. 

Eine  Abanderung  des  Einstein-Por- 
trats  schlieBlich  nach  der  politisch- 
literarischen  Betatigung  hin  wiirde  den 
gekennzeichneten  UmriBbefund  nicht 
verandern,  sondern  nur  noch  nach- 
driicklicher  bekraftigen,  und  es  be- 
hauptet  sich  dies  Bild  eines  Zukunft- 
Ingenieurs  mit  geiibten  Augen,  der  die 
Zusammenhange  und  Beziehungen  zu 
Stembildern  verheiBungsreicher  Deu- 
tung  ordnet  und  iiber  dem  Tor  seiner 
von  Licht  erfiilltenWerkstatt  als  Motto 
und  Willkommen  die  Strindbergsatze 
zeigen  darf: 

„Was  ist  deine  groBte  Freude  ?“ 

„Einen  neuen  Gedanken  gebaren  I44 

fflax  {HeTrmann'fteisse. 

NOTIZ. 

Das  Manuskript  des  vierten  StQckes  von 
Eduard  Bernsteins  Erin ne ru nge n:  MIn 
Zurich**  brauchte  so  viel  Zeit  filr  seine  Reise 
von  Berlin  hierher,  daB  es  erst  im  nSchsten 
Heft  verdffentlicht  werden  kann. 


Die  Sammlung 

Der  jungsteTag 

bringt  in  zwangloser  Reihenfolge  Schopfungen  der  jungsten 
Dichter.  Vorerst  sind  folgende  Bande  herausgekommen : 

Bd.  1.  Franz  Werfel:  Die  Versuchung.  Ein  Gesprach. 

„ 2.  Walter  Hasenclever:  Das  unendliche  Gesprach.  Eine 

nachtliche  Szene. 

„ 3.  Franz  Kafka:  Der  Heizer.  Eine  Erzahlung. 

„ 4.  Ferdinand  Hardekopf:  Der  Abend,  Ein  Dialog. 

ff  5.  Emmy  Hennings:  Die  letzte  Freude.  Gedichte. 

„ 6.  Carl  Ehren stein:  Klagen  eines  Knaben.  Skizzen. 

„ 7/8.  Georg  Trakl:  Gedichte. 

f#  9.  Francis  Jammes:  Gebete  der  Demut. 

„ 10.  Maurice  Barr&s:  Der  Mord  an  der  Jungfrau. 

„ 11.  Paul  Boldt:  Junge  Pferdel  Junge  Pferdel  Gedichte. 

„ 12.  Ottokar  Bfezina:  Hymnen. 

,,  13.  Berthold  Viertel:  Die  Spur.  Gedichte. 

„ 14.  Carl  Sternheim:  Busekow.  Eine  Novelle. 

„ 15.  Leo  Matthias:  Der  jungsteTag.  Ein  groteskes  Spiel. 

„ 16.  Marcel  Schwob:  Der  Kinderkreuzzug.  Erzahlung. 

„ 17.  Gottfried  Kolwtl:  Gesange  gegen  den  Tod. 

„ 18.  Paul  Kraft:  Gedichte. 

„ 19.  Carl  Sternheim:  Napoleon.  Eine  Novelle. 

„ 20.  Kasimir  Edschmid:  Das  rasende  Leben.  Zwei 

Novellen. 

„ 21.  Carl  Sternheim:  Schuhlin.  Eine  Novelle. 

„ 22/23.  Franz  Kafka:  Die  Verwandlung.  Eine  Novelle. 

„ 24.  Ren6  Schickele:  Aisse.  Aus  einer  indischen  Reise. 

„ 25.  Johannes  R.  Becher:  Verbriiderung.  Gedichte. 

Einzelne  Bande:  Geheftet  M.  —.80,  gebunden  M.  1.50 
Doppelbande:  Geheftet  M.  1.60,  gebunden  M.  2.50 

KURT  WOLFF  VERLAG  • LEIPZIG 


VERLAG  VON  EGON  FLEISCHEL  & Co.  ::  BERLIN  W 9 


Ein  deutscher  Casanova 

Die  Abenteuer,  Liebschaften  und  Erlebnisse  einet  napoleonischen  Officers 

Vierzig  Jahre  aus  dem  Leben  einesToten 

Herausgegeben  und  bearbeitet  von  ULRICH  RAUSCHER 

3 B&nde.  Geh.  M.  9. — ; geb,  M.  12. — ; in  Luxus-Einband  M.  18. — 

Au*  dem  Aufsatz  »Krieg  und  Frieden44  von  Hans  Friedcberger  in 
nDaa  literarische  Echo44*  In  einem  Reichtum  von  Einzelheiten,  den  eine  Be- 
tprechung  nicht  einmal  anzudeuten  vermag,  erttehen  diese  vierzig  Jahre  vor  dem  Lever, 
eine  Falle  der  Gesichte  von  Goethe  bit  zu  Lortzing  und  von  Napoleon  bis  zu  Robert 
Blum.  Will  man  die  Zeit  von  der  groBen  bis  zur  Julirevolution  in  ihren  ldeinen  Ztigen 
kennen  lemen,  so  wiiBte  ich  kaum  einen  besseren,  sicher  aber  lceinen  kurzweiligeren 
Begleiter  al*  Conrad  Friedrich,  den  franzosisch-preuBischen  Offizier. 

Aus  dem  FeuiUeton  von  Alfred  Bock  im  Stuttgarter  Neuen  Tageblatt  * 

Ich  sage  es  vorweg : Dies  ist  eines  der  unterhaltendsten,  f esselndsten,  in  seiner  Art  be- 
deutendsten  Memoirenwerke,  das  mir  je  vor  Augen  gekommen  ist.  — Nach  der  ein- 
gehenden  Besprechung:  Von  der  Fiilie  seltsamer  Begebnisse,  kriegsgeschichtlicher 
Vorfuhrungen,  interessanter  Erlebnisse  und  erotischer  Entrefilets,  die  das  dreib&ndige 
Werk  in  sich  vereinigt,  konnte  hier  nur  andeutungsweise  die  Rede  sein,  es  liest  sich 
wie  ein  spannender  Roman  (spannend  im  beaten  Sinne  des  Wortes  gebraucht),  aber 
auch  der  Kulturhistoriker  kann  irilnftig  nicht  daran  vorflbergehen. 


Neuidealismus  im  Geiste  von  Fichte  und  Lagarde 


DIE  TAT 

Monatsschrift  fiir  die  Gestaltung  deutscher  Kultur 
Vierteljahrlich  M.  3.— . Der  Jahrgang  beginnt  am  1 .April 

Die  TAT  steht  neben  der  #,HILFE“  von  Fr.  Naumann  und  dem 
ftKUNSTWART44  von  Ferd.  Avenarius,  sie  ist  sozial-religios  betont 
und  sieht  ihre  Aufgabe  weniger  in  „orientieren‘\  „werten4<  oder 
„warten4\  sondern  in  demVerkniipfen  von  Lebendigem  mit  Lebendigem. 
Sie  ist  aggressiv,  denn  sie  tritt  fiir  den  sckaffenden  Geist  ein  und  es  kann 
in  ihr  jede  ketzerische  Meinung  gesagt  werden,  sofem  sie aufbauend  ist: 
durch  die  selbstandige  Einzelpersonlichkeit  zur  Allge- 
meinheit,  durch  die  Allgemeinheit  zur  Einzelpersdnlichkeit. 

Man  verlange  eine  Probenummer! 


Eugen  Diederichs  Verlag  in  Jena 


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Ludwig  Rubiner  ♦ Uas  himmlischt  Lichi  9 1 


J2>  udwjg  H{ubmer: 

DAS  HIMMLISCHE  LICHT 

XnV.X. 

Kamerad,  Sie  sitzen  in  Ihrem  Zimmer  allein,  unter  Menschen 

schweigen  Sie  still. 

Aber  ich  weifi  meine  stummen  Kameraden  hunderttausend 

auf  der  Welt,  zu  denen  ich  reden  will. 

Wir  waren  noch  klein,  da  erhob  zu  uns  die  Erde  ihr  bergiges 

Schmerzensgesicht 

In  unsre  Zehen  bebte  femes  Geland,  von  Sturz  und  Strudel 

urns  Licht. 

Die  Menschen  in  schlaffer  Geilheit  und  trag  liebten  die  Erde 

nicht  mehr, 

Aber  die  Erde  schrie,  wir  horten  sie  nicht,  und  sie  donnerte 

Zeichen  her. 

0 mein  Freund,  glauben  Sie  nicht,  was  ich  Ihnen  sagen  werde, 

sei  neu  oder  interessant. 

Alles,  was  ich  Ihnen  zurufe,  wissen  Sie  selbst,  aber  Sie  haben 

es  nie  aus  rundem  Mund  laut  bekannt. 

Sie  haben  es  zugedeckt.  Ich  will  Sie  erinnem. 

Ich  will  Sie  aufrufen. 

Denn  Gott  rief  die  Erde  fiir  uns  alle  auf. 

Seine  Stimme  hauchte  aus  dem  Untermeer  Vulkan, 
der  in  der  Siidsee  in  die  Lun  ..~e. 

Die  kleine  Kraterinsel  Krakatao  stiefi  den  brennenden  Atem 

Gottes  aus  der  Erde. 


7 


92 


Ludwig  Rubirter  ♦ Das  himmlische  Licht 


Explosion.  Der  Ozean  spritzte  liber  die  Erde,  unvergessen 

in  dreiflig  Menschenjahren. 

Neues  Menschengeschlecht,  und  das  Jahrhundert  war  lang 

zu  Ende. 

Aber  aus  dem  Pacific  brannte  der  Feuerwind  des  Krakatao 

in  unsere  Herzen. 


GEBURT 

Vor  unsrer  Geburt,  in  der  griinen  Siidsee  platzte  die  Erde 

und  das  Wasser, 

Tausend  Menschen  saBen  wie  Schnecken  auf  grofien  Blattern 

in  Hiitten  und  versanken  keuchend. 

Vor  Marseille  fielen  die  roten  Schiffe  um,  das  Meer  schlug 

vom  Mond  herab. 

Die  Dampfer  schnurrten  in  den  Abgrund,  lacherliche  Insekten. 

Als  wir  geboren  wurden,  zog  Feuer  durch  die  Luft. 

Die  Schwarme  des  Feuers  flogen  um  die  Erde. 

Wehe,  wer  nicht  sehen  wollte! 

Tausend  Menschen,  still  heckende  Schnecken,  waren  zu 

Staub  zerplatzt. 

Die  Tage  erbhchen  fur  die  gliihenden  Abende. 

Die  Nachte  schwangen  rote  Palmblattflammen  iiber  Berlin, 

Die  Abende  waren  gelbe  Tiere  liber  der  FriednchstraBe. 

Berlin,  aus  spitzen  Platzen,  grauen  Nebenstrafien,  quoll  das 

Blau  der  Vulkane. 

Die  Frauen  waren  alle  allein,  die  Manner  reckten  sich  auf. 

Die  Schenkel  liefen  durch  Berlin,  heifie  Haarberge  bogen  hoch. 

Die  Sonne  ging  immer  unter.  Die  Abendstrahlen,  heiB,  quollen 

aus  den  Mannern. 

Die  Hauser  waren  kalkig  und  bleich.  Durch  dunkle  Zimmer 

wankte  die  Stadt,  die  Blinde. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Lie  hi 


93 

Wir  wurden  geboren,  Strahlenlicht  kreiste  abends  iiber  unseren 

Miindem, 

Griine  Siidsafthiigel  hingen  vom  Mond  iiber  uns; 

Wir  rissen  unsere  Augen  von  unserem  Blut  auf. 

Der  Himmel  flog  iiber  alle  Strafien  der  Stadt. 

In  der  Vorstrafie  aus  Zaun  und  Stein  wartete  die  grauhaarige 

Mauerdime  auf  die  Soldaten. 

Wir  wuBten,  dafi  es  andere  Lander  gibt. 

In  moblierten  Zimmem  sannen  russische  Stimen  iiber  Bomben- 

attentaten. 

In  den  Vari£t&  wurden  die  sieben  englischen  Puppenmadchen 

geliebt. 

Die  Menschen  sitzen  in  schwarzen  Rocken,  essen  und  werden  alt. 
Am  griinen  Kanalufer  schleppt  man  Leichen  auf  den  Asphalt. 
Die  hohlen  Hauserwande  waren  lose  und  grau. 

Kamerad,  Sie  liefen  die  Strafie  auf  und  nieder,  Sie  waren  blaB 

vor  dem  heiligen  Panoptikumsbau. 

Aus  dem  miifiigen  Durchhaus  der  ganz  Erwachsenen  schoben 
frisch  geschminkt  weiBe  Weiber  mit  dicken  Bauchen. 

Reisende  in  alten  Barten  bebten  betaubt  vor  Biichem  und 
verklebten  Photographien. 

Driiben : starre  Inseln  in  Sonne,  Baume  auf  gelbem  Kies, 
Banke,  selige  Hotels. 

Unter  den  Linden  gingen  die  verschleierten  Auslanderinnen 
mit  den  frierenden  kleinen  Hunden. 

Kamerad,  Sie  liefen  bleich  tauchend  bis  zum  Durchhaus, 
weihevoll. 


Die  FriedrichstraBe  fiel  zu  Boden.  Abendherzen  im  Strahl 
schwebten  auf  Nebengassen. 


Die 


stand  mit  Sternen  in  Ihnen,  der  Tag  war  noch 


Die  Menschen  waren  dick  und  rauchten  Zigarren.  Niemand 


Die 


sah  Sie  an. 


Abendbrand.  die  Hauser 


zerfielen 


31  VoL  m/1 


Ludwig  Rubiner  ♦ Das  himmlische  Licht 


94 

<JSC 

Die  Menschen  gingen  schwer. 

Kamerad,  Sie  waren  ailein.  Niemand  hatte  das  Licht  gesehen. 
Um  die  Erde  spriihte  der  siidliche  Schweifi  des  Vulkans. 
Niemand  sah.  Berlin  schmatzte  rollend. 

Es  war  nicht  mehr  Licht  durch  buntes  Abendglas, 

Nicht  mehr  Fackelwogen  hinter  Spielpapier: 

Flammenschirme  vom  Himmel  bogen  um  unseren  Kopf. 

Die  Luft  schmolz  im  langen  Lichtwind  iibers  Feld, 

Drunten  lag  der  harte  Sand  rotlich  wie  getretener  Mob. 

Wir  heulten  ins  Grime  iibers  Tempelhofer  Feld. 

Vor  schwarzen  Fensterschwarmen  der  schweiCigen  Hinter- 

hauswande 

Stiefien  wir  unsere  Flugdrachen  hoch  in  die  Windfarben  und 

sogen  den  Glanz. 

Berlin,  Ihr  dachtet  an  Geld. 

0 Kleinstadte  der  Welt,  iiber  euch  tropften  die  Farben  alle 

Abend,  ehe  Silber  und  Blau  kam. 

Kamerad,  Ihr  Jungenhaar  zackte  schwarze  drohende  Felsen 

iiber  den  gepfeilten  Brauen. 

Sie  haBten  den  blassen  Schimmel  der  schlaffen  Hausdacher. 
Wir  kannten  uns  nicht. 

Ich  rannte  gefrafiig  umher,  blond  unter  Papierlatemen  zum 
Larmplatz.  Glaserne  Lichterkranze.  Greise  Zauberclowns 
schrien  in  papieme  Trompeten. 

Ich  nahm  meine  dunkle  Schwester,  zarte  Knochel,  in  die 
feuchte  Ringkampferbude. 

Damals  liebte  ich  sie  so. 

O waren  wir  ausgeriickt! 

Wir  saflen  in  verdorrten  Halbgarten.  Soldaten  tranken  aus 

Bierseideln. 

Wir  sahen  durch  griine  Stuhllehnen  auf  holzerne  Karussels. 
Vor  alten  Frauen  in  Wiirfelzelten  zerfransten  sich  gegossene 

Glasvasen. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


95 


Wir  griffen  unsere  Hand  zum  letztenmal.  Wir  warteten. 

O vielleicht  stand  das  feurige  Licht  gleich  an  unserer  Haut: 

uns  alien! 

0 wir  wuGten  alles.  Die  grline  Farbe  glanzte  am  Wirtshaus- 

stakett 

(Einmal  gab  es  wohl  Zeiten,  da  griinten  die  Friihlinge  so  fett.) 
Es  war  alles  fur  uns  und  fur  die  anderen  gemacht, 

Aber  friiher  waren  die  Tage  dumpf  und  grau,  und  dies  gait  als 

Pracht . 

Wir  sahen  uns  an,  hinter  ihren  Augen  braun  und  im  vier- 

zehnten  Jahr 

Schwamm  Hingabe,  wie  Blutstropfen  rollte  ihr  Lacheln  zum 
Hals,  weil  das  neue  Licht  um  uns  war. 

Die  Buden  kreischten,  eine  Tombola  knarrt,  rote  Dienst- 

madchen  traumen  selig  und  taub, 

Wir  wufiten,  so  war  friiher  ein  Fest,  bald  stehn  hier  Hauser 

in  steinernem  Staub. 

Warum  sieht  niemand  das  Licht?  Um  uns  ist  das  Licht.  Die 

Erde  stofit  leuchtende  Brunnen  empor, 

Glutlocher  im  Himmel,  brennende  Riesenschornsteine  von 

Glas,  Lichtsturzstufen  herab  wie  eines  Wasserfalls 
strahlendes  Rohr. 

Wie  Pilze  klein  verwittern  griinliche  Buden  um  Limonadenlicht 

und  larmfarbenes  Friichte-Eis. 

Wir  beide  waren  spriefiende  Walder,  wimmelnde  Erdteile  in 
Himmel  und  Licht,  um  unsere  Glieder  flofi  das  helle  Meer. 
Wir  waren  uns  fremd.  Wir  wirbelten  tief  durch  blaue  Licht- 
kugeln  im  Kreis. 

0 neue  Zeit!  Zukunft!  Preiselbeerrote  Feierlichkeit ! O 
Preis ! 


96 


Ludwig  Rubtner  ♦ Das  himmltsche  Licht 


DAS  LICHT 

Vom  gelben  Himmel  rollte  ein  funkelnder  T reibriemen  clurch 
Yokohama:  heut  abend  sind  die  bunten  LeuchtstraBen  matt. 

Schmale  Sterne  der  hellen  Nacht  gehn  hinter  Fabriken  auf. 

Europa  tanzt  wie  ein  brauner  Hund  vorm  Mond.  Gelbe 
Menschen  kommen  in  schwarzen  Rocken  wie  aus  einem  Jung- 
frauenbad. 

Paris,  wilder  Lanzenschein,  wenn  das  Gitter  des  Luxembourg 
aus  dem  Garten  der  Erde  aufspriiht: 

Einsiedler  kochen  Gold  auf  dem  heiligen  Berg,  die  Menschen 
schaukeln  in  grofien  Betten,  von  Afrika  wehen  weiBe  Tiicher 
durch  Palmenufer  her. 

O helle  Himmelssage  hinein  nach  London,  wie  ein  Bergwerk 
liegt  die  Stadt  unterm  fallenden  Licht,  Diamanten  iiber  den 
Gitterluken  der  Bank  von  England,  o roter  Tower  in  Whitecha- 
pels  Schweifi,  sechstausend  Mann  morgens  fiinf  in  den  Docks, 
driiben  die  Felsen  des  Kaplands,  Nigger  brechen  in  die  Knie. 

Es  floB  aufkochend  flammengriin  durch  Petersburg,  Kiew, 
Nischny,  Odessa, 

Mondgoldene  Kathedralen  im  Schlamm,  unter  euch  Moskau 
bebt  wie  ein  roter  Menschen wald  von  vielen  Glocken,  o runde 
Dacherbliiten, 

Mauem  weich  wie  Barte  hinauf  fiir  die  Menschen, 

Von  Spitzen  und  Kugeln  grimes  Fliehen  iiber  kupfemen  Tag. 

Boston,  Chicago,  iiber  nackte  Arme  und  Zylinderhiite  hin 
zischt  das  Licht  wie  Riesenfunken  von  elektrischen  Schnell- 
bahnen, 

Uber  San  Franciscos  Hotelgebirge  leicht  und  hoch  hiniiber, 
durch  Kulistadte,  Ghettos,  Spiegelschein  in  Fahrstuhlschachte, 
o Nimbus,  Seligkeit,  Friihling, 

Hah ! 

Still  und  grell  durch  die  donnernden  Eisenschatten  der 
Briicke  New  York. 


97 


Ludwig  Rubiner  ♦ Das  himmlischc  Licht 


* ^ ^ y m ^ ^ ^ * 


Wir  liefen  unbekannt  durch  die  weit  ldappemde  Friedrich- 
strafie. 

Berlin,  hinter  schmalen  grauen  Asphaltgassen  flog  das  rote 
brennende  Fenster  himmelsoben  zu  uns  her,  o unsere  Herzen ! 

Nachmittags  halb  fiinf,  ein  Wind  ging  kurz  heriiber,  hauser- 
leuchtend.  Die  Zeit  war  neu. 

Fliegende  Zeichen  zu  uns  von  runden  Himmelsbogen. 

Milde  Zeichen,  Himmelslichter  neue  Hauser  zu  bauen 
Sonnentiirme, 

Stemdacher,  Berlin  noch  feucht,  Gottesstadt,  schwebend, 
glasern  hinauf. 

Milde  Himmelshand,  ruhigste  Palmglut,  herunter  zu  uns  iiber 
Schomsteinfassaden . 

O Siidseeblut,  getrieben  zu  unserem  Blut. 

Aber  wartet  Ihr  noch?  Wir  sehen  uns  um,  Kamerad,  (Wir 
kennen  uns  nicht!)  bleich,  stehenden  Herzschlags,  niemand 
merkt  was. 

Worauf  wartet  Ihr  noch?  Was  habt  Ihr  zu  denken? 

Halt,  Ihr  wollt  bummeln,  schachem,  Frauen  bepaaren,  Ihr 
werdet  essen,  lesen,  Nachrichten  horen,  Ihr  zahlt  Eure  Stunden : 

Aber  die  neue  Zeit  ist  da.  Ihr  saht  nicht  das  Licht  durch  das 
feurige  Fenster  der  Erde! 


Die  Menschen  schwitzen  blind.  Die  Dacher  rollten  auf  in  Angst 

und  sanken  zuriick. 

Die  Fenster  troffen  dunkel  triib. 

Die  Hauser  blahten  grau  locker ig  Teigwande. 

Menschen,  Ihr  lagt  in  den  Stadten  wie  garende  Wasserpflanzen, 
Der  Wind  schoB  iiber  die  Menschen,  sie  trieben  scheppernd 

nach  Geld, 

Der  Facher  des  Himmels,  in  sieben  Gluten,  schlug  auf,  sie 

riickten  die  schwarzen  Hiite,  mit  zugewachsnem  Aug, 
angesoffen  und  dick. 


Ludwig  Rubtner  * Das  himmlische  Licht 


98 

DIESER  NACHMITTAG 

An  diesem  Nachmittag  standen  alle  Kellerfenster  offen,  das 
faule  Stroh  wurde  hinter  den  Polizeitritten  auf  die  Strafie  ge- 
schmissen  und  zersank. 

Die  Fabriken  stieBen  spinnwebene  Fenster  auf,  Sauseluft  um 

eiligen  Olgestank. 

Unter  den  dumpfen  Briickenbogen  rakelten  sich  Geschwiire 

und  blaBnacktes  Fleisch,  Fetzen,  Lauslocher,  Wunden 
mit  Maden. 

Hinter  den  Banken  in  grell  diirren  Parks,  aus  bestaubten  Biischen 

krochen  Beine  hervor  auf  die  feinen  Promenaden. 

In  Paris,  rauschend  in  Hell,  in  dem  Hammerschlag  New  York, 
in  Frisco  voll  Strafienbahndampf,  dem  harten,  schattenlosen 
Madrid,  London,  dem  gasflammengelben, 

Im  Leierkastengeklirr  Berlins  unter  Springbrunnen  sonnenstaub 

geklopfter  Teppiche,  im  Neuen  Heil  Berlin,  vorbei 
an  den  fetten  Riesenbrotreihen  der  StraBen 
Brachen  bleiche  Kopfe  empor,  Aufbruch  unterirdischer  Riesen- 

pusteln, 

Faserhaare  diinn  iiber  gequetschten  Wurmmaulem ; brauenlos 
runde  Augen  wie  von  ertranktem  Aas  messen  die  StraBen  ab, 
Fliegen  steigen  klebrig  auf  vom  Geruch, 

Die  Erde  erhebt  das  Haupt  der  Bleichen, 

0 unsichrer  Marsch  der  Halbtoten,  Nachtigen,  ewig  Ver- 
steckten.  BlafiweiBe  Wurzelmienen,  o Letzte,  Unterste, 
Sarglose,  ewig  Halbeingegraben  in  kalten  saugenden  Dreck, 
tastender  Zug  in  spahender  Unsicherheit,  die  Nacht  ist  nicht  da, 
sie  diirfen  sehen.  Sie  sehen. 

Sie  sehen. 

Der  Himmel  lief  ihnen  wie  ein  diinner  Faden  blau  iiber  die 
Erdehin.  Aber  in  der  StraBe  sahen  sie  den  langen  aufschieBend 
flammenden  Finger  des  Lichts. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himtnlischc  Licht  99 

0 gab  es  noch  Hauser,  schwere  Strafien,  Schutzleute  mit 
harten  Stiefeln?  Das  himmlische  Licht  bergan  schmolz  mild 
zur  rotlichen  Kugel  halb  hinter  Dachern  auf. 

Es  war  eine  Orange,  wie  in  dem  vomehmen,  betteln  verboten, 

Efiwarenverkauf, 

Es  war  ein  wildes  Zehnmarkstiick  wie  hinter  dem  Fenster  der 

Wechselbank, 

Ein  rotes  rundes  Glas  Bier  aus  einem  Aschingerschank, 

Ein  Schinken,  ein  Mund,  Weiberbrust,  ein  Hut  mit  ’nem 
Band,  ein  Loch  das  rot  klafft, 

Ein  weiches  buntes  Kissen.  Ein  Vogel  im  Kafig.  Eine  Tabaks- 

pfeife  pafft. 

Eine  Tiir  offen  zu  ’nem  menschenleeren  Kleiderladen, 

Ein  rotes  Boot  am  lauen  FluB  zum  Baden. 

An  diesem  Nachmittag  sah  der  arme  Mob  das  Licht. 

Es  lief  vor  ihm  her.  Die  anderen  sahen  es  nicht. 

Sie  schwankten  unsicher  hinein  in  den  Strahl,  wie  ein  bleiches 
Ruben f eld  kraftlos  von  schlechtem  Dung. 

Aus  zerschlissenen  Winkeln  in  den  Stadten  der  Welt  brach 

gottlicher  Glockenschwung. 

0 seliges  Fliegen : Pustblumen  im  Hauch,  die  Stengel  gefesselt 

und  kahl, 

Die  zittemden  Heere  zerlumpten  Leibs  reckten  gedunsene 

Kopfe  zum  himmlischen  Strahl. 

Um  die  ganze  Erdkugel  schwang  tief  durch  die  Winkel  wie  ein 

Klingelblitz  das  Licht. 

Der  Mob  auf  dem  bewachsenen  Ball  hob  hoch  sein  Kellergesicht. 
Sie  hatten  wie  sterbende  Asseln  wimmelnd  im  fauligen  Dunkel 

gelegen, 

Sie  stiirzten  heraus,  als  gabs  Kinderfest,  gelbe  Luftballons  mit 

buntem  Bonbon  regen. 

Alle  morschen  FiiBe  liber  die  Meere  hin  stiegen  zum  Marsch, 

schmutzige  Tiicher  wehten,  da  dehnten  sich  Arme, 
schwach  und  zerkniillt. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


100 

Sie  schluchzten  faltig  und  heiser,  Riesenstimmen  schrien  iiber 
die  Erde:  die  Zeit  ist  erfiillt! 

Sie  hatten  wie  Tote  am  Dunkel  gesogen,  sie  warteten  auf  das 
Wunder  und  waren  stinkend  verreckt. 

Aber  heut  hatte  ihnen  das  Licht  suB  bis  in  den  Magen  geleckt. 

Sie  drangten  eng  durch  die  Strafien  zum  Himmel.  Uber 
Omnibushohen  lief  das  Wunder  auf  die  Kopfe  hin.  Die  vollen 
Strafienbahnen  schoben  in  schallenden  Scherbendeich . 

Sie  marschierten  rund  iiber  die  Erde.  Nun  gab  es  ewig  Musik 

und  warmes  Essen  und  das  tausendjahrige  Reich! 


DIE  FEINDLICHE  ERDE 

Der  Eiter  der  Erde  lag  in  den  Hausem.  Unter  hellen  Lichtem 

safien  schmatzende  Jobber. 

In  Nebenzimmem  ragten  gelangweilt  lange  schwarze 
Striimpfe,  tragzuckende  Schenkel  iiber  schwere  geile  Riicken. 

Hinten  tanzten  vor  polierten  Klavieren,  dunkle  Langhaare 

geigten. 

Kluge  hielten  in  seidnen  Salons  Vortrage,  dafi  alles  auf  Erden 

immer  gleich  bleibe. 

Weiche  Bartlose  sprachen  unter  sich  von  dem  Ekel  am  Weibe. 
In  steinemen  Museen  schritten  sanft  die  ausgeschlafenen 

Kenner. 

In  heifien  Redaktionen  schrieb  man  die  Lebenslaufe  beriihmter 

Manner. 

Die  Zimmer  der  Stadt  wolbten  sich  wie  ein  ungeheurer  fetter 
Bauch,  die  Dachkuppeln  lagen  krumm  strahnig  iiber  der 
breiten  flachen  Stime. 

Hinter  den  Fenstem  safien  schnaufend  trage  Menschen  steil 
wie  dicke  Riesenfinger. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


10! 


Die  Hauser  glotzten  wie  die  FreBzahne  an  einem  ungeheuren, 

gahnenden  Jahrmarkts-Ringer. 

Die  Erde  faulte  langlich  auf  zur  wimmelnden  himmlischen  Bime. 
Der  Himmel  rollte  herum  dunkel  funkelnd  im  schwarzen  hohlen 

Oval. 

Das  Licht  war  eingesogen  in  stampfende  Kessel  und  Tele- 

graphenstrahl . 

Der  Lampenschein  strich  klein  durch  die  StraBen  wie  Wurm- 

augen  nachts  im  Korn. 

Das  Licht  war  fort  von  der  kleinen  Erde,  niemand  safi  in  der 

Sonne  oder  blickte  zum  mondlichen  Horn. 

Die  Tragheit  schlug  an  die  Ufer,  faulende  Riesenalgen  wanden 
sich  erdenrund  um  die  Schimmelgriine. 

Drunten  im  Triiben  schrieben  wimmelnde  Menschen  noch 
eilige  servile  Telegramme,  Briefe,  Denunziationen  voll  Rankiine. 

Tanzerinnen,  Barone,  Agenten,  Geheimrate,  Schutzleute,  Ehe- 
frauen,  Studenten,  Hauswirte  freuten  sich  auf  ihre  dampfende 

Nacht. 

Aber  der  arme  Mob  schaute  das  Wunder  und  war  zur  neuen 

Zeit  aufgewacht. 

Die  bose  gestorte  Wut  zitterte  iiber  die  verregneten  Telegraphen- 

stangen, 

Als  die  miirben  Armen  ohne  Essen  und  Trinken  zum  gott- 
lichen  Himmel  marschierten,  wurden  sie  mit  hartreifienden 
Flintenkugeln  empfangen. 


SIEG  DER  TRAGHEIT 

Die  armen  Buckel,  demiitige  Schultern,  zogen  selig  zur  neuen 

Zeit  und  wuBten  nur  dies. 

Die  Erdschale  blatterte  zittemd  vor  ihnen  ab,  ein  Schlamm- 
geschwiir  schwoll  auf,  klebrige  Barrikaden  liefen  ins  Dunkel  um, 
weich  drohende  Saugnapfe  wie  ein  gieriger  Blutegelfries . 


Ludwig  Rubiner  ♦ Das  himmlische  Licht 


102 

Die  armen  Menschenkopfe  und  Leiber  stiefien  an  die  mach- 
tige  Mauer  von  grauzittemdem  Brei, 

Ein  Schleim  flo6  wie  fette  Aale  nachtlich  um  sie  und  ver- 
gurgelte  ihr  Geschrei. 

Das  schwarze  Gebirg  von  langsamem  Leim  schlofi  hinter  ihnen 

sein  triefendes  Tor, 

Durch  trage  Blasen  klatschten  strudelnde  Glieder  wie  ver- 

sinkendes  Stroh  im  Moor. 

Schwankend  bebt  es  Herab  und  fliefit  zah  ab.  Ein  schwarzes 

Loch  dreht  sich  schluckend  und  faul, 

Eine  kalte  Riesenfresse  walzt  auf,  Bergfalten  um  ein  zahnloses 

saugendes  Maul. 

Die  Menschenwalder  zappelnd  zum  Tod  trieben  erstickt  mit 

sausendem  Kreis  hinab  in  den  dunklen  Schlauch. 
0 Aufstand  zum  Licht  1 o Erdengesicht ! O Endnacht  im  tragen 

riesigen  Bauch! 


Kamerad,  und  wissen  Sie  noch,  wie  die  blanke  Polizei  auf 
dicken  Maschinenstiefeln  aus  den  Nebenstrafien  fiel? 

Trafalgar  Square  war  dunkel  und  hell  wie  ein  schreiender 
Rohrteich,  im  Londoner  Mittagswind. 

In  Berlin  stampften  Schiisse  heifi  ins  Geschrei,  die  graugriine 
Schlofikuppel  lag  lieblich  iiber  dem  leeren  langen  Platz. 

Wiehern  in  den  Newski  Prospekt,  im  Winterfrost  driickten 
sie  den  Mob  tot! 

Und  wissen  Sie  noch,  daB  schnelle  Gefangnisse  mit  Wartem 
und  Priigelstrafen  gebaut  wurden? 

In  Japan  Kopfe  ab.  Uber  RuBland  standen  frische  Galgen- 
baume. 

In  New  York  die  Faust  vom  dritten  Grad  den  Angeklagten  so 
lang  ins  Gesicht,  Hunger  und  HeiBfolterdurst,  bis  sie  lieber  im 
elektrischen  Stuhl  von  Sing-Sing  starben. 

Aber  Madrid,  o Gefangnisse  von  Monjuich,  blutstohnend. 
Man  schraubte  eiserne  Wechselstromhelme  an  die  Schlafen  zum 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


103 


Irrsinn.  Und  alien  quetschte  man  Tag  fur  Tag  die  Hoden 
langsam  zusammen. 


Der  erste  Blutstropfen  hatte  dick  und  schwarz  die  Erde  erreicht. 
Das  himmlische  Licht  war  verschwunden  schrag  zuckend  iiber 

die  spitzen  Dacher  hin. 

Der  Abend  stieg  wie  Schnalzen  aus  dem  Fett  der  geilen  Stadte. 
Die  bleichen  Lampen  bissen  Schatten  um  Herren  mit  Mappen 

unterm  schwitzenden  Arm, 

Diinne  Frauen  hoben  vor  ihnen  die  Rocke  hoch. 

* 

O ldeine  Erde,  was  hast  du  vergessen! 

Du  feindliche  hast  das  Licht  Gottes  gefressen. 

Die  Sterne  wehren  dein  gieriges  Kreisen  mit  strahlendem  Dom, 
Aus  deinen  Wunden  bricht  in  Blutsaulen  der  himmlische  Zorn. 
Deine  Stadte  und  Berge  rollen  taumelnd  im  nachtlichen  Rund, 
Bis  unter  deinen  dumpfen  Menschen  gesiegt  hat  der  geistige 

Bund. 


DER  MENSCH 

Im  heifien  Rotsommer,  iiber  dem  staubschaumenden  Drehen 
der  rollenden  Erde,  unter  hockenden  Bauem,  stumpfen  Sol- 
daten,  beim  rasselnden  Drangen  der  runden  Stadte 

Sprang  der  Mensch  in  die  Hoh. 

O schwebende  Saule,  helle  Saulen  der  Beine  und  Arme,  feste 
strahlende  Saule  des  Leibs,  leuchtende  Kugel  des  Kopfes! 

Er  schwebte  still,  sein  Atemzug  bestrahlte  die  treibende  Erde. 

Aus  seinem  runden  Auge  ging  die  Sonne  heraus  und  herein. 
Er  schlofi  die  gebogenen  Lider,  der  Mond  zog  auf  und  unter.  Der 
leise  Schwung  seiner  Hande  warf  wie  eine  blitzende  Peitschen- 
schnur  den  Kreis  der  Sterne. 


104 


Ludwig  Rubiner  * Das  himndische  Lickt 


Um  die  kleine  Erde  floB  der  Larin  so  still  wie  die  Nasse  an 
Veilchenbiinden  unter  der  Glasglocke. 

Die  torichte  Erde  zitterte  in  ihrem  blinden  Lauf. 

Der  Mensch  lachelte  wie  feurige  glaseme  Hohlen  durch  die 

Welt, 

Der  Himmel  schoB  in  Kometenstreif  durch  ihn,  Mensch,  feurig 

durchscheinender ! 

In  ihm  siedete  auf  und  nieder  das  Denken,  gliihende  Kugeln. 
Das  Denken  floB  in  brennendem  Schaum  um  ihn, 

Das  lohende  Denken  zuckt  durch  ihn, 

Schimmemder  Puls  des  Himmels,  Mensch! 

0 Blut  Gottes,  flammendes  getriebnes  Riesenmeer  im  hellen 

Kris  tall. 

Mensch,  blankes  Rohr:  Weltkugeln,  brennende  Riesenaugen 

schwimmen  wie  kleine  hitzende  Spiegel  durch  ihn, 

Mensch,  seineOffnungen  sind  schliirfende  Miinder , er  schluckt 
und  speit  die  blauen,  hertiberschlagenden  Wellen  des  heiBen 
Himmels 

Der  Mensch  liegt  auf  dem  strahlenden  Boden  des  Himmels, 
Sein  Atemzug  stofit  die  Erde  sanft  wie  eine  kleine  Glaskugel 

auf  dem  schimmemden  Springbrunnen 
O weiB  scheinende  Saulen,  durch  die  das  Denken  im  Blut- 

funkeln  auf  und  nieder  rinnt. 

Er  hebt  die  lichten  Saulen  des  Leibs : er  wirft  um  sich  wildes 
Ausschwirren  von  runden  Horizonten  hell  wie  die  Kreise  von 
Schneeflocken 

Blitzende  Dreiecke  schieBen  aus  seinem  Kopf  um  die  Sterne  des 

Himmels, 

Er  schleudert  die  machtigen  verschlungenen  gottlichen 
Kurven  umher  in  der  Wek,  sie  kehren  zu  ihm  zuriick,  wie  dem 
dunklen  Krieger,  der  den  Bumerang  schnellt. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


105 


In  fliegenden  Leuchtnetzen  aufgliihend  und  loschend  wie  Puls- 

schlag  schwebt  der  Mensch, 

Er  loscht  und  ziindet,  wenn  das  Denken  durch  ihn  rinnt, 

Er  wiegt  auf  seinem  strahlenden  Leib  den  Schwung,  der  wieder- 

kehrt, 

Er  dreht  den  flammenden  Kopf  und  malt  um  sich  die  abge- 
sandten,  die  sinkend  Kingliihenden  Unien  auf  schwarze  Nacht : 
Kugeln  dunstleuchtend  brechen  gekriimmt  auf  wie  Blumen- 
blatter,  zackige  Ebenen  im  Feuerschein  rollen  zu  schragen 
Kegeln  schimmernd  ein,  spitze  Pyramidennadeln  steigen  aus 
gelben  Funken  wie  Sonnenlichter. 

Der  Mensch  in  Strahlenglorie  hebt  aus  der  Nacht  seine  Fackel- 
glieder  und  giefit  seine  Hande  weifi  iiber  die  Erde  aus. 

Die  hellen  Zahlen,  o spriihende  Streifen  wie  geschmolznes 

Metall . 

Aber  wenn  es  die  heifie  Erde  bestromt  (sie  wolbt  sich  gebaumt), 
Schwirrt  es  nicht  spater  zuriick?  diinn  und  verstreut  hinauf, 

beschwert  mit  Erdraum: 

Tiergebloke.  Duft  von  den  griinen  Baumen,  bunt  auftanzender 
Blumenstaub,  Sonnenfarben  im  Regenfall.  Lange  Tone  Musik. 


O Erde!  Der  Mensch  schwebt  zu  seiner  Erde  hinab, 

Gottes  Blutstropfen  fror  im  eisigen  DrauBen  dunkel  und  spitz. 
Sein  Schmtt  dringt  in  die  Erde,  und  hmter  ihm  zischt  die  blaue 

Luft  wie  Wolkenschwung  von  tausend  Geschiitzen. 
Der  Mensch  drang  in  die  Erde,  die  blaue  Eishiille  seines  Willens 

umstrahlt  ihn  noch. 

* 

Der  Mensch  drang  in  die  Erde  wiihlend  und  scharf  wie  ein 

Keim,  der  zum  SchoB  feindlich  saust, 


106 


Ludwig  Rubiner  - Das  himmlische  Licht 


Die  Erde  barst  klaffend,  die  Berge  stoben  zu  griinem  Staub, 

die  grauen  Tiirme  der  Stadte  tanzten  in  seiner  Faust. 
Er  stieg  aus  den  dunklen  Hohlen,  um  ihn  bebte  Triimmersturz 

und  qualmender  Brand. 

Er  schritt  durch  wehende  Menschenrotten.  Das  himmlische 

Licht  war  verborgen.  Er  blieb  unerkannt. 


DIE  STIMME 

0 Mund,  der  nun  spricht,  hinschwingend  in  durchsichtigen 

Stofien  iiber  die  gewolbten  Meere. 

0 Licht  im  Menschen  an  alien  Orten  der  Erde,  in  den  Stadten 

fliegen  Stimmen  auf  wie  silberne  Speere. 

O Tragheit  der  kreisenden  Kugel,  du  kampftest  gegen  Gott 
mit  fletschenden  Tierlegionen,  Urwaldem,  Sabeln,  Schiissen, 
bosem  Mifiverstand,  Mord,  Epidemien: 

Aber  der  Lichtmensch  spriiht  aus  der  Todeskruste  heraus. 

In  den  Fabriken  heulen  Ventile  iiber  die  Erde  hin. 
Er  hat  seine  Stimme  in  tausend  Posaunen  geschrien. 

* 

Eine  Stimme  schnellte  hoch,  glasschwirrend  ein  harter  Stahl- 

pfeil,  der  in  Glut  blank  zerknallt. 

Eine  Stimme  iiber  Amerika,  unter  schweifiigen  Negem, 
die  demiitig  das  Weifie  der  Augen  drehen;  unter  deutschen 
Fliichtlingen,  bartig  zerprefiten  Bettlern,  unter  hungernden 
Juden,  die  das  glitschrige  Ghetto  finster  zusammenballt. 

Eine  Stimme  unter  den  entkrafteten  Arbeitern,  drei  Milhonen, 

die  alle  Jahr  einsam  absterben  nach  neuen  Fabrik- 
systemen, 

Eine  Stimme  unter  zerfressenen  Frauen  im  bunten  Hemd, 

denen  die  Bordellmeister  das  Geld  abnehmen. 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Lichi  107 


Unter  starren  Chinesen  im  Hungergeruch,  die  Tag  und  Nacht 

feine  Wasche  waschen, 

Eine  Stimme  iiber  den  Broadways,  wo  Arbeitslose  nach  fort- 

geworfenen  Speiseresten  haschen. 

Eine  Stimme  schwang  zart  wie  der  diinne  steigende  Schrei 
des  Dampfs  eh  die  vieltonigen  Wasserblasen  aufkochen, 

Sie  sprang  wie  Windsand  in  stumme  Miinder  hinein,  sie  glitt 
wie  Flotenkraft  miiden  Schleppem  liber  geduckte  Knochen. 

Durch  steilschwarze  Stuben  schwebten  Sonne  und  Mond,  die 

Sterne  zogen  durch  stinkende  Tapeten  aus  rissigen 
Flecken . 

O vielleicht  geht  das  himmlische  Wunderlicht  auf,  bevor  alle 

zu  Aas  verrecken! 

Eine  Stimme  flog  und  sog  sich  voll  aus  schmutziger  Werk- 

stattenzeit, 

Die  Wut  und  die  Hoffnung  kreisten  wie  Blut,  und  der  HaB, 

der  naB  bespeit. 

Eine  Stimme  haucht  schwarz  iiber  schlechtes  Papier  aus  bank- 

rottierten  Druckermaschinen, 

Eine  Stimme  las  das  Fliisterwort : Streik ! in  den  roten  Schachten 

der  Coloradominen . 

Sie  liegt  wie  heiBer  Rauch  auf  schaukelnden  Hafen;  miB- 

trauischen  Kneipen;  im  verhungerten  Dorf,  wenn 
der  gepliinderte  Bauer  sat; 

In  Stadten  schreit  sie  Signalgeklirr  iiber  wirre  Versamm- 
lungen  hin,  wo  Polizei  die  Tiiren  bespaht. 

0 Miinder,  daraus  die  Stimme  des  Menschen  brennt! 

0 trockene  Lippen,  sechzigjahrig,  trauernd  schlaff  umstoppelt, 

die  sich  flach  offnen,  weil  vor  dem  Tod  Einer  bekennt. 
O irre  rote  Zungenglut  hinter  weiBen  Negerzahnen,  die  Stimme 

gurgelt  im  Gliicksgesang. 

0 Mund,  rundes  schallendes  Tor,  Hall  und  Lust,  Volkschoral, 
daB  der  Saal  mitschwang. 


108  Ludmg  Rubiner  * Das  himndische  Li  chi 

O bitterer  Nahmadchenmund,  der  nach  Gerechtigkeit  klagt 

und  schrill  Groschen  und  Wiegpfunde  zahlt. 

0 faltiger  Rednermund,  der  auf  und  nieder  wie  Eulenaug  geht, 

und  Effekte  wahlt. 

0 Mann  im  blauen  Hemd,  der  in  Fabrikpausen  hastig  Propa- 
ganda treibt. 

0 sorgfaltiger  Beamter,  der  nach  alien  Poststationen  Briefe  und 

Werbelisten  schreibt. 

O Demiitiger,  verlegenes  Herz,  der  nur  einmal  einem  Guten 

die  Hand  driicken  mocht. 

O Stummer,  der  zum  erstenmal  spricht,  und  in  einem  Satz  sich 

prasselnd  verkocht. 

Eine  Stimme  flammt  iiber  Europas  autofahrenden  Frauen,  iiber 

krummen  schweigsamen  Kulis  im  Australischen 
Strauch. 

O Miinder,  wie  viele  warten  auf  Euch,  I hr  schallt,  und  sie  offnen 

sich  auch! 


Auf  der  runden  Erde  flofi  das  Meer  im  Wind  iiber  den  Strand 

und  zuriick. 

Schlapphutredner  im  Lichtstrahl,  hinter  Pulten,  bei  geheimen 
Zusammenkiinften , an  nassen  Kneiptischen,  sprachen  gelaufig 
wirksam  immer  dasselbe  Stuck. 

Schwindler  warben  um  Geld.  Fastende  Heilige  schmuggelten 

verbotene  Zeitungen  iiber  die  Grenzen, 
Gymnasiasten  in  ihren  Aufsatzen  wollten  zum  Zorn  der  Lehrer 

mit  neuem  Wissen  glanzen. 

Einsame  wurden  iiber  die  runde  Erdkugel  hin  von  Worten 

getroffen  wie  Hafenstadte  von  aufgefischten  Flaschen- 
posten . 

In  alien  Hausem  drangen  Frauenleiber  ans  Fenster,  um  das 
vorbeifliegende  Abendlicht  zu  kosten. 


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Ludwig  Rubincr  * Das  hintmlische  Licht 


DIE  FRUHEN 

Die  Stimme  stieg  aus  der  Erde,  sie  stieg  wie  Saft  der  Erde  in 

Menschengebein. 

Aus  bebenden  Landem  trieben  sie  hoch  wie  Blasen  aus  griinem 
Sumpf,  einzeln  und  friih.  Sie  offneten  runde  Augen  und  schau- 
ten  sich  um. 

0 was  sollten  sie  tun  ? In  ihnen  stieg  und  fiel  wie  brennendes 
Blut  das  Gedachtnis  ans  selige  Licht.  Ein  Schein  glomm  aus  der 
Feme  vor  ihrer  rufiigen  Geburt, 

Sie  lachten  laut  iiber  die  elektrischen  Bogenlampen,  iiber  die 
Cafes,  iiber  die  stumpfen  genahrten  Armeen,  iiber  die  zischeln- 
den  Borsenhallen, 

Ihre  Worte,  einzeln  und  diinn,  tropften  ab  wie  Perlenge- 
kicher  von  den  Fenstern  der  steinemen  Parlamente. 

0 hinauf ! Schweben  iiber  der  satt  glucksenden  Erde ! O auf- 
leuchten  feurige  Planetenfliige  zwischen  den  gefletschten 
Zahnen : 

0 gliihendes  Blut  vom  Himmel,  das  um  ihre  gekriimmten 

Korper  rollt, 

0 schwebender  Mensch,  Feuermensch,  Lichtmensch  iiber 
den  Himmel,  Kamerad,  Binder,  Genosse,  fern,  iiber  der  Erde, 
vor  der  Erde ! Zu  ihm ! 

Die  dunkle  Erde  walzt  sich  iiber  die  Augen  der  ganz  Armen. 
Sie  steigt  geblaht  vor  die  Augen  der  Armen,  ein  feister  schwarzer 

Ball. 

0 Dunkelheit,  Schatten.  Driiben  ist  das  himmlische  Licht. 

O die  Erde  wegrollen!  AufreiBen  die  schlammige  Erdkugel, 

Locher  eintreiben,  Schachte  zum  Licht! 


33  Vol. 


1 1 0 Ludrng  Rubiner  * Das  himmlischc  Licht 

Auseinanderballen  den  Erdklumpen,  der  feuchte  Dunkelheit 

iiber  die  Augen  schattet! 

Hinein  in  die  Erde,  Sturmlauf,  Ihr  Briider,  an  die  starre  ge- 

frafiige  Mord-Erde, 

0 die  Erde  zersprengen  zu  Milliarden  Staubplaneten  in  Brand, 
Die  Erde  sprengen  mit  einem  Ruck  der  gottlichen  Hand  in 

alle  Hohlungen  des  schimmemden  Himmels, 

0 Gottes  brennender  Finger  sein,  der  das  Trage  winzig  zer- 

staubt, 

O leben  im  himmlischen  Licht,  Gemeinsamkeit  mit  dem  gott- 
lichen Menschen  des  Himmels,  Bruderschaft,  zu  ihm,  Chor- 
gesang  einer  hellsteigenden  Vielmundstimme  durch  das  Sonnen- 
Universum ! 

Erde,  was  erhebst  Du  Deine  machtige  Kugel  vor  dem  Bruder 
des  Menschen! 

Kommt  nun  der  Kampf?  Und  der  Kamerad  des  Menschen 
zerstort  Deine  Finstemisse,  und  Du  zerplatzest  in  leuchtende 
stille  Triimmerflocken  zum  langen  gewolbten  Himmel? 

Aus  unreinen  Barackenvorstadten  schlichen  nachts  Manner 
verhiillt  durch  enge  Keller  bei  Juwelieren  ein,  unentdeckt. 

Manner  in  Masken  sprangen  schreiend  am  Mittag  in  die 
Banken,  die  Kassierer  flohen  erschreckt. 

In  Paris  wurde  die  StraBenpolizei  aus  entschwindenden  Autos 

niedergeschossen . 

Im  Londoner  Hundswinkel  belagerten  straffe  Truppen  das 

armliche  Haus  der  Genossen. 

(0  gekriimmte  Whithechapel-Juden,  Ihr  seid  jung,  Eure 

Eltern  rochelten  mit  verdrehten  Augen  in  hundert 
Pogromen , 

Das  eiseme  Dach  iiber  Euch  brach  auf,  wie  ein  finsterer 
Synagogenhimmel,  der  entschwebt;  das  Licht  flofi  zu  Euch.) 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 


111 


Sie  lebten  nicht  weiter,  sie  wurden  verraten,  guillotiniert,  oder 

krepierten  in  den  Flammen. 

0 Stadte  alt  in  Siiddeutschland,  bartige  Schullebrer  stiegen 
entriickt  wie  assyrische  Priester  auf  den  Turm  unters  Licht, 
und  schossen  mit  rostigen  Flinten  das  Menschengeschlecht 
unten  zusammen. 

Sie  ergaben  sich  nicht.  Sie  standen  im  Licht.  Sie  kampften 
bei  Dachbrand,  in  den  Kleidern  Lause  und  Kot. 

Sie  waren  allein.  Sie  horten  die  Briider  nicht  schrein.  O Licht- 
mensch  im  Dunkel.  0 Krieg,  der  kam.  0 Tod! 

* 

Augen  wollten  Licht  nicht  sehen,  Ohren  horten  keinen  Hall. 
Trage  Erde  war  verstofien,  Feindschaft  schuf  den  neuen  Ball. 
Die  Menschenkugel  zersprang. 

0 seht  den  gottlichen  Lichtschein  um  Euch,  dann  dauert  der 

Krieg  nicht  mehr  lang! 

* 


DIE  ANKUNFT 

Ihr,  die  Ihr  diese  Zeilen  nie  lesen  werdet.  Diirftige  Madchen, 
die  in  ungesehenen  Winkeln  von  Soldaten  gebaren, 

Fiebnge  Mutter,  die  keine  Milch  haben,  ihre  Kinder  zu  nahren. 
Schuler,  die  mit  erhobnem  Zeigefinger  stramm  stehen  miissen, 
Ihr  Fiinfzehnjahrige  mit  dunklem  Augrand  und  Traumen  von 

Maschinengewehrschiissen, 

Ihr  gierige  Zuhalter,  die  den  Schlagring  verbergt,  wenn  Ihr  dem 

Fremden  ins  Menschenauge  seht, 

Ihr  Mob,  die  Ihr  klein  seid  und  zu  heiBen  Riesenmassen 

schwellt,  wenn  das  Wunder  durch  die  StraBen  geht, 

Ihr,  die  Ihr  nichts  wifit,  nur  dafi  Euer  Leben  das  Letzte  ist, 
Eure  Tage  sind  hungng  und  kalt: 


I ] 2 Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Licht 

Zu  Euch  stauben  alle  Worte  der  Welt  aus  den  Spalten  der 

Mauem,  zu  Euch  steigen  sie  wie  Weinrauch  aus  dem 
Dunst  des  Asphalt. 

Ihr  tragt  die  Kraft  des  himmlischen  Lichts,  das  iiber  Dacher  in 

Euer  Bleichblut  schien. 

Ihr  seid  der  schallende  Mund,  der  Sturmlauf,  das  Haus  auf  der 

neuen  gewolbten  Erde  Berlin. 

Ihr  feinere  damliche  Gelehrte,  die  Ihr  nie  Euch  entscheidet 

hinter  Bibliothekstischen, 

Ihr  Borsenspieler,  die  mit  schwarzem  Hut  am  Genick  schwit- 

zend  witzelt  in  Sprachgemischen. 

Ihr  Generale,  weifibartig,  schlaflos  in  Stabsquartieren,  Ihr 

Soldaten  in  den  Leichenrohren  der  Erde  hinter 
pestigen  Aasbarrikaden, 

Und  Kamerad,  Sie,  einsam  unter  tausend  Briidern  Kameraden  ; 

Kamerad,  und  die  Briider,  die  mit  allem  zu  Ende  sind, 

Dichter,  borgende  Beamte,  unruhige  Weltreisende,  reiche 

Frauen  ohne  Kind, 

Weise  hohnische  Betrachter,  die  aus  ewigen  Gesetzen  den 

kommenden  Krieg  lehren:  Japan-Amerika, 

Ihr  habt  gewartet,  nun  seid  Ihr  das  Wort  und  der  gottliche 

Mensch.  Und  das  himmlische  Licht  ist  nah. 


Ein  Licht  flog  einst  braunhautig  vom  Siidseegolf  hoch,  doch 
die  Erde  war  ein  wildes  verdauendes  Tier. 

Eure  Eltem  starben  am  Licht,  sie  zeugten  Euch  blind.  Aber  aus 

Seuche  und  Mord  stiegt  Ihr. 

Ihr  soget  den  Tod,  und  das  Licht  war  die  Milch,  Ihr  seid 
Saulen  von  Blut  und  sternscheinendem  Diamant. 

Ihr  seid  das  Licht.  Ihr  seid  der  Mensch.  Euch  schwillt  neu 
die  Erde  aus  Eurer  Hand. 


Ludwig  Rubiner  ♦ Das  himmlische  Licht  1 1 3 


Ihr  ruft  iiber  die  kreisende  Erde  hin,  Euch  tont  ruck  Euer 
riesiger  Menschenmund, 

Ihr  steht  herrlich  auf  sausender  Kugel,  wie  Gottes  Haare  im 
i Wind,  denn  Ihr  seid  im  Erdschein  der  geistige  Bund. 

* 

Kamerad,  Sie  diirfen  nicht  schweigen.  0 wenn  Sie  wiifiten,  wie 

wir  geliebt  werden! 

Jahrtausende  mischten  Atem  und  Blut  fur  uns,  wir  sind  Stem- 
briider  auf  den  himmlischen  Erden. 

0 wir  miissen  den  Mund  auftun  und  laut  reden  fur  alle  Leute 

bis  zum  Morgen. 

Der  letzte  Reporter  ist  unser  lieber  Bruder, 

Der  Reklamechef  der  grofien  Kaufhauser  ist  unser  Bruder! 
Jeder,  der  nicht  schweigt,  ist  unser  Bruder! 

O zersprengt  die  Stahlkasematten  Eurer  Einsamkeit! 
f O springt  aus  den  violetten  Grotten,  wo  Eure  Schatten  im 

Dunkel  aus  Eurem  Blut  lebend  schliirfen! 

Jede  Offnung,  die  Ihr  in  Mauem  um  Euch  schlagt,  set  Euer 

runder  Mund  zum  Licht! 

Aus  jeder  vergessenen  Spalte  der  Erdschale  stofit  den  Atem- 

schlag  des  Geistes  in  Sonnenstaub! 

Wenn  ein  Baum  der  Erde  den  Saft  in  die  weiBen  Bliiten  schickt, 

laBt  sie  reif  platzen,  weil  Euer  Mund  ihn  beschwort! 
O sagt  es,  wie  die  geliebte  griinschillernde  Erdkugel  iiber  dem 

Feuerhauch  Eures  lachelnden  Mundes  auf  und  ab 
tanzte ! 

O sagt,  dafi  es  unser  aller  Mund  ist,  der  die  Erdgebirge  wie  Woll- 

docken  blast! 

Sagt  dem  besorgten  Feldherrn  und  dem  zerzausten  Arbeits- 
losen,  der  unter  den  Bnicken  schlaft,  dafi  aus  ihrem  Mund  der 
himmlische  Brand  lachelnd  quillt! 


114 


Ludwig  Rubiner  * Das  himmlische  Lichi 


Sagt  dem  abgesetzten  Minister  und  der  frierenden  Wander- 
dime,  sie  diirfen  nicht  sterben,  eh  hinaus  ihr  Menschenmund 
schrillt ! 


Kamerad,  Sie  werden  in  Ihrem  Bett  einen  langen  Schlaf  tun. 
O traumen  Sie,  wie  Frauen  Sie  betrogen;  Ihre  Freunde  ver- 
lieBen  Sie  scheel. 

Traumen  Sie,  wie  eingeschlossen  Sie  waren.  Traumen  Sie  den 
Krieg,  das  Bluten  der  Erde,  den  millionenstimmigen  Mordbefehl. 

Traumen  Sie  Ihre  Angst ; Ihre  Lippen  schlossen  sich  eng,  Ihr 
Atem  ging  kurz  wie  das  Blatterbeben  an  erschreckten  Zier- 
gestrauchen . 

Schwarzpressender  Traum,  Vergangenheit,  o Schlaf  im 
eisemen  Keuchen! 

Aber  dann  wachen  Sie  auf,  und  die  Nacht  zerflog,  wie  im 
Licht  aus  den  Schomsteinen  RuB. 

O Lichtmensch  aus  Nacht.  Ihre  Briider  sind  wach.  Und  Ihr 

Mund  laut  offen  ruft  zur  Erde  den  ersten  gottlichen 

Gm6. 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House 


115 


Gduard  Q} ernsfein  : 

VOLKER  ZU  HAUSE 

ERINNERUNGEN. 

IV* 

IN  ZURICH. 

/ URICH  war  in  dem  Jahre,  wo  ich  es  zum  erstenmal  betrat 
1 — 1879  — fast  ebenso  vom  heutigen  Ziirich  verschieden, 
wie  das  damalige  Lugano  vom  heutigen.  Es  zahlte  mit  seinen 
acht  oder  neun  noch  selbstandigen  Vororten  zusammen  wenig 
mehr  als  die  Halfte  der  Einwohner,  die  heute  das  mit  jenen  ver- 
einigte  Grofi-Ziirich  zahlt,  ermangelte  noch  eines  erheblichen 
Teils  der  Prachtgebaude  und  Schmuckanlagen,  die  es  heute 
zieren,  und  seine  Wohn-  und  Geschaftshauser  trugen  in  ihrer 
grofien  Mehrheit  noch  lokale  Farbe.  Wohl  hatte  die  Stadt  in 
ihrem  siidlichen  Teil  schon  die  Bahnhofstrafie  und  einige  ihr 
architektonisch  verwandte  kleine  Gassen  mit  eleganten  Hausern 
modemeren  und  antikisierenden  Stils.  Auch  fehlte  es  in  den 
Vororten  und  auf  den  benachbarten  Anhohen  nicht  an  Villen, 
von  denen  einige  sogar  sich  schlofiartig  darboten.  Aber  die 
Masse  der  Geschafts-  und  Wohnhauser  standen  entweder  in  den 
engen  und  winkeligen  Strafien  der  auf  Hiigeln  gebauten  alten 
Stadt  und  waren  darum,  so  anfechtbar  sie  vom  hygienischen 
Standpunkt  aus  sein  mochten,  interessante  Kulturdenkmaler  aus 
vergangenen  Zeiten,  oder  sie  gehorten  nur  erst  teilweise  be- 

* Siehc  das  Dczembcrhcft  der  WeiBen  Blatter,  2.  Jahrgang,  und  die  Februar-  und  Marz- 
hefte,  3.  Jahrgang. 


116 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House 


bauten  StraBen  an  und  waren  dann  meist  Zwitterbildungen 
zwischen  groBstadtischem  Wohn-  und  kleinstadtischem  Land- 
ha  us.  Zurich  vereinte  uberhaupt  noch  in  ziemlichem  Grade 
Dorf,  Kleinstadt  und  GroBstadt.  Bis  hart  an  die  Grenze  der 
alten  Stadt  Zurich  ragten  an  einigen  Stellen  Weingarten  und 
Wiesen  in  das  Gebiet  von  Grofi-Ziirich  hinein,  und  wer  iiber 
den  Vorort  Fluntem  hinaus  das  auf  dem  Germaniahiigel  am 
Ziirichberg  gelegene  Grab  des  genialen  Georg  Buchner  auf- 
suchen  wollte,  kam  noch  an  richtigen  Bauemhausem  im  be- 
kannten  Schweizer  Stil  vorbei.  Heute  ist  das  Stuck  Berg  um 
Buchners  Grab,  das  damals  eine  Einode  war,  von  Villen  besetzt, 
zwischen  denen  hindurch,  an  ihren  schonen  Garten  vorbei,  ein 
im  Sommer  sehr  reizvoller  Weg  fiihrt.  Aber  tritt  man  aus  diesem 
Villengewirr  heraus  und  an  das  Grab  heran,  so  wird  es  schwer, 
sich  in  die  Stimmung  zu  versetzen,  die  das  einsam  gelegene  Grab 
seinerzeit  in  dem  Wanderer  erweekte,  der  es  von  Fluntem  oder 
OberstraB  her  iiber  Heideland  erreichte.  Fiir  ihn  war  es  ein 
Ruhepunkt,  fiir  den  heutigen  Spazierganger  ist  es  kaum  ein  An- 
laB  zu  fluchtigem  Anhalten,  und  von  den  vielen  Tausenden,  die 
es  eines  Blickes  wiirdigen,  wissen  die  wenigsten  etwas  Genaueres 
vom  Dichter,  der  das  Drama  „Dantons  Tod“  sowie  den  revo- 
lutionaren  Hessischen  Landboten  geschrieben  und  dem  Georg 
Herwegh  das  schwungvolle  Gedicht  gewidmet  hat: 

„So  hat  ein  Purpur  wieder  fallen  miissen, 

Hast  eine  Krone  wieder  uns  geraubt, 

Du  schonst  die  Schlange  zwischen  Deinen  FiiBen 
Und  trittst  dem  jungen  Adler  auf  das  Haupt.“ 

Auch  Herwegh  fand  in  Zurich  seine  zweite  Heimat,  und  das 
am  oberen  Rande  eines  griinbewachsenen  Abhangs  gegeniiber 
der  Kantonsschule  gelegene  Haus,  in  dem  er  zuletzt  gewohnt, 
stand  zu  meiner  Zeit  noch  so  frei  da,  wie  zu  Lebzeiten  des  „groBen 
Kindes  aus  Schwaben“.  Heute  ist  es  von  Universitatsgebauden 
und  Privathausern  umgeben.  Ein  gleiches  ist  noch  verschiedenen 
Hauser n geschehen,  die  damals  sogar  auf  dem  Stadtgebiet  von 
Garten  oder  brach  liegendem  Land  umgeben  waren.  Dafiir 
haben  aber  auch  Hauser  und  Hausergruppen  im  Interesse  der 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause  1 1 7 

Verbreiterung  von  StraBen  oder  Wegen  verschwinden  miissen, 
die  damals  noch  standen,  und  allerhand  interessante  Winkel  und 
Hauser  mit  einer  Geschichte  wurden  in  den  Jahren,  wo  Zurich 
sich  zu  GroB-Ziirich  auswuchs  nach  alien  Himmelsrichtungen 
hin  und  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten,  gleichzeitig 
in  hoherem  Grade  zum  Industrieort  und  zur  Fremdenstadt,  da- 
durch  dem  Reich  der  Vergangenheit  zugewiesen. 

In  jeder  Hinsicht  war  das  Ziirich  von  1879  vom  Zurich  von 

heute  unterschieden.  Um  beim  auBern  Bild  zu  bleiben,  so  war 
noch  keine  Spur  von  dem  prachtigen  Quai  vorhanden,  der  heute 
in  so  weiter  Ausdehnung  die  Ufer  des  Zurichsees  umrahmt. 
Diese  Ufer  boten  vielmehr  einen  recht  chaotischen  Anblick  dar : 
bald  stieB  das  Auge  auf  Aufienteile  von  Garten,  bald  auf  Brach- 
land  und  hier  und  da  auch  auf  Hauser,  die  unmittelbar  am  Rand 
des  Sees  erbaut  waren.  Unmittelbar  an  den  See  grenzte  auch 
der  Garten  der  alten  Tonhalle,  die,  ein  sehr  vie!  einfacheres  Ge- 
baude  als  ihre  Nachfolgerin  am  Alpenquai,  dort  stand,  wo  jetzt 
die  TheaterstraBe  vom  Bellevueplatz  sich  abzweigt.  Aber  gute 
Musik  wurde  auch  damals  schon  in  ihr  gemacht,  und  mit  der 
Einfachheit  ist  mancher  Reiz,  den  sie  darbot,  verschwunden.  So 
sammelten  sich  an  Sommerabenden,  wenn  in  lhrem  Garten  kon- 
zertiert  wurde,  stets  eine  Anzahl  Vergniigungsboote  vor  ihr.  Die 
Insassen  genossen  vom  See  aus  die  Musik  und  fuhren  in  den 
Pausen  an  die  Balustrade  des  Gartens  heran,  um  sich  vom 
Kellner  ein  Getrank  herunterreichen  zu  lassen,  kommunizierten 
auch  gelegentlich  mit  den  Gasten,  die  nachst  der  Balustrade 
saBen.  Els  ging  dabei  sehr  heiter  zu.  Als  ich  erst  mit  dem 
Ziirichsee  nahere  Bekanntschaft  geschlossen  hatte,  — und  ich 
bin  mit  ihm  im  Laufe  der  Jahre  sehr  intim  geworden  — gehorten 
die  Sommerabende  auf  ihm  zu  meinen  liebsten  Erholungen.  Es 
waren  herrliche  Eindriicke.  Bald  fuhr  man  heraus  in  den  sich 
ausbreitenden  See  und  gab  sich  dem  Zauber  der  Nacht  auf  dem 
Wasser  hin,  der  durch  die  aus  der  Ferne  bruchstiickweise 
klingende  Musik  nur  noch  erhoht  wurde,  bald  fuhr  man  wieder 
zuriick,  horte  von  der  hierfiir  passenden  Entfernung  aus  ein  oder 
zwei  Musikstiicke  vollstandig  mit  an,  um  sich  dann  dem  Garten 


118 


Eduard  Bernstein  * V olker  zu  House 


so  zu  nahern,  dafi  nun  durch  allerhand  Vorgange  in  der  Um- 
gebung  die  Aufmerksamkeit  wieder  von  der  Musik  abgelenkt 
wurde.  Die  neue  Tonhalle  ist  ein  schoneres  Gebaude  als  die 
alte  und  bietet  zu  den  Alpen  hiniiber  einen  noch  fesselnderen 
Ausblick  als  diese,  aber  die  Traulichkeit  ist  nut  der  ortlichen 
Verlegung  geopfert  worden. 

Ein  gleiches  konnte  man  noch  von  verschiedenen  Verande- 
rungen  sagen,  die  das  neue  Zurich  gegeniiber  dem  alten  auf- 
weist.  Schmerzlich  empfindet  der  die  Natur  liebende  Spazier- 
ganger,  daB  groBe  Stiicke  der  schonen  Waldpartien  des  Ziirich- 
berges  heute  als  „Privatbesitz“  mit  Drahtgittem  umzogen  sind, 
und  gern  wurde  gar  mancher  die  eleganter  ausgestatteten  und 
groBeren  heutigen  Wirtschaften  auf  dem  Berge  fiir  die  sehr  viel 
einfacheren  friiheren  Wirtschaften  hingeben,  wo  man  auf  rohge- 
zimmerten  Banken  an  ebensolchen  Tischen  saB  und  auBer 
offenem  Wein,  Brot  und  Kase  nur  wenige  Gerichte  erhalten 
konnte,  wiirde  er  dafiir  die  besagten  Gitter  loswerden.  Es  gibt 
sogar  Leute,  die,  wenn  es  nicht  anders  ginge,  den  Tausch  auch 
ohne  diese  negative  Zugabe  machten.  Was  war  das  fiir  ein 
stimmungsvolles  Rastmachen  auf  dem  Dolder,  als  noch  keine 
Zahnradbahn  hinauffuhr  und  man  bei  einem  einfachen  Glase 
Wein  in  Gedanken  sich  mit  unsem  Dichterfiirsten  unterhalten 
konnte,  zu  deren  Zeiten  es  nicht  wesendich  anders  beschaffen 


war. 

In  der  Tat  hat  in  den  ersten  vier  Jahrfiinfteln  des  19.  Jahr- 
hunderts  das  soziale  Leben  in  dieser  Hinsicht  weniger  Verande- 
rungen  erfahren,  als  in  dem  drittel  Jahrhundert,  das  seitdem 
verflossen. 

Andre  Zeiten,  andre  Einrichtungen.  Nun  fahrt  man  auBer 
mit  der  zum  Dolder  fiihrenden  Zahnradbahn  an  einer  andem 
Stelle  mit  der  StraBenbahn  ein  Stuck  auf  den  Ziirichberg  hinauf 
bis  hart  an  die  Gartenwirtschaft,  die  sich  Beau  Sejour  schrieb 
und  zu  meiner  Zeit  von  den  Eingeborenen  „Rinderknecht“  aus- 
gesprochen  wurde,  nicht  aus  Abneigung  gegen  das  Franzosische, 
sondem  im  Hinblick  auf  den  Eigentiimer.  Vielleicht  geht  die 
Bahn  heute  schon  noch  hoher,  und  fiir  Leute,  denen  das  Steigen 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause  1 1 9 

beschwerlich  wird,  ist  das  sicher  eine  grofie  Wohltat.  Auch  kann 
keine  bauliche  Veranderung  dem  wundervollen  Blick  vom  Zii- 
richberg  aus  liber  den  See  hinweg  auf  die  Haupter  der  Alpen- 
kette  der  mittleren  Schweiz  und  liber  die  Albiskette  zum  Rigi, 
Pilatus  und  den  Berner  Riesen  seine  Schonheiten  rauben.  Aber 
die  nahere  Umgebung  hat  fiir  unsereinen  viel  von  ihren  Reizen 
verloren. 

Els  ist  gut,  dafi  der  Mensch  dahinstirbt.  Wird  er  liber  die 
Fiinfziger,  so  wird  fast  jeder  Romantiker.  Mag  der  Verstand 
noch  so  sehr  mit  der  Zeit  Schritt  halten,  das  Gefiihl  empfindet 
immer  starker  mit  der  Vergangenheit.  Aber  eine  neue  Genera- 
tion ist  inzwischen  herangewachsen,  die  diese  nicht  kannte,  und 
ihr  fehlt  nichts  von  dem,  was  den  Alten  ans  Herz  gewachsen  war. 

So  wenig  wie  von  Bahnen  auf  den  Ziirichberg,  wufite  das 
Zurich  von  1879  von  StraBenbahnen  in  der  Stadt  und  den  mehr 
oder  weniger  eben  gelegenen  Vororten.  Der  Mangel  schien  aber 
von  der  Bevolkerung  nicht  sehr  empfunden  zu  werden.  Der 
Verkehr  zwischen  Stadt  und  Vororten  war  ohnehin  nicht  sonder- 
lich  stark,  der  kommunalen  Dezentralisation  entsprach  offenbar 
eine  noch  starke  geschaftliche  Dezentralisation.  Auch  machte  es 
den  geborenen  Ziirchem  wenig  aus,  daB  ein  groBer  Teil  ihrer 
Stadt  auf  hligeligem  Boden  erbaut  war  und  es  auf  manchen 
Wegen  mehrmals  aufwarts  und  abwarts  ging. 

Anders  die  an  lhre  bequemen  Verbindungen  gewohnten  Ber- 
liner, wenn  sie  nach  Zurich  kamen.  ..Zurich  ware  eine  sehr 
hiibsche  Stadt,“  sagte  einmal  ein  Landsmann  aus  Spree- Athen 
zu  mir,  den  ich  in  Limmat-Athen  spazieren  fiihrte,  „wenn  es 
nur  nicht  die  vielen  Buckel  hatte.“  Ich  aber  war  mittlerweile 
schon  so  an  Zurich  akldimatisiert,  um  meine  Antwort  mit  einer 
leichten  Variation  in  die  Worte  des  Dichters  ldeiden  zu  konnen : 
„Was  euch  es  widrig  macht,  macht  mir  es  wert.“ 

Ich  war  bei  der  Ankunft  in  Zurich  im  Gasthof  zum  Storch 
abgestiegen,  dem  am  Weinplatz  gelegenen  Gegeniiber  des  Hotels 
zum  Schwert,  das  wir  Deutsche  aus  den  Biographien  Goethes 
und  Fichtes  kennen.  Mein  Quartier  im  unberiihmten  „Storchen“ 
sollte  mir  jedoch  einen  unerwarteten  Vorteil  zuspielen. 


120 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


Als  ich  am  Tage  nach  meiner  Ankunft  ausging,  Wohnung  zu 
suchen,  fiel  mir  auf,  daB,  obwohl  es  ein  Werktag  war,  uberall 
geputzte  Kinder  sich  auf  den  StraBen  bewegten,  einige  davon 
in  fremdartigen  Kostiimen  und  die  Knaben  oft  mit  Masken  in 
der  Hand.  Offenbar  mufite  etwas  Besonderes  los  sein.  Um  es 
zu  erkunden,  wandte  ich  mich  an  einen  der  geputzten  Knaben 
und  fragte  ihn,  warum  sie  alle  in  Putz  seien.  Ich  mufite  meine 
Frage  mehrmals  wiederholen,  bis  er  uberhaupt  begriff,  was  ich 
wollte,  und  dann  gab  er  mir  eine  Antwort,  aus  der  wiederum 
ich  nichts  zu  machen  wuBte:  ,,’s  isch  Sachzeliite“.  Eine  Er- 
klarung,  was  das  bedeute,  vermochte  er  mir  nicht  zu  geben. 
Unerschiittert  blieb  er  bei  seinem  ,,'s  isch  Sachzeliite'*.  Und  an 
welches  Kind  ich  mich  auf  meiner  Wanderung  mit  der  gleichen 
Frage  wandte,  immer  erhielt  ich  die  stereotype  Antwort:  ,,’s  isch 
Sachzelute“.  Ich  kam  mir  fast  wie  der  Mann  in  Hebels  Er- 
zahlung  vom  „Kannitverstan“  vor.  Endlich  fragte  ich  in  der 
Nahe  meines  Hotels  einen  Erwachsenen  und  erfuhr,  was  „Sechse- 
Iauten“  sei  und  daB  abends  auf  der  Limmat  ein  „Bog“  abge- 
brannt  werde.  Das  Sechselauten  oder  vielmehr  Sechsuhrlauten- 
fest  ist  ein  Freudenfest  aus  der  Zunftzeit  her,  wo  am  Montag 
nach  Friihlingsanfang  damit  begonnen  wurde,  um  sechs  Uhr 
abends  durch  Glockengelaut  SchluB  des  Arbeitstages  anzu- 
kiindigen.  Die  Zunftgesellschaften,  die  Zurich  noch  hat,  die 
aber  langst  jede  wirtschaftspolitische  Bedeutung  verloren  haben, 
feiern  es  jahrlich  am  Abend  des  bezeichneten  Tages  durch  Fest- 
essen  und  — zu  meiner  Zeit  wenigstens  — namentlich  Fest- 
trinken.  Fur  die  Kinder  ist  es  ein  schulfreier  Tag,  an  dem  sie 
sich  putzen  und  maskieren,  jeweilig  auch  Umziige  in  Charakter- 
kostiimen  machen,  und  alle  vier  bis  fiinf  Jahre  feiert  es  ganz 
Zurich  durch  einen  kostiimierten  Umzug  von  GroB  und  Klein, 
der  jedesmal  einer  bestimmten  Idee  Ausdruck  gibt  und  bei  dem 
von  wohlhabenderen  Teilnehmern  manchmal  in  der  Ausstattung 
ein  groBer  Luxus  entfaltet  wird.  Den  Abschluss  des  Festes  fiir 
das  Volk  bildet  die  feierliche  Verbrennung  des  „Bog“,  einer  mit 
Brennmaterial  und  Feuerwerkskorpem  ausgestopften  Puppe,  die 
irgend  eine  allgemein  als  unliebsam  empfimdene  Erscheinung, 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause  121 

4 

Einrichtung  oder  Macht  verkorpert.  Diesmal  nun  gait  die  Ver- 
brennung  des  Bog  einer  Kundgebung  gegen  das  alte  Theater- 
gebaude  Ziirichs,  das  in  der  Tat  von  auBen  eher  den  Eindruck 
einer  Stallung  als  eines  Theaters  machte  und  dessen  Raumver- 
haltnisse  und  innere  Ausstattung  den  Anspriichen  der  Ziiricher 
nicht  mehr  geniigten.  Ohne  dieses  Urteil  anfechten  zu  wollen, 
mufi  ich  indes  gestehen,  daB  icb  in  diesem  alten  Gebaude  noch 
mancher  Vorstellung  beigewohnt  habe,  die  mich  hochlichst  be- 
friedigte.  Gerade  weil  das  Theater  nur  mafiig  grofi  war,  konnte 
z.  B.  im  Konversationsstiick  sich  eine  die  Feinheit  des  Spiels 
unterstiitzende  Intimitat  zwischen  Biihne  und  Auditorium  ent- 
falten,  und  in  der  Oper  wiederum  kamen  die  Schonheiten  man- 
cher Stimmen  im  kleinen  Raum  viel  vorteilhafter  zur  Geltung, 
als  in  den  groBen  Opernhausern.  Uberhaupt  ward  in  der  Oper 
Ziirichs  unter  der  Leitung  Lothar  Kempters  von  Orchester  und 
Sohsten  oft  Ausgezeichnetes  geleistet.  Die  Chore  freilich  ent- 
sprachen  nicht  selten  etwas  gar  zu  sehr  den  Regeln  des  seligen 
Aristoteles  und  erregten  Furcht  und  Mitleid.  Aber  das  hatte 
mit  der  raumlichen  GroBe  des  Theaters  nichts  zu  tun. 

Immerhin,  das  Theatergebaude  sollte  symbolisch  vernichtet 
werden,  und  so  hatte  man  dem  „Bog“  des  Jahres  1879  die 
Gestalt  des  Winters  gegeben,  der,  ein  Greis  mit  weifiem  Haupt- 
und  Barthaar,  auf  einem  flachen  Lastboot  saB  und  eine  Nach- 
bildung  des  Theaters  im  SchoBe  hielt.  Das  Boot  war  in  der 
Ummat  gegeniiber  dem  Hotel  zum  Storchen  verankert  und 
gegen  Abend  sammelte  sich  an  beiden  Ufem  ein  gewaltiges 
Pubhkum,  um  dem  Autodafe  beizuwohnen,  das  nach  einge- 
brochener  Dunkelheit  programmgemaB  vor  sich  ging.  Da  nun 
mein  Zimmer  im  Hotel  auf  den  FluB  hinausging,  konnte  ich 
das  Schauspiel  vom  Fenster  aus  im  vollsten  MaBe  genieBen. 
Man  hatte  mit  Feuerwerk  nicht  gespart,  und  wie  nun  der 
alte  Winter  feuerspriihend  die  zu  Tausenden  sich  drangenden 
Massen  am  Ufer  und  die  Gebaude  hinter  ihnen  bald  starker 
und  bald  nur  in  Umrissen  beleuchtete,  gab  das  einen  wirklich 
schonen  Anblick,  von  dem  ich  nicht  vermutet  hatte,  daB  er 
mir  sobald  nach  meiner  Ankunft  zuteil  werden  sollte. 


122 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  House 


Bei  der  Wohnungssuche  ging  es  mir  mit  der  Landessprache 
nicht  viel  anders,  wie  bei  der  Erkundung  des  „SachzeIiite“ . 
Ich  hatte  noch  keine  Abnung  vom  Ziircher  Deutsch,  und  da  ich 
auf  der  Schule  kein  Mittelhochdeutsch  getrieben  hatte,  fiel  es 
mir  manchmai  schwer,  die  Ziiricher  Vermieterinnen  zu  ver- 
stehen.  „Ach,  Sie  verstahe  kei  Ziiritiitsch,  ich  kann  auch 
hochdiitsch  zu  Ihne  rede,“  antwortete  mir  eine  solche,  als  ich 
sie  bat,  etwas  langsamer  sprechen  zu  woilen,  da  ich  ihr  nicht 
recht  folgen  konnte.  Und  sie  iiberflutete  mich  mit  einer  Aus- 
einandersetzung  in  dem  Sprachidiom,  das  sie  „hochdiitsch“ 
nannte,  das  mir  aber  nicht  viel  verstandlicher  war  als  ihre 
Heimatssprache . Bei  einer  anderen  hatte  ich  folgendes  Er- 
lebnis.  Ich  traf  sie  in  der  Haustiir  und  fing  an,  mit  ihr  liber  den 
Monatspreis  der  drei  Zimmer,  wie  Hochberg  und  ich  sie 
brauchten,  zu  verhandeln.  Sie  nannte  einen  Betrag,  den  ich 
als  achtzig  Franken  verstand  und  unter  Vorbehalt  der  Ver- 
standigung  liber  andre  in  Betracht  kommende  Punkte  fur 
annehmbar  erklarte.  Kaum  aber  hatte  ich  die  Zahl  ausge- 
sprochen,  als  ein  gleichfalls  in  der  Haustiir  stehender  Mann 
anfing,  mir,  wahrend  ich  mit  der  Frau  liber  die  andern  Punkte 
sprach,  immer  wieder  abwinkende  Zeichen  zu  machen.  Sollte 
die  Wohnung  Ungeziefer  oder  sich  einer  in  ihr  erhangt  haben? 
dachte  ich,  lieB  mich  aber  durch  die  Zeichen  nicht  beirren, 
da  ich  merkte,  daB  die  Wohnung  ohnehin  nicht  das  sei,  was 
ich  suchte.  Ich  sagte  der  Frau,  ich  miiBte  mir  die  Sache  noch 
mit  meinem  Freund  iiberlegen  und  ging  meiner  Wege.  Ein 
Blick  zuriick  belehrte  mich  bald,  daB  der  Mann  aus  der  Haustiir 
mir  nachging.  Und  als  ich  daraufhin  meinen  Schritt  ver- 
langsamte,  fafite  sich  der  Unbekannte  ein  Herz  und  sprach 
mich  an:  „Sie!“  „Was  wiinschen  Sie  von  mir,“  fragte  ich. 
„Sie,“  antwortete  er,  „sie  hett  ja  nit  gesagt,  achtzig  Franke,  sie 
hett  gesagt  sachzig  Franke.“  Den  Guten  hatte  der  Gedanke 
gequalt,  daB  ich  das  Opfer  eines  Horfehlers  werden  konne. 
Natlirlich  dankte  ich  ihm  fiir  seine  wohlwollende  Fiirsorge. 

Es  wird  dem  Deutschen  und  insbesondere  dem  Norddeut- 
schen,  der  ohne  einen  Begriff  vom  Wesen  der  Ziiricher  Mund- 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


123 


art  nach  Zurich  kommt,  nicht  leicht,  sich  in  diese  hinein  zu 
finden.  Dafi  es  sich,  von  einigen  Eigenheiten  der  Aussprache 
abgesehen,  bei  ihr  nicht  um  eine  Art  Jargon,  sondem  urn  eine 
geschichtlich  gewordene  Volkssprache  mit  regelmaCigen  Ab- 
wandlungsformen  handelt,  will  den  Wenigsten  in  den  Kopf. 
Sie  tont  ihnen  hafilich  und  erscheint  ihnen  als  die  Sprache 
ungebildeter  oder  sprachlassiger  Menschen.  Nun  hat  zweifels- 
ohne  das  Schweizerdeutsch,  wie  es  in  Zurich  und  andem 
Kantonen  der  Schweiz  gesprochen  wird,  manches  Unschone. 
Die  Aussprache  des  „ch“  als  Kehllaut,  die  Triibung  des  Vokals 
i in  ii  und  der  Vokale  e und  a in  6 wird  niemand  als  Ver- 
schonerung  der  deutschen  Sprache  empfinden.  Aber  wer  sich 
durch  diese  und  andre  AuBerlichkeiten  nicht  davon  abhalten 
lafit,  in  den  Geist  des  Schweizerdeutsch  einzudringen,  wird 
in  seinen  Wortformen  und  seiner  Syntax  viel  Schatzens- 
wertes  finden,  eine  Verbindung  von  Kraft  und  Innigkeit,  die 
dem  Schriftdeutsch  abgeht,  und  die  es  begreiflich  macht, 
warum  nicht  nur  die  breiten  unteren  Volksschichten,  sondem 
auch  die  literarisch  gebildeten  Elemente  der  deutschen  Schweiz 
im  engeren  Verkehr  am  Gebrauch  des  Schweizerdeutsch  fest- 
halten.  Ich  habe  das  Gluck  gehabt,  in  der  Schweiz  mit  Leuten 
zu  verkehren,  die  schriftstellerisch  und,  wenn  es  darauf  ankam, 
auch  rednerisch  sich  als  wahre  Meister  der  deutschen  Sprache 
auszeichneten.  Aber  auch  diese,  wie  z.  B.  der  leider  im  vorigen 
Jahre  verstorbene  einstige  Redakteur  und  spater  Direktor  der 
Frankfurter  Zeitung  Theodor  Curti,  der  als  Prosaschriftsteller 
wie  als  Dichter  in  bezug  auf  Stil  und  Sprachreichtum  es  mit 
den  besten  Reichsdeutschen  aufnehmen  konnte,  sprachen  im 
Hause  und  im  sonstigen  Verkehr  mit  Landsleuten  ihr  Schwyzer- 
diitsch,  nach  unseren  Begriffen  also  „Platt“.  Umgekehrt  wird 
es  manchem  Reichsdeutschen  in  der  Schweiz  so  gegangen  sein 
wie  mir.  Mir  ist  im  Lande  der  Alpen  erst  das  Verstandnis  und 
der  Sinn  fur  das  Wesen  der  Mundarten  zuteil  geworden. 

Erlaubte  es  meine  Zeit,  so  wiirde  ich  u.  a.  gem  einmal  einen 
sprachtheoretischen  Vergleich  ziehen  zwischen  dem  Verhaltnis 
des  Schweizerdeutsch  zum  Schriftdeutsch  und  des  auch  im 


124 


Eduard  Bernstein  * V biker  zu  House 


Tessin  gesprochenen  diafetto  mifanese  zur  I i t erarischen  fmgua 
toscana.  Dem  Laien  fallen  da  viele  Ahnlichkeiten  auf.  Hier 
wie  dort  die  Umlautung  von  Vokalen  in  getriibte  Doppellaute 
und  die  Tendenz,  Worte  durch  AbstoBen  von  Vokalen  und 
Endsilben  zusammenzuziehen . In  Casa  in  Valle  horte  ich 
einmal  einen  den  Berg  herabkommenden  Burschen  einen  am 
Fenster  unsres  Nachbarhauschens  sitzenden  Kameraden  zu- 
rufen:  „ndemm“.  Ich  griibelte  lange  dariiber  nach,  was  er 
wohl  damit  gemeint  haben  konne,  bis  ich  durch  Analogie- 
schluB  dahinter  learn,  daB  ich  ein  zusammengezogenes  „andiamo“ 
gehort  hatte.  Der  Name  Bernstein  setzt  mit  dem  Konzert  der 
vier  Konsonanten  r n s i jeder  italienischen  Zunge  uniiber- 
windliche  Schwierigkeiten  entgegen.  Einige  Leute  halfen  sich 
damit,  daB  sie  zwischen  r und  n ein  e einfiigten,  andre  machten 
es  einfacher  und  lieBen  das  dem  r folgende  n einfach  fort. 
Nicht  wenig  iiberrascht  war  ich  aber,  als  ich  eines  Tages  vor 
unserem  Ha  us  wiederholt  „Besteng“  rufen  horte  und  es  sich 
herausstellte,  daB  dieser  Ruf  mir  gait.  Eine  Arbeiterin  des 
Mr.  d’Arces,  die  mir  etwas  bestellen  sollte,  hatte  mit  meinem 
Namen  im  Geist  der  Volksetymologie  des  Mailander  Sprach- 
gebiets  kurzen  ProzeB  gemacht. 

Wie  bildet  das  Volk  Fremdworte  um,  die  es  in  seine  Sprache 
aufnimmt  ? Wer  diesen  ProzeB,  der  trotz  aller  Sprachreinigungs- 
bestrebungen  immer  wieder  vor  sich  geht,  aufmerksam  ver- 
folgt,  wird  auch,  ohne  Philologe  zu  sein,  entdecken,  daB  es  bei 
ihm  iiberall  nach  bestimmten  Regeln  geht,  die  der  einfache 
Mann  aus  dem  Volke  einhalt,  ohne  sich  dessen  bewuBt  zu 
werden.  Indem  die  brave  Stefanina  mit  dem  n in  der  Mitte 
meines  Namens  auch  das  r aus  ihm  entfernte  und  das  ei  e 
aussprach,  hatte  sie  ihm  erst  die  dem  italienischen  Sprachgeist 
angepafite  Form  gegeben.  Das  n am  SchluB  wird  aber  im 
ganzen  Gebiet  des  Mailander  Dialekts  nasal  ausgesprochen . 
So,  daB  also  z.  B.,  da  der  Dialekt  das  u in  u umlautet  und  den 
Endvokal  abwirft,  Lugano  im  Munde  seiner  Eingeborenen  zu 
„Liigang“  wird.  Und  der  Schweizerdeutsche  im  Berner 
Sprachgebiet  macht  aus  dem  italienischen  fazzoletto  (Schnupf- 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  House  125 

tuch)  ein  „fazinettli“,  im  Ziircher  Sprachgebiet  aus  dem  fran- 
zosischen pois  verts  — „Bouverli“. 

Dem  Eingeborenen  Zlirichs  ist  das  Schriftdeutsch  eine 
Fremdsprache,  die  er  erst  erlernen  mufi.  AIs  eine  mir  be- 
freundete  Deutsche  im  Hause  einer  Genferin,  bei  der  sie 
Unterricht  in  der  franzosischen  Sprache  nahm,  ein  achtjahriges 
Ziiricher  Kind,  das  etwas  bestellen  kam,  schriftdeutsch  an- 
sprach,  antwortete  ihr  dieses  verlegen:  „Ich  verstah  kei  Fran- 
zosisch  nut  . 

Im  politischen  Leben  Ziirichs  herrschte  in  den  achtziger 
Jahren  des  19.  Jahrhunderts  starke  Ebbe.  Die  demokratische 
Partei  des  Kantons,  die  bei  der  Verfassungsrevision  von  1869 
fiir  Zurich  die  demokratischste  Verfassung  erkampft  hatte,  <Iie 
damals  iiberhaupt  denkbar  war,  und  die,  zur  Regierung  ge- 
Iangt,  unter  der  Fiihrung  einer  Reihe  von  ausgezeichneten 
Mannern,  auch  sonst  eine  wahrhaft  erleuchtete  Reformpolitik 
betrieben  hatte,  war  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  infolge 
einer  Verkettung  verschuldeter  und  unverschuldeter  Nacken- 
schlage  einer  Koalition  von  Gegnern  erlegen  und  ihrer  Spann- 
kraft  beraubt.  Unverschuldet  war  die  Riickwirkung  der  iiber 
Deutschland  und  Osterreich  hereingebrochenen  Geschafts- 
krise  auf  das  Ziiricher  Geschafts  leben,  verschuldet  der  Umstand, 
daB  der  durch  diesen  Geschaftsdruck  verscharfte  Zusammen- 
bruch  einer  von  Hause  aus  verfehlten  Eisenbahngriindung  der 
demokratischen  Partei  auf  die  Rechnung  gesteilt  werden  konnte. 

Auf  kleinem  Gebiet  hatte  sich  in  den  siebziger  Jahren  in 
Zurich  eine  Verquickung  von  Eisenbahninteressen  mit  partei- 
politischen  Interessen  vollzogen,  die  wir  auch  in  verschiedenen 
GroBstaaten  sich  haben  abspielen  sehen.  Um  parteiischen 
Verfiigungen  der  von  Liberalkonservativen  beherrschten 
Schweizerischen  Nordostbahn  entgegenwirken  zu  konnen, 
war  ein  Konkurrenzuntemehmen,  Nationalbahn  genannt,  ins 
Leben  gerufen  worden,  deren  Hauptlinie  vom  Bodensee  aus 
iiber  Winterthur  und  Baden  im  Aargau  unter  Umgehungder 
Stadt  Zurich  in  die  innere  Schweiz  und  Westschweiz  fiihren 
sollte.  Unter  Umgehung  der  Stadt  Ziirich:  die  Idee,  die 


34  VoL  m/i 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House 


liberal-konservative  Hauptstadt  des  Kantons  zugunsten  Win- 
terthurs,  das  damals  die  Hochburg  der  demokratischen  Partei 
war,  ausschalten  zu  konnen,  war  die  intellektuelle  Hamartia 
dieser  gewesen,  die  groBe  Denkschuld,  dank  der  der  finanzielle 
Krach  der  Nationalbahn  zu  ihrem  politischen  Krach  werden 
konnte.  Denn  der  Gegensatz : hier  Nationalbahn  — hier  Nord- 
ostbahn  ward  dadurch  im  Volk  gleichbedeutend  mit  hier 
demokratische  — hier  liberal-konservative  Partei.  Und  die 
Nordostbahn  hatte  sich  als  die  kraftigere  Untemehmung 
erwiesen,  ihre  Aktien  hielten  sich  auf  Ieidlicher  Hohe,  wah- 
rend  an  den  Aktien  der  Nationalbahn  Vermogen  verloren 
gingen. 

Fast  gleichzeitig  mit  der  demokratischen  Partei  war  auch  der 
sozialdemokratischen  Arbeiterbewegung  des  Kantons  Zurich, 
die  sich  im  politischen  Kampf  noch  an  die  erste  anlehnte,  der 
Atem  stark  ausgegangen.  Auf  ihr  lastete  zunachst,  wie  auf 
jener,  der  iiber  ganz  Europa  sich  ausbreitende  Geschaftsdruck, 
dann  aber  von  1878  ab  sehr  erschwerend  auch  das  deutsche 
Sozialgesetz.  Eine  eigentliche  sozialdemokratische  Partei  der 
Schweiz  gab  es  zu  jener  Zeit  iiber haupt  noch  nicht.  Eine 
spezifisch  schweizerische  politische  Organisation,  die  ihre 
Mitglieder  fast  ausschlieBlich  aus  der  Arbeiterschaft  und 
kleinbiirgerlichen  Elementen  rekrutierte,  war  der  Griitliverein, 
der  indes  ein  sehr  passives  Dasein  fiihrte.  In  dem  1874  ge- 
griindeten  Schweizerischen  Arbeiterbund,  der  sich  aus  alien 
Sektionen  der  Arbeiterschaft  — politischen  Vereinen,  Fach- 
vereinem  Bildungs-  und  Unterstutzungsvereinen  — zusammen- 
setzte  und  eine  Kampfverbindung  sein  sollte,  uberwog  dagegen 
das  deutsche  und  das  diesem  sich  noch  vollig  angliedernde 
deutsch-osterreichische  Element.  Nicht  daB  diese  Nationalitaten 
schon  die  Mehrheit  der  beschaftigten  Arbeiter  des  Kantons 
gestellt  hatten.  Aber  den  meisten  Arbeitern  schweizerischer 
Nationalist  fehlte  aus  verschiedenen  Gr linden,  die  u.  a.  mit 
den  Unterstiitzungseinrichtungen  ihrer  Heimat  im  Zusammen- 
hang  standen,  der  Antrieb,  sich  den  ausgesprochenen  Kampf- 
organisationen  anzuschlieBen,  und  diejenigen,  die  es  taten, 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


127 


fiihlten  sich  dort  in  der  Minderheit,  selbst  wenn  sie  es  in  der 
Wirldichkeit  nicht  waren. 

Hierbei  spielten  die  oben  geschilderten  Sprachdifferenzen  eine 
verhangnisvolle  Rolle.  In  alien  nicht  spezifisch  nationalen  Or- 
ganisationen  war  das  Schriftdeutsch  die  zwar  nicht  statutarisch 
vorgeschriebene,  aber  durch  die  Natur  der  Dinge  gebotene  Dis- 
kussionssprache,  und  dies  hatte  die  Wirkung,  dafi  sich  die 
Schweizer,  obwohl  sie  das  Schriftdeutsch  durchaus  verstanden 
und  sich  auch  ganz  gut  seiner  bedienen  konnten,  nur  ungern  an 
den  Diskussionen  beteiligten.  Ich  habe  das  lange  Zeit  nicht  recht 
begreifen  konnen,  bis  mir  eines  Tages  ein  literarisch  hochgebil- 
deter  und  ganzlich  vorurteilsloser  Schweizer  auseinandersetzte, 
er  fiihle  sich  selbst  im  Kreise  von  befreundeten  Deutschen  stets 
befangen,  weil  er  den  Gedanken  nicht  los  werde,  dafi  er,  sobald 
er  den  Mund  auftue,  irgend  welchen  Sprachfehler  machen 
werde.  Wenn  das  einem  Manne  geschah,  der  sich  an  den  besten 
deutschen  Stilisten  gebildet  hatte  und  ein  vorziigliches  Deutsch 
schrieb,  wie  mufite  es  da  erst  Arbeitern  zumute  sein,  denen  die 
literarische  Bildung  abging.  Manches  bittere  Wort  von  solchen 
iiber  die  ,,mundfertigen  Deutschen**  wurde  mir  nun  erst  in  seiner 
richtigen  Bedeutung  klar.  Mochte  den  schweizerischen  Ar- 
beitern, die  sich  den  gemischt-nationalen  Organisationen  an- 
schlossen,  dort  auch  das  grofite  Entgegenkommen  erwiesen 
werden,  so  konnte  das  nichts  daran  andern,  dafi  sie  sich  — 
emzelne  wenige  ausgenommen  — in  dieser  Umgebung  nie  recht 
heimisch,  sondern  eher  bedriickt  fiihlten.  Und  solches  Emp- 
finden  macht  dann  wieder  das  Urteil  ungerecht. 

Indes  hatte  die  Sprachschwierigkeit  allein  kaum  ausgereicht, 
jenes  Gefiihl  zu  erzeugen,  wenn  nicht  das  Volksempfinden  ganz 
allgemein  den  Schweizer  gegen  den  Reichsdeutschen  scheu  oder 
mifitrauisch  gestimmt  hatte.  Im  Schweizervolk  waren  Deutsch- 
land und  die  Deutschen  uberhaupt  unbeliebt,  vielen  sogar  ver- 
hafit.  Eine  Abneigung,  die  in  nicht  geringem  Grade  ein  ge- 
schichtliches  Erbe  und  aus  dem  lange  zwischen  der  Schweiz  und 
dem  Reich  obwaltenden  Verhaltnis  zu  erklaren  ist.  Die  Schwei- 
zer haben  sich  abwechselnd  immer  wieder  in  ihrer  Unabhangig- 


'•*Y 


1 28  Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 

keit  vom  Reich  bedroht  oder  bedriickt  gefiihlt,  auf  das  Reich 
mit  Furcht  geblickt,  die  sich  stets  in  ein  HaBempfinden  urn- 
setzte,  vom  Reich  wenig  Cutes  erfahren,  das  Reich  als  den  Ver- 
biindeten  ihrer  heimischen  Unterdriicker  gesehen,  wahrend 
Frankreich  ihnen  unter  den  Bourbonen  Erwerb  bot  und  in  der 
grofien  Revolution  Befreierin  wurde.  So  hat  denn,  worauf  mich 
Theodor  Curti  einmal  aufmerksam  machte  und  was  sich  mir 
spater  oft  bestatigt  hat,  dieses  geschichtliche  Verhaltnis  zu  den 
beiden  Nachbarlandern  auch  in  der  Volkssprache  Ausdruck  ge- 
funden.  Wenn  der  junge  Schweizer  ins  Ausland  gehen  will,  so 
sagt  er,  wenn  Frankreich  sein  Ziel  ist:  „Ich  gang  nach  Frankrich 
inne“,  wenn  er  aber  Deutschland  wahlt,  geht  er  „nach  Diitsch- 
land  uBe*‘,  d.  h.  nach  Frankreich  hinein,  nach  Deutschland 
hi  naus.  Diese  heute  ganz  unreflektierte  Differenzierung  verrat 
das  differente  Unterempfinden,  das  nur  wenig  braucht,  um  be- 
wuBte  Gegensatzlichkeit  zu  werden.  Elementar  machte  es  sich 
zur  Zeit  des  deutsch-franzosischen  Krieges  geltend.  Als  im 
Januar  1871  Reichsdeutsche  in  der  Ziircher  Tonhalle  die  deut- 
schen  Siege  iiber  Frankreich  feierten,  gab  es  eine  feindliche 
Demonstration  der  Bevolkerung,  die  beinahe  zu  einem  veritablen 
Aufruhr  geworden  ware. 

Daruber  waren  noch  keine  zehn  Jahre  vergangen,  als  ich  nach 
Zurich  kam,  und  das  Vorurteil  gegen  die  „Schwaben“,  wie  der 
Sammelname  fiir  die  Deutschen  lautete,  war  noch  ziemlich  stark. 
Aber  es  aufierte  sich  im  praktischen  Verhalten  nicht  unange- 
nehmer,  als  etwa  damals  im  „grofien  Kanton  Wurttemberg“. 
Wahrhaft  freiheitlich  empfindende  Deutsche  fiihlten  sich  trotz- 
dem  in  der  Schweiz  wohl.  Ein  in  Zurich  lebender  deutscher 
Aristokrat  von  liberaler  Gesinnung,  der  in  einem  von  ihm  her- 
ausgegebenen  Blatt  unerbittliche  Kritik  an  allem  iibte,  was  ihm 
an  schweizerischen  Sitten,  Einrichtungen  und  MaBnahmen  miB- 
fiel,  antwortete,  als  man  ihn  einmal  fragte,  was  er  tate,  wenn  er 
plotzlich  nach  Deutschland  versetzt  wiirde:  „Ich  kroche  auf 
alien  Vieren  in  die  Schweiz  zuriick“.  Der  charaktervolle  Mann 
hat  denn  auch  sein  Leben  auf  schweizerischem  Boden  be- 
schlossen.  Er  war  ein  SproB  des  schlesischen  freiherrlichen 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


129 


Hauses  von  Rotkirch,  nannte  sich  aber  als  Schriftsteller  nach 
einem  Nebentitel  seiner  Familie  von  Taur.  Sein  Blatt,  die 
„Schweizerische  Handelszeitung“,  hatte  nur  eine  ldeine  Auflage 
und  maBigen  Umfang,  ward  aber  aufmerksam  gelesen,  da  man 
die  in  Fachkreisen  des  Herausgebers  sorgfaltig  gewonnenen  Ur- 
teile  schatzte  und  seine  Unbestechlichkeit  kannte.  Es  hat  wohl 
kaum  einen  zweiten  Herausgeber  einer  Handelszeitung  gegeben, 
der  fur  seine  Klienten  so  unnahbar  gewesen  ware,  wie  von  Taur. 
Jeder  Versuch,  den  Leiter  von  Bank-  oder  Handelsinstituten 
untemahmen,  mit  ihm  in  personlichen  Verkehr  zu  treten,  ward 
von  ihm  als  beleidigend  empfunden  und  entschieden  zuriick- 
gewiesen. 

Im  Blatte  dieses  eigenartigen  Mannes  hatte  ein  schweizeri- 
scher  demokratischer  Schriftsteller,  den  ich  bald  kennen  lemen 
sollte  und  der  mir  noch  heute  ein  lieber  Freund  ist,  zuerst  seine 
hervorragende  Begabung  als  politischer  Humorist  an  den  Tag 
gelegt.  Riiegg  war  der  Sohn  eines  Lehrers  und  selbst  fiir  den 
Lehrerberuf  ausgebildet,  hatte  sich  aber  in  den  Tagen  der 
Kampfe  urn  Ziirichs  demokratische  Verfassung  lebhaft  an  diesen 
beteiligt  und  sodann  sich  der  politischen  Joumalistik  zugewandt. 
Er  hatte  eine  Zeitlangam  Winterthurer  Landboten  mitgearbeitet, 
der  damals  das  Hauptorgan  der  Ziiricher,  man  kann  auch  sagen 
der  schweizerischen  Demokratie  war,  und  zu  dessen  redaktio- 
nellen  Leitern  der  treffliche  Friedrich  Albert  Lange  gehorte,  der 
Verfasser  der  „Arbeiterfrage“  und  der  Geschichte  „des  Mate- 
rial ismus".  Der  Auffassung  der  Demokratie,  wie  sie  zu  jener 
Zeit  im  „Landboten“  verfochten  wurde  und  fiir  die  es  keine 
scharfe  Trennungslinie  nach  dei  Seite  der  Sozialdemokratie  hin 
gab,  ist  Riiegg  sein  ganzes  Leben  treu  geblieben.  Sein  warmes 
Empfinden  fiir  alle  ehrlichen  Befreiungsbewegungen  verhindert 
es,  daB  der  skeptizistische  Zug,  der  durch  seine  humoristischen 
Plaudereien  geht,  jemals  in  den  Zynismus  der  berufsmafiigen 
SpaBmacher  ausartet. 

Im  Verein  mit  dem  gleichgesinnten  Theodor  Curti  hatte 
Riiegg  Anfang  1879  in  Zurich  ein  Tageblatt,  die  ..Ziiricher 
Post  “,  ins  Leben  gerufen,  welches  die  Demokratie  in  dem  vor- 


1 30  Eduard  Bernstein  * Vdlker  zu  House 

entwickelten  Sinne  vertrat  und  unter  der  Redaktion  dieser  zwei 
Personlichkeiten  bald  eine  geachtete  Stellung  in  der  schweize- 
rischen  Joumalistik  einnahm.  Zwar  war  die  ..Ziiricher  Post4*  zu 
sehr  Gesinnungsblatt,  um  eine  groBe  Auflage  zu  erzielen,  sie 
war  aber  zu  eindrucksvoll  gehalten,  als  dafi  man  sie  hatte  igno- 

rieren  konnen.  Der  aktivere  Politiker  am  Blatt  war  Curti,  der 
auch  ziemlich  bald  in  den  schweizerischen  Nationalrat  gewahlt 
wurde.  Ihn  fesselte  das  parlamentarische  Wirken,  fiir  das  Riiegg 
nur  mafiiges  Interesse  hatte.  In  der  Gesinnung  einig,  waren  die 
Herausgeber  der  ..Ziiricher  Post“  im  Temperament  so  grund- 
verschieden,  wie  man  es  sich  nur  vorstellen  kann. 

Das  kam  auch  gelegentlich  in  drolliger  Gestalt  im  Blatt  zum 
Ausdruck.  Da  rebellierte  zuweilen  in  geistreicher  Ironie  das  von 
Riiegg  redigierte  Feuilleton  gegen  die  Uberschatzung  des  parla- 
mentarischen  Kleinkrieges  in  den  politischen  Artikeln  und 
Briefen  Curtis,  um  dann  von  diesem  eine  etwas  lehrhafte  Zu- 
riickweisung  zu  erfahren,  deren  Ziel  nur  der  Unterrichtete  her- 
ausmerkte.  Curti  hatte  die  Anlagen  zu  einem  Parlamentarier 
groBen  Stils,  ihn  dangte  es,  gesetzgeberisch  schopfend  zu  wirken, 
und  er  hatte  sich  durch  Tatigkeit  in  diesem  Sinne  Anspruch 
darauf  erworben,  in  den  schweizerischen  Bundesrat  gewahlt  zu 
werden.  Aber  der  liberal-radikalen  Partei,  die  im  Nationalrat 
iiber  die  Mehrheit  verfiigte,  war  er  ein  zu  unruhiger  Geist,  als 
dafi  sie  ihn  auf  ihre  Wahlliste  setzen  mochte,  und  die  Arbeiter- 
partei,  die  ihn  gem  gewahlt  hatte,  obwohl  er  ihr  nicht  als  Mit- 
glied  angehorte,  war  noch  zu  schwach,  seine  Wahl  zu  erzwingen. 

Von  all  den  Schweizem,  mit  denen  ich  in  Zurich  zusammen- 
kam,  sind  nur  wenige  mir  im  gleichen  Grade  als  Manner  er- 
schienen,  die  es  lohnte  naher  zu  kennen,  wie  die  beiden  Heraus- 
geber der  „Zuricher  Post“.  Es  waren  beides  wahrhaft  gebildete 
Manner  mit  weitem  Horizont  und  jeder  in  seiner  Weise  dem 
Sozialisten  ein  willkommener  Nachbar.  Curti  hat  spater  auf  den 
Wunsch  Leopold  Sonnemanns  sein  Mandat  als  Nationalrat  und 
die  Stelle  als  Mitglied  der  Regierung  seines  Heimatkantons 
St.  Gallen  niedergelegt,  um  als  Direktor  der  Frankfurter  Zeitung 
die  Uberliefemngen  dieses  Blattes  aus  seiner  besten  Zeit  auf- 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  House 


131 


recht  zu  erhalten.  Am  Vorabend  des  Weltkrieges  ist  er  aus 
dieser  Stellung  ausgeschieden,  — zur  rechten  Zeit,  denn  es  ware 
nun  schwerlich  ohne  Konflikte  zwischen  ihm  und  den  jetzigen 
Besitzern  der  Zeitung  abgegangen.  Er  war  als  Schweizer  von 
jeder  Befangenheit  mit  Bezug  auf  Deutschland  frei  und  oft  ein 
scharfer  Kritiker  der  Politik  Frankreichs.  Aber  er  war  durch 
und  durch  Demokrat  und  hatte  u.  a.  niemals  iiber  die  Dinge 
hinweggekonnt,  die  Belgien  geschehen  sind.  Uberraschend 
schnell  und  zu  friih  fiir  alle,  die  ihn  gekannt  haben,  ist  er  im 
vorigen  Jahr  einer  Herzschwache  erlegen. 

* 

Ich  war  erst  kurze  Zeit  in  Ziirich,  als  ich  Theodor  Curti  bei 
einer  grofien  Volksdemonstration  als  Redner  horte.  Els  war  eine 
Kundgebung  gegen  die  Wiedereinfuhrung  der  Todesstrafe. 
Konservative  hatten  das  Vorkommen  einiger  Mordtaten  benutzt, 
um  eine  Volksinitiative  ins  Werk  zu  setzen  zur  Beseitigung  des 
Artikels  in  der  Bundesverfassung,  der  die  einzelnen  Kantone 
hinderte,  die  Todesstrafe  bei  sich  einzufiihren.  Sie  hatten  auch 
geniigend  Unterschriften  aufgebracht,  um  eine  Volksabstim- 
mung  herbeizufuhren,  und  dieser  gait  die  erwahnte  Kund- 
gebung. AuBer  Curti,  der  mit  grofier  Kraft  sprach,  trat  als 
Redner  auch  der  Dichter  Gottfried  Kinkel  auf,  der  damals  in 
Zurich  lebte  und  einen  Lehrstuhl  fiir  Kunstgeschichte  am  eid- 
genossischen  Polytechnikum  inne  hatte.  Der  heutigen  Gene- 
ration ist  Kinkel  fast  unbekannt.  Damals  aber  hatte  man  noch 
nicht  vergessen,  daB  er  1849  an  der  badisch-pfalzischen  Er- 
hebung  fiir  die  Reichsverfassung  teilgenommen  hatte,  gefangen 
genommen  und  vom  Rastatter  Kriegsgericht  zu  lebenslanghcher 
Festungshaft  verurteilt  worden  war,  die  Friedrich  Wilhelm  IV. 
von  PreuBen  durch  Reskript  in  Zuchthausstrafe  verwandelt 
hatte,  und  daB  er  nur  durch  einen  kiihnen  Handstreich  des  Karl 
Schurz  davor  behiitet  worden  war,  bis  zu  einer  etwaigen  Am- 
nestie  Jahre  im  Spandauer  Gefangnis  als  Zuchthausler  zubringen 
zu  miissen.  Allerdings  wuBte  man  in  radikalen  Kreisen  auch 
allerhand  iiber  seine  Schwachen,  Karl  Marx  hatte  ihn  ob  dieser 


1 32  Eduard  Bernstein  ♦ Vdtker  xu  House 

mit  dcr  Lauge  seines  Spottes  iibergossen  — im  1 860  erschienenen 
„Herr  Vogt1*  nennt  er  ihn  die  Passionsblume  des  deutschen  Phi- 
listertums  — und  auch  FreiHgrath  spricht  in  seinen  Briefen 
ironisch  genug  von  ihm.  So  war  ich  denn  gespannt  genug,  den 
DicKter  des  „Otto  der  Schutz*1  ais  Vollcsredner  zu  Horen. 

Stinune  und  Erscheinung  befahigten  ihn  zu  einem  sole  hen. 
Ein  grofier  breitschultriger  Mann,  stellte  er  auf  der  Tribune 
etwas  vor  und  seine  Stinune  klang  laut  und  vemehmlich.  Aber 
ein  geschwollen  theatralisches  Pathos  verriet  den  Redner  von 
1 848  und  war  weder  nach  dem  Geschmack  der  schweizerischen 

Horerschaft,  noch  konnte  es  den  Sozialdemokraten  Lassalle- 
Marx’scher  Schule  Gefallen  abgewinnen.  Auch  eine  Flug- 
schrift  gegen  die  Todesstrafe,  die  Kinkel  damals  schrieb,  ver- 
fehlte  infolge  von  Mifigriffen  im  Ton  ihren  wohlgemeinten 
Zweck.  Die  reaktionare  Initiative  erzielte  bei  der  Volksabstim- 
mung  die  Mehrheit,  weil  die  radikalen  Kantone  der  Westschweiz, 
obwohl  sie  von  der  Todesstrafe  nichts  wissen  wollten,  aus 
Gegnerschaft  gegen  den  Zentralismus  der  Bundesverfassung 
dafiir  stimmten. 

Kurze  Zeit  nach  der  Versammlung  lemte  ich  Kinkel  person- 
lich  kennen,  und  zu  seiner  Ehre  mu6  ich  sagen,  daB  er  sich 
gegenuber  der  verfolgten  deutschen  Sozialdemokratie  durchaus 
anstandig  benahm.  Aber  seine  Art  im  Verkehr  machte  doch 
jedesmal,  wenn  ich  mit  ihm  zusammentraf,  auf  mich  einen 
komischen  Eindruck.  Sie  bestatigte,  was  ich  spater  in  einem 
Brief  Freiligraths  iiber  Kinkel  las:  „Er  kann  nicht  anders,  er 
mu6  auf  Stelzen  gehn.“  Auch  da6  Kinkel,  als  er  einmal  im 
Ziiricher  deutschen  Arbeiterverein  einen  Vortrag  zu  halten  hatte, 
sich  den  braven,  aber  fiir  die  Probleme  unsrer  Zeit  farblosen 
und  als  Dichter  nicht  grade  bedeutenden  Theodor  Komer  zum 
Gegenstand  wahlte,  kam  mir  etwas  lacherlich  vor. 

Immerhin  hatte  sich  Kinkel,  nachdem  er  im  Jahre  1866  etwas 
geschwankt  hatte,  wieder  zur  Demokratie  durchgefunden,  wah- 
rend  die  Mehrzahl  der  seinerzeit  in  Zurich  niedergelassenen 
deutschen  Achtundvierziger  nach  den  Siegen  von  1 866  und  1 870 
ins  nationalliberale  Lager  abgeschwenkt  waren.  Als  einen  der 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House  1 33 

Festgebliebenen  lemte  ich  noch  den  weiland  preuBischen  Ar- 
tilleriehauptmann  Fr.  von  Benst  kennen,  der  1848  an  verschie- 
denen  Volkserhebungen  ftihrend  teilgenommen  hatte  und  in  con- 
tumaciam dreimal  zum  Tode  verurteilt  worden  war.  Er  wirkte 
als  Fliichtling  in  Ziirich  langere  Zeit  als  Lehrer  an  einer  von 
Frobel  gegriindeten  Schule,  hatte  diese  dann  nach  Frobels  Tod 
iibemommen  und  in  ihr  das  System  des  Frobelschen  Anschau- 
ungsunterricbts  weiter  ausgebildet,  so  daB  die  Schule  weithin 
im  Auslande  bekannt  und  oft  von  Auslandern  besucht  wurde. 
Beust  — er  hatte  den  Adelstitel  abgelegt  — hatte  als  Mitarbei- 
terin  an  seiner  Schule  seine  Frau,  eine  Kusine  von  Friedrich 
Engels,  nach  Erscheinung  und  Wesen  eine  echte  Rheinlanderin 
nach  den  Versen  Simrocks : 

„Siehst  die  Madchen  so  frank  und  die  Manner  so  frei, 

Als  war  es  ein  adlig  Geschlecht.“ 

Ein  charakteristisches  Wort  von  ihr  kennzeichnet  ihre  Denkart. 
Wiederholt  hatten  sich  Beusts  uns  in  Zurich  lebenden  deutschen 
Sozialisten  dadurch  gefallig  erwiesen,  daB  sie  gemaBregelte 
sozialistische  Lehrer  an  ihrer  Schule  beschaf tigten . Einer  davon, 
fur  dessen  Anstellung  ich  zum  Teil  verantwortlich  zu  machen 
war,  hatte  sich  gegen  die  Leute  nicht  sehr  schon  benommen. 
Als  Frau  Beust  mir  von  seiner  Verabschiedung  erzahlte,  setzte 
sie  hinzu:  „Er  war  ein  ungeschliffener  Mensch  und  das  hatte 
mich  eigen tlich  fur  ihn  eingenommen.  Ich  habe  aber  erfahren 
miissen,  daB  man  ein  Flegel  und  dabei  zugleich  sehr  hinterhaltig 
sein  kann.“ 

Die  Beustsche  Schule  wurde  in  Zurich  fast  ausschlieBlich  von 
den  Kindem  dort  lebender  wohlhabender  Deutschen  besucht. 
In  sehr  vielen  Fallen  war  jedoch  bei  den  Eltem  dieser  Kinder 
weniger  eine  Bevorzugung  der  Beustschen  Unterrichtsmethode 
fur  die  Wahl  dieser  Schule  bestimmend,  als  ein  ziemlich  starker 
Snobbismus.  In  Zurich  besteht  die  Einheitsschule,  und  selbst 
wohlhabende  Schweizer  schickten  ihre  Kinder  unbedenkiich  von 
Anfang  an  in  die  allgemeine  Volksschule.  Den  meisten  deut- 
schen Bourgeois  paBte  es  aber  nicht,  ihre  Kinder  neben  Prole- 
tarierkindem  unterrichten  zu  lassen,  und  so  zogen  sie  die 


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Eduard  Bernstein  * Vdlker  xu  Home 


Beustsche  Schule  vor.  Ob  diese  noch  besteht,  weifi  ich  nicht. 
Das  EKepaar  hat  langst  das  Zeitliche  gesegnet,  und  ein  Sohn, 
der  gleichfalls  Lehrer  an  der  Schule  war  und  sich  als  solcher 
ganz  vorziigHch  angelassen  hatte,  ist  in  jungen  Jahren  gestorben. 

Noch  zwei  gewesene  Hauptleute  habe  ich  in  Zurich  kennen 
gelemt.  Von  ihnen  jedoch  wird  am  besten  im  Zusammenhang 
mit  der  Schilderung  des  Treibens  der  sozialdemokratischen 
Kolonie  zu  sprechen  sein,  die  von  1879  an  Zurich  unsicher 
machte  und  deren  Zentrum  der  „01ymp“  am  oberen  Wolfbach 
zu  Hottingen  wurde. 


A 


Max  Pulvar  * GedichU 


135 


C77(ax  CEufver: 

GEDICHTE 


Du  atmest  schwer;  die  Lampe  scheint  gedampft, 
Und  meine  Hande  liegen  in  den  Deinen. 

Ein  neues  Leben  leise  in  Dir  kampft, 

Holdseliger  Aufruhr  weckt  Dir  Gliick  und  Weinen. 

Du  bist  allein,  verloren  wie  im  Strom 

Ein  scbwerer  Stein,  um  den  die  Wirbel  steigen. 

Wie  nachtiger  Wandrer  im  verschloBnen  Dom, 

Wie  Einzelstimme  schwebt  ob  sanften  Geigen. 

Du  bist  allein  und  doch  dem  All  verschrankt, 

Wie  Gott  allein  ist,  der  die  Welt  umkleidet. 

Als  Selbstverlorne  mit  dem  All  beschenkt, 

DaB  jedes  Herz  aus  Deinem  Herzen  leidet. 

Wir  bleiben  durch  den  Abgrund  ungetrennt. 

Den  Deine  Tiefe  von  der  Welt  gerissen. 

In  jene  Opferglut,  die  in  Dir  brennt, 

Bin  ich  getaucht  in  Deinen  langen  Kiissen. 

NACH  EINEM  BILD. 

Wie  blickst  Du  scbmerzlich ; und  die  weiBen  Dolden 
Vor  Deinen  Handen  neigt  nun  Sommerreifen. 
Gewitteraten^jog  das  Korn  m Streifen, 

Im  fruchtbescnenkten  Laube  glanzt  es  golden. 
Entwohnt,  den  Lieben  machtvoll  zu  umfassen, 


Max  Pulver  ♦ GedichU 


Wie  schon  die  schweren  Arme  niederhangen. 

Von  ausgespannter  Sehnsucht,  stetem  Bangen 
Bliebst  Du  erfiillt,  durchtrankt  und  doch  verlassen. 
Das  feuchte  Blau  des  Himmels  macht  nicht  heiter, 
Nicht  frischer  Herbstgeruch  und  Duft  der  Feuer. 
Dein  Schmerz  erhebt  sich  nackt  und  ungeheuer 
Wie  aus  Johannis  Schau  die  harten  Reiter. 

Was  hilft  der  Friicbte  lockendes  Gewinde, 

Die  miirbe  Sattheit  rings  aus  Berg  und  Schluchten, 
Der  Krieg  laBt  seine  Fange  niederwuchten, 
VerschlieBt  den  milden  Kem  in  harte  Rinde. 

* 

Dichter  Dunst  am  Regentag, 
Welkgeschrumpftes  Laub  im  Kot. 

Wie  der  Winter  freudlos  naht, 

Selbst  die  Bache  sind  schon  tot. 

Treiben  hin  mit  stumpfem  Braun, 

Ohne  Leuchten,  ohne  Sinn : 

Wie  das  Kleid  verlaBner  Fraun 
Streift  ein  Blatt  am  Wege  hin. 

Rostig  knirscht  das  Laub  im  Baum, 

Jeder  Zierat  wurde  schal. 

Frost  verscheucht  den  schwachen  Traum. 

Was  uns  bleibt,  ist  ode  Qual. 

Wenn  sie  sich  nach  innen  friBt, 

Heifi  das  matte  Herz  durchkrankt, 

Spiirst  du,  dafi  du  lebst  und  bist 
Neu  in  Fruchtbarkeit  getrankt. 

Feuchtes  Pflaster,  feuchte  Flecke 
Aus  der  goldenen  Lateme. 

Grelle  StraBen,  dunkle  Ecke, 

Regennacht  voll  blinder  Sterne.^ 

Hab  ich  dich  nach  Haus  geleitet, 

Stumm  und  liebend  dich  durchdrungen. 


Max  Ptdver  * Gedichte  1 37 

Hat  ein  Strom  uns  ausgeweitet 
Bliihender  Erinnerungen . 

Und  ich  schied  von  dir  am  Ende, 

Horte  deine  Seele  weinen. 

Und  ich  spiirte  deine  Hande. 

Schwankend  auf  den  schlechten  Steinen 
Ging  ich  ohne  umzublicken, 

Floh  ich  dich  und  rief  dir  schiichtern. 

Jubel  wollte  mich  ersticken 
Zwischen  Nacht  und  goldnen  Lichtern 

* 

Welkes  Gras  und  schwere  Bander 
Brauner  Schollen  in  der  Flache. 

Blasses  Dorf  um  Hiigelrander, 

Schwarzer  Damm  verborgner  Bache. 

Himmel  leicht  aus  Licht  und  Flocken, 

Raum  erfallt  vom  Ton  der  Sage, 

Und  die  zarten  Morgenglocken. 

Kahler  Strauch  um  kahle  Wege. 

Fiihlst  vom  DrauBen  dich  geschieden, 

Steht  es  schlicht  dir  gegeniiber. 

1st  dir  andre  Kraft  beschieden. 

Eigne  Macht  verspiirst  du  wjeder. 

Ihr  entringen  sich  Gebarden, 

Wo  im  Sommer  du  genossen ; 

Keimend  unstillbares  Werden 
Aus  dem  Innersten  ergossen. 

Nicht  mehr  tauchen  die  Gestalten 
Sich  in  dich  wie  kecke  Schwimmer. 

Eignem  Grund  entsteigt  ihr  Walten, 

Blicke  feucht  von  deinem  Schimmer. 

Hat  die  Welt  sich  dir  verweigert, 

Stromt  $je  nicht  mehr,  dich  zu  fallen ; 

Wachst  Cm  doch  und  ahnst  gesteigert 
Gottes  Strom  in  deinem  Willen. 


138  Max  Pulver  * GedickU 


m ^ m ^ w •*  ^ ~ m m m * •*  ~ ^ ~ ~ ^ w ~ ^ <m  m - ^ * — * _ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ r ^ ^ • ~+  m 


Die  Luft  ist  hell,  und  silberrein  die  Stunde, 

Wo  sich  der  spate  Tag  im  Licht  verklart. 

Mein  Herz  ist  leicht,  als  ob  es  sanft  gesunde. 

Von  frischgeweckter  Sehnsucht  kaum  beschwert. 

So  ists  kein  Traum,  zu  dem  ich  mich  erhebe, 

Nicht  Wunsch  allein,  der  vor  der  Sonne  lischt. 

Das  ist  mein  herbstlich  Braun  in  Baum  und  Rebe, 
Das  ist  mein  Feld  vom  Nebelflor  verwischt. 

Du  Zeit  der  Reife  hast  mir  Frucht  getragen. 

In  deinem  KuB  Erfiillung  mir  beschert, 

Und  meine  ungehemmten  Pulse  schlagen 
Dir  dankbar  zu  und  ehren  deinen  Wert. 


■ n 


Carl  Sternheim  * Tabvla  Rasa 


139 


Carf  Siernheim: 

TABULA  RASA 

EIN  SCHAUSPIEL  IN  DREI  AUFZOGEN 

ZWEITER  AUFZUG. 

ERSTER  AUFTRITT. 

Isolde  (sitzt  am  Klavier  und  spielt  ein  Stuck  von  Grieg). 

Bertha  (am  gedeckten  Kaffeetisch  trinkt  und  ifit,  wahrcnd  Nettel  ihr 
die  Haare  mit  schaumendem  Wasser  wascht).  (Zu  Isolde:) 

Willst  du  wirklich  den  Kuchen  nicht  mehr? 

Isolde:  16  nur. 

Bertha  (schlingt  ein  neues  Stuck  Kuchen  mit  Schlagrahm). 

Isolde  (spielend) : Das  ist  Musik!  Grieg. 

Bertha  (zu  Nettel):  Bist  du  bald  fertig? 

Nett  el:  Ist’s  schon  sechs  Uhr? 

Bertha:  Halb. 

Nettel:  Bis  sechs  habe  ich  nichts  zu  tun.  Bei  den  Kindern 
sitzt  Trude;  sie  spielen  artig,  und  fur  die  Haare  kann  die 
Massage,  das  Frottieren  nicht  lange  genug  dauern. 

Bertha:  MuBt  du  denn  immer  zu  tun  haben?  Ich  wundere 
mich  wahrhaftig,  daB  dir  die  Wirtschaft  oben  nicht  geniigt. 
Filnf  Rangen  und  die  Kiiche  und  sonstige  Bescherung  dazu. 

Nettel:  Wie  ich’s  mir  eingeteilt,  bleibt  freie  Zeit  genug. 

Isolde  (steht  auf  und ziindet  sich  eine Zigarette  an):  Das  war  Grieg ; 
der  geht  auf  den  Lebensnerv.  (Sie  umfafit  Nettels  Schultern.)  Ach 
wiifitest  du  — ? (Geht  zum  Instrument  zuriick.) 

Bertha:  Nettel  kennt  auBer  ihrer  Arbeit  rein  gar  nichts. 


140  Carl  Stemheim  * Tabula  Rasa 

obwohl  sie  sich  vielmehr  um  ihre  Bildung  kiimmem  rniiBte. 
Was  bleibt  der  Mensch  ohne  Bildung? 

Nettel:  Ich  habe  alle  Bucher  gelesen,  die  Isolde  mir  gab. 
Bertha:  Hast  du  von  Bolsche  gelesen? 

Nettel:  Ja. 

Bertha:  Hast  du  denn  von  Key  gelesen? 

Nettel:  Auch. 

Bertha:  Dann  mufit  du  die  ganze  Geschichte  doch  wissen. 
Nettel:  Welche? 

Bertha  (lacht) : Welche?  Die  bewufite  natiirlich.  (Zu  Isolde:) 
Ich  sage  zu  Nettel  wegen  Bolsches:  dann  mufit  du  die 
Geschichte  doch  wissen.  Fragt  sie:  welche? 

Nettel:  Es  stehen  unzahlige  Geschichten  drin. 

Bertha:  Nein,  die  Nettel!  (Sie  lacht  sturmisch.) 

Nettel:  Meint  ihr  Zeugung  und  Geburt?  Da  ist  nichts  zu 
lachen;  das  ist  so. 

Bertha  (zu  Isolde);  Hor  nur,  wie  frech  sie  das  sagt ; (zu  Nettel:) 
Du  scheinst  schon  verdorben. 

Isolde:  Siehst  du  das  Geheimnisvolle  der  Vorgange  nicht. 
Protoplasma,  Keimzelle,  das  gewaltige  Mysterium. 

Nettel:  Ich  kann  mir  nichts  weiter  dabei  denken. 

Isolde:  Euere  Generation  kommt  mir  geradezu  pervers 
vor.  Die  erhabensten  Dinge  der  Welt  nehmt  ihr  mit  Gleich- 
mut  hin,  ohne  zu  staunen,  im  Tiefsten  zu  erschauem.  Ihr 
denkt  und  priift  nicht  wie  die  jungen  Leute  meines  Alters. 
Im  Leben  steht  ihr  und  tut  und  gut.  Klappert  und  klappt  wie 
Maschinen  eintonig  euer  Tagwerk.  An  Ubersinnliches  riihrt 
ihr  nicht. 

Nettel:  Wir  sind  zufriedener  als  ihr. 

Bertha:  Wie  frech  das  Madel  ist! 

Isolde:  Weil  ihr  das  Gefiihl  der  Verantwortung  nicht  im 
gleichen  Mafie  habt. 

Bertha:  Keine  Verantwortung! 

Nettel:  Ich  habe  die  Welt  nicht  gemacht. 

Isolde:  Als  war’  das  eine  Entschuldigung. 

Nettel:  Wofiir? 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


141 


Isolde:  Fiir  die  Schopfung,  wie  sie  ist. 

Nettel:  Aber  sie  ist  gut. 

Bertha:  Fiir  die  Reichen  mit  grofiem  Geldsack  vielleicht. 
Wer  sich  aber  die  Tage  hindurchschinden  mufi! 

Isolde:  Wer  aber  auch  an  allem,  an  allem  oft  verzweifelt! 

(GroBer  Seufzer.) 

Nettel:  Fiirchtete  ich  mich  nicht  so  schrecldich.  — 

Bertha:  Wovor  fiirchtest  du  groBe  Person  dich? 

Nettel:  Abends  — ist’s  dunkel;  ist  Vater  fort  wie  vor  ein 
paar  Tagen,  ich  oben  mit  den  Kindern  allein ; plotzlich  Schat- 
ten,  Gestalten  iiberall.  War  das  nicht!  (Sie  erschauert.) 

Bertha:  Holt  dich  einer,  bringt  er  dich  an  der  nachsten 
Laterne  wieder. 

Nettel:  War  das  nicht,  ich  konnte  mich  iiber  das  blofie 
Leben  nicht  lassen.  Trude  ist  auch  so;  manchmal  tanzen  wir 
im  Hemd.  Wir  haben  viel  zu  arbeiten,  und  es  gelingt.  Stets 
ist  etwas  nicht  in  Ordnung;  man  andert’s,  dann  pafit’s.  Wo 
ein  Fleck  ist,  wischt  man  ihn  weg  und  hat  das  Gefiihl,  ohne 
einen  geht  die  Wirtschaft  nicht. 

Isolde:  Und  abends  kommt  das  Griibeln. 

Nettel:  Abends  ist  man  miide;  schlaft. 

Bertha:  Dein  erstes  verniinftiges  Wort. 

Isolde:  Du  bist  von  der  platten  Unkompliziertheit  deiner 
Altersgenossen.  Fiir  euch  hatte  der  ungliickliche  Goethe 
nicht  zu  leben  gebraucht,  Ihr  versteht  nicht  das: 

„Vom  Aberglauben  friih  und  spat  umgamt, 

Es  eignet  sich,  es  zeigt  sich  an  und  warnt, 

Und  so  verschiichtert,  stehen  wir  allein !“ 

Bertha:  Mir  kommt  sie  einfach  frech  vor. 

Isolde:  Wachst  auf  in  einer  Umgebung,  die  vom  Kampf 
der  Klassen  und  Individuen  urns  tagliche  Brot  und  um  das 
Heil  der  Seelen  drohnt  und  haspelt  dabei  stumpf  euer  Pensum 
ab.  Sorgen  sind  euch  fremd;  erst  Ideale! 

Nettel:  Liebe  meinst  du? 

Bertha:  Da  habe  ich  keine  Angst.  Das  wird  das  Madchen 
schon  machen. 


35  Vol.  m/1 


142 


Carl  Sternhcim  ♦ Tabula  Rasa 


Isolde:  Doch  wie  banal.  Wie  das  Haustier.  Beute  irgend 
einer  stupiden  Mannlichkeit. 

Nettel:  Da  denke  ich  mir  meinen  Teil. 

Bertha:  Immer  frech. 

Isolde:  Hoheren  Aufschwungs  unfahig.  SchlieBIich  aber 
bist  du  sechzehn  Jahre  alt. 

Nettel:  Tue  ich  nicht  meine  Pflicht? 

Isolde:  Gegen  andere,  nicht  gegen  dich  selbst.  Stets 
stopfst  du  den  Kindern  die  Mauler.  Dich  selbst,  dein  Zellen- 
system  nahrst  du  schlecht.  Tragst  stets  die  gleichen  Sachen. 
Du  bist  eine  kapriziose  Erscheinung,  konntest  Eindruck  machen. 
Als  wir  die  lebenden  Bilder  iiberlegten,  haben  wir  auch  an  dich 
gedacht . 

Nettel:  Dafiir  bleibt  mir  gar  keine  Zeit. 

Isolde:  Aber  die  Uberzeugung,  dir  wiirde  fiir  jede  hohere 
Figur  der  Ausdruck  fehlen  — 

Nettel  (weinerlich) : Was  habt  ihr  nur? 

Bertha:  Gib  dir  keine  Miih;  sie  versteht’s  nicht.  (Geste  zu 
Isolde.)  Frag  sie,  wie  man  einen  Haferschleim  riihrt,  sie  wird 
antworten;  oder  Strumpfe  stopft. 

Nettel:  Ihr  beide  seid  einfach  faul! 

Bertha:  Was? 

Nettel:  Onkel  Wilhelm  und  Vater  sagen’s  auch.  Nur  wenn 
ein  Vergniigen  vor  der  Tiire  steht  wie  jetzt,  riihrt  ihr  euch. 

Isolde:  Hat  Arthur  das  behauptet? 

Nettel:  Der  wagt’s  nicht.  Hat  Angst  vor  dir. 

Isolde:  Nur  die  beiden  Alten,  die  selbst  nichts  tun. 

Bertha:  Brandreden  halten,  ihren  Leib  fiillen  und  uns 
schikanieren. 

Nettel:  Uns  ernahren. 

Isolde:  Das  lacherliche  tagliche Brot  geben.  Sonst  Banausen 
sind  wie  du. 

Nettel:  Fur  die  Rechte  der  Arbeiter  sich  einsetzen. 

Bertha:  Nun  mach  SchluB.  Was  verstehst  du  davon? 

Nettel:  Warum  sonst  das  Zusammenbleiben  bis  in  die 
Nacht  ? Onkel  Wilhelm  hattet  ihr  gestem  abend  bei  uns  horen 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


143 


sollen:  Und  wollt  ihr  mit  Posaunen  mich  iibertonen,  das 

unterdriickte  Volk  wird  mich  horen. 

Bertha:  Faule  Fische.  Da  kenne  ich  mich  aus. 

Isolde:  Die  lebenden  Bilder  will  er  uns  verderben;  aber 
das  Jubilaum  wird  gefeiert. 

Nettel:  Oder  nicht. 

Bertha:  Bist  du  still? 

Nettel:  Der  Schwarze,  der  hier  ist,  der  Feurige  mit  dem 
Bartchen  — 

Bertha  (zu  Isolde):  Der  Feurige  — horst  du! 

Nettel:  Der  auf  die  Stiihle  klettert,  will’s  um  die  Welt 
nicht. 

Isolde:  Und  Arthur? 

Nettel:  Macht  immer:  Pst!  (S  ie  legt  den  Finger  an  den  Mund.) 

Isolde:  AIs  kritisch  iiberlegener  Geist  beteiligt  er  sich 
kaum  am  Geschwatz. 

Nettel:  Der  Schwarze  hat’s  ihm  aber  ein  paarmal  tiichtig 

gegeben . 

Isolde:  Dein  Schwarzer  ist  ein  vollkommener  Idiot.  Reicht 
Arthur  nicht  das  Wasser.  (MiBt  sie  verachtlich.)  Platitude.  (Schlagt 
die  Tiir  zu,  exit.) 

Bert  ha  (miBt  sle  verachtlich):  Feuflg ! Schaf ! (Schlagt  dieTiir  zu.exit.) 

Nettel:  Schlampen!  (Schlagt  die  Tiir  zu,  exit.) 


Z WE  ITER  AUFTRITT. 

St  urm  (offnet  die  Tiir,  sagt  drauBen  zu  Nettel) : 1st  dein  Vater  da? 

Nettel:  Hier  wohnt  mein  Vater  nicht. 

Sturm:  Stander? 

Nettel:  Sieh  selbst  nach!  (S  ie  verschwindet.) 

St  urm:  Range!  (Er  tritt  ins  Zimmer.) 

♦ 


Carl  Siernheim  ♦ Tabula  Rasa 


DRITTER  AUFTRITT. 

Stander  (tritt  au f ) : Was  hast  du  gegen  das  Fest? 

Sturm:  Statt  Feste  der  Fabrilcanten  zu  feiem,  soli  das 
Volk  mit  der  Faust  auftrumpfen. 

Stander:  Selbstverstandlich  ist  zu  jubilieren  kein  AnlaB, 
doch  unter  der  Maske  der  Vorbereitungen  fallen  Zusammen- 
Idinfte,  fallt  fieberhaftes  Leben,  der  wahre  Jakob  weniger  auf. 
Alles  was  dient,  die  Aufmerksamkeit  des  Feindes  von  unseren 
wirldichen  Absichten  abzuziehen,  soli  recht  sein. 

Sturm:  Aber  was  zum  Teufel  sind  unsere  Absichten?  Fast 
eine  Woche  bin  ich  hier,  und  durch  ein  unerklarliches  WeiB- 
nichtwas  fiihle  ich  mich  aus  dem  Gleichgewicht.  Wie  ein 
Quirl  springst  du  um  mich,  gehst  mir  nicht  von  der  Seite. 
Wohin  ich  meinen  Samen  streue,  wende  ich  mich  fort  — 
wieder  zuriick,  scheint  mir  Gegenteiliges  aufgegangen.  Wie- 
derholst  du  den  Leuten  meine  Worte,  zwinkerst  du  zugleich 
so  andersdeutig,  dafi  die  ganz  Verkehrtes  verstehen  miissen. 

Stander:  Ich  zwinkere? 

Sturm:  Blinzelst,  schielst  und  mauschelst.  Fieberst  wie 
ein  Signalapparat,  der  mit  griinem  Einfahrtslicht  rotes  Halt 
gebietet.  Tiefster  Uberzeugung  rief  ich : „MiBtraut  dem  heim- 
tiickischen  Mammon !“  Aller  Herzschlag  der  Genossen  ist 
fest  in  meiner  Hand,  fiihle  ich.  Da  mitten  im  Rollen  des 
Wortes  „Mammon“  dreht  sich  alles  Auge  zu  dir,  der  du 
stehst  — 

Stander:  Wortlos. 

Sturm:  Mit  sprechender  Visage,  die  den  Sinn  meiner 
Worte  aufhebt. 

Stander:  Du  bist  verriickt. 

Sturm:  Mir  geht  ein  Licht  auf. 

Stander:  Das  ist  Hochverrat! 

Sturm:  Von  wessen  Seite? 

Stander:  Ich  hange  es  an  die  grofie  Glocke.  Dafiir  sollst 
du  biiBen.  Ich,  der  seit  vierzig  Jahren  Herzblut  fur  die  Armen, 
sein  Hemd  — vergieBe  — ich!  ah!  das! 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


145 


Sturm:  Stander! 

Stander:  Allein  — friih  und  spat 


blute 


Sturm:  Mir  geht’s  um  mein  Evangelium.  Steh  mir  Aug’ 
in  Auge:  Bistdu’s?  ! 

Stander:  Sein  Hemd  bis  ins  letzte. 

Sturm:  Sozialdemokrat  ? ! (Er  packt  ihn  bei  der  Hand.) 
Stander  (mit  groBer  Geste):  Bis  in  den  Tod  von  deiner  Rasse. 
Sturm  (driickt  ihn  an  sich):  Das  dank  ich  dir  ewig. 


VIERTER  AUFTRITT. 

Arthur  (tritt  auf,  sagt  zu  Sturm):  Ich  verbiete  endgiiltig.  Sie 
hetzen  unser  Volk  mit  tausendmal  iiberholten  Maximen  auf. 

Sturm:  Auseinandersetzung  mit  Ihnen  lehne  ich  ab. 

Arthur:  Sie  verkennen  den  Zweck,  der  Sie  herrief,  tun 
Sie  anderes  als  die  Genossen  dariiber  aufklaren,  dafi  eine 
Sammlung  guter  Bucher  fur  sie  notwendig  ist. 

Sturm:  So  bin  ich  fortan  ohne  Auftrag  in  eigener  Ange- 
legenheit  hier. 


Arthur: 

Sturm: 

Arthur: 


Sie  erreichen  nichts.  Die  Leute  lachen  Sie  aus. 
Das  bleibt  meine  Sorge. 

WiiBten  Sie,  in  welchem  Grad  Sie  einfaltig  und 


iiberfliissig  sind,  Sie  schamten  sich.  (Zu  Stander:)  Gerade  habe 
ich  mich  mit  dem  Direktorium  auseinandergesetzt.  Nach 
allem,  was  ich  horte,  steht  man  nicht  mehr  auf  dem  unbedingt 
ablehnenden  Standpunkt.  Die  Aussichten  fiir  die  Bibliothek 
sind  im  Gegenteil  die  besten.  Nur  das  sofortige  Aufhoren  der 
Arbeiterbewegung  will  man.  Durch  den  plotzlichen,  passiven 
Widerstand  an  alien  Ecken  und  Enden  ist  man  einfach  nicht 
imstande,  ordnungsgemaB  zu  arbeiten,  Entschliisse  zu  fassen. 
Wird  durch  tausend  ldeine  Schikanen  an  der  Erledigung  des 
Notwendigsten  gehindert. 

Sturm:  Krepieren  soli  die  Bande  vor  stets  neuen  Sorgen! 

Stander:  Den  Kniippel  zwischen  den  Beinen  sind  sie  gelahmt. 

Arthur:  Sie  konnen  vor  lauter  Zwischenfallen  — 


146 


Carl  Sternheim  ♦ T abula  Rasa 


Stander:  Nicht  mehr  X vom  U unterscheiden,  geschweige— 

(Er  reibt  sich  die  Hande.) 

Arthur:  Wir  haben  begriindete  Aussicht,  ein  prachtvolles 
Ziel  durchzusetzen,  schaffen  wir  den  Verantwortlichen  ein 
klares  Him  fiir  ihre  Entscheidung.  Unser  akuter  Wille  ist: 
Die  Bilcherei.  Von  Prinzipien  sehen  wir  fiir  den  Augenblick  ab. 

Sturm:  Den  Teufel  tun  wir.  Ihr  Lesekranzchen  ist  ein 
Bierulk,  eine  Lokalposse.  Wir  anderen  stehen  zehn  Stockwerk 
hoher.  Haben  die  Eisenstange  im  Raderwerk  und  heben  den 
ganzen  freibeuterischen  Mechanismus  endlich  aus  dem  Gewinde. 

Arthur:  Ihr  utopisches  Geschwafel  ist  heutzutage  Ver- 
brechen.  Wir  marschieren,  Proletarier,  festen  Schrittes  zur 
Vereinigung,  Verbriiderung  mit  dem  gesamten  europaischen 
Biirgertum,  Weltpolitik  zu  machen. 

Sturm:  Wir  springen  euch  elenden,  geldvergifteten  SpieB- 
biirgem  an  die  Gurgel,  wir  — Proletarier. 

Arthur  (an  der  einen  Seite  des  Tisches):  Hinter  uns  steht  un- 
iibersehbare  Menge. 

Sturm  (an  der  anderen  Seite  des  Tisches):  Die  Elite,  das  Mark 
und  die  Kraft  Deutschlands  schnellen  uns. 

Stander:  Meine  Herren! 

Arthur:  Das  ist  ein  — 

Sturm:  Er  soil  mich  — ! 

Stander  (leise  zu  Arthur.):  Geh!  Ich  schaffe  ihn  fort. 

Arthur  (schlagt  mit  Gewalt  auf  den  Tisch). 

Sturm:  Friedlich  Bourgeois! 

Arthur:  Bourgeois  selbst! 

Sturm:  Citoyen!  Bourgeois;  den  Unterschied  beult  das 
nachste  Jahrzehnt  aus  deutscher  Sprache  heraus. 

Stander  (hat  Arthur  hinausgedrangt). 

* 

fOnfter  auftritt. 

Sturm:  Dieser  Allerweltsumarmer  ist  ja  eine  tolle  Abart 
der  Partei.  Treibt  einem  Gift  ins  Gehirn. 

Stander:  Wahrhaftig! 


Carl  Sternheim  * T abula  Rasa 


147 


Sturm:  Solche  Quirler,  Vermischer  reiner  Absichten, 
gehorten  unter  den  Tritten  unserer  Bataillone  zerstampft. 

Stander:  Bravo! 

Sturm:  Bebst  du  wie  ich  vor  Wut ? Was  sagst  du? 

Stander:  Du  sahst  doch,  gerade  stieB  ich  ihn  noch  zur 
Tiir  hinaus.  Im  nachsten  Augenblick  hatte  ich  mich  vergriffen. 

Sturm:  Die  mengen  Europa  in  grofier  Butte  zu  einem  Mus, 
das  alle  Wege  der  Vernunft  und  des  Glaubens  verstopft. 

Stander:  Da  hast  du  aber  einmal  wirklich  und  vollkommen 
recht! 

Sturm:  Und  wagt  sich  unsereinem  in  den  Weg! 

Stander:  Freilich  ohne  Wirkung.  Das  Mannchen  nimmst 
du  zu  wichtig.  So  etwas  bewegt  sich  wie  der  Sturm  im  Wasser- 
glas,  (auf  Sturm  zeigend)  nicht  wie  dieser  freilich,  knapp  bis 

ins  dreiBigste  Jahr.  Dann  kommt  mit  Frau  und  Kindern  die 
harmlose  Katastrophe. 

Sturm:  Der  Wurm  kriimmt  sich  lange. 

St  ander:  Er  ist  durch  baldige  Heirat  meiner  Nichte  Isolde 
geliefert.  Ein  faules  fettes  Madchen,  das  ihm  sein  Quentchen 
Mark  in  Jahresfrist  herausloffelt. 

Sturm:  Hoffentlich. 

Stander:  Sei  unbesorgt.  Der  hat  sich  die  letzte  Zeit  ge~ 
tummelt.  Drum  genug  von  ihm ; du  brauchst  ihn  ferner  nicht 
zu  beachten.  Tu  deine  Arbeit,  die  ich  schatze.  Tu  sie,  willst 
du,  mehr  im  Geheimen.  Ich,  der  iiber  den  Schwachkopf,  in 
die  hiesige  Wirklichkeit  sehe,  bin  mit  dir,  in  Anbetracht  und  so 
weiter,  zufrieden.  Das  wollt  ich  dir  bei  dem  AnlaB  sagen. 

Geh  flink  noch  zu  Flocke  hinauf,  meld’  ihm,  unser  Plan  geht 
nach  Wunsch.  Das  gewollte  Chaos  ist  angerichtet ; bei  volliger 
Verwirrung  unserer  Gegner  halten  wir  fur  groBe  Zwecke  den 
Faden  in  der  Hand.  Ist’s  nicht  so? 

Sturm  (mit  bewegtem  Handedruck):  Esist!  Und  auf  der  Basis 
wirken  wir  nun  kraftig  fort.  (Exit.) 

Stander:  Sechs  Tage  bis  zum  Fest.  Noch  bleibt  alle 
Gefahr  drohend.  Das  Durcheinander  kann  dauernd  nicht  wild 
genug  sein.  Nach  links  zieht  Sturm,  Arthur  rechts  am  Strick. 


148 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Wiifite  ich  einen  Dritten,  sollte  der  von  der  Mitte  her  tiichtig 
schiitteln. 


SECHSTER  AUFTRITT. 

Arthur  (trittauf):  Was  ist  mit  ihm? 

Stander:  Gerade  stiefi  ich  ihn  zur  Tiir  hinaus.  Im  nachsten 
Augenblick  hatte  ich  mich  vergriffen.  Jedenfalls  vergifit  er  das 
Wiederkommen. 

Arthur:  Vor  solchem  Ungetiim  konnte  man  an  der  intel- 
lektuellen  Linie  der  ganzen  Natur  verzweifeln.  Diese  Gewalts- 
menschen  gehoren  glatt  an  die  Wand  erschossen. 

Stander:  Bravo! 

Arthur:  Ohne  einen  Begriff  davon,  dafi  sich  durch  wirt- 
schaftliche  Organisation  das  hehre  Ziel  schneller  und  griind- 
licher  erreichen  lafit  als  durch  blutige  Revolution,  halten  diese 
Fossile  aus  der  Primarzeit  es  nicht  fur  notig,  sich  iiber  errungene 
Feststellungen  zu  unter richten . Diese  tiefen  Kopfe 


meine  tief  im  Sinne  einer  Thermometerskala 


haben 


ich 

vom 


Unterschied  zwischen  Arbeitswert  und  Produktionspreis  keine 
Ahnung. 

Stander:  Bewahre. 

Arthur:  Wissen  von  Profitrate,  Zentralisation  des  Kapitals 
und  der  Betriebe,  vom  nationalen  Mehrprodukt,  Kreditsystem, 
der  Vergesellschaftung  und  dem  Normalarbeitstag  nicht  das 
Geringste. 

Stander:  Wie  soli  so  einer  auch?  Von  den  Gutgesinnten 
gemieden,  ohne  Weib  und  Kind. 

Arthur:  Und  wagt  sich  unsereinem  in  den  Weg. 

Stander:  Ohne  Wirkung  freilich.  Wie  der  Sturm,  (er  lacht) 
im  wahren  Sinn  des  Wortes,  im  Wasserglas  bringt  sich  so  etwas 
knapp  bis  ans  dreifiigste  Jahr. 

Arthur:  Er  ist  funfunddreiBig. 

Stander:  Bis  ans  vierzigste.  Dann  kommt  als  Folge  jahre- 
langer  Ausschweifungen  die  schnelle  Katastrophe. 


Carl  Sternheim  ♦ T abula  Rasa 


149 


Arthur:  Meinst  du? 

Stander:  Du  nimmst  ihn  zu  wichtig.  Beacht’  ihn  weiter 
nicht.  Tu  deine  Arbeit,  die  ich  schatze. 

Arthur:  Lohnrate  gegen  Profitrate! 

Stander:  Versteht  sich.  Tu  sie,  willst  du,  mehr  im  Ge- 
heimen.  Wir  halten  hier  durch  dich  geradezu  die  Faden  in  der 
Hand.  Das  wollt  ich  dir  bei  dem  Anlafl  sagen. 

Arthur:  Und  ich:  nie  hatte  ich  gehofft,  in  dir  einen  so  fort- 
gebildeten  und  aufrichtigen  Genossen  zu  finden.  (Er  driickt  ihm 

kraftig  die  Hande.) 

Stander:  Mit  Isolde  bist  du  zufrieden? 

Arthur:  Eine  Perle.  Ein  prima  Eizellchen. 

Stander:  Erziehung:  Beethoven,  Franzosisch! 

Arthur:  Mehr  als  das : ein  vorurteilfreies,  groBziigiges  Herz. 
(Umarmt  ihn.) 

Stander:  Und  in  jeder  Beziehung  fix  dazu.  Wo  willst 
du  hin? 

Arthur:  Ins  Direktorium  zuriick.  Melden,  Sturms  EinfluB 
ist  bis  morgen  matt  gesetzt.  Er  selbst  verschwindet.  Ich  ver- 
sichere,  unverziiglich  erfiillen  sie  unsere  Forderung. 

Stander:  LaB  es  bis  morgen.  Die  unruhige  Erwartung 
macht  sie  uns  geneigter,  und  ich  kann  mit  deinem  Vater,  der 
auch  von  der  Partie  ist,  das  Passende  bereden.  Und  dann  mit 
Volldampf  voraus  zum  gesteckten  Ziel. 

Arthur:  Also  spaziere  ich  mit  Isolde  eben  noch  ins  Wald- 
chen  hinaus. 

Stander:  Auch  auBerlich  ein  Prachtsweib? 

Arthur:  Der  ideale,  sorgende  Gefahrte  fur  ein  harmonisches 
Leben. 

Stander  (meckert):  Gluckskerl! 

Arthur  (exit). 

Stander:  Wie  es  sich  nun  mit  der  Sozialdemokratie  im 
Kern  auch  verhalten  mag,  man  kann  jedenfalls  in  seinen 
Neigungen  weit  schweifen,  um  immer  noch  ein  erstklassiger 
Genosse  zu  sein. 


150 


Carl  Sternheim  ♦ T abula  Rasa 


SIEBENTER  AUFTRITT. 

Flocke  (tritt  auf):  Stehts  gut,  wie  Sturm  sagt? 

Stander:  Die  Arbeiterschaft  ist  durch  ihn,  Gustav,  und 
unterirdisch  durch  mich  so  im  Strudel,  dafi  nicht  nur  iiber  die 
Zweckmafiigkeit  des  Festes,  sondern  des  eigenen  Lebens  jeder 
in  Zweifeln  schwebt.  Die  Leitung  der  Werke  dagegen  will  nur 
Ruhe,  die  Hand  vor  Augen  zu  sehen.  Dann  wird  sie  uns  wobl 
jeden  Wunsch  erfiillen. 

Flocke  (nach  einer  Pause  seufzend):  Ach  Gott,  ach  ja!  (Nach 
einer  neuen  Pause :)  Was  war  von  alldem  eigentlich  der  Grund, 

Wilhelm  ? 

Stander:  Kind  Gottes,  das  fragst  du  seltsam. 

FI  ocke:  Ich  weifi,  die  Biicherei. 

(Pause.)  Ich  meine,  was  dich  recht  eigentlich  innerlich  zu  alle- 
dem  trieb? 

Stander:  Innerlich?  Ganz  innerlich?  (Er  will  mit  einem  Ruck 

auf  Flocke  los,  macht  aber  vor  ihm  halt  und  sagt  im  gewdhnlichen  Ton): 

Ach  Gott,  Du  weifit  es  doch. 

Flocke:  Das  Wohl  der  Proletarier,  Fortbildung;  ich  weiB. 
Ach  Gott,  ach  Gott! 

Stander:  Betracht’  ichs  aber  unabhangig  davon  und  nehme 
an,  die  geschaffene  Verwirrung  hat  zu  unserem  Wohl  die  Auf- 
merksamkeit  von  uns  beiden  und  unserer  eigentlichen  Stellung 
endgiiltig  abgelenkt,  sehe  ich  die  Forderung  derGenossen:  eine 
runde  Million  fur  Bucher  und  ihre  Aufbewahrung  nunmehr 
niichtern  von  anderem  Standpunkt  an,  vergesse,  ich  bin  Ange- 
stellter  der  Werke  und  denke,  man  ist  als  Mitbesitzer  an  ihrem 
Gedeihen  beteiligt. 

Flocke:  Ja? 

Stander:  Das  fiel  mir  in  den  letzten  Nachten  ein : Ist  die  For- 
derung der  Bagage,  eine  Million ! bodenlose  Unverschamtheit. 

Flocke:  Aber  — 

Stander:  Erlaube!  In  den  letzten  fiinf  Jahren  wurde  durch 
Speise-,  Bade-  und  Erholungsanstalten,  Sauglings-,  Blinden-, 
Kruppelheime  — 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


151 


Flocke:  Stellst  du  eine  Bibliothek  mit  der  Badeanstalt  auf 
gleiche  Stufe? 

Stander:  Weniger  wichtig  ist  sie.  Als  Kulturmensch  kann 
ich  auf  ein  Buch  eher  als  aufs  Bad  verzichten.  Ich  wundere  mich, 
daB  du,  der  mit  seinen  ganzen  Ersparnissen  an  den  Fabriken 
beteiligt  ist,  einer  bedeutenden  Schwachung  des  inneren  Wertes 
der  Aktiven  seelenruhig  zusehen  willst.  Durch  Gewahrung  der 
Million  wird  der  Gewinn  dieses  Jahres  gewaltig  gekiirzt,  und 
die  Dividende  — dein  Zins,  Flocke  — kleiner. 

Flocke:  Wahrhaftig? 

Stander:  Das  ist  die  Kehrseite  der  Medaille.  (Er  holt  ein 
Buch  und  schlagt  es  vor  Flocke  auf.)  In  der  letzten  Bilanz  hatten 

wir  eine  Bruttoeinnahme  von  rund  zwei,  und  nach  Ab- 
schreibung  der  Handlungskosten  noch  eine  und  eine  viertel 
Million  Gewinn.  Davon  gingen  aber  ab  fur:  Arbeiterwohn- 
hauskonto,  Arbeiterunterstiitzungskonto,  Arbeiterpensionsf onds , 
Arbeitersparkassenkonto,  Badehaus,  Speisehaus,  Erholungs- 
anstalt  und  sonstige  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungskonti  rund 
dreihunderttausend  Mark,  bis  schlieBlich  aus  knapp  einer 
Million  Mark  zehn  Prozent  Dividende  verteilt  wurden.  Ver- 
stehst  du? 

Flocke:  Ja. 

Stander:  Woher,  um  alles  in  der  Welt,  soil  nun  die  Ver- 
waltung  die  Million  nehmen? 

Flocke:  Um  Gotteswillen ! 

Stander:  Aus  dem  Jahresgewinn?  das  hieBe  keine  Kopeke 
Dividende. 

Flocke:  Was?! 

Stander:  Aber  auch:  der  Kurs  der  Aktien  fallt  um  vierzig 
bis  fiinfzig  Prozent. 

Flocke:  Allmachtiger ! 

Stander:  Aus  den  Reserven?  Das  bedeutet  katastrophale 
Schwachung  des  inneren  Wertes  der  Anlage. 

Flocke:  Heiland! 

Stander:  Folge:  gleichfalls  Kurssturz  bis  auf  Pari. 

Flocke  (wimmert). 


152 


Carl  SUrnheim  * Tabula  Rasa 


Stander:  Aus  alldem  erkennst  du:  wir  haben  nach  Er- 
reichung  unseres  personlichen  Ziels  kein  anderes  Interesse,  als 
die  Bewilligung  der  Bibliothek  um  jeden  Preis  zu  verhindem. 

Flocke:  Unser  Ziel  ist  aber  nicht  vollig  erreicht.  Es  bleiben 
sechs  Tage. 

Stander:  Die  letzten  drei  oder  vier  kommen  fur  geregelte 
Geistestatigkeit  nicht  mehr  in  Frage.  Da  geht  in  Lampions  und 
Girlanden  jede  Orientierung  verloren.  Achtundvierzig  Stunden 
lang  miissen  wir  mit  der  bisherigen  Undurchsichtigkeit,  mit 
Durcheinander  die  Geschichte  noch  in  der  Schwebe  halten, 
verhiiten,  daB  das  geringste  Wirkliche  geschieht.  Denn  einmal 
aufrichtig  und  uns  insgeheim  gestanden:  laBt  man  iiberhaupt 
die  menschlichen  Voraussetzungen  gelten  — die  sozialen 
Zustande  in  Rodau  sind,  wie  sie  sind,  geradezu  ideal. 

Flocke:  Ideal! 

Stander:  Du  und  ich,  ohne  sich  korperlich  zu  iiberan- 
strengen . 

Flocke  (kichert). 

Stander:  Doch  sechstausendvierhundert,  fiinftausendsechs- 
hundert ! Und  da  das  Gros  der  Arbeiter  den  ganzen  Tag  iiber 
meist  wirklich  beschaftigt  ist,  bleiben  die  Anstalten,  Porzellan- 
wannen,  Nickelduschen  zu  gewissen  Stunden  der  Benutzung 
durch  uns  vorbehalten. 

Flocke  (strahlend) : Die  Sitzbrause! 

Stander:  Arthur  hat  fiir  den  Augenblick  beim  Direktorium 
Oberwasser.  Es  will  bewilligen.  Das  regulieren  wir  noch  heute. 
Sturm  muB  wieder  in  den  Vordergrund.  Bevor  sich  die  Leitung 
besinnt,  hat  sich  die  Arbeiterschaft  besonnen.  Ihre  Forderung 
sieht  sie  als  zu  groB  ein.  Man  iiberlegt;  wird  nach  dem  Fest 
weiter  davon  sprechen. 

Flocke:  Doch  wird  Arthur  jetzt  mit  dem  Kopf  durch  die 
Wand  wollen. 

Stander:  Isolde  ist  instruiert.  Sie  bremst  ihn  im  Stadtwald. 
Aber  auch  Sturm,  lafie  ich  ihm  die  Leine  lockerer,  bleibt  bei 
FuB.  Zu  dem  Zweck  veranstalte  ich  heute  abend  bei  mir  Karten- 
spiel,  und  wir  setzen  ihm  dein  kleines  Madchen  zur  Seite. 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


153 


Flocke:  Nettel?  Wilhelm,  du  bist  ein  Genie! 

Stander:  Ich  habe  einen  illuminierten  Kopf.  Meine  Mutter 
war  auch  eine  geborene  Seidenschnur. 

Flocke:  Jetzt  erst  sehe  ich  vollen  Erfolg.  Alle  Steine  fallen 

mir  vom  Herzen.  (Man  hort  drauBen  zunehmende  Bewegung.) 
Stander  (zum  Fenster):  Was  ist  das? 

Flocke:  Sausen  eines  Motors?  Siehst  du  etwas? 
Stander:  Gruppen  Menschen  in  Bewegung. 

Flocke:  Sturm  mit  ihnen ; sie  Ziehen  nach  rechts. 

Stander:  Er  wirft  die  Arme,  holt  alle  links  hiniiber.  Gegen 
die  Direktionsgebaude  schwenken  sie. 

Flocke:  Zum  Angriff!  Er  rebelliert  sie.  Mord  und  Tot- 
schlag!  Wir  kommen  zu  spat. 

Stander:  Man  mufi  hinunter.  (ZurTiir.) 

* 


ACHTER  AUFTRITT. 


Arthur  und  Isolde  (treten  auf). 

Arthur:  Was  gibt’s? 

Flocke:  Sturm,  Weltuntergang ! 

Arthur:  Hinunter.  (Zur  Tiir.) 

Isolde  (Aufschrei) : Geliebter! 

Flocke  (Aufschrei):  Arthur! 

St  ander  und  Arthur.  (Versuchen  sich  loszumachen,  da  Isolde  und 
Flocke  ihre  Knie  umfassen.  Bertha  1st  dazugekommen,  es  gibt  ein  chaotisches 
Hin  und  Her;  von  oben  hort  man  Kindergeachrei  und  Hundegebell.  In  das 
Durcheinander  briillt) 

Stander:  Ruhe! 

Flocke  (fallt  fur  tot  in  einen  Stuhl;  die  ubrigen  lauschen). 

Bertha  (bei  volliger  Stille):  Man  hort  nichts. 

(Von  neuem  erhebt  sich  Unruhe,  die  anschwillt.  Alles  tritt  nebeneinander 
zum  Fenster  und  zeigt,  in  einer  Reihe  stehend,  den  Rucken.) 

Arthur:  Sie  kommen! 

Isolde:  Sturm  voran! 

Stander:  Aufs  Haus  zu! 


154 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


Bertha  (schreit  auf):  Sie  stiirmen! 

Slander  (ohrfeigt  sie). 

Arthur:  Wer  ist  das  neben  Sturm?  Sie  wollen  zu  uns!  (Exit.) 
Stander:  Schippel! 

Isolde  (schreit  auf)  : Arthur! 

Stander  (ohrfeigt  sie)  (exit). 

Nettel  (tritt  auf). 

Isolde  (stiirzt  ihr  schluchzend  an  die  Brust). 

Nettel  (am  Fenster):  Der  Schwarze! 

Bertha  (bei  m Anblick  Flockcs  mit  Aufschrei  auf  ihn  zu). 

Flo  eke  (stellt  sich  fiir  tot  in  einen  Stuhl). 

Nettel  und  Isolde  (gleichfalls  zu  ihm). 

♦ 

NEUNTER  AUFTRITT. 

E*  treten  auf  Schippel,  hinter  ihm  Stander,  Sturm,  Arthur  und  etwa  ein 
Dutzend  Arbeiter,  wahrend  der  Rest  bei  offener  Tiir  im  Hausflur  und  auf  der 
Treppe  stehen  bleiben.  Die  Frauen  sind  bei  der  Manner  Eintritt  hinter  die 
Wand  von  Stiihlen  gefliichtet,  den  halb  entseelten  Flocke  mit  sich  nehmend. 

Schippel  (bei  volliger  Ruhe) : Guten  Abend,  meine  Damen. 
(Zu  Stander:)  Haben  Sie  die  Giite,  mich  vorzustellen.  (Er  tritt  aber 

selbst  auf  die  Frauen  zu  und  sagt,  jeder  die  Hand  reichend:) 

Direktor  Schippel. 

FI  ocke  (verschwindet  irgendwie  vollstandig). 

Die  Frauen  (knixen). 

Schippel:  Ohne  Sorge,  meine  Damen.  Ein  iiberraschend 
zahlreicher,  doch  nicht  bosartiger  Einbruch.  Und  nun,  Freunde, 

keine  unniitze  Erregung.  (Wer  Platz  findet,  die  Damen  vor  alien,  setzt 
sich.  Die  iibrigen  horen  stehend  unserer  Aussprache  zu.)  Darf  ich  bitten. 
(Er  fvihrt  Bertha  mit  Komplimenten  zu  einem  Stuhl.) 

Sturm : Wir  haben  hier  nicht  Komplimentenzirkel . (Zu  Nettel:) 
Fiir  dich  nicht,  Balg! 

Nettel  (entreifit  ihm  die  Hand):  Hand  los! 

Schippel:  Jeder  wie  es  ihm  bequem  ist.  Und  jetzt  ge~ 
statten  Sie,  ich  nehme  zu  einer  Ansprache  das  Wort,  die  Sie 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


155 


bald  besch wichtigen , sogar  erfreuen  wird.  Hier  ist  noch  ein  Stuhl 
frei.  (Anbietend:)  Bitte,  Herr  Stander. 

Stander:  Ich  iiberlasse  — 

Schippel:  Sie  alle  unbedingt  erfreuen  wird. 

Sturm:  Das  werden  wir  sehen. 

Ein  Arbeiter:  Brot  wollen  wir.  Kampf  aufs  Messer! 

Schippel:  Einen  Augenblick,  Lieber.  Die  Damen  mochte 

ich  sehen.  (Er  schiebt  ihn  ans  dem  Weg.) 

Sturm:  Das  sind  Possen. 

Schippel:  Sondern  mit  Vemunft  gehen  wir  aufs  Ziel  los. 
Arbeiter  in  Rodau!  Obwohl  ich  Sie,  Verehrte,  ganz  anders 
anreden  mochte,  spreche  ich  niichtern  und  rufe  Sie  an,  wie  es 
Sie  adelt:  Rodaus  Arbeiterschaft ! 

Seit  mehr  als  zwanzig  Jahren  bin  ich  Euch  bekannt.  Nicht 
undeutlich,  scharf  umrissen  stehe  ich  selbst,  meine  Absicht, 
steht  das  durch  mich  fur  Euch  Erreichte  vor  Euch. 

Zuruf : Wir  wollen  uns  und  unsere  Kinder  erziehen  diirfen. 

Ein  Arbeiter:  Brot!  (Einiges  Echo.) 

Schippel:  Wie  wohl  gewissermaBen  Euch  ubergeordnet, 
habe  ich  meine  schlichte  Herkunft  nie  verleugnet,  nicht  ver- 
gessen,  daB  ich  wie  die  Armsten  unter  Euch  aus  der  letzten 
Tiefe  des  Volkes  komme.  Habe  nie  mehr  aus  mir  gemacht  als 
einen,  der  fur  desselben  Werkes  Gelingen  schafft  wie  Ihr.  Auch 
ich  nenne  mich  mit  Recht  einen  Rodauer  Arbeiter.  Niemals 
aber  mit  groBerem  Stolz  als  jetzt,  da  das  hundertjahrige  Bestehen 
unserer  aller  Ernahrerin  vor  der  Tiire  steht. 

Ein  Arbeiter:  Brot! 

Schippel:  Haben  wir  durch  das  Glaswerk  alle  reichlich. 
Und  mehr.  Vor  den  Arbeitern  umliegender  Bezirke  besitzt  Ihr 
Anstalten,  die  Euer  Wohl  nach  alien  Seiten  sicherstellen  und 
fordern.  Jetzt  wollt  Ihr  fur  Euer  geistiges  Fortkommen  Bucher. 

Ein  anderer  Arbeiter:  Eine  ganze  Bibliothek  wollen  wir. 
Verstehen  Sie! 

Sturm:  Ich  unterbreche! 

Schippel:  Lassen  Sie  den  Mann  doch  aussprechen.  Er 
formuliert  den  Wunsch  der  Genossen.  Sag’s  noch  einmal. 


Carl  Sternhetm  * Tabula  Rasa 


156 


Sturm:  Der  Mann  ist  Ihr  Duzbruder  nicht. 

Arthur  (zu  Sturm):  Storen  Sie  nicht! 

Sturm:  Herrgott! 

Zurufe:  Ruhe! 

Schippel:  Erst  stutzt  das  Direktorium.  Meine  Freunde! 
Wir  haben  im  Verlauf  weniger  Jahre  Riesensummen  fiir  Be- 
quemlichkeiten  Eures  Lebens  aufgewandt.  Freilich  kann  einem 
das  irdische  Dasein  nicht  angenehm  genug  gemacht  werden. 
Gleichzeitig  ist  aber,  bei  unveranderter  Arbeitszeit,  der  Harte- 
grad  Eurer  Arbeit,  mocht’  ich  sagen,  nicht  groBer  ge worden, 
da  die  Bedienung  der  verbesserten  Maschinen  leichter  wurde. 

Sturm:  Sie  reden  um  den  Brei! 

Zurufe:  Ruhe! 

Schippel:  Wahrend  hingegen  fiir  Eigentiimer  und  Leiter 
der  Geschafte  durch  erschwerte  Einsicht  in  verwickelte  wirt- 
schaftliche  und  politische  Verhaltnisse  Verantwortung  und 
Risiko  taglich  mehr  und  ins  Ungemessene  wachst.  Aber  Ihr 
antwortet  sehr  richtig : das  ist  deren  Sache.  Durch  die  famosen 
Maschinen  seid  Ihr  Behaglichkeit  immer  mehr  inne  geworden 
und  wollt  sie  auch  im  hauslichen  Leben  nicht  missen.  Basta! 
Ihr  wiBt  heute,  was  ein  Aufenthalt  in  wlirziger  Waldluft,  am 
rauschenden  Meeresufer  ist,  habt  in  der  Einrichtung  Eurer 
mustergiiltigen  Fiirsorgeanstalten  langst  den  AnschluB  an  den 
hochsten  Komfort  erreicht. 

Sturm:  Nicht  langer  dulde  ich  Ihre  Witze. 

Schippel:  Wissen  Sie  den  Leuten  Wichtigeres  zu  sagen, 
raume  ich  mit  Vergniigen  den  Platz.  (Mit  Komplimenten  tritt  or 

zuriick.) 

Zurufe:  Weiterreden! 

Sturm  (tritt  vor):  Genossen!  Proletarier,  mit  einem  einzigen 
leuchtenden  Ziel  sind  wir! 

Zurufe:  Das  gehort  nicht  hierher. 

St  urm : Nicht  Almosen  — wir  wollen  aus  eigener  Kraft  mit 
souveraner  Gewalt  das  Ganze. 

Arthur:  Hier  ist  keine  Wahlversammlung. 

Zurufe:  Der  Direktor  soli  sprechen.  Hinaus! 


Carl  Stcrnheim  ♦ Tabula  Rasa  157 


Sturm  (stark):  Wer  rief  hinaus? 

Ein  starker  Arbeiter  (tritt  vor):  Ich ! (Zu  Sturm:)  Ein 
Schmuser  sind  Sie:  reden  Schmonzes. 

Zurufe:  Zur  Sache! 

Schippel  (zu  Sturm):  Ihre  zweifellos  heilige  Uberzeugung 
wird  bei  ungiinstiger  Disposition  der  Anwesenden  fiir  so 
schweres  Geschiitz  besser  spater  vorgetragen.  Vielleicht 
sprechen  Sie  jetzt  zur  Sache. 

Zurufe  (von  alien  Seiten) : Zur  Sache! 

Sturm:  Zu  dieser  verfluchten,  von  Gott  verlassenen,  un- 
heiligen  Sache  habe  ich  nichts  zu  sagen ! (Exit.) 

Arthur:  Pobelhaft! 

Ein  Arbeiter:  Radaubruder! 

Schippel  (mit  suBem  Lacheln):  Ein  sympathischer  Brausekopf. 
Das  Direktorium  stutzt  einen  Augenblick.  Doch  bricht  sich  in 
sturmbewegten  Sitzungen  die  Uberzeugung  Bahn:  Es  kann 
im  Zeitalter  herrlicher  allgemeiner  Aufklarung,  es  kann  heut- 
zutage  das  Band,  das  sich  um  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
scblingt,  nicht  innig  genug  sein.  1m  Verwaltungsbiiro  sitzt  der 
eine,  der  andere  steht  an  der  Maschine  durch  das  unlenkbare 
Schicksal.  Doch  aus  eigenem,  menschlichen  Willen  wollen  beide 
das  gleiche : Aufhebung  der  Klassenvorherrschaft  durch  Schaf- 
fung  von  Vorbedingungen,  die  den  Ubertritt  von  einer  Gesell- 
schaftschicht  in  die  hohere  fiir  jeden  einzelnen  verbiirgen,  bis 
schlieBlich  einzig  der  gleichberechtigte  Burger  Deutschlands  — 
was  sage  ich  — Europens  Boden  bewohnt. 

Fiir  solches  Ziel  ist  die  geistige  Hinaufbildung  der  Massen 
Notwendigkeit,  und  so  zwingt  uns  am  Ende  die  Forderung  der 
Rodauer  Arbeiter  nach  einer  Biicheiei  die  Trane  der  Riihrung 
ins  Auge,  da  wir  gestehen  miissen : Sie  wissen,  was  Sie  fiir  sich, 
was  Sie  mit  uns  gemeinsam  wollen.  (Er  fahrt  sich  leicht  iibers  Auge.) 

Durch  BeschluB  des  Aufsichtsrates  vom  1 6.  April  ist  auf 
Vorschlag  des  Direktoriums  eine  Arbeiterwohlfahrtsblibiothek 
fiir  Rodau  im  Erstellungswert  von  einer  Million  Mark  geneh- 
migt. 

Zurufe  und  groBe  Bewegung. 

36  Vol.  m/i 


V'N 


158 


Carl  Stcrnheim  ♦ Tabula  Rasa 


Schippel  (nach  einer  Pause):  Als  aber  erst  Erkenntnis  unserer 

tiefen  Gemeinsamkeit  Riihrung  und  Erleuchtung  gebracht  hatte, 

trieb  elementares  GefiihJ,  Eure  Forderung  von  uns  her  aus 

freiem  Antrieb  zu  iiberstiirzen.  Die  gewaltige  Tatsache  der 

Jahrhundertfeier  mogen  wir  nicht  voriibergehen  lassen  ohne 

eine  Geste,  die  der  Welt  ans  Herz  greift.  Beweisen  wollen  wir 

die  briiderliche  Liebe,  die  samtliche  Angehorige  des  Werkes 

durchpulst,  indem  wir  einen  von  Euch,  der  Euer  Vertrauen  hat, 

mitten  unter  uns  stellen,  ihn  hinsichtlich  seines  Titels,  seiner 

Rechte  und  Beziige  uns  gleich  machen  als  ein  Symbol  dafiir,  daB 

solches  hinfort  zu  jeder  Zeit  jedem  von  Euch  fortan  moglich  ist. 
(Er  tritt  vor.) 

Seine  eigene  Bereitwilligkeit  und  aller  Zustimmung  vor- 
ausgesetzt,  schlage  ich  die  Ernennung  des  von  uns  verehrten,  um 
das  Werk  hochverdienten  Herrn  Wilhelm  Stander  zum  Mit- 
direktor  der  vereinigten  Glaswerke  vor.  (GroBer  Beifall.) 

(Zu  Stander):  Wir  erwarten  Ihre  Antwort.  Ich  sehe  Sie  bewegt, 
erschiittert.  Wollen  Sie,  lassen  wir  Sie  fur  einige  Minuten  allein, 
sich  zum  EntschluB  zu  sammeln.  Ziehen  wir  uns  zuriick!  Auf 

einen  Augenblick  vor  die  Tiir,  meine  Lieben!  (Wshrend  er  den 
Arbeitern  ihrcn  Platz  im  Flur  bezeichnet  und  die  Tur  hinter  ihnen  schlieBt, 
zieht  er  selbst,  die  Frauen  und  Arthur  sich  ins  Nebenzimmer  zuriick.  Da 
das  Zimmer  leer  ist,  sieht  man  Flocke  hinter  den  Stuhlen  teilnahmslos  auf 
einem  niedrigen  Schemel  hocken.) 

* 


ZEHNTER  AUFTRITT. 


Stander  (der  Flocke  nicht  bemerkt  und  von  dem  Geistesabwesenden 


nicht  wahrgenommen  wird):  Ich?  (sehr  leise):  Ich  ? (Er  schleicht  zum 
Schliisselloch  der  Flurtiir,  dann  zu  jener,  durch  die  Schippel  und  Anhang 
ging,  schaut  hindurch  und  lauscht  durch  dasselbe.) 

„GroBziigiger  Charakter?“  — Moglicherweise. 

(Er  lauscht  wieder.)  Weitblickender  Kopf,  der  fiir  das  Werk 
fruchtbar  gemacht  werden  mufi?  „VieIleicht  auch  weitblickend. 
Aber  fur  — das  Werk?  fruchtbar  gemacht  werden  — mufi?“ 
(Er  kommt  nach  vom.)  Fruchtbar  fur  andere  ? Von  neun  Uhr  morgens 


4 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


159 


bis  fiinf  Uhr  abends  auf  Befehl  bingegeben  fruchtbar?  Einen 
Tag wie den  anderen,  jahraus  jahrein  ? Aber wenn  ich  von  meinem 
hingegangenen  tristen  Leben  ein  Riihmenswertes  sagen  kann, 
ist’s,  dafi  ich  den  Frondienst  und  was  damit  zusammenhangt, 
widerwillig,  gerade  zur  Not  noch,  aber  nie  hingegeben  oder  gar 
befruchtend,  befliigelnd  versehen  habe. 

Und  jetzt  mit  sechzig  Jahren  glaubt  I hr,  mir  eine  Falle  fiir 
mein  Menschentum  stellen  zu  konnen? 

Am  Ende  mehr  als  weitblickend,  in  die  Tiefen  schauend 
sogar  vielleicht.  Aber  wie  bisher  doch  nur  fii;  mich  selbst,  ver- 
schwiegen  und  hochstpersonlich.  Damit,  wahrend  der  auBere 
Wandel  armselig  ist,  im  Inneren  Reiz  bliiht,  das  karge  Dasein 
fiir  mich  in  bunten  Farben  schillert.  Fiir  mein  Seelenheil  zum 
Verschwenden  auf  gut  Gliick,  aber  nicht  unter  Kontrolle  mit 
ungeheurer  Verantwortung  und  Risiko  fiir  andere  — mein  Genie 
— wie  Flocke  sagt;  gewiB  nicht! 

Flocke:  Was? 

Stander:  Flocke? 

FI  ocke:  Du  hier?  (Er  kommt  nach  vorn.) 

Stander:  Aber  das  ist  ein  Zeichen  Gottes,  ist  reine  Of  fen - 
barung.  Mit  dieser  Geste  gewinne  ich  Klarheit  nach  alien 
Seiten  und  den  realen  Ausgangspunkt  fiir  die  eigene  unver- 

falschte  Person.  Er  offnet  die  Tiir  links  und  die  Gangtiir.  Alle  treten 
auf  lhre  alten  Platze  zuriick  bis  auf  Bertha,  die  jetzt  bescheiden  im  Hinter- 
grund  bleibt.) 

Stander  (in  der  Mitte  von  alien):  Mein  Herr  Direktor,  verehrte 
Anwesende ! Zuerst  aus  bewegter  Seele  Dank  fiir  die  Gewahrung 
unseres  Wunsches,  Dank  fiir  die  zugesagte  Biicherei.  Was  den 
iiber  alles  Erwarten  hochherzigen  Wunsch  unserer  Fiihrung, 
ein  treuerprobtes  charaktervolles  Mitglied  der  Arbeiterschaft  zum 
gleichberechtigten  Kollegen  ins  Direktorium  zu  erheben.angeht— 
Ich  selbst,  schlichter  Art,  schlichter  Gewohnheit,  auf  alien 
Seiten  des  Lebens  in  schlichter  Auffassung  befangen,  bin  nichts, 
will  und  darf  nichts  sein  als  ein  einfacher  Arbeiter.  (Gemurmel.) 

Doch  ware  ich  auch  durch  besondere  Gaben  befugt,  den 
angebotenen  Platz  einnehmen  zu  diirfen,  einer  ist  unter  den 


Carl  Stemheim  * T abula  Rasa 


Kameraden,  der  durch  Alter,  Verdienst  und  Befahigung  mir 
weit  vorausgeht,  fiir  den  eln  jeder  von  uns  meine  Worte  besta- 
tigen  wird. 

Gehorsamst  bitte  ich,  das  mir  gezeigte  Vertrauen  auf  den 
Wiirdigeren  zu  iibertragen,  auf  Herm  Heinrich  Flocke;  (Uut) 
unsem  guten  alten  Flocke  an  meiner  Statt  zum  Direktor 
zu  emennen. 

Rufe  von  alien  Seiten:  Flocke!  Hoch  Flocke! 

Schippel  (nach  einer  Pause):  Ich  sage  geriihrt  und  erschiittert: 
Herr  Stander,  Sie  haben  sich  selbst  und  mich  besiegt.  Die 
Stunde  wird  Folgen  haben ; ich  verbiirge  mich,  Ihr  Vorschlag 
wird  angenommen,  und  das  Andenken  an  das  von  Ihnen  Voll- 
brachte  wird  in  unseren  Herzen  nicht  verloren  gehen.  Fiir 
meine  Pflicht  halte  ich  es,  auszusprechen,  wie  mich  hinfort  Ihr 
Umgang  ehrt. 

Stander:  Ich  bin  sehr  gliicklich. 

Schippel:  Auf  Wiedersehen,  lieber  Herr  Stander!  (Schiittek 

ihm  beide  Hande  und  vemeigt  sich.  Vor  Flocke:)  Herr  Flocke!  (Schiittelt 
ihm  beide  Hande  und  vemeigt  sich.  Mit  Verbeugen  exit.) 

Flocke:  Ich  bin  sehr  gliicklich. 

Zurufe:  Hoch! 

Einige  Arbeiter  (haben  Flocke  auf  ihre  Schultem  gehoben  und 
tragen  ihn  im  Triumph  durchs  Zimmer  und  hiraus.  Die  im  Zimmer  Zuruck' 
bleibenden  stiirzen  zum  Fenster,  das  sie  Sffnen,  und  winken  mit  ihren 
Tiichem  hinaus). 

Bertha:  Da  sind  sie. 

Arthur:  Fabelhaft. 

Isolde:  Ein  wahrer  Triumphzug.  Onkel  Heinrich  schwebt . 

Nettel  (jauchzt  hingerissen) : Papa,  lieber  Papa! 

Stander  (winkt  mit  groBem  Tuch  hinaus):  Der  gute  alte  Flocke! 


Vo  r han  g . 


Ernst  Weiss  • Der  bunte  Damon 


161 


Gmst  Oeifi: 

DER  BUNTE  DAMON 


Sei  du  der  Panther  dieser  neuen  Hauser, 

Aus  Glas  und  Eisen,  aus  Beton  und  Licht, 

In  denen  keine  Tiere  hausen. 

Sei  Katze  du,  mit  langen  Hiiften,  kiihn  und  ohne  Tranen. 

Sei  hartes  Tier,  das  nichts  vom  Tode  weiB,  bevor  es  stirbt. 
Sei  hold,  du  holdes  Tier,  das  nichts  vom  Tode  weiB,  bevor 

es  stirbt. 


In  sich  verkriimmtes  Tier,  wie  Feuer  glanzend, 

Vor  Freude  bebend,  blutig  und  beschwingt  in  seiner  Leiden- 

schaft, 

Auf  Inseln  wohnend,  ohne  seinesgleichen. 

Von  Inseln  bringe  Schmerzensschreie  und  starkste  Lust  und 

im  gesenkten  Hals  Endloses 
Weites  Schreiten  ohne  Miidigkeiten. 

Von  jenen  Inseln,  die  im  Meere  starren. 

Wo  harte  Blumen  uniiberwindlich  bunt  aus  Bitterlauge  wachsen 
Und  sich  in  giftigen  Meereswogen  spiegeln  wie  am  silfien  See  . . . 


Sei  immer! 

Sei  Gliihfaden,  immer  zittemd  in  den  Ieeren  Lampenbirnen, 

immer  leuchtend,  so  lang  du  lebst, 

Mehr  Stem  als  die  Sterne. 

Bunter  Damon! 

Tanze  ewigen  Friihling,  ewiges  Licht. 

Tanze  den  ersten  KuB  der  Geschlechter,  die  ewige  Recht- 

fertigung  Gottes, 

Umkreise  die  Sonne,  bunter  Damon,  mit  der  Sonne  tanzst 


du 


um 


Gott. 


162 


Kasimtr  Edschmid  * Winter 


{Kasimir  Gdscftmid : 

WINTER 

TAGE. 

*Fur  jQjff  Sttinrudc. 

\Y/  as  machte,  Gott,  diesen  Winter  so  grofi,  daB  ich  noch  jetzt 
* * unter  dem  Fluch  der  hellen  Monate  meine  Diisterheit 
schwerer  empfindend,  entfernt  von  ihm,  dampfend  stehe  vor 
Abenteuer,  geladen  von  Liisten  ? Wo  begann  es  ? Kann  es  einen  Be- 
ginn  gehabt  haben  ? Ich  wei6  es  nicht.  War  es  Anfang,  als  ich  die 
LeopoIdstraBe  hinabging,  die  Ballone  der  Lampen  verkiindend 
durch  messinggrauen  Himmel  schwangen,  die  Pappeln  hoch  die 
Zeile  hinunterrauschten  und  die  Stadt  Miinchen  unter  rotlichem 
Horizont  abendlich  aufging,  aus  dem  unendlicher  Schneefall 
sank  ? Hat  Gluck  einen  Anfang  zeitlich  erkennbar  oder  steht  es 
nur,  genossen,  eine  grofie  Wolke  plotzlich  hinter  uns?  Lichter 
hingen  dumpf  zwischen  den  steilen  Baumen.  Bahnen  summten 
gedampft.  Seidenweich  ward  der  Himmel  und  grau. 

Wildgeruch  von  Frauen  lag  in  den  Strassen.  Dunst  der  un- 
begrenzten  Moglichkeiten  war  ausgebreitet.  Hauser  staunten 
fremd  mit  lockender  Fassade.  Garten  hatten  Aufiergewohnli- 
ches  hinter  Baum  und  Weg.  Jedes  Ding  trug  das  auBere  Wesen 
nur  als  Maske.  Aufreizend  wiihlte  das  Herz  sich  in  die  Dinge. 
Frauen  liefen  lautlos  mit  warmen  Augen.  Schlittenschellen 
klangen  entfernt  und  verwirrten  das  Ohr.  Der  weiche  Schnee 
trieb  alles  verwischend  in  Vertauschung  und  unwirkliche 

Bewegtheit. 

Da  begannen  die  des  Morgens  heftig  aufgenommenen  Bilder 
sich  der  Buntheit  der  StraBe  zu  vermischen.  In  die  springenden 


Kasimir  Edschmid  * Winter  163 


Lichter  unter  dem  schneienden  Gitter,  das  Gebrause  der  Wagen, 
die  unendlich  schweigende  Musik  des  gelassenen  Himmels,  die 
dunkelen  ScHatten  der  Menschen,  die  grofi  die  Stege  iiber- 
schwammen,  drebten  sich  in  dem  Rundlauf  der  Wirklichkeit 
schon  entrissener  Eindriicke : Grecos  Entkleidung  Christi,  Sturm 
gleich  Raketen  aufwarts  schieBender  Gesichter,  und  in  der 
Garbe  ihrer  Entladung  wie  Maden  erstarrte  AngesicKte  der 
Frauen...  und  Memlings  sieben  Freuden  Maria:  blaue  beseelte 
Taler,  Streiter  wohlgemut,  aufbrechende  Sterne,  Mord,  Ver- 
klarung,  Reitende  nach  der  Welt,  runder  Hiigel,  auf  dem  im 
Kreis  Knieende  gegen  den  Horizont  beten.  War  dies  der  Be- 
ginn?,  ...mein  Gott. 

Tags  darauf  fuhren  wir  ins  Land,  einen  Kessel,  wie  Strahlen 
umzuckt  von  Gebirg.  Flammend  bog  die  Sonne,  rot  wie  Stier- 
blut,  iiber  die  Grate.  Pfeile  stieBen  die  Spitzen  ins  Blau,  es  wie 
ein  Meer  teilend,  das  zuriickrann.  Beilhiebe  weifier  Abhange 
lagen  zischend  in  der  Luft.  Hinter  den  Hausem  war  die  Ebene 
bell  mit  dem  dunklen  Gefleck  vorgescbobener  Heuschober. 
In  ametbystenem  Kristall  stieg  der  Himmel  ziellos. 

Abends  setzten  wir  Fripouille  in  den  Kronleucbter.  Es  war 
eine  weiBe  scbone  Frau  gekommen,  hell,  daB  die  Adern  heraus- 
scbimmerten,  mit  silberblondem  Haar.  Sie  lag  neben  Frau 
Suzanne  ausgestreckt  auf  dem  Diwan,  deren  Gesicbt,  spanio- 
liscben  Bluts  und  siidfranzosischer  Landscbaft,  schwer,  dunkel 
und  wild  war.  Zwei  verscbiedenere  Frauen  gab  es  nie.  Sie 
scbauten  in  die  Hohe,  rubig  und  traumerisch,  wo  der  Plafond 
sicb  zum  Fenster  neigte,  binter  dem  Feuer  auf  die  Berge  regnete 
im  vollen  Abend. 

Icb  knipse  den  Leuchter  auf,  daB  zwanzig  runde  Kugeln  des 
unteren  Kranzes  rotes  Licbt  in  die  Bernsteinaugen  Fripouilles 
scbleudern.  Es  ist  still.  Fripouille  offnet  das  rosa  Maul,  faucbt 
und  beifit  in  das  Glas.  Sein  Angorascbwanz,  dick  wie  ein  Arm, 
straubt  sicb.  Er  wirft  entsetzt  den  Kopf  nach  oben.  Da  lasse 
icb  die  groBe  Gliiblampe  iiber  ihm  aufbrechen,  gelbes  und 
betaubendes  Licht.  Der  groBe  Leuchter  scbwingt  entsetzt  in 
die  Dammerung.  Kugeln  rollen  bestiirzt  fallend  durcb  das 


164 


Kastmir  Edschmid  * Winter 


Zimmer.  Fripouille  rennt  Karussell  durch  den  Raum.  Es 
ist  still.  Fripouille  schleicht  zu  Luchs,  dem  Kaninchen  der 
weiBen  Frau.  Luchs  hoclct  in  einem  Klumpen,  bebt  mit  dem 
Maul  und  spitzt  die  weiBrote  Nasenpartie.  Er  ist  schwarz  ge- 
fleckt,  macht  einen  Satz  und  lauft  voll  ungeahnter  Bewegung. 
Fripouille  folgt,  langsam,  zuriickhaltend,  im  Erstaunen  den 
Schwanz  senkrecht.  Wir  lassen  eine  aufgezogene  Maus  durch 
den  Teppich  rollen.  Fripouille  ist  ein  Feuerrad  in  der  Luft,  die 
Augen  leuchten  wie  Quallen.  Weich  fallt  der  Leib  aus  der 
Schwingung  auf  das  eiseme  Tier.  Die  weifie  Frau  hebt  den 
nachlassigen  Arm  vom  Diwan  herunter  und  nimmt  die  Maus. 
Fripouille  wie  ein  Wappenlowe  mit  einer  steifen  Tatze  reiBt 
eine  rote  Rinne  in  das  weiBe  Fleisch.  Luchs  rennt  verriickt  ins 
Nebenzimmer.  Fripouille  folgt.  Es  ist  still.  Im  Fensterbogen 
steht  der  Mond,  reifit  die  Bogen  der  Berge  aus  der  Dammerung. 
spannt  sie  in  die  Wucht  riesiger  Linien,  bricht  mit  Stemhimmel 
driiber  her  und  leuchtet  kalt.  WeiBe  Abschwiinge  biegen  sich 
wild  in  das  brutale  Blau.  Fripouille  schreit  begehrlich.  Der 
Kamin  flackert.  „Der  Kater  ist  kastriert“,  sagt  Schiileins  helle 
Stimme.  Es  ist  still.  Im  oberen  Fensterbogen  steht  die  Konstel- 
lation  von  Venus  und  Jupiter,  bengalisch  gliihend,  Seite  an  Seite. 
Der  Horizont  hat  einen  griinlichen  Schimmer.  Die  anderen 
Sterne  sind  blafi. 

Wir  sind  zur  Rodelbahn  gegangen.  Irgendwo  aus  dem  Schnee 
und  dem  Berg  biegt  eine  blitzende  Linie,  ein  bestiirzendes 
weiBes  unertragliches  Licht.  Aus  diesem  silbernen  Gestim 
schieBen  dunkel  Fahrer  auf  Fahrer.  Wir  suchen  lange.  Ich 
nehme  ein  breites  Stuck  aus  derbem  Holz,  stammig  wie  eine 
englische  Dogge,  mit  blinkenden  schmalen  Kufen.  Dann  ver- 
lieren  wir  uns  hinauf  in  das  kochende  Strahlen.  Abfahrend  oben 
liegen  wir  nach  hinten,  daB  die  Haare  hinter  uns  fliegen.  Wir 
brechen  in  die  Kurven  ein,  fiihlen  berauscht  die  Sekunde  des 
Schwebens  am  Grat  des  Walls  und  stemmen  fliegend  in  dieBahn. 
Sie  blitzt  lang  hinunter  wie  weiBblauer  Stahl.  Zwischen  Wallen 
und  Fahnen  spritzen  wir  durch.  Gesichter  und  Farben  der 
aufgereihten  Menge  kettet  sich  in  eine  Orgie  zerstaubten  Ein- 


Kasimir  Edschmid  » Winter 


165 


d rucks  in  den  Vorbeischwung.  Wir  wachsen  an  den  Rodel. 
Er  zischt  einen  kleinen  Hiigel  hinauf,  hebt  sich,  glanzt  gierig 
unten  mit  den  schmalen  Kufen,  wir  schweben.  Dann  prallt 
er  zuriick,  wir  veremigen  uns  in  nachgebendem  Gleiten  wilden 
Rucks  mit  der  Bahn.  Wir  heben  uns  toller,  reiBen  die  Flanken 
des  Rodels  an  uns,  schwingen  einen  Bogen  in  die  Luft,  tosen 
zuriick.  Geschrei  steigt  neben  uns  prasselnd  auf.  Die  stahleme 
Flache  bebt,  wir  gliihen  im  springenden  Sausen  wie  Bremsen, 
wir  fliegen  in  das  Blau.  Die  Kufen  rasseln  in  toller  Gier  auf 
das  Eis.  In  graziler  Kurve  erreichen  wir  die  Ebene,  fliissiges 
Nickel,  brausen  in  Radem  aufspritzenden  Schnees.  Verachtend 
andere,  die  lenken  mit  Fufi  und  Arm,  Iachend  der  Vorsicht 
des  MittelmaBes,  befeblen  wir,  aufundabrasend  die  stiirzende 
Flache,  mit  dem  Hirn.  Wir  besiegen  die  entgegenschaumende 
Wucht  der  Kurven  mit  dem  Ruck  der  Lenden.  Ganz  uns  hin- 
gebend  dem  AbschuB,  herrschen  wir  iiber  ihn  mit  dem  Willen. 
Abstiirzend  in  das  betaubende  Silber,  vor  dem  das  Auge  er- 
blindet,  wiegen  wir  uns  mit  den  Hiiften  hinunter  wie  im  Liebes- 
spiel. 

Neben  uns  smkt  die  gewolbte  Schale  eines  anderen  Bergs  aus 
Fohren.  Dunkle  Silhouetten  der  Skier  furchen  seine  Seite. 
Morgen  werden  wir  skiern.  Wir  haben  unmaBigen  Hunger. 
Vor  dem  Holzhaus  am  Auslauf  an  gedeckten  Tischen  bringen 
Madchen  die  Speisen.  Plotzlich  entsteht  eine  Bewegung  und 
pflanzt  sich  fort.  Fripouille,  einen  Kanarienvogel  im  Maul,  den 
Schwanzbusch  aufwarts,  schreitet  durch  die  bunte  Menge,  in 
stillem  Adel,  ohne  Menschen  zu  achten,  wie  durch  erne  Gasse 
auf  die  Eisbahn  zu. 

Juju  kann,  wie  wir  in  der  Klamm  sind,  den  Kopf  nicht  heben, 
der  Himmel  unendlich  hoch  ist  zu  diinn,  die  Sonne  schieBt 
herein.  Hier  ist  ein  RiB  durch  den  Berg  gegangen,  die  Wande 
zittern  noch,  es  schneit.  Eishauch  schlagt  entgegen.  Ganz  aus 
unsichtbarer  Hohe  stiirzen  Eiszapfen  herunter,  verwachsen  sich 
wie  starres  Schlinggewachs  und  prallen  bis  an  den  Wildbach, 
der  Wasserrollen  zersplittemd  gegen  den  Stein  aufwirft.  Der 
Grat  ist  schmal  und  schiissig  und  taucht  in  Tunnels.  Geschwa- 


166 


Kasimir  Edschmid  * Winter 


der  von  Eis  strotzt  von  oben  herunter.  Die  Sonne  in  dunklem 
Rot  hangt  einen  Fackelbogen  iiber  den  RiB.  „Grand  Boche**, 
sagt  Juju  und  grabt  den  Daumen  in  seinen  Arm.  Er,  toll,  nimmt 
Steine  und  schmeifit  sie  gegen  den  Eissturm,  der  heruntertobt. 
DocH  es  gibt  wie  einen  Ball  den  Stein  zuriick.  Da  reiBt  er  einen 
Eisspeer  heraus  und  laBt  die  Warme  seiner  Hande  sich  hinein- 
fressen,  bis  sie  ihn  zersagt  haben.  Solange  steht  er  unbeweglich. 
Juju  zieht,  wahrend  aus  der  Hohe  ein  geschmolzener  Quader 
herunterkracht,  die  gelben  Handschuhe  aus  und  biegt  ihren 
Mund  in  seinen.  Aus  den  Seiten  des  Bergs  wachst  Eis  wie 
wuchemdes  Fleisch  in  Wunden.  Els  friBt  sich  durch  die  Wande, 
Knorpel  wuchem.  Granulationen  schieBen  empor.  Auswiichse 
sperren  den  Pfad.  Berge  aus  einzelnen  Bowisten  stiilpen  sich 
unziichtig  und  schleimblaB,  brennend  kiihl  heraus.  Quader  und 
Tiirme  formen  sich  zu  massivem  Gewachs.  Wasserdampf 
schlagt  sich  frierend  an  die  Schlafe,  heulend  wiihlt  in  grunlichen 
Wirbeln  giftig  zu  FiiBen  der  Bach.  Die  Sonne  kreist  bos  wie  ein 
Geier.  Juju  zieht  Schuhe  und  Striimpfe  aus  und  weint  vor 
Tollheit...  Abends  flammt  eine  Lampe  auf,  braun  verhiillt,  und 
greift  vier  Gesichter  aus  dem  verschatteten  Raum,  rotlich,  stanr, 
geschliffen  — pokemd. 

Es  schneit  drei  Tage.  Wie  ein  Leib  walzt  sich  die  Bergseite 
vor  meinem  Haus  wolliistig  aus  dem  Schneefall.  Schneegitter 
sinkt  hiillend  zuriick.  Der  spitze  Kirchturm  quert  manchmal 
die  quadratische  Flache  eines  Hangs.  Dann  steht  der  Schneetag 
unbeweglich  wie  eine  Wand.  Der  Horizont  ist  Schneefall  und 
grauweifi.  Die  einzelnen  Hauser  bleigegossen  hocken  steif  davor. 
Wir  fahren  nach  Innsbruck. 

Die  Bahn  klettert  greisenhaft,  erreicht  die  Hohe  und  laBt  sich 
wie  eine  Taube  in  schonen  Serpentinen  die  Wande  abstreichend 
gelassenen  Zugs  ins  Tal,  das  unbeschreiblich  voll  wallender 
Sonne  liegt.  Unsere  Herzen  lauschen  und  schlagen  in  die  Siid- 
lichkeit  betaubend  hinein.  Hier  konnten  Olivenbaume  stehen. 

Wachsgelbes  Licht  flutet  warm  wie  Meran.  Wir  zittem.  Wir 
dehnen  uns,  voll  Rausch.  Aus  alien  Fenstem  leuchten  die 
guten  gelben  Apfel,  still  und  groB.  Wir  kaufen  viele,  schmeicheln 


Kasimir  Edschmid  * Winter  1 67 

sie  an  die  Wange  und  beiBen  in  das  siiBe  Fleisch.  Wie  glucklich 
wir  sind  auf  der  Mitte  der  StraBe.  Szlivovicza  gieBen  wir  in  die 
Brust,  Feuer  aus  serbischen  Pflaumen.  Das  ist  die  Stadt  greif- 
barer  Sonne,  Seiigkeit  der  mittaglichen  StraBe.  Wir  sind  an 
den  Siiden  herangeriickt,  wie  alle  Fenster  leuchten,  die  Gitter 
und  die  Ecken.  Wir  knien  uns  mitten  auf  die  StraBe  und  beten 
die  Ruhe  an,  die  WSrme,  die  gelben  Calvilles,  den  Brunnen,  die 
Verzierung  des  Likorladens  und  die  unbegreiflich  gleich  Schnee- 
bogen  iiber  die  Stadt  ziehenden  Hohen.  Demiitig  stehen  wir 
auf  und  gehen  in  die  Domkirche  zu  den  bronzenen  Konigen. 

Wir  waren  stolz  diesen  Tag,  wir  hatten  Cadix  und  Limoges 
im  Herzen.  Wir  gaben  Preise  aus : Teodorick,  kuning  der  Goot, 
sanft  in  die  Hiifte  geknickter  Streiter,  schmerzlich  ein  duldender 
Engel  iiber  das  Schwert  hingelehnt...  und  Teopertus,  kuning 
zu  Provanz,  herzog  zu  Burgundi,  der  die  Fauste  gebalit  vor  sich 
hin  hielt,  dessen  ubermafiige  geriistete  Brust  die  Miniaturen 
unzahliger  Kinder  iiber  spiel  ten,  der  ohne  Gesicht  den  Schnabel 
des  Visiers  Gott  frech  in  das  milde  Antlitz  hinaufhielt.  Durch 
Gottes  groBes  Auge  fiel  Zinnoberlicht.  Dem  Abend  gaben  wir 
uns  hin,  der  verzauberte  und  verfiihrte,  weich  und  duftend  und 
honigfarbnes  Geleucht  durch  alte  Gassen  ziehend.  O Brunnen, 
die  in  den  Abend  fielen.  0 Gerausche.  Wie  nahm  unsere 
Inbrunst  die  Madonnen  iiber  Tiiren,  tanzende  Sonne  auf  dem 
goldenen  Gitter,  starre  Riesen  in  gotischer  Fassade  und  die 
unendhche  Tiefe  blauwarmer  Schatten  in  den  Laubengangen . 
Wir  weinten  in  den  Abend. 

Dann  fuhren  wir  zuriick  in  das  Land,  und  es  kamen  die Berge. 
Einige  standen  wie  Kegel  schwarzseidig  allein.  Wildere  warfen 
sich  entgegen,  verwiistet  die  Riicken,  die  Briiste  zerfleischt. 
Dann  sammelte  die  Dammerung  sie  in  Rot,  in  dem  sie  unwirk- 
lich  verschwammen,  als  wie  grofie  Symbole  harter  Sehnsucht 
in  die  Landschaft  hinausgeboren  von  unseren  Augen,  die  noch 
trauernd  im  Siiden  hingen.  „Boches  mythische  Sehnsucht  in 
die  Sonne“,  lachte  die  Magyarin.  Aber  als  Schneefall  und 
Dunkel  die  Berge  hinwegnahm  und  entriickte,  da  wuchs  zu  der 
Trauer  eine  noch  unbandigere  Verzweiflung : wir  konnten  auch 


168 


Kasimtr  Edschmid  * Winter 


das  Entsetzlichere,  wir  konnten  auch  keine  Berge  mehr  sehen, 
und  steigerte  sich  todlich,  wie  an  jenem  furchtbaren  Abend,  als 
zwischen  Colmar  und  StraBburg  auf  meiner  letzten  Fahrt  die 
stahlblauen  Riicken  der  Vogesen  wie  Tiger  von  mir  weg  in  die 
Holle  des  feurigen  Abends  hineinsausten,  bis  nichts  mehr  war, 
als  Angst,  Verlorenhaben  und  Einsamkeit. 

In  der  Nacht  fuhr  ich  aus  dem  Bett.  Das  Zimmer  gleiBte. 
DrauBen  stemmen  sich  metallen  leuchtend  die  Berge  in  das 
Fensterbild.  Der  Mond  warf  feurige  Brande  herein  und  heulte 
Gliihflammen  durch  die  eisige  Nacht. 

Eine  schone  Frau  ist  angekommen  mit  einem  lachsroten  groBen 
Mund.  Wir  haben  sie  angestaunt  und  ihr  die  Hande  gekiiBt. 
Wie  kann  man  so  schon  sein,  solche  Pflege  und  die  Linie  sol- 
cher  Bewegung.  Uns  donnert  nur  die  Sonne  in  das  Gesicht. 

Unser  Haaransatz  ist  silbem  gebleicht.  Das  bronzene  Braun 
der  Gesichter  hat  einen  weifien  silbemen  Unterglanz.  Die 
schone  schmale  Frau  floB  mit  einer  Rinne  diinnen  Geruchs  nach 
sich  iiber  die  Rodelbahn.  Sie  hatte  einen  dicken,  ganz  seltsam 
einfachen  Stock  in  der  Hand.  Sie  war  wie  ein  Wunder.  Die 
Schlitten  sprangen  hoher  vor  ihr.  Der  Wind  wehte  entgegen, 
doch  die  tausend  Fahnen  drehten  sich  gegen  ihn  und  flogen  auf 
sie  zu.  Abends  haben  wir  sie  in  den  seidenen  Schuhen  zur  Bahn 
im  Pferdeschlitten  gefahren.  Fripouille  biB  in  der  Nacht  einen 
Dachshund  tot.  Ihr  Kopf  ist  gewaltig  angeschwollen  vor  Stolz, 
halb  so  groB  wie  der  riesige  Albert  Steinriicks.  Das  Leben 
ware  eine  einzige  berstende  Wildheit,  ware  nicht  die  Stunde 
des  Tees  bei  der  lieben  Frau,  ihre  aus  gelben  Shawls  heraus- 
kommende  weifie  Hand.  Mit  Stocken  gehen  wir  den  Abend 
noch  spazieren  in  die  Ebene  hinter  den  Hausem. 

Hinten  auf  blaurandigem  Griingrund  hebt  sich  flamingone 
Rote.  Die  Berge  geben  sich  ihr  grenzenlos  hin,  verlieren  die  dritte 
Dimension  und  stehen  verklart  in  Flachigkeit  wie  Kulissen.  In 
ihrer  Mitte  aber  erscheint,  sie  alle  einordnend  in  die  Beziehung 
seiner  Art,  ein  Berg,  der  am  Tag  sich  entzieht.  Sie  nennen  ihn 
Daniel.  Nach  oben  gestiilpt  bricht  seine  Form  wiist  und  herr- 
schend  heraus  wie  die  Begehrlichkeit  einer  wilden  Sau. 


Kasimir  Edschmid  ♦ Winter 


169 


Das  Licht  geht  Wochen  funkelnd  iiber  den  Himmel.  Die 
Luft  wird  reiner,  unirdischer  in  der  Durchsicht.  AUes  lebt  in 
einem  Taumel  nach  Sonne.  Die  Hauser  werfen  ihr  die  vollen 
Balkone  der  Siidfront  entgegen  und  pressen  sie  wie  saftige  Briiste 
iangsam  ihrem  Steigen  nach.  In  tropischer  Hitze  lauft  der 
Mittag  iiber  den  Schnee.  Das  Holz  der  Liegestiihle  knistert 
vor  HeiBem.  Wir  schwalen  und  rauchen.  Wir  sind  nun  vollig 
aufgegangen  in  diesem  Leben,  voll  verschmolzen  dieser  Um- 
gebung,  Landschaft  und  Winter.  Morgens  stehen  wie  mosaische 
Signale  rund  im  Kreise  Saulen  feuriger  Wolken  auf  den  Spitzen 
des  Gebirgs. 

Fiinfzehnhundert  Meter  hoch  ist  es  Mittag.  Morgens  schon 
sind  wir  von  hier  aus  ohne  Felle  einen  hohen  Vorsprung  auf 
Harsch  hinaufgetanzt,  die  Breitseiten  der  Skier  eingebohrt, 
in  zickzackigen  Linien,  die  Fesseln  ans  Zerreifien  angedehnt. 
Wie  dunlde  Vogel  schossen  wir  ab.  In  ungeheuren  Stemmbogen 
zogen  wir  halbe  Kreise  schwingend  iiber  die  Seiten.  An  einem 
Abgrund  rissen  wir  aus  dem  SchuB  Telemarks  heraus,  dafi  die 
Bergflanken  drohnten.  Das  Holz  zischte  unter  der  Reibung 
brandig  auf.  Wir  sprangen  wie  Hirsche,  der  Ewigkeit  zugeneigt, 
die  Erde  schmahend,  und  bissen  uns  ihr  dennoch  zuriickgleitend 
wieder  ins  Genick.  Wir  zogen  uns  werfend  in  eine  unendhch 
rauschende  Schufifahrt  durch  die  blaue  Luft  hinunter  auf  den 
kleineren  Berg. 

Nun  sind  wir  fabelhaft  faul.  Die  Sennhiitte  raucht.  Wir  ha- 
ben  gespeist.  Auf  Banken  langs  der  Holzhiitte  hegen  wir  in  der 
Sonne.  Schiilein  tanzt  im  Schnee,  einen  roten  Shawl  um  sein 
Torerogesicht  geschlungen.  Frau  Suzanne  tragt  seidene 
schwarze  Breeches  und  weiBe  Pompiersgamaschen,  einen 
zitronenen  Sweater  und  um  das  braune  Gesicht  die  schwarze 
Zipfelmiitze  der  Skierinnen.  Wir  liegen  und  schauen  zu.  Amelie, 
die  Tatarin,  lehnt  von  innen  aus  der  Hiitte,  ein  grimes  Tuch 
um  die  starken  Haare.  Ihr  Gesicht  ist  unbeweghch  und  nur 
junge  Flache  wie  vom  Anblicken  ewigen  Horizonts.  Sie  ist 
gelassen  in  ihrer  selbstsicheren  Bewegung,  als  hatte  sie  statt 
Skiem  iiber  die  Schulter  gekreuzt  tagelang  Zeltstangen  durch 


Kasimir  Edschmid  * Winter 


170 


die  Steppe  getragen.  Sie  raucht  kiihl  mustemd  eine  Zigarette. 
Nur,  als  hinter  alien  Gipfeln  mit  einem  Mai  wilde  weifie 
Schaumwolken  iiberkochen  und  sich  abflieBend  nach  der  inneren 
Scite  iiber  die  Spitzen  walzen,  sagt  sie:  „Aszt  a kutya  fajat“. 
Unter  ihrem  magyarischen  Fluche  entsteht  Stille  der  elemen- 
taren  Bewegtheit.  Die  Sonne  ist  ungeheuer.  Sie  schmeifit  die 
Wolken  zuriick.  Schmettemd  wie  eine  Posaune  briillt  sie  iiber 
das  Tal. 

Sie  schwebt  in  Kreisen  wie  ein  wildes  bronzenes  Schild  und 
schuttelt  Hitze  herunter.  Es  sind  nicht  Strahlen,  Hagel  von 
heifien  Blitzen  zuckt  auf  uns.  Wir  liegen  ausgestreckt,  die 
Korper  geoffnet,  kochenden  Blutes.  Wir  fiihlen,  wie  wir  in  ihr 
wachsen  und  uns  entfalten,  aufgehoben  werden  in  einer  machtig 
rauschenden  Scbwellung.  Wir  wissen,  dafi  sie  uns  strafft  und 
grofi  macht,  unsere  Adem  durchheulend  mit  Glut,  empfinden 
uns,  die  Augen  geschlossen  als  Friichte,  auseinandergliihend  und 
reifend  hinauf  zu  einem  machtigen  Geladensein  in  Trotz, 
Stiirmischem  und  Lust  zur  Siinde. 

Suzanne,  der  Konigstiger,  springt  zuerst  in  den  gebogenen 
Abhang  und  verrauscht,  eine  gelbe  pfeifende  Linie,  im  Gebiisch. 
Ich  fahre  den  Hiigel  auf  der  Seite,  Der  Schnee  ist  weicher  unter 
der  Sonne,  ich  habe  gut  gewachst  und  fliege.  Juju  fahrt  nach, 
angstlich  und  zart  in  den  Knien,  aber  voll  furchtbaren  Muts. 
Ich  stehe.  Sie  schiefit  an . Sie  bricht  nicht  mit  Hiiftschwung  zur 
Seite.  Sie  braust  nicht  starr  in  Christiania.  Sie  saust  atemlos 
auf  mich.  Skischnabel  verwirren  sich  knirschend,  wir  prallen 
aufeinander.  Wir  fallen  gliihenden  Gesichts  miteinander  in  den 
weichen  blaulichen  Schnee. 

Auf  der  Abfahrt  standen  bliihende  Weidenkatzchen  in 
Biischen  in  den  weiBen  Hangen.  Ich  fing  eine  Biene  mit  meinem 
Haar. 

Suzanne  ist  ganz  unten  ein  kleiner  Fleck  wie  ein  Iaufender 
Fasan.  Wir  fahren.  Juju  hat  einen  Zweig  Hagebutten  in  der 
Hand  und  einen  wilden  roten  Mund  voll  Blut.  Wir  gehen  blitz- 
haft  in  die  Knie,  durchkufen  die  Senkung,  springen,  schweben 
und  werfen  uns  toll  in  die  SchuBfahrt. 


Kasimir  Edschmid  * Winter 


171 


Die  Nacht  legt  der  Mond  einen  Hof  riesenhaft  iiber  die 
zackigen  Rader  des  Kessels.  Die  Lawinen  briillen.  Die  Adern 
zucken  durch  unsere  Korper. 

Wir  haben  einen  Vormittag  in  alten  silbernen  Dosen  gekramt. 
Wir  sind  fromm  und  schlicht  auf  der  Reichsstrafie  Italien  zu 
marschiert.  Wir  hatten  Neuschnee,  sind  in  Wolken  explodieren- 
den  Gef locks  wie  in  unheiligen  Flammenscheinen  abgefahren. 
Wir  haben  ein  Haus  gesehen  in  Mittenwald,  in  dem  Goethe 
wohnte.  Wir  sind  vor  der  reifienden  bestiirzenden  Zeit  er- 
schauert,  aber  wir  haben  uns  gelangweilt.  Wir  haben  die  Liebe 
Frau  besucht.  Wir  haben  nichts  gearbeitet.  Wir  sind  verriickt 
wie  Stiere  vor  Lust.  Wir  fahren  den  Abend,  um  Theater  zu 
sehen,  in  die  bunte  Stadt. 

Was  war  uns  das:  steinerne  Strafien,  durch  die  Gefahrte 
jagen,  grelle  Lichter,  die  den  Himmel  ausloschen,  deren  Sehn- 
sucht  gesaugt  ist  am  Lowenton  stiirzender  Lawinen.  O unsere 
Flucht  zum  englischen  Garten,  Herden  von  Schwanen  ins  Griin 
gelagert,  Movenschwarme  liber  beschneiten  Ufern,  Rollen 
weiBen  Wassers  an  den  Kanalen.  Baurische  Pracht  Nymphen- 
burgs,  eingeschneit  in  Safransonne,  Tanz  von  Figuren  und 
Licht  an  vereisten  Wasserstrafien,  siifie  Brust  der  scheuenden 
Venus  Canovas. 

Dann  erst  fafite  uns  die  Buntheit  der  Menscheri  und  der 
Sale.  Wir  horten  aus  den  gemilderten  Hollen  Advents  die  noch 
zu  feine  siiBe  Stimme  Lucy  von  Jakobis  singen.  Unda  gleiBt 
auf,  kaleidoskopischen  Blutes,  das  Weibchen.  Paul  Marx  stoBt 
seinem  Partner  widerhakende  Worte  in  den  Leib,  heiser  schrei- 
end  daran  reiBend.  Es  erscheint  Kaisers  schmale,  nur  geistige 
Linie,  von  Vangogh  schen  Verziickungen  verklart,  nicht  fiir 
andere  spielend,  nicht  den  Menschen,  Gott  vielleicht  oder  dem 
Mond.  Wir  sahen  den  groBen  Schauspieler  Albert  Steinriick, 
Kapitan  des  Totentanzes,  den  wir  nie  vergessen.  Als  Albert  den 
Sabel  auf  den  Tisch  hieb,  schlug  er  die  Mitspielenden  aus 
unserem  Him,  sie  klebten  an  der  Wand,  irr,  ausgeloscht.  Als  er 
mit  nackter  Klinge  den  Bojarentanz  sprang,  glaubte  das  Herz, 
hier  sei  die  obere  Grenze  des  Wilden,  nichts  konne  furchtbarer 
12 


172 


Kasimtr  Edschmid  * Winter 


sein,  und  erschrak  in  Zorn.  Wenn  er  schrie,  briillten  unsere 
Zungen  stumm  mit  vor  Wonne.  AIs  er  aber  schweigend  die 
Lichter  ziindete,  wie  sein  Hirn  biiffelhaft  am  Metaphysischen 
riB,  als  er  stumm  nach  dem  Anfall  sich  ins  Leben  mit  wiistem 
Ruck  hinaufzwang,  da  brausten  aus  der  Stille  der  Biihne  reiBende 
Strome  unbegreiflicher  Kraft,  daB  wir  geschiittelt  uns  in  ihnen 
bewegten,  entsetzt  und  niedergeschmissen,  und  die  Herzen  der 
Frauen  auf  die  Knie  stiirzten. 

Aber  unsere  ubergroBe  Sehnsucht  hat  uns  iiber  azurnen  See, 
aus  dem  Dampferschaufeln  silberne  Strahlen  wiihlten,  in  das 
Blau  zuriickgezogen . In  roter  Lawine  saust  unsere  furchtbare 
Sonne  durch  den  geruhigen  Himmel.  Berge  wachsen  aus  der 
breiten  Erde  und  liegen  weiB  an  der  glanzenden  Brust  des 
Horizonts.  Luft  der  grofien  Dinge  weht  durch  unser  Tal.  Hier 
ist  nicht  Kampf,  keine  Bedriickung.  Hier  ist  Ruhe  und  Andacht 
im  wilden  Wider  hall  des  Blutes.  Hinausstromend  uns  in  das 
Leben,  bleibt  keine  Besinnung,  nur  Erwarten,  Sehnsucht  und 
Wiedererfassen  des  Daseins. 

Ich  habe  das  Tal  verlassen.  Herz  wuchs  sich  grofi  und 
krampfte  unter  zu  groBer  Klarheit.  Wir  sind  nicht  gemacht, 
nur  um  zu  leben. 

Ich  habe  die  schmetternde  Sonne  verlassen,  freiwillig  mich 
wendend,  entsagend,  in  die  arbeitsschwere  Einsamkeit  der 
Stadt.  Stadt  bestiirzender  Enge,  niederen  Behagens,  wohl 
genahrt,  aber  ohne  Wollust,  Stadt  Georg  Buchners,  der  ein 
Schicksal  Priifungen  nie  gab,  klein,  feist  und  biirgerlich  und 
selbst  zu  feig  zur  Siinde.  Ich  hasse  ihre  Trottoirs,  ihre  Hauser, 
Gesichter,  ihre  Baume.  Doch  ich  fiihle,  wie  im  Zuriickstromen 
der  Welt,  der  ich  mich  hingab  an  den  Bergen,  eine  Glut  auf- 
wachst  im  Zorn,  die  ich  schwer  entflammt  in  Arbeit  verbrenne. 
Moge  Gott  mich  an  seinen  Fingem  hinaufreiBen  an  der  Welle 
dieses  Gefiihls,  daB  ich,  zu  den  letzten  ekstatischen  Hollen  des 
Kraters  aufsteigend,  unser  dichterisches  Schicksal  erfiillend, 
blutige  Worte  im  Mund  den  HaB  der  Vaterstadte  aufrufe. 

Wie  Sie,  so  sehr  liebe  Frau,  vom  Langbalkon  Ihres  Hauses 
die  hohe  Siidkette  weiBer  Berge  sahen,  den  gliihenden  Horizont 


Kasimir  Edschmii  ♦ Winter 


173 


am  Mittag  umfassend  und  das  Glas  iiber  den  Augen  unseren 
Herausbruch  aus  den  Hangen  erkennen  konnten:  Suzannes 
springende  Gerecktheit,  Amelies  helle  Hiiftenschleife,  Jujus 
siifie  Angst,  Schiilein,  den  rasenden  Skier...  und  leicht  vor  dem 

Abend  stehend  dies  tolle  Dasein  vor  sich  zerfliefien  saben 

so  reckt  sich  manchmal  in  unbandigerer  Vision  eine  Ebene  zu 
mir  herauf  in  mein  fensterloses  Zimmer,  auf  der  Figuren  starr 
stehen : Albert  wie  ein  Boxer  in  schneeiger  StraBe  malend,  Lucy 
von  Jakobi  blauschwarzen  Haares  dunkel  im  Liegestuhl  unter 
rotbraun  fallender  Sonne,  der  Schauspieler  Marx,  die  Ratsel 
erratend,  Erna  Morenas  schones  Lacheln,  Schmidtbonn  Lola 
fiihrend,  Herzog  seltsam  sprechend,  Alfred  Meyers  giitiges 
Gesicht,  ...bis  sie  beginnen,  bewegt  in  unerhorten  Tempen  sich 
zu  verwirren  und  verblassend  zu  verschwinden.  Dann  rauscht 
das  Zimmer,  und  donnemde  Musik  vom  Menschen  umschlagt 
den  Entfernten,  dem  schon  der  Garten  hereinwachst  mit  Marz, 
Tulpe  und  Gebiisch. 


37  Vol.  ra/1 


v'% 


Glosscn 


GLOSSEN 


ZurcFer  C agebucf . 

Das  Beben  nac6  dem  ‘Code . 

Ich  begegne  Landsleuten,  die  mich 
mit  einem  todtraurigen  Blick  fragen: 
„Werden  wir  je  wieder  lachen  konnen  ?" 
Es  sind  nicht  immer  Kranke. 

(,,Kranke4‘:  mir  scheint,  als  ob  sie 
die  einzigen  seien,  die  sich  an  eine  Zeit 
erinnern,  wo  die  andem  gesund  waren 
und  an  dieser  Erinnerung  schmelzen 
wie  in  einem  Feuerl) 

Dann  antworte  ich: 

Aber  ich  fiirchte  das  Gegenteil.  Ich 
fiirchte,  fur  Europa,  den  Anbruch  eines 
Reichs  des  Leichtsinns. 

Ich  fiirchte,  daB,  was  in  RuBland 
nach  dem  Krieg  mit  Japan  und  der 
Revolution  kam  — ein  mittelmaBiger 
Dichter  namens  Artzybaschew  machte 
daraus  den  Roman  „Ssanin“  — das 
ganze  Europa  vergiftet,  ein  „Apres 
nous  le  deluge",  das  sich  vorderhand 
im  Tingeltangel  schadlos  halt  und 
„ wieder  lebt,  wieder  atmet,  wieder  ge- 
nieBt" ! 

Ich  fiirchte  ein  Kokottenlachen  son- 
dergleichen,  den  Sieg  des  Tanzbeins 
iiber  alle  zu  erwartenden  Konsequen- 
zen  dessen,  was  heute  geschieht. 

Es  wird,  iiberdies,  billig  zu  haben 
sein. 

Ich  fiirchte  — nicht,  daB  die  kapita- 
listische  Gesellschaftsordnung  sich  tot- 
lacht,  aber  daB  die  vielen,  die  dfeinen 
Beuie,  die  Qbrigbleiben,  dem  Wahn 
anheimfallen,  mit  leichtem  Sinn,  mit 
der  biihnenmafiigen  Geste  des  Grand- 


seigneurs  ein  Dutzend  Sprossen  der 
sozialenLeiterhinauftumen  zumiissen. 

Ich  fiirchte,  daB  Europa  der  aife 
Vllann  wird,  der  sich,  mit  dem  Opern- 
glas,  in  die  erste  Parkettreihe  setzt,  urn 
ja  vom  Ballett,  das  ihm  geboten  wird, 
nicht  die  geringste  Regung  zu  ver- 
lieren,  der  Kunst  wegen,  versteht  sich: 
fauler  als  ein  Gaul,  der  die  lastigen 
Fliegen  mit  unermiidlichen  Schlagen 
des  Schwanzes  vertreibt,  wozu  sehr  viel 
Kraftanstrengung  und  eine  gewisse 
Aufmerksamkeit  gehort. 

Die  Operette  fiirchte  ich,  das  kit— 
zelnde  Feuilleton,  die  absichtsvoll  ge- 
malten  Hiiften  der  Diana  in  der  Abend- 
dammerung. 

In  einem  Wort,  den  Lohn  fur  den 
Bauch,  statt  daB  die  Herzen  vom  Tode 
auferstehn  und  die  Gehime  GrUermt* 
nisse  zu  Taten  machen. 

Das  fiirchte  ich,  als  die  Ablenkung, 
die  der  Teufel  ersinnen  konnte,  und 
hoffe  inbriinstig  auf  das  leidenschaft- 
lich  ernste  Leben  nach  dem  Tod,  den 
wir  jetzt  alle  sterben  (so  wir  nicht  vom 
Tod  der  andem  leben). 

‘Die  efsdssiscBe  ‘Frage. 

Warum  sprechen  die  Franzosen  im- 
mer von  der  elsassischen  oder  elsaB- 
lothringischen  Frage?  Es  gibt  nur  eine 
lothringische  Frage.  Die  Elsasser  sind 
Deutsche,  ob  sie  auch  von  PreuBen  re- 
giert  werden,  an  welche  Perversitat 
man  diese  Alemanncn  nie  gewdhnen 
wird.  Nie.  Mit  der  elsassischen  Frage 


V 


Glossen 


175 


verhalt  es  sich  so,  daB  vor  1870  im 
EIsaB  die  deutsche  Partei  starker  war, 
als  nachher,  und  daB  die  Elsasser,  da 
sie  sind,  was  sie  immer  waren,  um 
keinen  Preis  vor  Prinzipien  abdanken, 
die  sie  notwendig  als  Brutalitaten  emp- 
finden. 

Zabem  . . . 

Kurz  vor  dem  Krieg  wurde  im 
Reichstag  liber  den  Unfug  verhandelt, 
den  ein  unwissender,  tapferer  Junge, 
ein  achtzehnjahriger  Leutnant,  der  in- 
zwischen  gefallen  ist,  dort  angestiftet 
hatte.  Der  Graf  Westarp  schlug  auf 
das  Rednerpult  des  Reichstags:  „Als 
ich  noch  Landrat  war,  Himmeldonner- 
wetter  . . ."  Der  Reichskanzler  aber 
erlaubte  die  Veroffentlichung  eines 
Briefes  an  Professor  Lamprecht,  worin 
der  verantwortliche  Leiter  der  deut- 
schen  Politik  sagte: 

„Wir  sind  ein  junges  Volk,  haben 

vielleicht  allzuviel  noch  den  naiven 

Glauben  an  die  Gewalt,  unterschatzen 

die  feineren  Mittel  und  wissen  noch 

nicht,  daB,  was  die  Gewalt  erwirbt,  die 

Gewalt  allein  niemals  erhalten  kann." 

* 

Das  Elsafi  ist  deutsch.  Busch  erzahlt 
in  seinen  Erinnerungen  an  Bismarck 
vom  Besuch  des  ersten  Metzer  Pra- 
fekten  H.  von  Donnersmarck  in  Ver- 
sailles, wo  das  Hauptquartier  aufge- 
schlagen  war.  Damals  hatte  Bismarck 
zwei  wichtige  Entschliisse  gefaBt:  die 
Annexion  ElsaB-Lothringens  und  die 
Einftihrung  des  allgemeinen  Wahl- 
rechts  fur  den  Reichstag. 

Und  wie  werden  die  Wahlen  aus- 
fallen?  fragte  er  Donnersmarck. 

Der  Lothringer,  antwortete  er, 
bin  ich  sicher.  Sie  sind  Franzosen 
und  haben  den  Respekt  des  franzbsi- 


schen  Bauern  vor  der  staatlichen  Auto- 
ritat.  Sie  werden  gouveme mental  wah* 
len.  Aber  die  Elsasser  — das  ist  eine 
ganz  andere  Sache.  Alemannische 
Dickschadel.  Sie  werden  sich  wehren 
bis  zum  auBersten. 

Alemannische  Dickschadel.  Deut- 
sche. Man  nehme  oder  lasse  sie,  wie 
sie  sind.  Das  Klima  zwischen  Vo- 
gesen  und  Rhein  ist  ein  andres,  als  in 
Pommern  und  Posen.  Bismarck  wuBte 
es  und  versprach  damach  zu  handeln. 
Er  kam  nicht  dazu,  sein  Versprechen 
einzulosen.  Das  ist  die  ganze  elsassische 
Frage. 

Wenn  man  von  ElsaB-Lothringen 
spricht,  so  diirfte  nur  Lothringen  und 
nie  das  EIsaB  als  „deutsches  Festungs- 
glacis“  gelten.  Die  Vereinigung  des 
Elsasses  und  Lothringens  war  eine 
Zwangsehe.  Sie  haben  nichts,  aber 
auch  nicht  das  geringste  miteinander 
gemein.  Die  einen,  die  Lothringer, 
blieben  Franzosen,  die  in  den  parlamen- 
tarischen  Kdrperschaften  ihre  kleinen 
Geschafte  mit  der  deutschen  Regierung 
machten,  die  Elsasser  Siiddeutsche, 
die  eher  mit  dem  Kopf  durch  die  Wand 
gehn,  als  in  Dingen  nachzugeben,  die 
sie  als  Unrecht  empfinden.  Wenn 
PreuBen  Bayern  annektiert  hatte,  ware 
nicht  dasselbe  geschehen,  wie  im 
EIsaB.  Es  ware  zur  Katastrophe  ge- 
kommen.  Denn,  wenn  Bayern  seine 
Franken  hat,  so  sind  die  Franken  noch 
lange  keine  Lothringer.  Die  Loth- 
ringer sind  franzosische  Bauern  und 
Qlotabefn, 

„Dann  schon  lieber  Franzosen," 
dachten  viele  Elsasser,  wenn  ein  preu- 
Bischer  Beamter  auf  ihnen  seine  ad- 
ministrativen  Tugenden  entfaltete.  Die 
Badenser,  die  Wiirttemberger,  die 


176 


Glossen 


Bayern  hatten  ebenso  gedacht,  wenn 
tie  von  heul  auf  morgen  in  die  Obhut 
von  zehntausend  preufiischen  Beamten 
gegeben  worden  waren,  tiichtigen  Leu-* 
ten,  deren  Methode  unter  andern  Him- 
melsstrichen  vorziigliche  Ergebnisse 
zeitigen  mag,  die  aber  in  unertraglicher 
Weise  erstarrt,  je  siidlicherder  Himmel 
wird,  unter  dem  sie  — der  kategorische 
Imperativ  der  armen  Leute  — ange- 
wandt  wird.  Geistig  eignet  sich  der 
Deutsche  zum  Kolonisator  wie  kein 
anderer  auf  Erden.  Manieren  lassen 
sich  erlernen.  Selbst  der  Deutsche 
von  gestem  war  weltpolitisch  brauch- 
bar  — als  Exporteur.  Da  traf  er  nur 
einen  Konkurrenten : den  Englander. 
Deshalb  verehrte  er  ihn.  Was  sie 
trennte,  war  ihre  Geschichte.  Sie  ist 
bis  heute  zum  Gluck  Europas  und  der 
Welt  das  Trennende  gebiieben.  Beth- 
mann-Hollweg  versucht,  was  vor 
hundert  Jahren  dem  Freiherm  von 
Stein  miBIang.  Hundert  Jahre  sind 
eine  lange  Zeit  und  ersetzen  vielleicht 
Mangel  des  Talents,  Auch  ist  der 
deutsche  Kaiser,  der  heute  regiert, 
nicht  der  damalige  Konig  von  PreuBen. 
Gebt  dem  preuBischen  Abgeordneten- 
haus  das  gleiche  und  geheime  Wahl- 
recht,  und  die  Welt  ist  verandert.  Und 
wir  sind  — vorlaufig  einmal  — eine 
Nation,  statt  einer  Horde  erfolgreicher 
Kaufleute,  der  die  Welt  offen  stand,  und 
einer  Militarkaste,  die  fiir  den  indu- 
striellen  Teil  des  Landes  wohl  schlagen 
wollte,  um  zu  scfxlagen,  aber  mit  lhm 
keine  wirtschaftliche,  nicht  einmal  eine 
politische  Gemeinschaft  teilte.  Die  Ar- 
beit machte  Deutschland  reich.  Der 
Sabel  regierte.  Und  die  Hand,  die  ihn 
hielt,  wollte  von  der  andern,  die  arbei- 
tete,  nichts  wissen.  Der  „£Kofmicft( 


und  der  Soldat  waren  Feinde,  bis  der 
Soldat,  zu  seiner  Oberraschung,  den 
,JKofmicft*  brauchte.  Darauf  ging  er 
sogar  so  weit,  daB  er  ihn  zum  Offizier- 
stellvertreter  oder  Feldwebelleutnant 
aufrilcken  lieB. 

Einige  Millionen  Deutsche  feierten 
das  Ereignis  als  einen  Sieg  der  Demo- 
kratie. 

Oie  Sc6we/z. 

Wenn  einmal  Europa  die  Bilanz  die- 
ses Krieges  aufstellt,  wird  die  Schweiz 
auf  der  Gewinnseite  der  Menschlich- 
keit  an  erster  Stelle  stehn  und  zeigen, 
welche  menschlichen  GroBtaten  schop- 
ferischer  Art  sie  dem  Volkermord  ent- 
gegenstellte,  wie  sie  nicht  nur  tyunden 
pfleate  und  Sates  tat  in  jeder  Weise, 
sondem,  fast  allein  in  Europa,  ein 
kleines  umdrohtes  Land,  die  Mensch- 
lichkeit  wahrte  und  die  Zukunft  Euro- 
pas bereiten  half . . . Auf  zwanzig  Ge- 
bieten  und  in  hunderttausend  Men- 
schenherzen.  Sie  erscheint  mir  wie  der 
heilige  Hieronymus,  zu  dessen  Fiiflen 
die  groBen  Raubtiere  sich  versammel- 
ten. 

In  diesen  Tagen  habe  ich  das  Buch 
eines  jungen  Dichters  gelesen,  das 
vor  dem  Krieg  geschrieben  ist,  das  jetzt 
spricht  wie  der  Prediger  in  der  Wiiste, 
und  das  nicht  vergehn  wird,  und  das 
viele,  viele  lesen  sollten.  E,  Korrodi 
verdanke  ich  die  Kraft,  die  ich  daraus 
geschopft  habe.  Er  ist  auch  einer  der 
wenigen,  die  fur  den  tiefen,  giitigen 
Menschen,  diesen  Dichter,  werben. 
Der  ist  ein  Schweizer,  heiBt  Albert 
Steffen,  seine  Werke  sind  bei 
S.  Fischer  in  Berlin  erschienen.  Ich 
kenne  heute  nur  den  einen  Roman, 
„Die  Bestimmung  der  Roheit“; 


Glossen 


177 


aber  ich  will  bei  diesem  Dichter 
bleiben  und  dann  hier  ausfiihrlich 
sagen,  wer  er  mir  zu  sein  scheint : d i e 
sublimierteSchweiz.  Er  Hat 
nicht  den  Umfang  und  nicht  die  Tiefe 
Dostojewskis ; aber  auch  nicht  dessen 
Eifer,  Sate  und  mensMiche  Ginsicfxt 
mit  Feuer  und  Schwert  verbreiten  zu 
wollen.  Biichern  gegeniiber  wie  der 
,,Bestimmung  der  Roheit**  hort  die 
literarische  Kritik  auf,  so  sehr  ich  vom 
Dichter  die  Ehrlichkeit  und  Kunst  der 
Arbeit  verlange,  wie  von  jedem  Hand- 
werker,  der  das  Werk  seiner  Hande 
lieben  muB,  um  nicht  der  willen- 
lose  Sklave  einer  Funktion  zu  wer- 
den.  Da  von  will  ich  sprechen, 
wenn  ich  Albert  Steffens  Werk  be- 
trachte  und  seine  Herzenskraft  wie 
seine  Kunst  einzuschatzen  versuche. 
Heute  bin  ich  gliicklich  und  iiberlasse 
mich  dankbar  der  GewiBheit,  einem 
Menschen  begegnet  zu  sein,  in  dessen 
Brust  ein  groBes  Herz  schlagt. 

Nochein Schweizer:  MaxPulver. 
Auch  einer,  der  sein  Werk  errichten 
wird:  weithin  sichtbar,  iiberragend, 
nichts  Geringeres  als  ein  Erzieher  des 
Menschengeschlechts.  Er  hat  Gedichte 
geschrieben,  von  denen  einige  in  die- 
sem Heft  stehn ; Dramen,  die  noch 
nicht  erschienen  sind ; auch  er  wird  ein 
Werk  hinterlassen,  das  in  die  Zeiten 
wirkt.  Auf  das  Werk  kommt  es  an  und 
nicht  sosehr  auf  das  QedicRt,  auf  den 
‘Roman,  auf  das  ‘Drama;  auf  die  lange, 
andauernde  Anstrengung:  ein  Beispiel 
oder  wenig^ens  einen  innerlich  ver- 
klarten  Kampf  zu  schildern  um  die  Un- 
antastbarkeit  der  menschlichen  Wiirde 
— und  zu  versuchen,  es  selber  zu  sein. 

Die  Kunst  ist  schon  auch  im  Spiel. 
Sie  wird  das  Hochste,  wenn  sie  Ernst 


macht.  Sie  braucht  keine  Soldaten,  um 
schon  zu  sein.  Aber  sie  braucht  sie  zu 
ihrem  Staatsstreich,  um  zu  herrschen. 
Darum  sollen  Klinstler  zu  Politikem 
werden,  und  wenn  die  Politik  noch 
hundertmal  mehr  das  ware,  was  sie 
heute  ist  und  vielleicht  immer  sein 
wird.  Dieser  Zweck  heiligt  viele  Mittel : 
der  Zweck,  den  Geist  zur  Herrschaft 
zu  bringen,  selbst  mit  Mitteln,  die 
dem  Geist,  im  Innersten,  zuwider  sind. 

Ein  Gedicht  wie  ,,Ober  alien  Wip- 
feln  ist  Ruh’“  schwebt  beseligend  iiber 
alien  Tageskampfen.  Die  Kampfe  des 
Tages  sind,  trotzdem,  und  sie  ge- 
stalten  das  leibliche  und  geistige  Leben 
der  Millionen  Menschen,  die  im  selben 
Licht  auf  Mauergeriisten  schwitzen,  in 
dem,  wie  ein  Wunder,  ein  vollkom- 
menes  Gedicht  lerchenhaft  empor- 
steigt,  sich  blutenhaft  entfaltet.  Die 
Literatur  hat  nur  einen  Wert, 
wenn  sie  kampft.  Die  Kunst  ist. 
Bei  den  meisten  Dichtern  — und  bei 
alien  groBen  — finden  wir  sie  beide 
und  konnen  oft  nicht  einmal  ermessen, 
wo  die  eine  aufhort  und  die  andere  be- 
ginnt.  Und  selbst  die  absolute  Kunst 
ist  noch  ein  Kampf  um  Reinigung,  fur 
die  Heiligung  eines  Menschen,  eines 
Gefiihls  — wenn  auch  durchaus  nicht 
Politik.  Hier  waren  naheliegende  Ver- 
wechslungen  von  Obel. 


Qiteratur . 

In  ihrem  Aprilheft  veroffentlicht  die 
Neue  Rundschau  folgende  „Notiz  der 
Redaktion" : 

„I  m Januarheft  der  ,,WeiBen  Blatter** 
sagt  Rene  Schickele  von  dem  Aufsatz 
Otto  Flakes  iiber  „Jiingste  Literatur*, 


178 


Glossen 


der  in  unserm  Septemberheft  1915  er- 
schien,  er  bedeute  die  Ausfuhrung 
eines  redaktionellen  Auftrags,  dessen 
Sinn  nicht  miBzuverstehen  ware.  Will 
Schickele  damit  sagen,  daB  unsere  Re- 
daktion  ein  Interesse  daran  hat,  die 
kritische  Einsicht  eines  Mitarbeiters  in 
irgendeiner  Weise  zu  lenken,  so  ist  das 
eine  ebenso  unsinnige  wie  boswillige 
Behauptung,  fur  die  weder  eine  mate- 
rielle  noch  eine  psychologische  Grund- 
lage  vorhanden  ist.“ 

Was  ich  damit  sagen  wollte,  weiB 
Flake  ebensogut  wie  Professor  Bie. 
Eine  „materielle  Grundlage  flir  meine 
Behauptung4*  besteht  nicht.  Ich  weiB 
es;  und  wenn  ich  es  nicht  wiiBte,  so 
hatte  ich  meinen  Glauben  behalten, 
daB  nicht  alle  Schriftsteller  zu  kaufen 
sind.  Jedoch  die  „ psychologische 
Grundlage**  besteht,  das  weiB  ich 
auch,  und  jeder,  der  einmal  eine  Zei- 
tung  oder  Zeitschrift  herausgegeben 
hat,  kennt  sie.  Es  sei  denn,  er  habe  sich 
als  Kuli  gefiihlt  und  nicht  als  verant- 
wortlichen  Kampfer  flir  die  Sache,  die 
er  fur  die  gute  hielt.  Ich  habe  mich 
gefreut,  daB  immer  mehr  Mitarbeiter 
der  WeiBen  Blatter  in  die  Neue  Rund- 
schau zugelassen  wurden.  Ich  freue 
mich  nicht  mehr,  seitdem  klar  gewor- 
den  ist,  daB  sie  als  die  Mitarbeiter 
einer  Zeitschrift  wirken,  die  kul- 
turelle  und  politische  Ziele  verfolgt,  die 
— und  in  einer  Art,  wie  — diese 
Mitarbeiter  sie  tief  verabscheuen,  was 
ich  oft  genug  von  ihnen  gehort  habe. 

Dies  geht  die  Mitarbeiter  an,  nicht 
die  Redaktion. 

Es  war  in  meiner  Notiz  hauptsach- 
lich  von  Heinrich  Mann  die  Rede.  Die 
Herren  der  ‘Redaction  mogen  etwa  bei 
diese m Einzeifall  eine  Gewissenserfor- 


schung  anstellen.  Da  ich  sie  fiir  Gent- 
lemen halte  — wenn  das  Fremdwort 
erlaubt  ist  — , bin  ich  iiberzeugt,  daB 
sie  von  dem  Ergebnis  nicht  befriedigt 
sein  werden.  Herr  Professor  Bie  fiihlt 
sich  gewiB  wohler,  wenn  er  iiber  Musik 
schreibt,  als  wenn  er  literarische  Ar- 
beiten  priifen  soil,  die  ihm  notwendi- 
gerweise  ebenso  fremd  sind,  wie  ihm 
die  Literatur  am  Herzen  liegt,  die  er 
vor  zwanzig  Jahren  lieben  lernte. 

Vielleicht  schreibe  ich,  fiir  Un- 
wissende,  nicht  deutlich  genug. 

Ich  habe  keine  Lust,  hier  eine  Pole- 
mik  zu  fiihren,  wie  man  sie  in  Zeitun- 
gen  findet,  die  sich,  mit  viel  Pathos  und 
wenig  Stil,  gegen  Dinge  „verwahren“, 
die  teils  nicht  behauptet  wurden,  teils 
offenkundige  Angelegenheiten  sind,  bei 
deren  Erwahnung  die  einen  mit  der 
Achsel  zucken,  wahrend  andere,  die  sie 
nicht  kennen,  Liigen  schlucken. 

Junius  verfaBf  in  der  Neuen  Rund- 
schau die  politische  Chronik.  Im  April- 
heft  iiber  „Tschandalapolitik“.  Gut,  er 
weiB  nicht,  daB  die  Stellung  der  Kauts- 
ky,  Bernstein,  Haase  gegeniiber  dem 
Krieg  ganz  und  gar  nicht  die  der  ,,Zim- 
merwaldler**  ist  und  mit  Marxens  „Ka- 
pital44  wenig,  sehr  viel  aber  mit  den 
politischenTagesschriften  der  fflleister 
zu  tun  hat.  Er  glaubt,  immer  noch,  daB 
diese  Menschen  statt  Blut  marxistische 
Dogmen  in  den  Adern  haben.  Ober- 
legt  sich  kaum,  wieso  es  komme,  daB 
Kautsky  und  Bernstein,  um  nur  die 
beiden  zu  nennen,  heute  zusammen- 
stehen.  Dagegen  stellt  er  seinen  Lesem 
Karl  Renner,  einen  Christlichsozialen 
im  sozialdemokratischen  Lager,  als 
einen  „ausgezeichneten  Wiener  Politi- 
ker  4 vor,  der  „zu  den  feinsten,  kennt- 
nisreichsten,  phantasievollsten  politi- 


I 


Glossen 


schen  Schriftstellem  Osterreichs"  ge- 
hore.  Schriftsteller  wie  Junius  kennen 
die  Menschen  nicht,  iiber  die  sie  ur~ 
teilen,  oder  kennen  sie  nicht  mehr. 
(Wo,  Junius,  ist  heute  Masai  yk,  den 
Sie  mit  keinem  Blick,  in  keiner  Silbe 
verstanden,  als  Sie  ihn  in  Prag  auf- 
suchten  ?)  Sie  verrennen  sich  in  Texjte. 
..Deutsche  Poeten  wie  Heinrich  Mann 
und  deutsche  Politiker  wie  Kautsky", 
schreibt  er,  ..verlieren  die  Besinnung 
und  wiiten  gegen  das  eigene  Blut.  so* 
bald  die  Gegner  die  demo /cr at  is  die 
clKa&ke  vorfia(ten“  Seltsam,  dafi  die 
demokratische  Maske  bei  uns  nicht  in 
Gebrauch  kommt.  Offenbar,  weil  sie 
— wenigstens  vorderhand  — nicht  be- 
notigt  wird  . . . Seltsam,  dafi  er  die 
demokratische  Maske  nicht  wieder- 
erkennt,  obwohl  sie  jahrelang  sein  Ge- 
sicht  war.  Seltsam,  dafi  er  sich  nicht 
an  eine  gewisse,  mit  Granit  ausgelegte 
Stelle  im  Tower  erinnert,  an  das  Unter- 
haus  — und  an  Zabern.  Dafi  er,  der 
sehr  viele  politische  Bucher  gelesen  hat 
und  darunter  vermutlich  auch  das  (vor 
dem  Krieg  erschienene)  von  Revent- 
low,  an  der  Kreuzzeitung,  der  Deut- 
schen  Tageszeitung  und  dem  Dutzend 
anderer  Blatter,  wo  das  eigene  Blut 
gepflegt  wird,  bewundert,  dafi  sie  keine 
demo  krai  iscbe  ffllaske  anlegen,  und 
sich  nicht  besonders  dabei  aufhalt,  dafi 
das  versprochene,  neue  Wahlrecht  fiir 
das  preufiische  Abgeordnetenhaus  trotz 
der  beispiellosen  Anforderungen  an  den 
Mann  der  letzten  Wahlklasse  auf  sich 
warten  lafit.  Er  macht  Kant  ein 
schmeichelhaftes  Kompliment,  das  der 
von  ihm,  in  der  heutigen  Geistesver- 
fassung  seines  Verehrers  Junius,  gewifi 
nicht  verdient  hat,  alldieweil  derselbe 
Kant  wegen  seiner  jafcobinisc/ien  $lei» 


gungen  und  anderer  welscfier  Sym* 
paihien  in  starkem  Verruf  stand.  Er 
lafit  sein  preufiisches  Blut  sprechen, 
heftiger  als  Kant,  er  tumt  sich,  eifriger 
als  der  Poet  Fontane,  in  das  Preufien- 
tum  hinein,  der,  mit  fiinfundsiebzig 
Jahren,  seine  Erfahrungen  in  einem 
Gedicht  zusammenfafite : 

Hundert  Briefe  sind  angekommen, 
Ich  war  vor  Freude  wie  benommen, 
Nur  etwas  verwundert  iiber  die  Namen 
Und  iiber  die  Platze,  woher  sie  kamen. 

Ich  dachte,  von  Eitelkeit  eingesungen : 
Du  bist  der  Mann  der  „Wanderungen“, 
Du  bist  der  Mann  der  markschen  Ge- 
dichte, 

Du  bist  der  Mann  der  markschen  Ge- 
schichte, 

Du  bist  der  Mann  des  alten  Fritzen 
Und  derer,  die  mit  ihm  bei  Tafel  sitzen, 
Einige  plaudernd,  andre  stumm. 

Erst  in  Sanssouci,  dann  in  Elysium ; 
Du  bist  der  Mann  der  Jagow  und  Lo- 
chow, 

Der  Stechow  und  Bredow,  der  Quitzow 
und  Rochow; 

Du  kanntest  keine  grofieren  Meriten 
Als  die  von  Schwerin  und  vom  alten 
Zieten, 

Du  fandest  in  der  Welt  nichts  so  zu 
riihmen 

Als  Oppen  und  Groeben  und  Kracht 
und  Thiimen ; 

An  der  Schlachten  und  meiner  Be- 
geisterung  Spitze 

Marschierten  die  Pfuels  und  Itzenplitze, 
Marschierten  aus  Uckermark,  Havel- 
land,  Barnim 

Die  Ribbecks  und  Kattes,  die  Billow 
und  Arnim, 

Marschierten  die  Treskows  und 
Schlieffen  und  Schlieben  — 


180 


Glossen 


Und  iiber  alle  hab  ich  geschrieben. 
Aber  die  zum  Jubeltag  kamen, 

Das  waren  doch  sehr,  sehr  andre  Na- 
men, 

Auch  tfsans  peur  et  reproche",  ohne 
Furcht  und  Tadel, 

Aber  fast  schon  von  prahistorischem 
Adel : 

Die  auf  „berg“  und  auf  „heim“  sind 
gar  nicht  zu  fassen, 

Sie  stiirmen  ein  in  ganzen  Massen, 
Meyers  kommen  in  Bataillonen, 

Auch  Pollacks  und  die  noch  ostlicher 
wohnen ; 

Abram,  Isack,  Israel, 

Alle  Patriarchen  sind  zur  Stell, 
Stellen  mich  freundlich  an  ihre  Spitze, 
Was  sollen  mir  da  noch  die  Itzenplitze! 
Jedem  bin  ich  was  gewesen, 

Alle  haben  sie  mich  gelesen, 

Alle  kannten  mich  lange  schon, 

Und  das  ist  die  Hauptsache  . . .,  „kom- 
men  Sie,  Cohn/4  S. 

Crosier. 

Ferruccio  Busoni,  welcher  doch  der 
groBte  Musiker  unter  den  heute  Leben- 
den  ist,  wurde  in  dieser  Zeit  fiinf- 
zig  Jahre  alt.  Ich  vermisse  die  Ab- 
ordnung  von  Musikmachenden  der 
ganzen  Erde.  Darunter  die  Abstattung 
groBen  Dankes  durch  die  deutschen 
Musiker,  denen  Busoni  die  Halfte 
seines  Lebens  gewidmet  hat  zur  star- 
keren  Helligkeit  ihrer  Kunst,  zur  Er~ 
innerung  hoheren  Ernstes  und  grofiter 
moralischer  Konzentration.  Vorallem 
den  Dank  der  deutschen  Musikkritiker 
vermisse  ich,  dafiir,  daB  Busoni  un- 
beirrt  blieb  von  zwei  Jahrzehnten  ihrer 
Speikritiken  und  unbeirrt  von  Pro- 
grammusik,  Klavierchaos  und  Mit- 


machertum.  Und  wo  ist  der  Dank 
dafiir?  daB  die  vielen  Freunde  Busonis 
bessere  Musiker  sind,  schlechtere  Bier- 
trinker;  nie  Publikumsreisser  kompo- 
nierten ; daB  er  sie  zu  lebenserfahrenen, 
unterrichteten , reineren  Menschen 
machte!  (Kann  man  denn  im  Ernst  won 
jenen  beliebten  Beethovenstohnem 
sprechen,  die  nach  dem  letzten  Kon- 
zertton  ihrer  Hammerklaviersonate 
nach  Hause  rennen  und  an  Schund- 
opern  schreiben,  in  riidester  Nach- 
kreischung  marktgangiger  Puccini- 
quintenl  Wer  erinnert  sich  nicht  bei 
solchem  geriihmten  Beethovenspieler 
an  den  Ekel  vor  dem  Damenimitator 
des  Vari£t£s,  der  uns  lange  im  Fistelton 
qualte  und  auf  einmal  die  lange  Locken-* 
periicke  herabriB  mit  den  BaBworten: 
„Ich  bin  ein  Mann44.  Aber  auch  die 
Mannlichkeit  war  noch  imitiert.) 

Wo  blieb  der  Dank  an  Busoni  ? 
Oder  verwechselt  man  wieder?  Nimmt 
man  ihn  fiir  einen  Kollegen?  Wirk- 
lich,  Musiker  verdienen  sonst  keinen 
Dank;  im  Cegenteil.  Denn  was  ist 
ein  Musiker  heute?  Ein  Verwirrer. 
Ein  klebriges  Larvenwesen,  das  seine 
Horer  selbst  zu  Larven  macht.  Ein 
Lemurengeschopf,  dem  die  Horer  ihr 
Blut  wohlliistig  in  den  gierigen  Russel 
stromen : dabei  ein  erzdummer  Mensch 
der  seine  Nebenmenschen  verdummt. 
Ein  Schaffer  von  Chaos,  aus  Blut- 
armut.  Wenn  die  Deutschen  nicht 
seit  Generationen  stets  ihre  entschei- 
denden  Momente  an  die  Musik  ver- 
pufft  hatten,  dann  waren  sie  kein  Volk 
von  Isolierten,  von  siebzig  Millionen 
Vereinzelter,  von  politisch  Ahnungs- 
losen.  Aber  jedesmal,  wenn  dieses  Volk 
inspiriert  wird,  vertraumt  es  schnell 
seine  Inspiration  in  der  Verklarung 


Glossen 


von  Or chesfcer lust.  Wenn  es  auf  die  die  drei  Sonnen  hoch  kreisen.  Dabei 
StraBe  soil,  lauft  es  ins  verdunkelte  durch  weite  Abendgarten  auf  felsigen 
Opernhaus.  Wo  anders  lief  man  aus  Terrassen  schweben  immerwahrende 
der  Oper  auf  die  StraBe.  Umsponnen  Monde  iiber  Palmen  aus  lieblich  nie- 
sind  die  Deutschen  von  den  blutigen  kiihlen  Eisblumen:  0 das  himmiische 
Scharpiefetzen  ihrer  Polyphonic,  und  Jerusalem,  gdttliche  Friedensstadt, 
jede  ihrer  Partituren  ist  ein  Spinnen*  dreieiniger  Fugenpsalm  iiber  durch* 
netz,  in  dem  ihnen  der  Wille  immer  scheinenden  Kuppeln  und  lichtstrah* 
betaubender  ausgesaugt  wird.  lenden  Tiirmen ; weissfeurige  Hauser- 

Wie  dankbar  miissen  wir  einem  reihen  riicken  als  Fugenengfiihrung 
Menschen  sein,  der  nicht  von  uns  aneinander  zu  langen  StraBen,  darin 
nimmt,  der  nicht  unsern  Grabgesang  Menschen,  lautes  Getier  und  heilige 
zu  Lebzeiten  anstimmt,  der  nicht  weisse  Engelwesen  schwebend  um- 
feierlich  der  Menge  den  kleinen  Tod  einander  leicht  bewegt.  Flimmernder 
in  derEkstasederVereinzelungerwirkt.  Registerton  des  Klaviers,  der  Sterne 
Wie  dankbar  miissen  wir  ihm  sein,  iiber  die  himmiische  Stadt  streut. 
der  uns  gibt;  der  uns  etwas  baut,  Als  die  Welt  noch  glaubig  war, 
das  wir  noch  nicht  hatten ; der  uns  zeigte  ihr  jeder  Fiihrer  neu  das  himm- 
zu  unsern  Fahigkeiten  aufreiBt;  der  lische  Jerusalem  hoch  oben,  darnach 
uns  — Musik!  — einen  hellen  Stahl-  sie  eifern  und  die  irdischeErde  richten 
stab  ins  Riickenmark  blast.  Wie  dank-  sollten.  Denktauchan  den  MalerGreco. 
bar  miissen  wir  dem  Busoni  sein!  Hohe  Stadte,  hoch  auf  Felsen,  daB  ihr 
Pianist  Busoni:  Mozarts  Don  Gio-  Beschauer  ein  Heiliger  werden  moge. 
vanni,  der  den  Umkreis  der  ganzen  Nie  mehr  vergessen  wir  Busonis  himm- 
Erdkugel  durchrast,  wenn  er  vor  der  lisches  Jerusalem  aus  Musik.  Schop- 
ungeheuersten  Verzweiflung,  vor  den  fung:  Hoch  nach  ihr  hinaufzuleben. 
brennendsten  Atzungen  der  Lebens-  Komponist Busoni:  Die Lunteeiner 
erfahrung  singt:  „Viva  la  Liberta!"  Tonbiegung  glimmt  auf.  Orchester- 
Auf  dem  Bechsteinfliigel  muB  erst  ailes  stimmen  werden  heiB.  Aber  wenn  die 
Leben  gelebt  sein,  das  menschliches  Explosion  kommt,  wenn  unsere  Ir- 
Ohr,  menschlicher  Mund,  mensch-  dischkeit  sausend  zerstiebt,  fliegen  wir 
liche  Haut  ertragen  kann.  Dann  kame  mit  hinaus  in  die  leuchtenden  Riesen- 
die  Katastrophe.  Aber  dieser  Don  prarien  des  Weltraumes.  Griinhelle 
Giovanni  singt:  Freiheit!  Aus  unseren  Urwalder  lichtraketend  um  gezackte 
Umarmungen,  aus  der  Versunkenheit  wilde  Riesenpflanzen  schieBen  auf, 
in  die  Welt,  iiber  dem  seligen  Schwim-  schwimmen  dunstleuchtend  ins  Weite, 
men  in  der  spriihenden  lichten  Welt  ballen  sich  zum  fernen  Stern  klein 
schwingt  sich  das  Himmelsgewolbe  zusammen.  Abendhimmel,  blauer  als 
„Freiheit“,  der  Geist  iiber  uns,  nach  es  Blau  gibt.  Sterne  spiegeln  sich  in 
dem  wir  handeln.  Ba  Biberih  erhebt  den  groBen  Glaskugeln  des  machtigen 
aus  dem  Klavier  Bachs  Orgelwerk  der  dunklen  Gartens  um  uns.  Rote  Flam- 
Tripelfuge  in  Es  zu  einer  ungeheuren  men  spielen  hoch  auf  griinerem  Rasen, 
neuen  Stadt  aus  hellen  Kristallen,  um  alsGriines  wachsen  kann.  Hier  springt 


182 


Glossen 


einer  um  die  Flammen,  eine  Glas- 
kugei  tanzt  auf  seinem  Arm.  Das  rote 
Feuer  flammt  zuriick  aus  dem  Ball, 
die  rund  gebogene  Sonne  tanzt  bunt 
spiegelnd  in  seinen  Handen,  die  Kugei 
lauft  schimmernd  iiber  seine  Arme, 
hiipfend  iiber  die  gebuckten  Schultern 
im  Flammenschein,  wirbelnd  um  sei~ 
nen  Kopf.  Sie  lauft  heiterer  als  un- 
sere Planetenerde  im  Weltraum,  sie 
schwingt  leichter  als  unsere  Erde,  sie 
ist  bunter  als  unsere  Erde.  Wir  — 
erstaunt,  jenseits  uns:  ganz  kleinl 
auBer  uns,  unendlich  leicht  geworden 
— Hinauf , hiniiber,  Kreise,  schwebend 
im  Sprung  — wir  schwingen  mit ! Wir 
werden  nie  mehr  vergessen:  so  eine 
Schwebschimmerkugel  kann  unsere 
Welt  sein.  — Entriickung  ? Versinken  ? 
Mystischer  Tod  in  Seligkeit?  0 nein! 
eine  Menschenstimme  fliegt  wie 
Schellengeklirr  hinauf,  Gelachtersang 
umkreist  wie  ein  klatschender  Lasso- 
wurf  den  springenden  Glanzplaneten, 
nun  sinkt  er,  die  bunte  Kugei  schwebt 
ab  warts.  Der  Abendgarten  schliipft 
ins  Pianissimo,  wedelnde  Riesenbaume 
verfloten  ihr  Griin  ins  versickernde 
Feuer,  unser  Blut  fallt  wieder  und 
Id  op  ft  durch  unsere  Adern.  Mitten  im 
eckigen  Konzertsaal,  an  roten  Pliisch- 
rampen  unter  gelben  Lampenlichtern ; 
zwischen  bebenden  Frauen,  vergnti- 
gungssiichtigen  Passanten,  befrem- 
deten  Klavierlehrern,  mitten  im  heiBen 
Saal  wissen  wir  auf  einmal,  wie  unsere 
Erde  sein  konnte:  spiegelnd  hell, 
schwebend  leicht!  0 Trost,  da  wir 


Trost  brauchen!  Trost,  der  fur  uns 
erfunden,  fur  uns  aufgebaut  wurde! 
Aus  Tonen  schuf  er  uns  die  leucht- 
farbenen  Garten,  die  mutig  hellen 
Gestalten,  die  schimmernd  schweben- 
den  Stadte  einer  Welt,  die  wir  einst 
ahnten,  als  wir  ins  Leben  traten. 
Nun  sehen  wir  sie  wirldich  und 
werden  ewig  unser  Leben  darauf 
bauen.  Nun  werden  wir  unsere  Welt 
zu  dieser  Welt  machen ! 

0 Schopfung  des  Menschen : Trost, 
daB  noch  Schopfung  ist. 

Jetzt  erst  sehen  wir  ganz,  wer  zu 
uns  gehort,  jetzt  erst  im  Kriege,  wo 
endgliltig  und  unumstoBlich  sich  ent- 
hiillt,  wer  uns  aufrichtet,  uns  heilt, 
uns  hilft.  Nun  die  ungeheure  Kreis- 
sage  des  Kriegs  sausend  wie  stahlblau 
einsamer  Himmel  die  Erdkugel  Bach 
schneidet;  in  dieser  Nacht  der  Angst 
bleiben  ein  Paar  Menschen  aufrecht, 
wie  einsame  Baume  nach  den  Zer- 
storungen,  beleuchtet  vom  Schein 
brennender  Stadte.  Wer  dem  Riesen- 
pfeifen  der  Katastrophe  nicht  nach- 
lauft,  wer  den  schrillen  schwirrenden 
Umlauf  der  Gigantenmesser  nicht  mit- 
macht,  der  kann  unser  Arzt  sein.  Urtd 
ist  er  mehr,  ist  er  ein  Schdpfer,  so 
wird  er  uns  fiihren.  Aber  da  zu  sein 
in  dieser  Zeit,  iiberhaupt  fiir  uns  zu 
existieren:  dieser  Schdpfer  ist  uns  das 
Herrlichste,  was  wir  heute  denken 
konnen,  er  ist  unser  Trdster. 

Gruss  an  den  Troster  Busoni! 

Er  wohnt  in  der  Schweiz,  dem  ru- 
henden  Achsenpunkt  der  Erde.  £.  *R . 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


183 


FRIEDRICH  HOLDERLIN 


IN  SEINEN  GEDICHTEN 


EIN  VORTRAG.* 

1V/|  AN  hat,  und  nicht  ohneGrund,  in  der  Ietzten  Zeit  mit  stei- 
* * * gendem  Ernst  Friedrich  Holderlin  mit  Friedrich  Nietzsche 
zusammengestellt ; in  der  Tat  mahnen  uns  Worte,  Gedanken 
und  Stimmungen  Holderlins,  wenn  er  seine  Anschauung  vom 
Griechentum,  von  der  Tragik,  vom  Orgiastisch-Asiatischen  und 
Dionysischen  aufiert,  immer  wieder  nah  genug  an  Nietzsche, 
wie  er  sich  mit  ihm  in  Ietzten  Gedanken  und  Zielen  zu  treffen 
scheint.  Nur  dafi,  wenn  zwei  dasselbe  denken,  fiihlen,  wollen 
oder  tun,  es  nicht  dasselbe  ist.  Leibnitzens  Prinzip,  dafi  alles 
Ununterscheidbare  identisch  ist,  lafit  sich,  zumal  fiir  den  Geist, 
auch  so  aussprechen,  dafi  es  Gleiche  nicht  gibt,  in  keinerlei  Mehr- 
zahl : gleich  ist  eins.  Und  so  sind,  wenn  man  naher  zusieht,  Hol- 
derlin und  Nietzsche  vollendete  Beispiele  nicht  blofietwa  fiir  Ton- 
ungen  des  Gleichen,  sondern  fiir  entgegengesetzteTypen  in  dem 
einen  Kampf  des  geistigen  Menschen  mit  der  gesunkenen  Zeit. 

Wir  haben  von  Nietzsche  das  Wort:  „Ihr  seht  nach  oben, 
wenn  ihr  nach  Erhebung  verlangt.  Und  ich  sehe  hinab,  weil 
ich  erhoben  bin.4*  Schon;  aber  sehen  wir  immerhin  naher  zu. 
Wer  hinab  sieht,  nicht  blofi  wie  die  schenkende  Sonne,  sondern 
auf  Niederungen,  wie  einer  der  sie  gut,  allzu  gut  kennt,  mit 
Hochmut,Verachtung,Gereiztheit,dermuBerst  hinaufgekommen 
sein.  Fiihlt  sich  Nietzsche  auf  seiner  Hohe  als  ein  Gott,  so 
wirkt  er  doch  immer  als  dieu  parvenu. 

* Gehalten  am  13.  Marz  1916  in  Berlin,  inner halb  einet  Zuaammenhanges  von  zehn  Vor- 
tragen,  die  alle  um  cine  Mitte  sich  bewegten : „Himmlische  und  irdische  Liebe  in  Dichtungen 
Goethe*  und  der  Romantiker44. 


1 84  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


Er  ist  nicht  von  oben,  ein  Seliger,  sondern  er  ist  ein  titanisch 
Ringender,  durch  Kraft  — des  Flugs,  des  Schwungs,  des  Pump- 
werks  — hinaufgekommen. 

Bedienen  wir  uns  hier,  fur  dieses  Wesen  und  seinen  Gegen- 
satz,  zweier  Ausdriicke  in  einer  spezifischen  Bedeutung : Kraft 
und  Natur. 

Friedrich  Nietzsche  eben,  mochte  er  es  wahrhaben  wollen  oder 
nicht,  ist,  so  gut  wie  Schiller  und  so  gut  wie  der  junge,  noch 
nicht  zu  sich  gekommene  und  vollendete  Holderlin,  eine  Kraft. 
Ja,  wir  konnten,  wenn  hier  nur  die  Gelegenheit  ware,  zeigen, 
daB,  wie  Holderlin  von  imitierter,  bei  Schubart  und  Schiller  ge- 
borgter  Kraft  zuoriginaler  Natur  gelangt  ist,  umgekehrt  Nietzsche 
in  seiner  ersten  schonen  Jiinglingszeit  eine  Natur  gewesen  ist, 
von  einer  sanften,  in  Reichtum  stillen  gesattigten  Reife  wenn 
nicht  erfiillt,  so  doch  wundervoll  warm  und  echt  umschienen, 
und  dafi  erst  nach  dieser  Friihperiode,  wie  verspatet,  so  etwas 
wie  Kampf  und  Garung  der  Jugend  iiber  ihn  kam  und  einen 
andern,  einen  Reprasentanten  der  Kraft  aus  ihm  machte. 

Kennzeichen  der  Kraft  ist  die  Steigerung,  die  Anschwellung, 
die  Tendenz  nach  oben,  wie  beim  Springbrunnen  oder  dem 
durch  das  Pumpwerk  des  Herzens  bewirkten  und  unterhaltenen 
Kreislauf  des  Blutes. 

Man  achte  auf  die  sprachliche  Form  in  Nietzsches  Schriften : 
ruhig,  sanft,  ausholend,  abwartend,  verhalten  fangen  die  Pe- 
rioden  oft  an ; treiben  sich  selbst  weiter,  bis  zur  Glut  und  Siede- 
hitze  oder  Scharfe  und  Bosheit ; und  enden  im  Ausrufezeichen 
oder  einer  raffiniert  geschliffenen  und  zugespitzten  Frage. 

Die  Kraft  muB  selbstbewuBt  sein,  sich  selbst  antreiben,  ist 
wenigerein  Stern  als  eine  Rakete.die  ihren  leuchtenden  Schweif 
— nicht  ohne  Selbstgefalligkeit  — hinter  sich  herzieht.  Die 
Kraft  ist  zugleich  die  Maschine  und  das  Werk  der  Maschine. 
Weil  sie  so  furchtbar,  mit  so  starker  Energie  arbeitet,  wird  sie 
geneigt  sein,  alles  sich  selber  zuzuschreiben,  Selbst  vergotterung 
zu  treiben,  Andacht,  Bescheidung,  Einordnung  nicht  zu  kennen 
oder  zu  verachten. 


:/ 


<•  "V 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  H older Un  1 8$ 


+ ~T  * ^ ^ ^ ^ 


Die  ihrer  selbst  bewufite  Kraft,  die  in  genialen  Exemplaren 
immer  wieder  Hemmungen  in  ihr  Triebwerk  einschaltet,  wird 
aber  manchmal  so  sehr  der  Selbstbeobachtung  fahig  sein,  daB 
es  ihrem  von  alliiberallher  genahrten  Talent  gelingt,  die  Spuren 
des  eigenen  Wesens  zu  verstecken  und  in  feiner  Kunst  und 
groBer  Art  eine  Nachahmung  der  Natur  zu  treiben. 

So  lange  es  geht.  Wird  der  Tragerdieser  Kraft  irrsinnig,  dann 
wird  er  hemmungslos  dem  erhabenen  Wahn,  dem  GroBenwahn 
verfallen  und  etwa  sich  mit  dem  Gegenstand  seines  hoch- 
sten  und  ach,  immer  so  entfernten  Strebens,  seiner  gliihendsten 
und  erzwungensten  Verehrung  identifizieren,  wird  sich  fur  Dio- 
nysos oder  Napoleon  halten.  Geht  es  dann  doch  — endlich  — 
mit  ihm  den  Weg,  den  der  wahrhaft  selige  Geist,  die  Natur, 
schon  immer  genommen  hat,  namlich  abwarts,  dann  nur  so,  daB 
der  letzte  Rest  seiner  Geistnatur,  die  organisierende  Funktions- 
Icraft  seines  Damon  verloren  geht:  er  ist  nur  noch  ein  geistloses 
brutum,  ein  rohes,  sprachloses  Stuck  Natur. 

Holderlin  aber  ist  nicht  eine  kiinstliche,  pulsierende  Kraft, 
sondem  eine  Natur.  Fliegt  einer  wie  Nietzsche,  so  muB  er  die 
Schwere  durch  fortwahrende,  rastlose,  selbsterzeugte  Bewegung 
iiberwinden ; einer  wie  Holderlin  fliegt  um  seiner  spezifischen, 
aetherischen  Leichtigkeit  willen. 

Wolle  man  nur,  was  nun  gesagt  wird,  nicht  als  naturwissen- 
schaftliche  Sacherklarung  nehmen,  nicht  pressen ; von  der  all- 
gemeinen  Natur,  die  uns  drauBen  unermeBlich  und  unergriind- 
lich  umgibt,  wird  hier  so  geredet,  wie  sie  uns  erscheint,  wie 
sie  uns  ein  Gleichnis  dessen  gewahrt,  was  unter  geistigen 
Menschen  in  dem  besondern  Sinne  eine  Natur  genannt  sei. 

In  unsrer  Welt,  wo  allein  wir  Wesen  und  Leben  kennen, 
scheint,  wie  es  Mose  Schopfungsgeschichte  und  das  Johannis- 
evangelium  an  den  Beginn  ihrer  Lehrerzahlung  stellen,  das  voile 
Schopfungsprinzip  gesammelt  im  Anfang  beisammen  zu  sein. 
Da  ist  die  Natur  eine  Entbindung  gesammelter  Kraft,  ein  Los- 
losen,  Erlosen,  immer  aus  dem  Ganzen  zu  den  Teilen  hinaus, 
aus  dem  Brennpunkt  in  die  Zerstreuung;  von  einer  riicklaufigen 
Bewegung  aber  wissen  wir  in  dieser  unsrer  Welt  nichts.  Die 


1 86  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


Natur  geht  von  der  keimenden  Kindheit,  in  der  alles  beschlossen 
liegt,  ins  Alter ; das  Alter  aber  kann  nicbt  sich  unmittelbar  wieder 
in  der  Kindheit  tauchend  erneuen,  sondern  muB  erst  im  Tod 
vollig  verschwinden  und  in  Erwartung  neu  an  sich  reiBender 
und  bindender  Gestaltungskraft  elementar  werden.  Die  Natur 
beeifert  sich,  alle  Bewegung  in  Warme  zu  verwandeln,  keines- 
wegs  aber  alle  Warme  in  Bewegung ; die  Umwandlung  vielmehr 
gerade  der  natiirlichen Warme  in  pulsierende,  rennende,  schieBen- 
de,  drehende  Bewegung  kommt  uns  wie  eine  maschinelle,  durch 
vermittelnd  angesetzte  Kraft  bewerkstelligte  Kiinstlichkeit  vor. 
Die  Natur  vielmehr  macht  aus  Warme  Kalte  im  unendlichen 
Raum,  die  wir  nicht  mehr  gem  als  einen  Grad  der  Warme, 
sondern  als  so  etwas  wie  nichts  auffassen  wollen.  In  der  Natur 
waltetdasPrinzipderAbwartsbewegung,  desVersinkens,  Fallens, 
freien  Hergebens.  Die  schiefe  Ebene,  die  Fliisse,  das  Licht  der 
Gestirne  sind  uns  das  Natiirliche,  das  Fraglose,  das  Selbstver- 
standliche.  Fiir  jede  Aufwartsbewegung,  jedes  Geschossensein 
suchen  wir  eine  Kraft  als  Ursache;  daB  der  schwere  Korper, 
der  in  Hybris,  in  Ubermut,  sich  hochschleuderte,  nach  diesem 
Anfang  einer  Hyperbel,  einer  Auftreibung  und  Ubertreibung, 
in  sanfter,  rundlicher  Bahn  wieder  abwarts  muB,  dafiir  suchen 
wir  kemen  Grand.  Daram  geht  es  auch  in  der  Natur  nur  laut 
zu,  wo  das  natiirliche  Gleiten  oder  Schweben  durch  widrige 
Krafte  gehemmt  wird;  das  Licht,  die  Farben,  der  Chemismus, 
aus  dem  Flachen  und  Korper  in  der  unendlichen  Manmgfaltig- 
keit  der  Eigenschaften  wachsen,  die  Diifte,  die  Warme,  all  alles 
ist  da  stille  Bewegtheit ; und  selbst  eine  stille,  nicht  brodelnde 
Glut  kennen  wir  gar  gut.  Die  BegrifTe,  in  denen  sich  unsere 
auBere  und  dann  innere  Welt  erbaut,  gehen  in  allem  Substan- 
tiellen  auf  den  schweigenden  Gesichtssinn  zuriick;  die  von  der 
Kraft  des  Menschengeistes  gemachte  Sprache  bedarf  der  Ge- 
rausche,  auf  daB  wir,  wahrend  wir  Zeichen  machen  und  emp- 
fangen.  mit  Sinn  und  Tat  in  der  Natur  bleiben;  die  Sprache 
der  Natur  ist  stumm.  GroBter  Reichtum  unsres  Geistes  die 
Musik;  groBte  Armut  der  Natur  ihre  Tone;  groBte  Wonne  fiir 
uns  ihre  Stille.  Wir  lauten,  immerzu  Kraft  anwendenden  Stadter 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


187 


kennen  nichts  Kostlicheres  als  die  ganz  positiv  anmutende  Ruhe 
undsanfte GleichmaBigkeit  der  Natur  auch  in  lhren  Bewegungen. 

Die  wundersamste  Erfindung  des  Menschengeistes,  iiber  die 
wir  in  immer  emeuter  Freude  staunen,  ist  die  Elektrizitat,  mit 
der  wir  unsre  eigene  und  der  gehemmten  Natur  larmende 
schiefiende  Kraft  wieder  in  eine  schweigend  gesammelte  Natur- 
potenz  aufspeichern  und  in  edler  Stille  fortpflanzen.  Die  Aus- 
nahmen  in  der  Natur,  wie  Gewitter  und  Eruptionen,  werden 
sehr  Iebhaft  als  Ausnahmen,  als  eine  Art  Knalleffekte  und  Feuer- 
werke  der  Natur  empfunden,  und  unsre  Empfindungen  dabei 
sind  schreckhaft  oder  forciert,  auch  wenn  uns  keine  Gefahr  droht. 

Als  eine  Natur  steht  Friedrich  Holderlin  in  der  natiirlichen 
Welt.  Das  Bild,  das  er  immer  wieder  selbst  fur  sich  fand,  ist 
das  des  fliefienden  Wassers,  des  rinnenden  Ljchtes.  Das  Gesetz 
des  Hinab  waltet  iiber  seinem  Leben  wie  in  dem  Stil  seiner 
Dichtungen. 

Geist  in  Natur  zu  verwandeln,  ist  das  Schwerste;  und  nun  gar 
in  solchen  Zeiten  wie  den  seinen,  die  die  unsern  sind ! Holderlins 
Leiblichkeit  hielt  nicht  lange  aus,  was  Geist  und  mit  ihm  feind- 
lich  verbiindetes  Schicksal  ihr  zumuteten.  Als  dann  aber  der 
Organismus  zusammenschnurrte  wie  erne  Feder,  die  iiberzogen 
wird,  blieb  ihm  das  Werkzeug,  mit  dem  sein  Geist  sich  zur 
Natur  gemacht  hatte,  die  Sprache,  nicht  nur  fur  die  Inhalte 
des  Alltags,  sondem  auch  in  der  hoheren  Potenz  der  sanften 
rhythmischen  Form  erhalten ; von  der  Hohe  seines  selig  akzep- 
tierten  Leids  und  seiner  gefafiten,  schwebenden  Mannhchkeit 
glitt  er  nach  kurzem  Krampf  hinab  und  lebte  bis  ms  Greisen- 
alter  als  Dichterkind,  als  Traum  und  Form  ohne  Kraft  der  Ge- 
staltung  und  Behauptung  und  ohne  andern  Inhalt  als  den  des 
etwas  pflanzenhaft  gewordenen  Tierchens. 

Die  Zeit  aber  zwischen  dem  ersten  Wahnsinnsanfall,  den  er 
noch  einmal  iiberstand,  und  der  endgiltigen  Kiindigung  des 
Dienstverhaltnisses  zwischen  Korper  und  Geist  ist  die  kurze 
Spanne,  in  der  Holderlins  gemales  Naturwesen  in  vollendeter 
Reife  ihren  schonsten  Ausdruck  fand.  Da  hat  er  die  Dithyramben, 
die  Hymnen  gedichtet,  die  wir,  solange  man  uns  nicht  beweist, 


1 88  Gustav  Londoner  * Friedrich  H older Un 


daB  die  Beziehung  false h ist,  nach  einem  Ausdruck,  den  wir  in 
seinen  Brief en  finden,  Nachtgesange  nennen,  sechs  an  der  Zahl. 
Nie  hat  es  einen  so  stillen  Rausch  gegeben  wie  in  diesen  Wei  he - 
gesangen,  die  wahrhaft  von  oben  hemieder  zu  gehen  scheinen ; 
nie  ist  das  Gewaltige,  Kosmische,  der  grauen-  und  freuden- 
reiche  Verkehr  von  Gott  und  Welt  so  von  mildem  Stemenlicht 
uberschimmert  worden . 

Den  hochsten  Ausdruck,  meine  ich,  fand  sein  Wesen  in  dem 
Hymnus : „Der  Rhein“ ; ich  mochte  ihn  eher  einen  Abendgesang 
als  einen  Nachtgesang  nennen.  Da  merken  wir:  wie  er  gesam- 
melte,  ungeheuer  zusammengedrangte  Kraft  ist,  die  wohl  platzen 
und  gischten  wiirde,  wenn  sie  nicht  hinabfiieBen  konnte.  Aber 
in  allem  Beginn  schon  ist  sie  oben  und  beisammen ; wie  sie 
einst  hinaufkam,  bleibt  das  schicksals-  und  leidvolle  Geheimnis 
des  Dichters,  das  ihn  eint  mit  seiner  Mutter,  der  Natur,  und 
seinem  Vater,  dem  Geist. 

So  wie  er  in  die  Erscheinung  tritt,  ist  dieser  Geist  in  Ur- 
sprung  und  Wesen  so  oben,  daB  ihm  nur  ein  Weg  offen  ist,  der 
Konigs-  und  Meisterweg:  Resignation. 

Im  dunkeln  Efeu  saB  ich,  an  der  Pforte 
Des  Waldes,  eben  da  der  goldene  Mittag, 

Den  Quell  besuchend,  herunterkam 
Von  Treppen  des  Alpengebirgs  . . . 

Jetzt  aber,  drin  im  Gebirg, 

Tief  unter  den  silbemen  Gipfeln, 

Und  unter  frohlichem  Griin, 

Wo  die  Walder  schauemd  zu  ihm 

Und  der  Felsen  Haupter  iibereinander 

Hinabschaun,  taglang  dort 

Im  kaltesten  Abgrund  hort 

Ich  um  Erlosung  jammern 

Den  J tingling.  Els  horten  ihn,  wie  er  tobt 

Und  die  Mutter  Erd  anklagt, 

Und  den  Donnerer,  der  ihn  gezeuget, 

Erbarmend  die  Eltem ; doch 
Die  Sterblichen  flohn  von  dem  Ort, 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


189 

Denn  furchtbar  war,  da  lichtlos  er 
In  den  Fesseln  sich  walzte, 

Das  Rasen  des  Halbgotts  . . . 

Da  war  dem  Genius,  der  nichts  wollte,  als  frei,  seiner  innern 
Natur  nach,  sein  Wesen  hergeben,  die  Hemmung  der  Welt  ent- 
gegengetreten . 

Achten  wir  gleich,  ehe  wir  weiter  sehen,  was  aus  dieser  Be- 
gegnung  wird,  auf  ein  Kennzeichen  dieses  Dichters  und  dieser 
Gesange.  Immer  werden  ihm  die  Naturvorgange  zum  Mythos, 
zum  Gleichnis  hohen  Menschenschicksals ; aber  nie  weicht  er 
aus  dem  Bezirk  der  Natur  zur  Allegorie  und  nie  auch  zur 
epischen  Fabeldichtung  mit  Ausschmiickungen  selbstandiger 
Erfindung;  jedes  Bild  bezieht  sich  auf  die  urspriingliche 
Naturerscheinung.  Er  personifiziert  nicht  den  Rhein  und  er- 
findet  ihm  Eltem.  Im  Schicksal  des  wirklichen  Rheins  erleben 
wir  das  Los  des  Genius ; Natur  und  Geist  sind  ungetrennt ; 
seine  Eltem  sind  die  natiirlichen,  die  Mutter  die  Erde,  der  Vater 
„der  Donnerer,  der  ihn  gezeugt“,  das  Gewolk,  die  hohe  Samm- 
lung  der  aufdunstenden  und  hinabtropfenden  Gewasser  der 
Erde.  Wohl  aber  ist  es  die  Art  besonders  dieser  spaten  Gesange 
Holderlins,  wie  schon  der  friihem,  deren  Gewand  gebundenere 
Form  ist,  daB,  geleitet  von  der  Ideenassoziation,  immer  wieder 
Abschnitte,  Seitenbewegungen  kommen,  in  denen  andere  Bei- 
spiele,  andere  Lebensvorgange  aus  andem  Bereichen  denselben 
Zusammenhang  der  Erfahrung  im  Verkehr  zwischen  Geist  und 
Welt  dartun. 

Mit  was  fiir  kiihnen  Planen  wollte  der  Genius  sich  in  die 
Welt  ergieBen: 

Die  Stimme  wars  des  edelsten  der  Strome, 

Des  freigebornen  Rheins, 

Und  anderes  hoffte  der,  als  droben  von  den  Briidem, 
Dem  Tessin  und  dem  Rhodanus, 

Er  schied  und  wandern  wollt,  und  ungeduldig  ihn 
Nach  Asia  trieb  die  konigliche  Seele. 

Nach  Asia  der  Rhein!  Nichts  Geringeres  . . . Wir  sind  noch 
ganz  im  Naturmoglichen ; ganz  mit  dem  wirklichen  Geist  des 


38  Vol.  Gl/1 


1 90  Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 

Rheins  haben  wir  bei  dieser  kiihnen  Stelle  mitzufuhlen.  Erleben 
wir  nur  die  Einengungen  der  Gebirgsziige  und  die  seltsamen 
Wasserscheiden  im  Gebiet  des  jungen  Rheins,  so  verstehen  wir 
die  Phantasie  des  Dichters,  der  im  urspriinglichen  Drang  des 
Flusses  den  Weg  der  Donau  spiirt ; denn  wie  sollte  je  — wir 
horen  gleich  davon  — der  wirldiche  Weg  des  GroBen  so  aus- 
sehen  wie  die  Sucht  und  Idee  des  Beginns ! Wir  diirfen  sogar, 
wenn  wir  uns  an  eine  Stelle  in  einem  andern  Gedicht  Holder- 
lins  erinnem,  noch  weiter  gehen  in  der  wortlichen  Auffassung 
dieses  Bildes : in  seiner  schwabischen  Heimat  scheinen  zu  Hol- 
derlin Geriichte  gedrungen  zu  sein  von  einem  seltsamen  unter- 
irdischen  Versickerungs-  und  Austauschverhaltnis  zwischen  den 
Gewassem,  die  der  Nordsee  und  denen,  die  dem  Schwarzen 
Meere  zufliefien.  So  darf  sich  Holderlin  auch  in  diesem  beson- 
deren  als  einen  Bruder  des  deutschen  Stromes  empfinden : auch 
er  spiirt  unverlierbar  einen  Urwunsch  in  der  Seele,  kein  Deut- 
scher,  kein  Abendlander  und  kein  Genosse  gesunkener  Zeit  zu 
sein,  sondem  eher  ein  mit  Seligkeiten  beladener  iiberschaumen- 
der  Gefolgsmann  des  Dionysos  an  den  Ufem  des  Indus. 

Resignation  aber  vor  dem  unnennbaren  Schicksal  muB  sem, 
nicht  weil  der  Mann  kleiner  ist,  als  das  Bild  und  der  Wunsch, 
die  in  der  Seele  leben,  sondern  eben  um  der  GroBe  und  der 
innern  Gewalt  willen.  Die  GroBten  sind  die,  die  am  tiefsten 
ihr  Wesen,  das  feststeht  einmal  fiir  alle  und  durch  nichts  zu 
andern  ist,  am  wenigsten  aber  den  Weg  zu  der  Erfiillung  dieses 
Wesens  kennen,  die  ihnen  die  Gotter  zum  Los  geben : 

Doch  unverstandig  ist 

Das  Wiinschen  vor  dem  Schicksal. 

Die  Blindesten  aber 

Sind  Gottersohne,  denn  es  kennet  der  Mensch 
Sein  Haus,  und  dem  Tier  ward,  wo 
Es  bauen  solle,  doch  jenen  ist 
Der  Fehl,  daB  sie  nicht  wissen,  wohin? 

In  die  unerfahrne  Seele  gegeben. 

Dieses  beides  gehort  zusammen,  und  keiner,  dessen  Thema 
dieses  Verhaltnis  des  Geistigen  zur  Welt  war,  nicht  Goethe, 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Hdlderlin 


191 


nicht  Fichte,  nicht  Jean  Paul,  nicht  Nietzsche  und  nicht  Spit- 
teler  haben  dieses  Zusammen  in  so  leuchtender  Ergebenheit 
akzeptiert  wie  Hdlderlin,  in  einer  Gleichzeitigkeit,  mochte  man 
sagen,  von  tiefer  Beugung  vor  den  Gottern  und  aufrechtem  Stolz 
vor  den  Menschen : die  UngewiBheit  des  Wegs,  die  Preisgebung 
vor  der  Bahn  und  aber  die  unentrinnbare  Bestimmung  und 
Bestimmtheit  des  Wesens  gerade  beim  Genius.  Davon  horen 
wir  in  Wendungen,  wie  sie  spater  sehr  ahnlich  Goethe  in  den 
Orphischen  Urworten  gebrauchen  wird: 

Ein  Ratsel  ist  Reinentsprungenes.  Auch 
Der  Gesang  kaum  darf  es  enthiillen.  Denn 
Wie  du  anfingst,  wirst  du  bleiben. 

So  viel  auch  wirket  die  Not 
Und  die  Zucht ; das  meiste  namlich 
Vermag  die  Geburt 
Und  der  Lichtstrahl,  der 
Dem  Neugebornen  begegnet. 

Was  aber  tate  denn  der  gotterfiillte  trunkene  Gewaltige, 
wenn  es  ihm  gegonnt  ware,  sein  Wesen  ohne  Hemmung  los- 
lassen  zu  konnen?  Es  ginge  wierasend,  unaufhaltsam,  nach  dem 
grofien  Fallgesetz  des  Geistes  wie  der  Natur,  hinab,  immer 
geradlinig  steil  hinab,  dem  Ziel  zu : das  Ziel  aber  ist,  die  Sprachen 
wissen  es,  das  Ende. 

Ein  Gott  will  aber  sparen  den  Sohnen 
Das  eilende  Leben  . . . 

Und  darum  die  Hemmungen  ; und  aus  dem  Zusammentreffen 
mit  ihnen  das  Brausen  und  Schaumen  des  Jiinglings.  Ist  das 
aber  iiberstanden,  dann  kommt  — Holderlin  weiB  es  und  hat 
es  im  Innern  voraus  erlebt,  der  Entbehrende,  wie  es  Goethe 
wuBte  und  erleben  durfte,  der  Gesunde  — , dann  kommt  die 

die  ganz  anders  aussieht 
als  die  Kindertraume  des  Blinden,  Dumpfen,  Geladenen,  Ratsel- 
vollen,  und  die  doch  ganz  seine  Art  zum  Ausdruck  bringt.  Hier 
ergreift  uns  nun,  von  dem  Ton  her,  den  Hdlderlin  aus  dem 
Wissen  von  sich  und  seinem  Ergehen  holt,  und  aus  der  Begeg- 
nung  dieses  leidgesattigten  Frohsinns  des  Dichters  mit  unserm 


Besanftigung,  die  stille  tatige  Arbeit, 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


192 

Wissen  von  seinem  Schicksal,  eine  unnennbar  heiiige  innige  Riih- 
rung  beim  Anblick  dieses  sehr  Starken,  der  sich  sehr  fiigen  will : 

In  solcher  Esse  wird  dann 
Auch  alles  Lautre  geschmiedet,  — 

Und  schon  ists,  wie  er  drauf, 

Nachdem  er  die  Berge  verlassen, 

Stillwandelnd  sich  im  deutschen  Lande 

Begniiget  und  das  Sehnen  stillt 

Im  guten  Geschafte,  wenn  er  das  Land  baut, 

Der  Vater  Rhein,  und  liebe  Kinder  nahrt 
In  Stadten,  die  er  gegriindet. 

Ein  Philister  aber  wird  er  nicht.  Lebendig  gleitet  durch  diese 
schone  gedeihliche  Tatigkeit  all  die  Warme  und  das  Himmels- 
licht  seines  Wesens ; und auf  ihn  soils  nicht  ankommen,  sokann, 
wenns  sein  mu6,  auch  das  Titanische  wieder  hervorbrechen . 
Jugend,  solange  das  Leben  wahrt,  ist  das  Zeichen  des  Erwahlten : 

Doch  nimmer,  nimmer  vergiBt  ers. 

Denn  eher  mufi  die  Wohnung  vergehn 
Und  die  Satzung,  und  zum  Unbild  werden 
Der  Tag  der  Menschen,  ehe  vergessen 
Ein  Solcher  diirfte  den  Ursprung 
Und  die  reine  Stimme  der  Jugend. 

Wir  horchen  auf  bei  diesen  Klangen.  Hart,  sachlich,  kurz, 
wie  das  unerbittliche  Verdikt  eines  Gottes,  mit  drohnender 
Drohung  wird  es  verkiindet ; wenns  sein  mufi,  auch  der  HaB, 
er  horet  nimmer  auf.  DaB  diese  Harte,  in  Worten,  die  nicht  an- 
ders  sein  konnen  als  sie  sind,  in  Worten,  die  wie  nichts  anderes 
in  der  deutschen  Sprache  in  alter  Originalitat  an  die  judischen 
Propheten  erinnern,  neben  der  Weichheit  und  Zartheit  aus 
Holderlin  herauskommt  und  daB  nichts  Mythologisches  sich 
darin  ankiindigt,  nichts  irgend  alexandrinisch  oder  archaisch 
Eingekleidetes,  sondern  ein  Zustand  unsrer  Zeit,  das  ist  ein 
iiberwaltigend  GroBes  in  diesem  Holderlin  der  letzten  Hohe. 

Wie  denn  ist  der  Titanismus,  die  Rebellion,  die  aufwarts 
schieBende,  den  Himmel  stiirmende  Kraft  unter  den  Menschen 
entstanden  ? Der  Dichter  gibt  uns  Antwort  in  Gestalt  einer  Frage : 


Gustav  Landaucr  ♦ Friedrich  Holderlin  1 93 

Wer  war  es,  der  zuerst 

Die  Uebesbande  verderbt 

Und  Stricke  von  ihnen  gemacht  hat? 

Das  ist  der  Grund:  nur  in  der  Liebesgemeinschaft,  in  einer 
Gesellschaft  der  Freiwilligkeit  und  des  Bundes,  wo  aber  die 
Freiwilligkeit  sich  ihrer  nicht  bewufit  wird,  wie  in  unsrer  Zeit 
der  Knechtschaft  und  zugleich  des  obenhin  wahlenden,  tasten- 
den  Verstandes,  sondem  wo  Freiwilligkeit  sich  vorkommt  als 
nicht  auBerste,  sondem  innerste  Notwendigkeit  und  Nicht  anders 
sein  konnen,  in  einer  Gesellschaft,  wie  Franz  Baader  es  genannt 
hat,  nicht  des  Druckes,  sondern  des  Zuges,  der  Einung  und 
Innung  am  Bande  des  verbindenden  Geistes,  der  aus  den  In- 
dividuen  als  Gleiches  hervorbricht,  nur  da,  wo  der  Geist  nicht 
in  Wildheit  ausbricht,  sondem  in  Freiheit  kittet,  kann  der  Be- 
gnadete,  Erwahlte,  der  GroBe  sich  friedlich  und  schon  einordnen 
ins  Leben  der  Gemeinschaft,  der  Gemeinde.  Das  sind  die  Zeiten, 
wo  Munster  in  herrlicher  GroBe  der  Konzeption  und  des 
Schwungs  und  in  liebreicher  Fiille  aller  iiberreichen  Einzelheiten, 
in  denen  selbst  die  zerrenden  und  verzerrten  Damonen  zu  Spiel 
und  Nutzen  gebandigt  erscheinen,  aus  tiefer  Krypta  empor- 
singend  gen  Himmel  steigen,  — deren  Erbauer  kein  Name  nennt ; 
die  Zeiten  der  in  der  Menge  aufgehenden  Dichter  und  Kunstler. 

Wo  aber  die  Liebesbande  verderbt  und  Stricke  von  ihnen  ge- 
macht sind,  da  kommen  die  Unholde,  die  Frevler,  die  EinreiBen- 
den,  die  Grofien  mit  Titanentrotz,  die  Entwurzelten  und  ganz 
Vereinsamten,  die  gerade  darum  mit  unersattlichem  Aufwarts- 
streben  den  Himmel  stiirmen,  weil  ihnen  unter  den  FviBen  der 
Boden  genommen  ist: 

Dann  haben  des  eignen  Rechts 
Und  gewiB  des  himmlischen  Feuers 
Gespottet  die  Trotzigen,  dann  erst, 

Die  sterblichen  Pfade  verachtend, 

Verwegnes  erwahlt 

Und  den  Gottern  gleich  zu  werden  getrachtet. 

Es  hat  aber  einen  sehr  tiefen  Grund,  warum  GroBe  und  Be- 
schrankung  und  Liebe  zusammengehoren,  und  warum  lieblose 


! 94  Gustav  Landaucr  * Friedrich  Holderlin 


GroBe,  die  sich  nicht  ins  Volk  einfiigen  will,  am  eignen  Uber- 
mut  zu  Grunde  geht.  Holderlin  driickt  diesen  Zusammenhang 
in  einer  sehr  tiefgriindigen  Wendung  aus,  die  den  alten  Mythus 
von  Tantalus  in  uns  anklingen  lafit.  Wo  Tod  und  Not  nicht 
ist,  da  ist  auch  Liebe  nicht ; im  Himmel  des  Einen  ist  sie  nicht, 
sondem  in  der  Welt  der  Getrennten  als  Briicke  und  Sehnsucht 
nach  dem  himmlisch  Einen ; die  unsterblichen  Gotter  brauchen 
nichts  so  dringend,  als  erhabene  Sterbliche,  heldenhafte  Men- 
schen,  die,  trotz  all  ihrer  Herrlichkeit,  gerade  darum  keine  Gotter 
sind,  weil  sie  Liebe  als  Not  und  Notwendigkeit  in  sich  tragen : 

Es  haben  aber  an  eigner 

Unsterblichkeit  die  Gotter  genug,  und  bediirfen 
Die  Himmlischen  eines  Dings, 

So  sinds  Heroen  und  Menschen, 

Und  Sterbliche  sonst.  Denn  weil 
Die  Seligsten  nichts  fiihlen  von  selbst, 

MuB  wohl,  wenn  solches  zu  sagen 
Erlaubt  ist,  in  der  Gotter  Namen 
Teilnehmend  fiihlen  ein  andrer  — 

Wen  brauchen  sie  — 

Ehrfurchtig  raunend,  in  heiliger  Scheu,  die  einen  wundersam 
emfachen,  kindlichen  Ausdruck  findet,  spricht  der  Dichter  von 
diesem  Geheimsten : die  Entbehrung  ist  um  des  Gefiihls,  die 
Getrenntheit  im  Raum  um  des  Himmels,  Zeit  und  Tod  um  des 
Ewigen,  die  Liebe  um  des  Gottlichen  willen  da ; die  Schopfung 
der  Welt,  daB  aus  dem  geeinten  Beisammen  die  Teile  wegsinken, 
um  einander  wieder  in  Liebe  zu  suchen,  entspringt  der  unbe- 
friedigten  Not  des  Vollendeten . Halbgotter  brauchen  die  Gotter ; 
aus  Gottlichem  und  Menschlichem,  aus  Stem  und  Staub,  aus 
Himmlischem  und  Irdischem  Gemischte,  die  ihre  Sehnsucht, 
wie  sie  von  ihrer  inneren  Zweiheit  stammt,  iibertragen  in  ihr 
Verhaltnis  zur  Welt,  in  die  ihre  Tat  zu  senken  ihnen  aufgegeben 
ist ; solche,  die  all  ihr  Gottliches  menschlich-Iiebend  zur  Be- 
sanftigung  und  Gemeinschaft  bringen. 

Weh  der  Zeit,  weh  den  Unseligen,  die  fur  ihre  Genialitat 
keinen  AnschluB  finden ! Sie  sind  wie  Verfluchte,  von  den  Got- 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin  1 95 


tom  personlich  Verfolgte;  ihr  Geist  tritt  aus  ihnen  heraus  und 
gegen  sie  als  rachender  Damon;  ihre  Tat  wird  zur  Untat;  ihre 
BereitscKaft  wird  zur  Lahmung.  Holderlin  — in  seiner  Zeit  — 
hats  empfunden,  in  grausiger,  oft  riihrend  klagend  ausgespro- 
chener  Vereinsamung ; anders,  krasser,  bizarrer,  ohne  die  grofie 
Linie,  aber  farbiger,  nicht  in  solcher  Erhabenheit,  aber  wiitig- 
grimmiger,  immer  jedoch  auch  in  unmittelbarem  Erfassen  des 
Zusammenhangs  mit  den  Zeitumstanden  nicht  nur,  sondern 
dem  Verhaltnis  des  Geistigen  zu  einer  geistlosen,  liebeleeren 
Gesellschaft  und  im  Verstehen  der  letzten  Fragwiirdigkeit  und 
des  tiefsten  Sinns  der  Welt  habens  die  beiden  groBen  Ver- 
lassenen  und  Selbstpei niger  unsrer  Zeit,  Nietzsche  und  Strind- 
berg, zum  Ausdruck  gebracht.  Holderlin  aber  tut  es  mit  der 
einfachen,  letztgiltigen  Strenge  des  modernen  Propheten,  der  — 
in  diesen  seltenen  Spriichen  vor  seinem  geistigen  Tod  — eben- 
biirtig  neben  seinen  Briidern  aus  der  hebrai  chen  Antike  steht, 
ungleich  ihnen,  aber  nicht  den  andem,  dem  Volke,  das  Urteil 
kiindet,  sondern  sich  selbst,  dem  Geiste,  seinem  Aufruhr  und 
seinem  MiBverhaltnis  zur  Welt : 

(Den  brauchen  sie  — ) jedoch  ihr  Gericht 

1st,  daB  sein  eigenes  Haus 

Zerbreche  der,  und  das  Liebste 

Wie  den  Feind  schelt  und  sich,  Vater  und  Kind 

Begrabe  unter  den  Trvimmem, 

Wenn  einer  wie  sie  sein  will  und  nicht 
Ungleiches  dulden,  der  Schwarmer. 

Da  spricht  aus  Holderlins  reinem  Mund  herrschend  das 
Schicksal  den  namlichen  Befehl,  den  Goethe  in  seiner  ganz 
andem,  humaneren,  mehr  europaischen  Art  zum  Ausdruck  ge- 
bracht hatte,  als  er  aus  seinem  Jugendtitanismus  und  der  Mi- 
schung  aus  Gottermut  und  stachliger  Mephistobosheit  heraus 
zum  ersten  Frieden  gekommen  war: 

Denn  mit  Gottern  soil  sich  nicht  messen 
Irgend  ein  Mensch  . . . 

Und: 

Der  edle  Mensch 
Sei  hilfreich  und  gut. 


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1 96  Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


Denken  wir  hier  nur  daran,  daB  das  Wort  Ubermensch  uns 
von  Goethe  stammt,  und  daB  er  in  der  letzten,  bezeichnender 
Weise  nicht  in  dieser  Fassung  zum  Gemeinplatz  der  Gebildeten 
gewordenen  Stelle  des  Gedichtes  „Das  Gottliche"  ausdriicldich 
sagt,  nicht : Edel  sei  der  Mensch,  hilfreich  und  gut,  sondem : 
Der  edle  Mensch,  gerade  der  Adelsmensch,  der  hervorragende 
Mensch,  sei  kein  Verachter  des  Volks  und  kein  gottgleich  in 
seinen  Geist  Eingeschlossener,  sondern  hilfreich  und  gut. 

Holderlin  war  es  um  der  groBen  Sache  und  um  seiner  eige- 
nen,  gro6,  still  und  tapfer  hinter  sich  gebrachten  Entwicklung 
willen  notig,  in  dem  Augenblick,  wo  er  den  edelgewaltigen  Geist 
des  Auserlesenen  in  den  Orden  der  Ordnung  als  dienenden 
Bruder  einreihte,  wo  er  aus  dem  hochauf  schaumenden  Jiinghng 
den  Vater  machte  und  den  Rhein  Miihlen  treiben  lieB,  rasch 
abzubrechen  und  als  Gegenstuck  das  Schicksal  des  Titanen  zu 
zeichnen,  der  Lenz  bleiben,  aber  nicht  Sommer  und  Goethe 
werden  will,  des  Himmelstiirmers,  der  sich  in  Krampf  und  Wut 
verzehrt  und  verzerrt.  Jetzt  darf  er  fortfahren  in  Schilderung 
und  Preis  dessen,  der  sich  still  eingeordnet  hat  in  das  wohl- 
beschiedene  Schicksal: 

Drum  wohl  ihm,  welcher  fand 
Ein  wohlbeschiedenes  Schicksal, 

Wo  noch  der  Wanderungen 
Und  suB  der  Leiden  Erinnerung 
Aufrauscht  am  sichern  Gestade, 

DaB  da-  und  dorthin  gern 
Er  sehn  mag  bis  an  die  Grenzen, 

Die  bei  der  Geburt  ihm  Gott 
Zum  Aufenthalte  gezeichnet. 

Dann  ruht  er,  selig  bescheiden, 

Denn  alles,  was  er  gewollt, 

Das  Himmlische,  von  selber  umfangt 
Es  unbezwungen,  lachelnd 
Jetzt,  da  er  ruhet,  den  Kiihnen. 

Nun  ruht  der  Sanger  sich  selber,  in  Behagen  freilich  nie, 
aber  in  einer  friedlichen  Ergebung,  die  fast  gelassen  und  fast 


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Gustav  Landau  er  ♦ Friedrich  Holderlin 


197 


ohne  Zagen  Seligkeit  ahnt,  in  der  Betrachtung  der  Kiihnen  aus, 
die  sich  zur  Ruhe  gebracht  haben  und  doch  „uniiberwindliche 
stark  ausdauernde  Seele“  haben,  die  mit  sicherem  Sinn  „aus 
heiliger  Fulie“  dionysisch,  „wie  der  Weingott  torig,  gottlich 
und  gesetzlos“  die  siiBe  Gabe  des  Horens  und  Redens  iiben : 
der  All-liebenden,  der  Stihne  der  Erde.  Als  ihren  Reprasen- 
tanten  nennt  er  Rousseau  und  preist  das  Leben  dieses  Gewal- 
tigen,  dessen  strahJender  Geist,  dessen  sturmisches  Herz  Frieden 
und  Einklang  mit  der  Natur  gefunden  hat : 

Wenn  er  den  Himmel,  den 
Er  mit  den  liebenden  Armen 
Sich  auf  die  Schultern  gehauft, 

Und  die  Last  der  Freude  bedenket,  — 

Dann  scheint  ihm  oft  das  beste, 

Fast  ganz  vergessen,  da, 

Wo  der  Strahl  nicht  brennt, 

Am  Bielersee,  im  Schatten  des  Walds, 

In  frischer  Grime  zu  sein, 

Und  sorglos  arm  an  Tonen, 

Anfangern  gleich,  bei  Nachtigallen  zu  Iernen. 

So  naht  die  Stunde  der  Versohnung,  der  Abend,  wo  der  harte, 
scharfe  Gott  des  Lichts  sich  endlich  hinabneigt  zu  dem  Dunkel 
der  wartenden,  empfangenden  Erde  und  Geben  und  Nehmen 
in  eins,  in  Liebe  verdammem: 

Da  feiern  ein  Brautfest  Menschen  und  G otter, 

Es  feiern  die  Lebenden  all, 

Und  ausgeglichen 

1st  eine  Weile  das  Schicksal  . . . 

Diese  Nachtgesange,  die  alle  das  Leben  Holderlins  reprasen- 
tativ  einstellen,  verflossen,  mochte  man  mit  Fichte  sagen,  in  die 
Bahn  der  Menschheit  und  der  Welt,  die  sich  alle  mit  dem  Ver- 
haltnis  der  Geistigen  zu  dem  Volk  praktischen  Lebens,  des 
Griechentums  auch  zum  Christentum  auseinandersetzen,  ver- 
sickem  alle  sechs  gegen  das  Ende  hin  ins  Stillgetroste,  so  wie 
manche  Musi kst lie ke  zum  SchluB  nicht  die  Erhebung  bringen, 
die  man  strahlend  nennt,  sondem  wahrhaft,  das  heiBt  allzer- 


198 


Gustav  Landauer  » Friedrich  Holderlin 


streuend,  allergieBend  allhemieder  zu  strahlen,  zu  vertropfen 
und  zu  verbluten  scheinen. 

Lange  hat  man  in  dem  Irrtum  der  Bequemlichkeit  und 
Eitelkeit,  die  nicht  voraussetzen  mag,  der  tiefste  Geist  funktio- 
niere  dem  eigenen  unahnlich,  diese  Gesange,  eine  Reihe  philo- 
sophischer  Aufsatze,  die  man  erst  vor  einigen  Jahren  gedruckt 
hat,  die  Sophoklesiibersetzungen  mit  den  Nachworten  und  die 
Ubersetzungen  aus  Pindar,  die  alle  aus  der  iiberaus  fruchtbaren 
Zeit  kurz  vor  und  nach  dem  ersten  Anfall  des  Irrsinns  stammen, 
mit  ihren  groBen  und  kleinen  Schwierigkeiten  kurzerhand  der 
Verriicktheit  zugewiesen.  Jiingere  Philologen,  die  aus  den 
Kreisen  der  Philosophic,  Nietzsches  und  Stefan  Georges  kamen, 
haben  um  die  Herausgabe,  um  die  Feststellung  der  erhabenen 
Hohe  dieser  Stiicke  und  zum  Teil  auch  um  ihre  Deutung  schone 
Verdienste.  Noch  ist  da  sehr  viel  zu  tun,  und  auch  ich  kann 
keineswegs  behaupten,  alles  zu  verstehen;  manches  mag  ich 
traumhaft  fiihlend  erfassen,  ohne  die  der  Grammatik  und  fast 
der  Logik  entwachsene  Sprache  dieser  Auseinandersetzungen 
des  Dichters  mit  sich  selbst,  wo  er  hie  und  da  Voraussetzungen 
macht,  deren  Schliissel  vielleicht  unwiederbringlich  verloren  ist, 
in  die  mir  gelaufige  iibersetzen  zu  konnen.  Andere  Stiicke  wieder, 
wie  vor  allem  die  Sophoklesiibersetzungen,  machen  der  Hin- 
gebung  an  das  Dichtwerk  gar  keine  wirkliche  Schwierigkeit : eine 
Anzahl  Menschen  wissen  unabhangig  von  einander  schon  heute, 
daB  Holderlins  Odipus  und  Antigona  bei  weitem  die  reinsten 
und  schonsten  und  gewaltigsten  deutschen  Dichtungen  nach 
dem  Griechischen  sind.  Das  Wichtigste  bei  der  weiteren  Arbeit 
an  dieser  Hinterlassenschaft  wird  sein : immer  von  der  Voraus- 
setzung  auszugehen,  daB  der  Dichter  und  Denker  Holderlin 
gesiinderen  und  starkeren  Geistes  war  als  wir,  die  wir  nicht 
oder  ungeniigend  verstehen.  DaB  sein  Him  namhch  dann 
spater  nicht  mehr  mitmachte,  hing  eben  damit  zusammen,  dafi 
er  i’hm  gerade  zu  allerletzt  zu  viel  zumutete.  Wir  diirfen,  auf 
die  kleine  Gefahr  hin,  uns  einmal  vergebens  zu  bemiihen  — so 
viel  waren  wir  seinem  heilig  niichternen  Ernst  mindestens 
schuldig  — als  Kriterium  nehmen,  alles,  was  tiefsinnig  und 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderltn 


199 


verworren  scheint,  fur  tiefsinnig  und  nicht  verworren  zu  neKmen 
und  nur  das  unverkennbar  Kindliche  und  Primitive,  wenn  es 
ganz  klar  und  unzweideutig  sinnlos  ist,  dem  Schwachsinn  zu- 
zuschreiben. 

Holderlins  Wesen  ist  nur  von  dieser  seiner  letzten  Hohe  aus 
zu  iiberschauen ; von  hier  aus  erkennen  wir  den  Zusammenhang 
all  seiner  Dichtungen.  Eine  unsagliche  Zartheit,  Heiligkeit, 
Weihe,  ist  in  diesem  Letzten  in  ihm ; wir  diirfen  an  die  Augen- 
blicke  unbeschreiblichen  inneren  Strablens  und  selig  lachelnden 
Einverstandnisses  mit  aller  Welt  denken,  die  uns  Dostojewskij 
als  Scheitelhohe  des  Epileptikers  vor  dem  An  fall  und  Aufschrei 
schildert ; ja  wir  diirfen,  wenn  wir  nur  im  Sinne  behalten,  daB 
Holderlin  bis  zum  Letzten  und  gerade  im  Letzten  immer  wach 
und  wachsend  genial  produktiv  war,  an  das  zarte,  weicbe 
Streicheln  purpurroten  Samtes  denken,  mit  dem  Oswald  Alving 
seinen  Zustand  in  der  Zeit  vergleicht,  ehe  der  Geist  seinen 
stillen  Kampf,  seine  Arbeit  und  sein  Leben  aufgibt ; denn  trotz 
alien  Irren-  und  Nervenarzten  Wiens  und  der  iibrigen  Welt 
versteben  die  Dichter  mehr  von  der  Seele  des  Menschen  und 
der  bestandigen  Erhohung  des  Geistes  bis  zum  Augenblick 
seines  Zusammenbruchs,  als  scbematisierende  Gelehrte  und 
Handwerker. 

Immer  ist  diese  weihevolle  Sanftheit  Holderlins  fest  auf  das 
Gottliche,  auf  die  Aufgabe  gerichtet ; jede  sonst  gleichgiiltig- 
konventionelle  Wendung  wird  schliefilich  ins  still-feierliche  ge- 
wendet.  Es  ist  ein  Pathos  in  Gehaltenheit ; eine  Hohe  nicht  als 
Hochgekommensein  oder  Hochtreiben,  sondem  als  ebene,  gleiche 
Haltung.  Seine  Gedanken  dem  eigenen  Ich,  seiner  Erhaltung 
und  Pflege  zuzuwenden,  ist  etwas,  dessen  er  sich  als  eines  Un- 
edlen  zu  scheuen  anfangt ; hier  sehen  wir  besonders  deutlich, 
wie  etwas,  das  die  schonste  Hohe  seines  Geistes  war,  sich  dann 
auf  die  Zeit  der  Krankheit  vererbt  und  da  als  widerwartige 
und  eigensinnig-kindische,  schmutzige  Vemachlassigung  seines 
Korpers  erscheint.  Vorher  aber  war  es  reinste  Reinheit  des 
Geistes,  wie  er  an  seinen  Freund  Bohlendorf  in  einem  Briefe 
sagt:  „Schreibe  doch  nur  mir  bald.  Ich  brauche  Deine  reinen 


200  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


Tone.  Die  Psyche  unter  Freunden,  das  Entstehen  des  Ge- 
dankens  im  Gesprach  und  Brief  ist  Kiinstlem  notig.  Sonst 
haben  wir  keinen  (Gedanken)  fiir  uns  selbst ; sondern  er  gehoret 
dem  heiligen  Bilde,  das  wir  bilden.“  Diesen  Gedanken  und 
diese  Stimmung  der  nicht  einmal  entsagenden,  der  rein  ab- 
geschiedenen  Frommigkeit  vor  dem  Geist  und  seiner  Berufung 
auBerte  er  auch  dichterisch  in  einem  der  Gesange : 

Nicht  ist  es  gut, 

Seellos  vor  sterblichen 
Gedanken  zu  sein,  doch  gut 
Ist  ein  Gesprach  und  zu  sagen 
Des  Herzens  Meinung,  zu  horen  viel 
Von  Tagen  der  Lieb’ 

Und  Taten,  welche  geschahen. 

Aber  er  hatte  nicht  die  Menschen  zu  diesem  Gesprach.  So 
gut  seine  Freunde  von  Bohlendorf  und  von  Sinclair  und  wenige 
andere  in  dieser  Ietzten  Zeit  zu  ihm  gewesen  sein  mogen,  sie 
waren  ihm  tief  untergeordnet  und  sahen  gewifi  um  auBerlicher 
Dinge  willen  nur  selten  in  reiner  Ehrfurcht  auf  ihn.  Wir  haben 
ja  miterlebt,  wie  es  Peter  Hille  unter  den  Menschen  ergangen 
ist ; und  um  wie  viel  mehr  ins  Feme  gestaltend,  um  wie  viel 
mehr  vom  Geiste  weggeholt  und  um  wie  viel  ergriffener  und 
also  wie  absonderlicher  stand  Holderlin  von  seinen  Zeitgenossen 
und  ihrem  Alltag  weg.  Ihm  hatten  auch  Goethe,  der  sich  ihm 
entzog,  Schiller,  der  gonnerhaft  kuhl  zu  ihm  war.  Herder,  der 
kaum  von  ihm  gewuBt  hat,  Schelling  und  Hegel,  die  zuviel  mit 
ihrem  eigenen  Kampf  zu  tun  hatten,  nur  geniigen  konnen,  wenn 
sie  ihn  nicht  nur  als  Gleichen  anerkannt,  sondern  grenzenlos 
verehrt  und  hingebend  geliebt  hatten.  Und  selbst  wenn  er  diese 
warm  bergende,  traulich  heimische  Stube  der  Freundschaft  so 
gekannt  hatte,  wie  sie  ihm  fehlte,  ware  es  noch  nicht  genug  ge- 
wesen. Ich  deute  hier  nicht  auf  die  Frauenliebe;  ich  spreche 
von  dem  Volk.  Der  Dichter,  der  sich  als  Kiinstler  fiihlte,  der 
sein  heiliges  Bild  bilden  wollte,  bedurfte,  um  stark  und  dauernd 
genug  glauben  zu  konnen,  der  Beispiele  in  Volksbe wegungen 
und  Gliederungen  der  Masse;  er  muBte  vor  Augen  sehen  in 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Hdlderlin 


seiner  Umgebung,  dafi  etwas  von  dem  werden  wollte,  was  in 
ihm  aus  Prophetie  zur  Vision  und  zum  gestalteten  Bilde  er- 
wuchs.  Wohl  ist  der  Dichter  seiner  Zeit  voraus ; soli  er  ihr  aber 
voraus  und  nicht  ausgestoBen  und  verlassen  sein,  so  mu8  er  sie 
um  sich  und  hinter  sich  wimmeln  sehen,  wenn  er  sich  umblickt. 
Wenn  Holderlin  sich  aber  umsah,  da  mochte  ihn  wohl  ein 
Zittern  iiberkommen,  so  stark  er  sich  beherrschte,  und  die  Kniee 
mochten  ihm  wanken,  ehe  er  den  Weg  fortsetzte;  und  etwas 
wie  ein  Zittern  liegt  noch  in  der  klaren  Durchsichtigkeit,  die 
an  die  diinne  Luft  auf  hohen  Bergen  gemahnt,  wenn  der  ver- 
einsamte  Dichter  sich  in  der  entgotterten  Welt  sieht  und  nicht 
aufschreit  und  nicht  einmal  klagt,  sondern  leise  mitteilend  spricht 
und  schliefilich,  mit  der  ersehnten  Miidigkeit  und  Ruhe  spie- 
lend,  fragt: 

. . . indessen  diinket  mir  ofters 
Besser  zu  schlafen,  wie  so  ohne  Genossen  zu  sein. 

So  zu  harren,  und  was  zu  tun  indes  und  zu  sagen 
WeiB  ich  nicht,  und  wozu  Dichter  in  diirftiger  Zeit? 

Angesichts  der  franzosischen  Revolution,  die  Aufruhr  und 
Erwartung  in  ihm  geweckt  hatte,  qualt  er,  der  in  Deutschland, 
in  unwiirdigen  Zustanden,  den  Geist  wie  das  Volk  unterdriickt 
und  verkiimmert  sieht,  sich  mit  der  Frage:  Sind  wir  zuriick- 
geblieben,  fehlt  es  uns  an  Tatlust,  Schaffenskraft  und  Initia- 
tive, — oder  sind  gerade  wir  Langsamen,  das  Volk  der  Denker, 
zu  besonderer,  ganz  groBerAufgabe  f Ur  die  Menschheit  bewahrt  ? 
Die  GeiBel  und  den  Spom  dieser  Frage  richtet  er  in  der  so 
genannten  Ode  „An  die  Deutschen" : 

Spottet  nimmer  des  Kinds,  wenn  es,  das  albeme, 

Auf  dem  Rosse  von  Holz  mu  tig  und  groB  sich  diinkt, 

0 ihr  Guten!  auch  wir  sind 
Tatenarm  und  gedankenvoll. 


Aber  kdmmt,  wie  der  Strahl  aus  dem  Gewolke  kommt, 
Aus  Gedanken  vielleicht  geistig  und  reif  die  Tat  ? 

Wer  das  wuBte ! Wer  das  hoffen  diirfte ! Aber  so,  immer  allein, 
immer  im  Warten! 


<• 


202  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holdcrlin 

Und  zu  ahnden  ist  sufi,  aber  ein  Leiden  auch. 

Wie  geme  mochte  er  aufgehen,  stumm,  in  Liebe,  im 
blofien  Dabeisein,  wenn  nicht  mehr  die  Nation  geisterhaft  kon- 
zentriert  in  ihm,  dem  Dichter,  allein  lebte,  sondern  wenn  das 
Volk  geisterfiillt  aufstiinde! 

Schopferischer,  o wann.  Genius  unsres  Volks, 

Wann  erscheinest  du  ganz,  Seele  des  Vaterlands, 

Dafi  ich  tiefer  mich  beuge, 

Dafi  die  leiseste  Saite  selbst 

Mir  verstumme  vor  dir,  dafi  ich  beschamt  und  still 
Eine  Blume  der  Nacht,  himmlischer  Tag,  vor  dir 
Enden  moge  mit  Freuden, 

Wenn  sie  alle,  mit  denen  ich 

Vormals  trauerte,  wenn  unsere  Stadte  nun 
Hell  und  offen  und  wach,  reineren  Feuers  voll, 

Und  die  Berge  des  deutschen 
Landes  Berge  der  Musen  sind  . . . 

In  seinen  Oden  ist  Holderlin  der  Anwalt  der  Natur,  des 
Geists  und  des  Volks,  welche  drei  ihm  einig  zusammen  gehoren, 
gegen  das  wiiste  Treiben  der  Gegenwart,  das  ein  Getriebensein 
ist,  ein  arges  Erbe  der  Vorzeit.  Ist  es  der  bose  Atem  eines  Un- 
holds, dafi  die  Menschen  nicht,  in  unendlicher  Sehnsucht  nach 
dem  stillen  Naturgliick,  sich  ein  reines  Leben  unter  einander 
schaffen,  sondern  in  wilden  Kriegen  sinnlos  wiiten? 

Wer  hub  es  an?  wer  brachte  den  Fluch?  von  heut 
Ist’s  nicht  und  nicht  von  gestem,  und  die  zuerst 
Das  Mafi  verloren,  unsre  Vater, 

Wufiten  es  nicht,  und  es  trieb  ihr  Geist  sie. 

Zu  lang,  zu  lang  schon  treten  die  Sterblichen 
Sich  gern  aufs  Haupt  und  zanken  um  Herrschaft  sich. 
Den  ‘Hacfibar  fiirchtend,  — und  es  hat  auf 
Gigenem  Boden  der  Mann  nicht  Segen. 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


203 


Und  unstet  wehn  und  irren,  dem  Chaos  gleich, 

Dem  garenden  Geschlechte  die  Wiinsche  nach, 

Und  wild  ist  und  verzagt  und  kalt  von 
Sorgen  das  Leben  der  Armen  immer. 

Du  aber  wandelst  ruhig  die  sichre  Bahn, 

0 Mutter  Erd’  im  Lichte!  Dein  Friihling  bliiht, 

{ TReCodiscH  wechselnd  gehen  dir  die 
Wachsenden  Zeiten,  du  Lebensreiche ! 

Mit  deinem  stilfen  Ruhme,  Geniigsame! 

Mit  deinen  awgeschriebnen  Qesetzen  auch, 

\ Ulit  deiner  £/ebe  komm  und  gib  ein 
ftfeiben  im  Leben,  ein  Sfferz  uns  wieder ! * 

Die  Hoffnung  steigt  immer  wieder  in  ihm  auf,  dafi  gerade 
Deutschland  einst,  nicht  auf  den  Wegen  des  Larms  und  der 
Waffen,  sondern  in  Stille  und  durch  den  Geist  die  neue  erlosende 
Botschaft  zur  Menschheit  bringen  werde. 

Das  Deutsche  Reich,  das  sein  pergamentenes  Dasein  gerade 
noch  ein  paar  Jahre  fortziehen  sollte,  gab  es  damals  nur  dem 
Namen  nach ; Deutschland  war  ein  geographischer  Begnff,  vor 
allem  aber  war  es  ein  Gebilde  in  dem  planenden  und  gestaltenden 
Geiste  der  Dichter  und  Seher  und  als  solches  etwas,  das  nicht 
den  Jahrzehnten,  sondern  den  Jahrhunderten  vorausging.  Immer 
ist  die  Konzeption  des  Ganzen  das  erne,  und  die  Durchfiihrung 
von  Teilen  und  Ersatzen  das  gar  sehr  andere.  Die  franzosische 
Revolution  war  eines,  das  Hochwinden,  Schleichen  und  Drangen 
des  Biirgertums  war  ein  andres ; der  Gedanke  des  edeln  Henri 
Dunant  war  eines,  die  praktische  Durchfiihrung  der  Genfer 
Konvention  war  ein  andres ; und  manchmal  mochte  man  wiin- 
schen,  die  Menschheit  mochte  lieber  von  einem  Dichter  ge- 
traumt  werden  als  in  ihrem  Halbschlaf  in  verstiimperten  Triim- 
mem  taumelnd  dahinzustolpern ! So  wird  man  verstehen,  daB 

• Innerhalb  einet  Vortrags  kann  es  sich  bei  Anfiihrungen  aus  Gedichten  nicht  um 
reine  Rezitation,  muB  es  sich  vielmehr  um  Hinweisung  handeln.  Dies,  um  die  Hervor- 
hebungen  einzelner  Worte  und  Wendungen  zu  erklaren,  die  auch  im  Druck  manchmal 
notig  waren,  um  weitere  Ausfiihrungen  zu  ersetzen. 


204  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 

es  uns  angeht,  heute  wie  gestem,  und  morgen  wie  heute,  wenn 
Holderlin  in  dem  Nachtgesang,  den  er  Germanien  nennt, 
Deutschland  als  Priesterin  schaut,  als  stillste  Tochter  Gottes, 

Sie,  die  zu  gem  in  tiefer  Einfalt  schweigt,  — 
dieses  Deutschland,  das  unserm  Propheten  das  Land  der 
Dichter  und  Denker  ist,  das  vom  Himmel  „die  Blume  des 
Mondes“,  die  Gabe  der  Dichtung  und  der  tiefsinnigen  Rede 
zum  Geschenk  erhalten  hat : in  Einsamkeit  redet  der  deutsche 
Geist  und  sendet  „Fiille  der  goldenen  Worte“  „in  die  Gegen- 
den  all4* : 

Denn  fast  wie  der  Heiligen, 

Die  Mutter  ist  von  allem, 

Die  Verborgene  sonst  genannt  von  Menschen, 

So  ist  von  Lieben  und  Leiden 
Und  voll  von  Ahnungen  dir 
Und  voll  von  Frieden  der  Busen. 

Das  ist  das  Auszeichnende  gerade  dieses  geistigen  Deutsch- 
land und  die  Verkiindung  der  neuen  Zeit,  daB  es  nicht,  wie 
die  Staaten,  politisch  und  in  Waffen  s'  vrend,  sondern,  wie  der 
Dichter  sagt, 

Wehrlos  Rat  gibt  rings 

Den  Konigen  und  den  Volkern. 

In  diesen  Stucken  ist  Holderlin  ein  Vorlaufer  Fichtes  und 
seiner  vier  groBen  Redekreise  vor  und  nach  Jena  von  1 804  bis 
1808,  und  ein  Vorlaufer  der  Geister,  die  jetzt,  nach  diesem 
Krieg,  unserm  Volk  nicht  fehlen  werden. 

In  untrennbarem  Zusammenhang  mit  seiner  Sehnsucht  nach 
einem  offentlichen  Leben  der  Schonheit  und  Freiheit  steht 
Holderlins  Liebesgefiihl  und  Liebebediirfnis.  In  seiner  spaten 
Zeit,  als  er  sich  bemiihte,um  der  heutigen  und  ewigen  Lebendig- 
keit  willen  die  griechischen  Gotternamen,  statt  sie  als  unver- 
andert  starre  und  tote  Eigennamen  zu  iibemehmen,  nach  ihrem 
sachlichen  Sinn  als  Gattungsnamen  in  unsre  Sprache  zu  iiber- 
setzen  und  ihnen  so  erweckende  Bedeutung  fur  uns  zu  geben, 
setzte  er  fur  Eros  Friedensgeist,  Geist  der  Liebe.  Ihm  war  die 
Liebe  ein  Geist  des  offentlichen  Lebens  und  vom  Frieden  nicht 


Gustav  Landau  er  * Friedrich  Holderlin 


205 


zu  trennen,  so  wie  Beethoven  spater  in  seiner  groBen  Messe  bei 
der  Bitte  an  die  Gottheit  um  den  Frieden  „Dona  nobis  pacem“ 
mit  dem  ganzen  kriegerischen  Gemiit  des  echten  Nachfolgers 
Jesu  den  Himmel  zu  stiirmen  scheint,  um  den  Frieden  endlich 
auf  Erden  herabzuholen.  Friede,  Freiheit  und  Schonheit,  ein 
Liebesleben  der  Selbstverstandlichkeit,  das  bedeutete  Holderlin 
das  ideale  Bild  griechischen  Lebens;  das  bedeuteten  ihm  die 
stromenden  Krafte  der  Natur,  die  alles  in  gleicher  Weise  um- 
spiilen,  das  Licht,  der  Aether. 

. . . und  liber  den  Bergen  der  Heimat 
Ruht  und  waltet  und  lebt  allgegenwartig  der  Ather, 

Dafi  ein  liebendes  Volk,  in  des  Vaters  Armen  gesammelt, 
Menschhch  freudig,  wie  sonst,  und  ein  Geist  alien 

gemein  sei. 

Welchen  Glanz,  welche  Feste  ahnt  er  voraus  — obwohl  es 
noch  keine  Eisenbahnen  gab,  die  die  herrlichen  Vehikel  unge- 
heurer  Volksfeste  waren,  wenn  wir  um  den  verborgenen  Geist 
unsrer  Emrichtungen  wiifiten  — , wenn  erst  diese  Emigung  in 
die  Volker,  zwischen  die  Volker  kame ; wenn  der  Kiinstler  froh 
mitten  in  seinem  Volke,  als  Ausdruck  der  Gemeinschaft  stiinde 
und  der  Einsamkeitsqual  ledig  ware: 

. . . schon  hor  ich  feme  des  Festtags 
Chorgesang  auf  griinem  Gebirg,  und  das  Echo  der  Hame, 
Wo  der  Jiinglinge  Brust  sich  hebt,  wo  die  Seele  des 

Volks  sich 

Still  vereint  im  freieren  Lied,  zur  Ehre  des  Gottes, 

Dem  die  Hohe  gebiihrt,  doch  auch  die  Taler  sind  heilig... 
Denn  voll  gottlichen  Sinns  ist  alles  Leben  geworden, 
Und  vollendend,  wie  sonst,  erscheinst  du  wieder  den 


Kindern 


Uberall,  o Natur!  und  wie  vom  Quellengebirg  rinnt 
Segen  von  da  und  dort  in  die  keimende  Seele  dem  Volke. 

Des  eignen,  des  privaten  Leids,  so  instandig  stark  es  ist, 
schamt  er  sich  fast  so  wie  der  Sorge  um  die  Notdurft ; es  schickt 
sich  nicht,  sich  abzusondern  und  in  seinem  Leid  nicht  das  allge- 
meine  mitzuempfinden.  Darum  ist  ihm  die  Form  der  Ode  so 


39  Vol.  m/i 


206  Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 

gemafi,  die  in  ihrer  Feierlichkeit  und  Getragenheit  jedes  Ver- 
einzelte  zum  Biid  des  Allgemeinen  macht  und  alles  exklusiv 
und  exzentrisch  Individuelle  von  sich  weist,  die  das  Weihelied 
fiir  Chorgesang,  fur  nationalen  Gesang  ist,  nicht  irgend  fur  Kiim- 
mernisse  eines  einzelnen.  Hatten  Byron  und  Heine  wahrhaften 
Weltschmerz  empfunden,  so  waren  sie  auch  auf  die  Form  ge- 
kommen,  die  das  Weltgefiihl  fordert.  UnfaBbar,  daB  Holderlin 
hatte  dichten  konnen: 

Aus  meinen  grofien  Schmerzen 

Mach  ich  die  kleinen  Lieder 

Er  hat  seine  eigenen  Schmerzen  mit  allgemeinen  Maximen 
besanftigt;  hat  sich  fiir  seine  Person  die  Notwendigkeit  und 
Zusammengehdrigkeit  von  Liebe  und  Leid  statuiert: 

Denn  sie,  die  uns  das  himmlische  Feuer  leihn, 

Die  Gotter,  schenken  heiliges  Leid  uns  auch, 

Drum  bleibe  dies.  Ein  Sohn  der  Erde 
Schein  ich;  zu  lieben  gemacht,  zu  leiden. 

Ist’s  denn  nicht  groBer  und  arger,  daB  dies  heilige  Leid  auch 
das  Ganze,  das  Vaterland  trifft  ? Und  lebt  es  nicht  doch,  so  viel 
es  auch  dulden  muB,  lebt  in  der  Liebe  und  dem  zahen  Phantasie- 
willen  derer,  die  Vaterland  nennen  nicht,  was  sie  haben,  sondern 
was  in  einiger  Glut  sie  an  Vorfahren  und  Nachkommen  bindet? 
Daran  mag  sich  noch  klammern,  darm  mag  noch  aufgehn, 
wem  alle  Hoffnung  auf  eigenes  Gluck  und  eigenen  Herd  ge- 
schwunden  ist: 

Wie  lang  ist  s,  o wie  lange ! des  Kindes  Ruh 
Ist  hin,  und  hin  ist  Jugend,  und  Lieb  und  Gluck, 

Doch  du  mein  Vaterland!  du  heilig 
Duldendes!  siehe,  du  bist  geblieben. 

Fiir  ihn,  dem  die  ganze  groBe  Vergangenheit  der  Geschichte 
und  die  Welt  der  Natur  bis  in  die  Gefilde  des  Aethers  weithin 
lebendig  und  gegenwartig  war,  bestand  das  Gluck  der  Liebe 
auch  ohne  Befriedigung,  auch  ohne  Beisammensein.  Er  fiihrte 
ein  Leben  der  Erinnerung,  wie  es  die  einzige  Lebensmoglichkeit 
des  Einsamen  ist,  dem  nur  ganz  selten  und  fliichtig  die  Wirk- 
lichkeit  sich  neigt.  Ihm  ist  alles  Gottliche  in  der  Brust  eine 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


207 


allverbindende  Erinnerung  an  die  Urheimat,  und  jedes  para- 
diesische  Gefiihl  ein  ahnungsvolles  Aufsteigen  des  verlorenen 
Paradieses.  So  ward  ihm  aus  Sehnsuchtsqual  Erinnerungs- 
seligkeit:  aber  als  etwas  ganz  Wirkliches,  Daseiendes,  mit  dem 
er  lachelnd  und  streichelnd  umging  und  das  ihm  so  Ieibhaft  war, 
nicht  wie  die  gespenstischen  Koboldklotze  seiner  Menschen- 
umgebung,  sondern  wie  Sternenlicht  in  der  Nacht;  und  sanft, 
heiter,  manchmal  gar  ironisch  gegen  sein  eigenes  Los  bekennt  er, 
im  Ungltick  gliicklich  zu  sein: 

Festzeit  hab  ich  nicht,  doch  mocht  ich  die  Locke  bekranzen; 
Bin  ich  allein  denn  nicht?  aber  ein  Freundliches  mufi 
Fernher  nahe  mir  sein,  und  lacheln  mufi  ich  und  staunen, 
Wie  so  selig  doch  auch  mitten  im  Leide  mir  ist. 

Diese  Liebe,  die  noch  in  der  Verlassenheit  sich  vom  einst- 
mals  Gewesenen  nahrt,  die  zeitiiberwindend,  raumiiberbriickend 
jetzt  nur  noch  ist,  weil  ihr  die  vom  Schicksal  und  ihren  Helfern, 
den  mifiratenen  Menschen,  geraubte  Geliebte  nichts  mehr  als 
der  feme  Reprasentant  einer  ins  Allgemeine  verschwimmenden 
Liebegefiihligkeit  ist,  diese  Liebe  hat  einstmals,  in  der  kurzen 
Spanne,  als  sie  selige  Gegenwart  und  Band  eines  Paars  und 
Mensch,  das  heifit  Zweieinheit  von  Mann  und  Manmn  war, 
freudiger,  heller,  wirklicher  die  Zeit  uberwunden  und  den 
Bogen  gespannt: 

Wohl  gehn  Friihlinge  fort,  ein  Jahr  verdranget  das  andre, 
Wechselnd  und  streitend,  so  tost  droben  voriiber  die  Zeit 
Uber  sterblichem  Haupt,  doch  nicht  vor  seligen  Augen, 
Und  den  Liebenden  ist  anderes  Leben  geschenkt. 

Denn  sie  alle,  die  Tag  und  Jahre  der  Sterne,  sie  waren, 
Diotima!  um  uns  innig  und  ewig  vereint. 

Sein  Zusammennehmen,  seine  Fassung,  seinen  schliefilich 
ersiegten  Trost  in  Tranen  verstehen  wir  nur,  wenn  wir  wissen 
und  aus  seinen  Gedichten  in  unsre  herzinnige  Bruderschaft  mit 
Holderlin  nehmen,  wie  sehr  er  weinen  und  leiden  kann!  Und 
wir  verstehen  es  auch  dann  nur,  wenn  wir  seinen  Trost  auffassen 
als  die  Einordnung  in  das  hohere  Leben  einer  Menschengesamt- 
heit,  die  ein  Abbild  einer  gottlich  geleiteten,  geistbefliigelten 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


208 

Welt  ware,  wenn  sie  fiir  den  Kiinstler  und  seine  Gestalten  den 
rechten  Platz  hatte. 

GroBes  zu  finden  ist  viel,  ist  viel  noch  iibrig,  und  wer  so 
Liebte,  gehet,  er  muB,  gehet  zu  Gottern  die  Bahn. 

Er  fiihlt  wohl,  er  verdient  es,  von  der  heilenden  Natur  ge- 
trostet  zu  werden ; in  all  seiner  Zartheit  ist  er  stolz  genug  und 
vergleicht  sich  dem  Achill,  der  sein  Liebesleid  zur  Mutter  dem 
Meere  trug  und  dort  Trost  fand.  Auch  ihn,  der  wohl  weiB, 
darum  ein  Vereinsamter  und  Ausgestofiener  zu  sein,  weil  er  ein 
Einziger  ist,  darf  die  Welt  noch  nicht  entbehren ; ist  er  kein  Held 
im  mannisch  kriegerischen  Sinn,  so  weiB  er  doch,  welch  tapfere 
Arbeit  sein  Aufstieg  gekostet  hat,  welche  Herkulesarbeiten  auch 
er  verrichtet  hat,  wie  er  ein  Opfer  und  Gemarterter  war  und 
doch  siegreich  erstand,  bis  er  nun  zu  einem  Sanger  der  Nation, 
einem  hohen  heroischen  Trager  der  einenden  Idee  geworden  ist. 
So  ruft  er  denn  in  seiner  Not  Erde  und  Quellen  und  Walder  und 
Licht  und  Aether  urn  Heilung  an: 

O sanftiget  mir,  ihr  Guten,  mein  Leiden, 

DaB  die  Seele  mir  nicht  friih,  achl  zu  friihe  verstummt... 

So  haben  wir  sein  innig  gewaltiges,  bescheiden  stolzes,  for- 
derndes  Lied  „An  die  Parzen"  zu  verstehen: 

Nur  e/nen  Sommer  gonnt,  ihr  Gewaltigen! 

Und  einen  Herbst  zu  reifem  Gesange  mir, 

Dafi  williger  mein  Herz,  vom  siiBen 
Spiele  gesattiget,  dann  mir  sterbe! 

Verstehen  wir  nur  auch,  warum  es  so  ist  und  nicht  anders  sein 
kann,  dafi  diese  Gesange  hohen  Schwungs,  nationalen  Tones,  die 
nach  Form  und  rhythmischer  Bewegtheit  und  Fiille  dem  Chorus 
bestimmt  sind  und  den  Geist  der  Gesamtheit  zum  Ausdruck 
bringen,  in  ihrem  Inhalt  dagegen  durchaus  Individuellperson- 
liches  aussagen,  dafi  die  Geschlossenheit  der  Nation  und  ihre 
Lust  sich  seltsam  genug  auBern  in  der  Tragik  oder  der  Uber- 
windung  des  groBen  Einzelnen ! Anders  war  es  auch  nicht  in  den 
Hochgesangen  gleicher  Art  Klopstocks  und  Goethes;  und  die 
Erklarung  fur  dieses  Mifiverhaltnis  entscheidender  Art  geben  wir 
am  besten  mit  den  Worten  des  Dokuments,  das  sie  an  autorita- 


Qustav  Landau  er  ♦ Friedrich  Holder  Lin 


209 


tiver  Stelle  erstmals  gegeben  hat.  Varnhagen  von  Ense  in  dem 
Heft  von  Goethes  Zeitschrift  „Uber  Kunst  und  Altertum“, 
das  1832  nach  Goethes  Tod  als  letztes  herauskam,  in  seinem 
bedeutenden  Aufsatz  ,,Im  Sinne  der  Wanderer"  sagt  uns  den 
Grund.  Komposition,  Form,  Rhythmus,  Hohe,  Schwung, 
Verklarung  und  himmlische  Heiterkeit  des  Seelentons  in  Goethes 
grofiten  Dichtungen  diirfen  uns  mcht  dariiber  tauschen,  dafi 
auch  sie,  da6  gerade  sie  schneidend,  zerreifiend,  polemisch, 
personlich  bis  zum  Subjektiven  in  lhrem  Inhalt  sind.  Das 
Dokument,  von  dem  wir  sprechen,  sieht  den  Dichter  ,,auf  den 
Scheidewegen  und  Ubergangen  zweier  Zeitalter",  und  als  die 
Stoffe  seiner  Kunst  liefert  ihm  dieser  Ubergangspunkt  unddiese 
Wende  „die  reife  widerstrebende  Welt  so  wie  die  unreife  har- 
rende“,  und  gerade  Goethes  Epoche  bezeichnet  Varnhagen  in 
sehr  tiefgreifenden,  feststellenden  Ausfiihrungen  als  ,,einen  der 
Zeitabschnitte,  die  im  Gegensatze  des  Erbauens  und  Veremens 
mit  Recht  vom  Zerfallen  und  Zersetzen  den  Namen  erhalten 
konnen".  Varnhagen  zeigt,  wie  dieser  Kampf  und  diese  Auf- 
losung  von  der  Reformation  an  durch  die  Jahrhunderte  geht, 
bis  er  in  Goethes  Zeit  und  in  Goethe  selbst  zu  einem  Gipfel 
gelangt  ist.  Und  mit  einer  Kiihnheit  des  Gesamtblicks,  die 
seitdem  nicht  wieder  erreicht  worden  ist,  iiberschaut  Varnhagen 
— von  Rahel,  von  Fichte,  vom  Saint-Simonismus  gehoben  — 
das  gesamte  Werk  Goethes,  um  das  Resultat  erstaunlich  genug 
und  bis  zum  Erschrecken  treffend  in  die  Entdeckung  zusammen- 
zufassen:  „Goethes  ganze  Dichtung  ist  fast  nur  das  Bild  der 
Zerriittungen  einer  mit  sich  selber  in  Zwiespalt  geratenen  Welt“. 

So  ist  es  und  kann  nicht  anders  sein,  und  dies  also  ist  auch  die 
Stellung  Holderlins  zu  seiner  Zeit.  Schon  weht  in  seinen  Ge- 
sangen  die  Fahne  geeinten  Volkes ; schon  klingen  die  Hochtone 
und  getragenen  Weisen  des  Chors;  aber  das  alles  ist  unausgrabbar 
zutiefst  versenkt  als  konzentrierte  Seelengewalt  ins  Innere  des 
Tragers  des  Kiinftigen,  des  Propheten  des  Reichs  und  ist  nicht 
zu  trennen  von  seinen  Schicksalen  und  Leiden  in  einer  wider- 
strebenden  Welt,  die  nicht  nur  selber  tief  drunten  ist,  die  auch 
ihren  Sanger  nicht  hochkommen  lafit.  Einmal  aber,  einmal 


210 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


wenigstens  im  Leben  muB  er  oben  sein,  ganz  oben,  um  seiner 
Berufung  und  seines  Rechts  und  seiner  Bewahrung  sicher  zu  sein, 
um  dann  in  Bewufitsein,  Erinnerung  und  Nahgefiihl  das  Gluck 
verlorenen  und  durch  seinen,  des  Dichters,  hochsten  Moment 
hindurch  der  Menschheit  wieder  verheiBenen  Paradieses  zu 
haben,  um  sich  mit  Gott  und  Welt  und  Werden  eins  zu  wissen : 

Ginmaf 

Lebt  ich  wie  Gotter,  und  mehr  bedarf’s  nicht. 

Wohl  hat  er  das  auch  verdient  um  die  Gotter,  um  die  Natur,  die 
er  von  friih  auf  als  ganz  nah  und  vertraut,  als  gottbeseelt  emp- 
fand.  War  er  doch  schon  von  Kind  auf  unter  Menschen  verwaist 
und  dem  stillen  Walten  der  Natur  in  Pflege  gegeben.  In  seinem 
milden,  heiteren  Dank  an  diese  treuen  freundlichen  Natur- 
gotter  wollen  wir  die  wahrhaft  diistere  Anklage,  nicht  gegen 
einzelne  Padagogen  und  Einrichtungen,  gegen  die  gesamte 
Umwelt  des  heranwachsenden  Kindes  nicht  uberhoren: 

Doch  kannt  ich  euch  besser 
Als  ich  je  die  Menschen  gekannt, 

Ich  verstand  die  Stille  des  Aethers, 

(Des  ‘TJlenscfien  Wort  verstand  ic£  nie. 

Mich  erzog  der  Wohllaut 
Des  sauselnden  Hains 
Und  fieben  lernt  ich 
Unter  den  Blumen. 

Im  Arme  der  Gotter  wuchs  ich  groB. 

Brennt  es  nicht  wie  von  einem  gliihenden  Stempel,  der  unsrer 
Zeit  ein  unaustilgbares  Schandmal  aufpragt,  wenn  zu  diesen 
Worten  der  Ergebung  und  Abkehr  dazu  gesagt  wird,  daB  dieses 
Gedicht,  das  im  heiter  spielenden  Ton  des  Gefafiten  und  Ge- 
borgenen,  der  seine  Natur  eins  weiB  mit  der  Natur  da  drauBen, 
uns  diese  Dinge  sagt,  iiberschrieben  ist : Die  Jugend  — ? 

1st  damit  aber,  so  darf  gefragt  werden,  der  Zeit  nicht  zu  viel 
aufgebiirdet  ? War  er  denn  nicht  em  ganz  Besonderer  ? Warum  ist 
er  denn  schlieBlich  so  grenzenlos  allein  ? Ganz  sicher,  er  hatte  in 
seiner  Natur  die  Gabe  des  Ungliicks,  das  Talent  der  Einsamkeit 
Aber  es  herrscht  da,  wie  in  jeder  Begegnung  zwischen  Geist  und 


Gustav  Landauer  ♦ Friedrich  Holderlin 


211 


Aufierem,  was  wir  ruhig  Wechselwirkung  nennen  diirfen  ,•  wir 
werden  einen  besseren  Namen  fiir  diesen  Zusammenhang  nicht 
finden.  Die  Disposition  zur  Verlassenheit  wie  zum  Irrsinn  war 
da;  sein  Schicksal  war  in  seiner  Natur  vorbestimmt,  und  wurde 
in  lhm  ganz  ausnehmend  hellsichtig  und  hellhorig ; wie  er  denn 
das  Leid  und  sogar  die  Trostung  um  den  friihen  Tod  seiner 
Diotima  dichtend  vorwegnabm,  ehe  sie  tot  oder  krankwar;  und 
wie  er  im  Fieber  aus  Bordeaux  in  die  Heimat  irrte  und  als  wiister 
Irrsinniger  wie  ein  Landstreicher  heimkam,  wahrend  der  Brief 
des  Freundes  nach  Frankreich  reiste,  der  die  Todesnachricht 
erst  enthielt.  Der  Grund,  der  Urgrund  seines  Elends  war  als 
Erbe  in  ihm ; aber  die  sehr  triftigen,  sehr  wirklichen  Griinde  fiir 
all  seine  im  Lauf  der  Jahre  immer  wieder  einzeln  ausgelosten 
Empfindungen,  Erfahrungen,  Schmerzen  lieferte  ihm  die  Welt 
und  die  Zeit.  Ein  besonders  Verwundbarer  wurde  besonders 
verwundet:  nicht  blofi  so,  dafi  er  eine  besonders  verletzliche 
Haut  hatte,  sondern  dafi  ihn  sehr  wirklich  besonders  schwere 
Schlage  und  scharfe  Stiche  trafen.  Kein  Wunder,  dafi  einer, 
den  solches  trifft,  die  Schicksalsmachte  als  wirklich,  als  per- 
sonlich  empfindet;  er  war  viel  zu  stolz,  um  fiir  sein  widriges 
Geschick  Menschen,  emzelne,  Zeitgenossen  haftbar  zu  machen 
und  Feinde  unter  den  Sterblichen  anzuklagen.  Wohl  aber  ein 
Wunder  der  Wunder,  ein  himmlisch  schones  Wunder,  dafi  er 
diese  Machte  nicht  — wie  Byron,  wie  Lenau  — als  tiickische 
Damonen  nahm,  dafi  er  nicht  weltschmerzlich  schrie  und 
wimmerte,  sondern  dafi  er  die  Gotter  als  trauten  Umgang  er- 
wahlte  und  sein  Schicksal  lieben  lernte.  1st  in  Wahrheit  etwas 
Idylhsches  in  Holderlin,  so  ist  gerade  dieses  Idyll  das  Zeichen 
seines  Heroismus,  eines  Heldentums  neuer,  wiewohl  an  heilig 
ernste  Gestalten  der  Antike  erinnemder,  nicht  streitsiichtiger, 
wild  und  oberflachlich  ausbrechender,  sondern  aushaltend- 
friedhcher  Art. 

Brauchen  wir  Helden,  die  nicht  zerstoren  und  wettern, 
sondern  bauen,  ordnen  und  segnen,  brauchen  wir  Helden  der 
Liebe,  so  ist  Holderlin  unsrer  Zukunft,  unsrer  Gegenwart  ein 
fiihrender  Geist. 


212 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


Aber  gerade  als  er  so  geworden  war  und  das  oberflachenhaft 
schaumende  Schillerische  Pathos  seiner  J ugendgedichte  abgetan 
und  aus  seinem  echten  Pathos,  seiner  Passion,  seinem  Leiden  ein 
Reiner  und  Eigener,  ein  Einziger  hervorgegangen  war,  da  fand  er 
sich  aufs  tiefste  vereinsamt.  „Menschenbeifall“  — so  heifit  das 
Gedicht,  in  dem  sich  diese  seine  Stellung  zur  Welt  ausdriickt: 

1st  nicht  heilig  mein  Herz,  schoneren  Lebens  voll, 

Seit  ich  liebe?  Warum  achtetet  ihr  mich  mehr. 

Da  ich  stolzer  und  wilder, 

Wortereicher  und  leerer  war? 

Achl  der  Menge  gefallt,  was  auf  den  Marktplatz  taugt, 
Und  es  ehret  der  QCnecfit 
Nur  den  &ewa(isamen ; 

An  das  Qdtificfie  glauben 
Die  allein,  die  es  sefber  sind. 

Liebe  und  Friede,  Geist  und  Volk,  Schonheit  und  Gemein- 

schaft : das  alles  war  ihm  zusammengehorig  und  eins ; und  seine 
Geliebte,  seine  eigene  Liebefahigkeit  wie  die  Frau,  der  er  seine 
Liebe  zutrug,  waren  ihm  wieder  eins  und  das  Sinnbild  der  all- 
gemeinen  Liebe,  die  er  als  etwas  in  uns  Vorhandenes,  selbst- 
verstandlich  Leichtes  und  nur  heillos  Unterdriicktes,  als  etwas 
Natiirliches,  als  die  Daseinsmacht  empfand,  die  das  schone  freie 
offentliche  Leben  durchdringen  und  dem  Streit  wie  der  knech- 
tisch-rohen  Gesinnung  ein  Ende  machen  soil. 

Es  gibt  kein  Liebesgedicht  von  ihm,  das  uns  fur  private,  wenn 
auch  noch  so  warme  oder  gliihende  Regungen  interessieren  will ; 
alle  die  wir  von  ihm  haben,  wenden  sich  ans  Menschliche,  ans 
Gottliche.  Von  Diotima,  der  Geliebten,  spricht  er  wie  von  der 
ewigen  Aphrodite  fur  die  Gesellschaften  der  Menschen  und  das 
Reich  der  Natur: 

Komm  und  besanftige  mir,  die  du  einst  Elemente  ver- 

sohntest, 

Wonne  der  himmlischen  Muse,  das  Chaos  der  Zeit! 
Ordne  den  tobenden  Kampf  mit  Friedenstonen  des 

Himmels, 

Bis  in  der  sterblichen  Brust  sich  das  Entzweite  vereint 


Gustav  Landauer  * Friedrich  Holderlin 


213 


Bis  der  Menschen  alte  Natur,  die  ruhige,  groBe, 

Aus  der  garenden  Zeit  machtig  und  heiter  sich  hebt ! 
Kehr  in  die  diirftigen  Herzen  des  Volks,  lebendige  Schon- 

heit, 

Kehr  an  den  gastlichen  Tisch,  kehr  in  die  Tempel  zuriick! 
Denn  Diotima  lebt,  wie  die  zarten  Bliiten  im  Winter, 
Reich  an  eigenem  Geist,  sucht  sie  die  Sonne  doch  auch. 
Aber  die  Sonne  des  Geists,  die  schonere  Welt,  ist  hinunter, 
Und  in  frostiger  Nacht  zanken  Orkane  sich  nur. 
Vergebens  sucht  der  Dichter,  vergebens  Diotima  die  Pairs,  die 
Gleichstehenden : die  Gesellschaft ; und  darum  der  immer  wieder- 
kehrende  Ton  der  Elegie,  wo  er  doch  ein  Hymnus  liber  seinem 
Volk  hatte  sein  wollen : 

...Ach,  umsonst  nur 
Suchst  du  die  Deinen  im  Sonnenlichte, 

Die  Konighchen,  welche  wie  Briider  doch, 

Wie  eines  Hains  gesellige  Gipfel  sonst 
Der  Lieb  und  Heimat  sich  und  ihres 
Immer  umfangenden  Himmels  freuten, 

die  Freien,  die  Gottermenschen, 

Die  zarthch  grofien  Seelen,  die  nimmer  sind... 

Die  Liebe  ist  ihm  „ein  Zeichen  der  schonern  Zeit,  die  wir 
glauben“,  und  dieser  verlassenen  „Gottestochter“,  die  er  mit 
seinem  Gesang  pflegt,  ruft  er  — in  die  Zeiten  hinein  — zu  uns 
und  iiber  uns  hinaus  — den  Wunsch  und  die  Weisung  zu : 

Wadis’  und  werde  zum  Wald!  eine  beseeltere, 

Voll  entbliihende  Welt!  Sprache  der  Liebenden 
Sei  die  Sprache  des  Landes, 

Ihre  Seele  der  Laut  des  Volks! 


214 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


Carf  Sternheim; 

TABULA  RASA 

E IN  SCHAUSPIEL  IN  DREI  AUFZOGEN 

DRITTER  AUFZUG. 

ERSTER  AUFTRITT. 

Isolde (liest  vor):  „Eine der  merkwiirdigsten  Ubergangsformen 
zwischen  Mischliebe  und  Distanzliebe  ist  der  KuB.  Im  Moment 
der  korperlichen  Kufiberiihrung  ist  die  Distanz  zwischen  den 
Personen  des  Liebesindividuums  zweifellos  nahe  der  Minimal- 
grenze.  Wie  nah  der  KuB  dem  SchluBakt  ist,  zeigt  klarlich  der 
Umstand,  daB  er  in  seiner  sinnlichsten  Form  das  Wollustgefiihl 
anzuldingen  und  erste  Tone  davon  deutlich  heraufzulocken 
beginnt.“ 

Net  tel:  Schon  wieder  Bolsche! 

Isolde:  Nicht  schon  — erst  wieder.  Meiner  Ansicht  nach 
kann  man  Menschen,  die  ins  Leben  treten,  vom  Morgen  bis  zum 
spaten  Abend  nichts  Herrlicheres  vorsagen  als  das  Liebesleben 
in  der  Natur. 

Arthur:  Wie  fuhrt  diese  prachtvolle  Femmalerei  aus  einem 
greulichen  Pessimismus  dualistischer  Denkform  in  das  Paradies 
des  Monismus.  „Das  Tier  hat  den  Menschen  erfunden.  Er  war 
Fisch  und  Wurm  und  Urzelle.“  Dann  sehen  wir  ihn  im  Lauf 
der  Jahrtausende  von  der  Amobe,  dem  Ichthyosaurus  her  real 
zur  Sonne  aufsteigen.  Aber  wie  gibt  uns  dieser  Geist  nicht  nur 
in  unserem  individuellen,  sondem  im  sozialen  BewuBtsein  Riick- 

grat.  (Er  nimmt  Isoldcn  da*  Buch  aus  der  Hand,  schlagt  auf  und  liest.) 


Carl  SUrnhnm  * Tabula  Rasa 


215 


Zur  Frage  des  Mutterschutzes : 
politischen  Parteien  einig  werden  miissen.  Der  Konservative 
muB  hier  fiihlen  wie  der  Sozialdemokrat.  Els  gilt  das  Volks- 
material  als  solches,  das  auf  dem  Spiel  steht.  Gegen  das  Kultur- 
weibchen,  das  sich  das  Amusement  der  Dinge  nicht  durch 
Schwangerschaften  unterbrechen  lassen  will,  gegen  den  siiB- 
lichen  Astheten,  der  das  Kindergebaren  dreckig  findet,  gilt  es.“ 

Isolde:  Fabelhaft! 


,,Hier  liegt  em  Punkt,  wo  alle 


Net  tel  (Hat  wahrend  Arthur  und  Isolde  die  Gesichter  dicht  beieinander 


ins  Buch  stecken,  still  das  Zimmer  verlassen.) 

Arthur:  Man  muB  die  Weiber  zwingen,  die  nicht  wollen! 
Oder  — Bilder  von  riesiger  Schlagkraft:  „Vom  Zeugungsakt 
selbst.  Ich  weiB  nicht,  ob  es  dir  bei  der  Selbstbeobachtung  des 
Zeugungsaktes  auf  der  mannlichen  Seite  einmal  geniigend  auf- 
gefallen  ist,  was  fur  eine  wirklich  frappante  Ahnlichkeit  in  ge- 
wisser  Beziehung  zwischen  diesem  Akt  und  einem  anderen,  dir 
hochst  gelaufigen  deines  Korpers  besteht:  namlich  dem  schlich- 
ten  Akt  des  Niesens.“ 

Isolde:  Unerhort! 

Arthur:  „Kitzelvorgang,  Schleimhaut,  prickelnder  Reiz, 
eruptive  AusIosung.“ 

Isolde:  Ganz  fabelhaft’ 

Arthur:  Lassen  wir  die  technischen  und  organisatorischen 

Leistungen,  die  Deutschland  in  diesem  Jahrhundert  aufweist, 

einmal  ganz  beiseite:  Dies  Werk,  der  Triumph  naturwissen- 

schafthcher  Vernunft  liber  den  theologisch  synthetischen  Gott 

ist  ein  Verdienst,  um  das  uns  nicht  nur  die  Kulturvolker  der 

Gegenwart,  nein,  zwei  europaische  Jahrtausende  beneiden 
miissen. 


Isolde:  Gotzendammerung ! Du  tragst  das  Ganze  aber  auch 
vor,  hast  eine  Eindringlichkeit  der  Uberzeugungf 

Arthur:  Konnte  mir  iiber  das  Ideal  der  Sozialdemokratie 


Isold 


Wie 


Monismus 


erst  der  eigene  Leib  an  den  erhabenen  Vorgangen  teil. 
Arthur:  Freilich. 


216 


Carl  Stcrnheim  * Tabula  Rasa 


Isolde  (mlt  einem  Seufzer):  Vierzehn  Tage  noch! 

Arthur:  Nach  dem  Jubilaumstrubel  schien  es  geraten,  eine 
Pause  im  Feiern  eintreten  zu  lassen. 

Isolde:  Und  in  der  Ahnung  der  Herrlichkeiten,  die  mit  dem 
Andammern  des  Lebensquells  bevorstehen  — ! (Sie  legt  die  Hand 
aufs  Buch.)  Diesem  Manne  danke  ich  viel.  Von  alien  Zweifeln 
hat  er  mich  griindlich  befreit.  Nicht  blind  gehe  ich  meinem 
Schicksal  entgegen ; ich  darf  sagen,  durch  ihn  ist  mir  die  ganze 
Technik  des  Zeugens  und  Gebarens  gelaufig.  Welch  kristallene 
Klarheit  fiirs  Leben,  Arthur.  Keine  mystische  Geheimnis- 
kramerei,  sondem  eindeutig  und  nackt  stehen  sich  Mann  und 
Weib  gegeniiber.  Findest  du  nicht,  irgendwie  reicht  dieser 
Bolsche  an  einen  Gott? 

Arthur:  Es  scheint  manchmal. 

Isolde  (groBen  Blicks  und  feierlichen  Ernsts):  Arthur! 

Arthur  (ebenso):  Isolde!  (Hsndedruck). 

Beide  (exeunt). 


ZWE1TER  AUFTRITT. 


Bertha  (tritt  auf,  nimmt  das  liegengebliebene  Buch,  beginnt  zu  lesen, 
lacht,  liest  und  bricht  in  einen  Lachstrom  aus). 

Stander  (tritt  auf):  Was  gibt’s? 


Bertha  (zeigt  mit  krampfhaftem  Lachen  auf  das  offene  Buch):  Nein ! 


da! 

Stander  (nimmt  das  Buch  und  liest):  Pfui  Ttafel!  Meinem 
Schwiegersohn  ? 

Bertha  (nickt):  Herrn  Arthur. 

Stander  (fiir  sich):  Idiot!  (laut)  Schweig!  Was  erlaubst  dudir? 

Bertha:  Ich  kanns  fiir  zwanzig  Mark  monatlich  nicht  langer 
machen.  Nach  fiinf  Jahren  Dienst  hatte  man  Aufbesserung  ver- 
dient. 

Stander:  Es  gibt  keinen  Dienst,  kein  Gehalt.  Freiwilligen 
Vertrag. 

Bertha:  Den  kiindige  ich  zum  Ersten. 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


217 


St  ander:  Gut.  Was  sonst? 

Bertha:  Aber,  Herr  Stander  — ist  es  denn  moglich?  Ich  soli 
von  Ihnen  fortgehen? 

Stander:  Du  sollst.  Gekiindigt  zum  Ersten! 

Bertha:  Warum? 

Stander:  Weil  du  siindhaft  faul  stets  warst  und  bist.  Dich 
von  mir  masten  willst. 

Bertha:  Das  kann  Ihr  letztes  Wort  mcht  sein,  Herr  Stander. 
Wo  Sie  mir  versprochen  haben,  niemand  auBer  mir  soil  einst 
Ihren  Leichnam  waschen. 

Stander:  Aus. 

Bertha:  Aber  unser  Verhaltnis  ist  em  Gesellschaftsvertrag, 
den  man  nicht  — 

Stander:  Gekiindigt. 

Bertha:  Ubereinkunft ! 

Stander:  Gekiindigt. 

Bertha:  Ich  will  ja  alles  — was  Herr  Stander  von  mir  armen 
Weibe  mag.  (Sie  weint.) 

Stander:  Nein,  nein,  nein.  Ich habe es  satt.  (Er  briillt:) Hinaus I 

Bertha  (schluchzend,  exit). 

Stander:  Dieses  war  der  erste  Streich! 

Wind  weht  durch  diesen  Morgen.  Ausgeliiftet  wird  von  oben 
bis  unten  das  Haus.  Lunge,  Hirn  und  Leber  ausgeliiftet.  Den 
zwanzigsten  Mai  streichen  wir  rot  im  Kalender  an.  Friihlings- 
anfang  in  meinen  Herbsttagen.  Spat  kommt  er,  doch  er  kommt. 
(Er  zieht  ein  Schreiben  heraus.)  Els  ist  entschieden,  wie  ich  es  voraus- 
gesehen.  Ich  habe  michzurRuhegesetzt.  DiebodenloseAchtung, 
die  man  vor  meinem  Verzicht  empfand,  wurde  von  mir  zu  einem 
Ruhegehalt  ausgewalzt.  Mit  Zuschiissen  aus  einem  Dutzend 
Kassen  zahlt  man  mir  an  viertausend  Mark  jahrlich.  Bis  ans 
Lebensende  ist  dafiir,  wie  mich  mein  Anwalt  versichert,  das  Ge- 
setz  auf  meiner  Seite.  Kommen  achtzehnhundert  Mark  Kapital- 
zinsen  dazu.  Nach  dieser  Feststellung  trete  ich  sechzigjahrig 
gehautet  auf  den  Weltenplan  und  sehe  die  Systeme  um  mich,  die 
ich  bisher  heimlich  und  auf  Umwegen  bekampfte,  als  ein  freier 
Mensch  an. 


218 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Doch  der  zweite  folgt  sogleich! 

AIs  beginne  ich  zu  schweben,  habe  ich  das  Gefiihl.  Der 
Nachste,  der  mir  gegeniibertritt,  lernt  schon  den  ganzlich  neuen, 
und  wie  mich  diinkt,  den  Originaistander  kennen. 


DRITTER  AUFTRITT. 

Der  Arzt  (tritt  »uf). 

Slander:  Guten  Morgen,  Herr  Doktor! 

Arzt:  Sie  baten  mich,  vorzusprechen.  Da  ich  gerade  Herrn 
Flocke  sah  — 

Slander:  1st  er  unpaBlich? 

Arzt:  Liegt  zu  Bett. 

Stander:  Befund? 

Arzt:  Bos. 

Stander:  Wie? 

Arzt : Marasmus.  Ein  sparliches  Maschinchen,  das  zu  ebener 
Erde  eben  lief,  sollte  plotzlich  einen  steilen  Berg  hinankeuchen. 
Jetzt  stehts  still.  Von  morgen  ab  rollts  riickwarts. 

Stander:  Sein  neues  Amt  iiberbiirdet  ihn? 

Arzt : Er  ist  ihm  in  nichts  gewachsen.  Nicht  an  Kenntnissen, 
nicht  an  Arbeitskraf t . Was  ihn  totet,  ist  das  Mafi  der  Verant- 
wortung,  das  auf  ihm  ruht. 

Stander:  Wirklich? 

Arzt:  Sein  Him  ist  gesprengt,  das  Herz  gebrochen.  Am 
schmerzlichsten  betrauert  er  den  Verlust  seiner  Invalidenkarte, 
das  fortgegebene  Anrecht  auf  Kassenschutz.  AIs  Arbeiter  orga- 
nisiert,  fiihlte  er  Person,  Leben  und  Welt.  AIs  fiihrende  Person- 
lichkeit  isoliert,  bleibt  er  gefiihl-  und  leblos. 

Stander:  Was  prophezeien  Sie? 

Arzt:  Schlufi  in  vier  Wochen. 

Stander:  Unfehlbar? 

Arzt:  Bestimmt  nach  Menschenermessen. 

Stander:  Ich  dacht’  mirs. 


219 


Carl  Sternheim  • Tabula  Rasa 


Arzt:  Er  hatte  sichs  versagen  miissen.  Bleib,  Schuster,  bei 
deinem  Leisten.  Verantwortung  ist  langst  nicht  fur  jedermann. 
Ultra  posse  nemo  tenetur. 

Stander:  Richtig. 

Arzt:  Ein  beklagenswertes  Schicksal. 

Nun  zu  uns.  Was  glbts?  Wo  fehlts? 

Stander:  Mir  fehlt  nichts.  Was  ich  will,  ist  ein  Gutachten. 
Dieser  Tage  wurde  ich  sechzig  Jahre.  Wie  lange,  arztlicher  Vor- 
aussicht  nach,  in  welcher  Kondition  ich  noch  zu  leben  habe, 
wiiBte  ich  gem. 

Arzt:  Brauchen  Sie  ein  Kassenattest,  handelt  es  sich  urn 
Renten  ? 

Stander:  Mit  dem  heutigen  zwanzigsten  Mai  bin  ich  zur 
Ruhe  gesetzt.  Die  verpflichtenden  Zusagen  aller  in  Betracht 
kommenden  Kassen  besitze  ich  schon. 

Arzt:  Sie  wollen  die  Wahrheit?  Kein  Attest? 

Stander:  Runde  Wahrscheinlichkeit. 

Arzt:  Viel,  das  wissen  Sie,  kann  ich  als  Arzt  nicht  feststellen. 
Stehen  Sie  als  Menschengebaude  vor  mir,  sehe  ich  deutlich  nur 
die  Fassade.  Die  ist  solid.  (Befuhlt  ihm  den  Kopf.)  Auch  die 
Wetterseite ; Schieferdachung.  Der  innere,  grobe  Mechanismus, 
Luft-  und  Heizungsschlauche  — (Er  hat  ihm  das  Stethoskop  auf 
die  Brust  gesetzt.)  Tief  und  ruhig  atmen ! Teufel  — Lungen  wie 
ein  Brabanter  Rofi.  DasHerz?  Ein  Strombagger,  Schiffspumpe. 
Nerven  ? Das  System  der  Lebensreizempfanger  und  -verwerter  ? 

(Er  schheGt  mit  den  Handen  Standers  Augen  und  offnet  sie  wieder.) 

Phantastisch  jung  und  spriihend  lebendig.  Von  da  aus  werden 
Sie  hundert  Jahr. 

Stander:  Aber? 

Arzt:  Auch  Niere,  Leber  und  Magen  streiken  nicht,  wie  ich 
aus  jahrelanger  Behandlung  weiB.  Bleibt  das  Wesentliche,  von 
dem  ich  gar  nichts  sagen  kann. 

Stander:  Namlich? 

Arzt:  Das  MaB  Ihrer  Neigung  zu  innerer  Selbstvergiftung 
und  die  Fahigkeit  des  Blutes  zur  Verteidigung  dagegen.  Wie  weit 
die  Galle  Faulnis  der  Safte  und  ihre  Garungen  verhiiten  kann. 


220 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Stander:  Zerstorung  durch  Bazillen,  Bakterien? 

Arzt:  Die  brauchts  nicht.  Wir  wissen  nicht  einmal,  ob  sie 
auBer  in  medizinischen  Lehrbiicbem  wirklich  schadlich  wirken. 
Vergiftung  durch  die  Unfahigkeit,  verbrauchte  Stoffe,  die  ge~ 
fahrlich  sind,  aus  dem  Haushalt  des  Korpers  auszuschleudern. 

Stander:  Wie  mache  icb  meinen  Leib  dazu  fahiger? 

Arzt:  Vermeiden  Sie  die  Laster! 

Stander:  Korperliche? 

Arzt:  Zuerst!  Trunksucht,  Ausschweifung. 

Stander:  Ich  bin  kein  Wiistling. 

Arzt:  Dann  seelische:  Bosheit,  Neid,  Gram. 

Stander:  Neid  liegt  mir  fern.  Gram  suche  icb  nicht.  Ein 
SchuB  Bosheit  hier  und  da  bekommt  mir. 

Arzt:  Wenn  Sies  so  fiihlen,  gut.  Vor  allem  aber  fege  Selbst- 
gefiihl,  das  BewuBtsein  der  Freiheit  und  eigenen  Willens,  durch 
die  Blutbahnen. 

Stander:  Das  ists,  Doktor!  Verlassen  Sie  sich  darauf,  nur 
das ! Und  hangts  davon  ab,  vom  festen  EntschluB  dazu,  von  der 
GewiBheit,  ihn  immer  und  in  jedem  Augenblick  zu  besitzen, 
werde  ich,  das  versichere  ich  Sie  — liber  hundert  Jahr. 

Arzt:  Ich  sehe  nichts,  das  Ihre  Voraussage  ausschlosse. 

Stander:  Und  wozu  dient  die  Bauchspeicheldriise ? 

Arzt:  Niemand  weiB  es. 

Stander:  Wozu  die  Milz? 

Arzt:  Man  ahnt  es  kaum. 

Stander:  Und  der  Bazillen  sind  Sie  nicht  einmal  gewiB? 

Ar zt : Die  Bakteriologie  ist  eine  Suppe,  die  man  nicht  anriihrt, 
ohne  sich  zu  verbrennen.  Man  schiitte  sie  weg. 

Stander:  Doktor,  wann  sind  Sie  wissenschaftlich  einmal 
sicher  ? 

Arzt:  Liegt  der  Kranke  tot  vor  uns,  diirfen  wir  ruhig  ver- 
sichern,  er  lebt  nicht  mehr. 

Stander:  Nicht  immer  ist  der  Arzt  des  Sterbens  Grund? 

Arzt:  Meist  Blutvergiftung. 

Stander:  Ich  danke  Ihnen.  Jedoch  — der  gute  alte  Flocke 
unbedingt  ? 


Carl  Sternheim  » Tabula  Rasa 


Arzt:  Leider.  Unfahig,  Antitoxine  zu  bilden.  Zuviel  Sorge 
und  Gram.  Guten  Morgen.  (Exit.) 

Stander  (vor  dem  Spiegel):  Mit  fiinftausendzweihundert, 
Schieferdachung  und  gesunder  Blutbereitung  habe  ich  minde- 
stens  fiinfundzwanzig  riistige  Jahre  vor  mir.  Es  Iohnt ! 

* 

VIERTER  AUFTRITT. 

Isolde  ( mit  einem  Tablett  tritt  auf  und  setzt  es  auf  den  Tisch): 

Das  Friihstiick!  Ein  Hlihnchen  mit  Tomatentunke.  (Sie  lafit  den 

Vorhang  herunter,  verhangt  die  Schliissellocher.) 

Stander  (setzt  sich  zum  Tisch):  Zieh  den  Vorhang  hoch! 
Isolde:  Den  Vorhang?  (sie  tuts.) 

Stander:  Die  Ttiren  mach  auf. 

Iso  lde:  Auf?  (sie  tuts.) 

Stander:  Stell  dich  als  Abundantia  wie  am  Festabend  dort- 
hin.  Uppig,  uppig! 

Isolde  (tuts). 

Stand  er : Stillgestanden!  Grazioser  das  Bein.  Hoch!  Offne 
das  Haar.  LaB  deine  Mittel  spielen. 

Isolde  (entfesselt  ihr  Haar). 

Stander:  Ich  mochte,  in  einer  Zeitung,  in  Biichern  ware  fett- 
gedruckt  von  mir  die  Rede.  Ich  wollte  — zum  Bersten  bin  ich 
mit  Buntheit  und  Kraften  angefiillt. 

* 

FONFTER  AUFTRITT. 

Arthur  (tritt  auf  und  sieht  Isolde  in  ihrer  Stellung):  Was  bedeutet 

der  Auftritt? 

Stander:  Abundantia.  Die  Fiille.  Erinnerst  du  dich? 
Arthur:  Ich  verbiete  meiner  Braut,  sich  irgendwem  in  sol- 
chen  Stellungen  zu  zeigen. 

Stander:  Ernsthaft? 


40  Voi.  m/i 


222 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


Arthur:  Deine  Nichte  gehort  fortan  ausschlieBlich  mir  und 
zu  mir. 

Isolde  (auf  ihn  zu,  umschlingt  ihn). 

Stander:  Ihr  seid,  sieht  man  euch  an,  im  wesentlichen  iiber- 
einstimmend,  wirklich  mit  gleichem  MaB  zu  messen. 

Isolde:  Ich  fiihle  ganz  wie  Arthur. 

Stander:  Das  muB  ein  Vergniigen  sein. 

Arthur:  Was  soil  die  Redensart?  Willst  du  eine  Ausein- 
andersetzung,  findet  sie  allerdings  besser  vor  der  Hochzeit  als 
nachher  statt. 

Stander:  Hast  du  etwas  gegen  mich? 

Arthur:  Nein. 

Stander:  Es  schien  mir  so. 

Arthur:  Durchaus  nicht. 

Stander:  Isolde? 

Isolde:  Aber  Onkel! 

Stander:  Ihr  gebt  mir  dasZeugnis,  bis  zu  diesem  Augenblick 
besteht  in  euch  keinerlei  Abneigung  gegen  mich  und  meine  Art  ? 

Arthur:  Ich  schatze  dich  als  groBziigigen  Charakter  aufier- 
ordentlich  hoch,  das  weiBt  du. 

Isolde:  Ich  liebe  dich  doch,  Onkel! 

Stander:  Seid  ihr  vollkommen  ehrlich? 

Isolde:  Ja. 

Arthur:  Vollkommen. 

Stander:  So  bin  ichs  auch. 

Leider  kann  ich  von  meinen  Gefiihlen  fur  euch  nicht  dasselbe 
sagen.  Anschauungen  und  Urteile,  die  ihr  habt  und  die  euch 
furs  Leben  vereinen,  sind  mir  kontrar. 

Arthur:  Wie? 

Stander  (zu  Arthur):  Geradezu  widerlich.  Vom  Augenblick 
an,  da  ich  dich  genauer  kenne,  kampfe  ich  eigentlich  bei  jedem 
deiner  Worte  mit  Brechreiz. 

Isolde:  Onkel! 

Arthur:  Aber  das  ist  ja  — 

Stander:  In  deiner  Person  verkorpert  sich  fur  mich  der  zahe 
Schleim  der  tausend  Gemeinplatze  und  Redensarten,  mit  dem 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


223 


der  nach  Eigentiimlichkeit  durstende  europaische  MenscK  be- 
tropft  und  zu  einer  klebrigen  Masse  geknebelt  wird. 

Arthur:  Unerhort! 

Stan  der : Was  aus  deinem  Mund  kommt,  hat  die  Absicht,  der 
Erbarmlichkeit  von  iiberall  her  zum  Sieg  zu  helfen.  Christen- 
turn,  Sozialismus,  jeden  ursprtinglich  heiligen  Protest  des  Men- 
schentums,  zu  einer  geschmacklosen  Bettelsuppe  zu  verdiinnen, 
die  den  Lebensnerv  reiner  Gottesgeschopfe  bricht. 

Arthur:  Horen  Sie  auf!  das  ist  — ! 

S tan  der : Hinaus ! Nehmen  Sie  mein  Miindel,  das  mit  Mond- 
siichtigkeiten  fettgeschwemmte  Madchen,  mit. 

Isolde:  Arthur!  (Mit  Aufschrei  an  seine  Brust). 

Arthur:  Ich  — ! Ah  — ! Das  — ! 

Stan  der:  Verpestet  drauBen  das  eigene  und  anderer  Leben 
weiter  mit  sozialer  Hinaufentwicklung,  mit  Mutterschutz,  Schlag- 
sahne  und  Bourgeoisschleim.  (Da  Arthur  fuchtelnd  Miene  zu  irgend 
etwas  macht,  briiilt): 

Stander:  Hinaus!! 

Arthur  und  Isolde  (umschlungen  exeunt). 

Stander  (reiCt  da>  Fenster  auf):  Luft  herein.  Wie  wohl  das  tut ! 


SECHSTER  AUFTRITT. 

Sturm  (nach  einem  Augenblick  tritt  auf). 

Stander:  Das  ist  eine  Uberraschung.  Was  tust  du  wieder  hier  ? 

Sturm:  Einmal  loekt  mich  die  Neugier,  das  Schlufibild  der 
kiirzlich  aufgefiihrten  Lokalposse  am  Ort  selbst  zu  sehen : Flocke 
im  SchweiBe  seines  kleinen  Angesichts  als  verantworthcher 
Werkdirektor. 

Stander:  Die  Posse  wird  zum  Trauerspiel.  Er  stirbt  daran. 

Sturm:  Ich  dachte  mirs  ungefahr. 

Stander:  Das  war  keine  Kunst. 

Sturm:  Du  hast  ihn  vorgeschlagen. 

Stander:  Ohne  bose  Absicht  fiir  ihn.  Mich  im  Augenblick 
zu  retten.  Er  hatte  auch  ablehnen  konnen,  ablehnen  miissen. 


r.V.V.V.V.V 


Carl  Sternheim  ♦ Tabula  Rasa 


Aber  da  safi  schliefilich  der  Haken : unter  einem  Wust  unver- 
standener  Ideen  drangte  stiirmisch  genug  simple  Biirgersehn- 
sucht.  Der  Knoten  entrollte  zur  Katastrophe. 

Sturm:  Ein  wamendes  Beispiel.  — Und  du,  Stander? 

Stander:  Und  du,  Sturm? 

Sturm : Meinen  Weg  gehe  ich  weiter ; warne  und  beschwore 
die  mir  anvertrauten  Massen  unablassig  durch  Wort  und  ScKrift 
vor  den  Kodem,  die  ihnen  die  kapitalistiscbe  Bourgeoisie  iiberall 
legt.  Suche,  sie  zu  behiiten  vor  dem  Verlust  ihrer  elementaren 
Stofikraft  durch  Annahme  einer  Halbbildung,  die  sie  weiter  be- 
gehrlich  und  unentschieden  macht.  Halte  sie  im  Mifltrauen 
gegen  Volksschulen  in  Sandstein  und  Mahagoniholzem,  in  denen 
man  alien  Lehrstoff  grofibiirgerlich  falscht,  gegen  Kasemen  mit 
Sprungfedermatratzen  und  Wasserspiilung,  gegen  den  Aufent- 
halt  in  Marmorpalasten  mit  Wagnermusik  durch  ein  verstarktes 
Symphonieorchester  bei  einer  Tasse  Kaffee  in  Meifiner  Por- 
zellan  fur  dreifiig  Pfennig. 

Stander:  Um  sie  endlich  zu  fiihren  — wohin? 

Stur  m : Im  gegebenen  Moment  die  Staatsgewalt  zu  ergreifen. 

Stander:  Was  ist  Staatsmacht?  Schutzwille  des  Eigentums. 

Sturm:  Alle  Klassenunterschiede  aufzuheben. 

Stander:  Was  schafft  Klassengegensatze ? Kapital. 

Sturm:  Um  schliefilich  — 

Stander:  Nicht  wie  Arthur  Flocke  im  Weg  friedlicher  Ent- 
wicldung. 

Sturm:  Durch  blutige  Gewalt! 

Stander:  Dennoch  die  Erbschaft  des  bevorrechtigten  Bur- 
gers anzutreten.  Sich  in  seine  Guter  und  Ideen  festzunisten.  Im 
Weg,  Sturm,  unterscheidest  du  dich  von  Flocke,  und  ich  gebe 
deiner  Art  schliefilich  den  Vorzug.  Aber  am  Ziel  angekommen 
mit  einer  Menge,  die  fiir  ihren  Biirgerberuf,  durch  tausend 
Kanale  schon  vorgebildet,  in  Volksschulen,  durch  Zeitung,  Kino 
und  Theater  bourgeoismafiig  mit  dem  einzigen  Begriff  der  Kapi- 
talsanhaufung  und  Verteidigung  vergiftet  ist,  miissen  deine  und 
Flockes  Massen  unfehlbar  die  gleichen  Cotter  wieder  aufstellen, 
die  ihr  stiirzt. 


<* 


Carl  Stcrnhcim  * Tabula  Rasa  225 


Sturm:  Wir  werdens  nicht!  Niemals! 

Stander:  Wie  hoffst  du  uniibersehbare,  auf  immer  tollere 
Fruchtbarkeit  gestellte  Menschheit  mit  einem  Fischzug  zu  heben 
aus  dem  Teich  jahrtausendalter  Zwangsvorstellungen ; wie  sie  zu 
erlosen  von  Begriffen,  die  durch  geschickte  Bildung  endgiiltig 
scbeinen  ? Wie  kannst  du  die  Manner  vom  Weg  ihrer  historisch 
beglaubigten  Tugenden,  Weiber  aus  den  Schlupfwinkeln  der 
ihnen  zugewiesenen  Vortrefflichkeiten  Iocken?  Wer  spiilt  die 
Milch  im  Frauenleib  rein  von  den  Giftkeimen  des  nicht  Sein-, 
sondern  Scheinenwollens,  die,  dem  Saugling  eingeflofit,  ihn 
spater  zwingt,  eine  biirgerliche  Geltung  zu  behaupten,  der  keine 
menschliche  Bedeutung  entspricht  ? Und  doch  bekennen  wir  vor 
unserem  Gewissen,  wir  besseren  Menschen  des  zwanzigsten  Jahr- 
hunderts,  dafi  alle  geerbte  Lehre  nicht  mehr  wirksam  ist  unter 
Hundertmillionengruppen,  die  einzig  der  Sinn  der  Selbsterhal- 
tung  durch  Zusammenschlufi  noch  bewegt.  Fiir  den  Volksfiihrer 
aber  ist  es  besonders  siindhaft,  weiter  Ideale  zu  predigen,  die  das 
Gewissen  des  Einzelnen  zur  Voraussetzung  haben.  Gehthinund 
formt  voraussetzungslos  die  Sittenlehre,  in  der  zum  erstenmal 
die  Masse  des  Volks  als  das  zu  hegende  Einzelwesen  erscheint. 

Sturm:  Wir  wollen  nichts  anderes.  Aber  wie,  wo  ist  da  fiir 
uns  der  Anfang  ? Hast  du  auch  dariiber  nachgedacht  ? 

Stander:  Ich  bin  ein  alter  Mann  und  durchaus  noch  von  der 
Art  jener  Menschen,  die  im  Grund  nur  sich  selbst  ohne  jeden 
Vergleich  und  das  Wohl  der  eigenen  Seele  wollen.  Durch  Sorge 
urns  Brot  wurde  ich  bis  an  mein  sechzigstes  Jahr  verhindert,  aus- 
schliefihch  darauf  zu  achten  und  konnte  nur  durch  maskierte 
Vorstofie,  durch  zeitweilige  Emporung  irgendwelcher  Art,  die 
Verbindung  zur  inneren  Richtlinie  festhalten.  Den  letzten  Aus- 
bruch  hast  du  miterlebt. 

Von  heute  an  aber  habe  ich  freie  Moglichkeit  und  trenne  mich 
entschieden  von  aliem,  was  als  Menschengesetz  mir  hier  ge- 
predigt  wird.  Unabhangig  von  Zunft  und  Gemeinschaftsidealen, 
will  ich  nur  noch  mem  eigenes  Herz  durchforschen,  die  Lehrer 
suchen,  die  meine  Natur  verlangt,  und  sollte  ich  sie  in  China 
und  in  der  Siidsee  finden. 


Carl  Sternheim  * Tabula  Rasa 


Sturm:  Ob  dein  Recht  auf  dich  selbst  oder  die  Pflicht  aller 
fiir  alle  Gottes  RatschluB  mit  uns  ist,  werden  wir  beute  nicht 
entscheiden.  Doch  fallt  dir  deine  Uberzeugung  spat  im  Leben 
ein. 

Stander:  Da  liegt  der  Haken!  Ware  ich  zwanzig,  mein 
Junge,  und  tate,  was  ich  jetzt  tue,  viele  wiirde  mein  Aufbruch 
mitreiBen.  Dann  miifite  Prophetie  sein,  was  jetzt  nur  den  Pro- 
pheten  riihrt:  der  uns  alle  geschaffen  und  unterschieden,  will 
auch  von  jedem  die  anvertraute  Person  unverfalscht  zuriick. 

In  meiner  Fa^on,  durchschnittlich  begabt  in  die  Welt  gestellt, 
kann  ich  mir  das  Heiligsein  erst  als  Ideiner  Rentner  mit  sechzig 
Jahren  leisten,  doch  bleibt  es  immer  noch  Verdienst,  meine  ich, 
feste  Beziige  erst  seit  Stunden  in  der  Tasche,  in  das  eigene  Selbst 
unverziiglich  aufzubrechen. 

Sturm  (nach  kurzer  Pause):  Leb  wohl!  (Er  zeigt  nach  oben  zu 

Flocke.)  Stirbt  oben  der  Alte  — die  Kinder  sind  allein  — das 
alteste  Madchen,  ein  einfaches  Ding,  hat  mirs  vielleicht  ange- 
tan.  Ich  will  hinauf.  (Er  gibt  ihm  die  Hand.) 

Stander:  Du  hast  mich  nicht  verstanden! 

Sturm  (sehr  kiihl):  Ich  habe  dich  gehort.  Und  wills  Gott 
wirklich,  zeigt  sich  auch  irgendwie  und  wann  der  Eflekt.  (Exit.) 

Stander.  Bei  seinen  geringen  Emkiinften  erlebe  ichs  nicht 

mehr.  (Er  setzt  den  Hut  auf.) 

Und  nun  auf  Wanderschaft  zum  Ziel  am  ruhigen  Ort. 

Fiir  mich,  Stander,  stehe  ich. 

Welch  Gluck,  daB  man  keine  Kinder  hat!  (Exit.) 


Vo  r h t n g . 


Franz  Werfel  * Neue  Gedichte 


227 


c Tranz  ^XOerfef: 

NEUE  GEDICHTE 

AN  DEN  RICHTER. 

Ich  habe  meine  Lampe  ausgeloscht  und  mich  zu  Bette  gelegt, 

in  mein  fremdes  Bette. 

Da  wallte  mir  durchs  Fenster  die  bleiche  Welt  der  Nacht,  und 

der  aufgebaute  Berg  beugte  sich  iiber  meine  Brust  und 
wankte. 

Die  reifienden  Hunde  bellten  in  den  schattenlosen  Hofen  des 

mondreichen  Dorfes,  und  ich 

Verwarf  mich  und  stand  auf  und  ziindete  die  unwillige  Lampe 

wieder  an. 

Ich  will  nichts  von  den  Frvichten  und  Speisen  genieBen,  die 

noch  auf  meinem  Tische  stehn,  obgleich  es  mich  ge- 
liistet. 

Ach  die  Befriedigung  vertritt  uns  Deinen  Weg,  und  wer  weich 

lcniet,  betet  heiser. 

Mit  dem  Apfel  lenkt  der  Arzt  das  kranke  Kind  von  seinem 

Weinen  ab,  urn  Fieber  zu  messen ; 

Weh  uns,  verheert  von  Lockung  und  GenuB,  allzubereit,  die  edle 

Statte  des  ewigen  Erkenntnisschmerzes  zu  verlassen!! 

0 mein  Richter!  Meine  Feinde  haben  mich  entratselt,  durch- 

schaut  und  geschlagen. 

Sie  verwarfen  mich,  und  ich  muBte  mich  mit  ihnen  verbiinden. 

Sie  schalten  mich:  Scheinmensch,  charakterlos,  eitel,  trage, 

gleichgiiltig,  zu  klein  zur  Siinde,  zu  gering  zur  Wohl- 
tat,  schwach  im  Frevel  ur*d  wertlos  in  der  Reue, 


228 


Franz  Werfd  * Neue  Gedtchte 


Und  ich  horte  sie,  und  fuhr  gegen  mich,  und  gab  ihnen  Recbt 

mein  Richter  — und  mufi  mich  hassen! 


Ich  bekenne  — und  wenn  auch  dies  Eitelkeit  ist,  weh,  vermag 

ich  nichts  dagegen,  bekenne  dennoch: 

Ich  war  an  diesem  einzigen  Tage  so  ldein  und  niedrig,  mittel- 

maBig  und  schwach,  wie  nicht  einer  an  meinem  Tisch  — 
Hoflich  war  ich  aus  Angst,  lobsprecherisch  aus  Feigheit,  aus 

Tragheit  zweiziingig  und  ohne  Halt.  Liebe  vergalt  ich 
mit  boser  Hoffnung,  Sorge  mit  sorglosem  Schwachsinn. 
Els  ist  nicht  die  Lust  der  Zerknirschung,  wenn  ich  mich  mit 

dem  weidenden  Vieh  vergleiche. 


Wie  kostlich  ist  der  kommende  Tag,  mein  Richter,  wie  traumt 

man  sich  wandeln  im  Gebirg,  wie  hoffend  auf  GroBe. 

Aber  der  abgestorbene  Tag  ist  schrecklich,  man  sieht  sich  ungem 

nach  ihm  um,  wie  nach  einem  Kiibel  voll  Kehricht. 

Wird  es  immer  so  sein?  Mein  Tag  immer  so  sein,  bis  zum 

letzten  Tage? 

Und  wird  sich  im  schmutzigen  Kranken  noch  die  alte  Sturm- 

glocke  der  Schuld  emporen  ? ! 


Mein  Richter,  ich  weiB  nichts  vom  kommenden  Tag,  von  jenem 

Tag,  nicht  ob  Du  wirst  zu  Gerichte  sitzen,  mein 
Richter. 

Aber  Deinen  Gerichtstag  fiirchte  ich  nicht,  Deine  Erhabenheit 

nicht,  Dich  nicht,  mein  Richter,  mich  fiirchte  ich,  ich 
fiirchte  mich,  Mich! 

Meine  lahme  Seele  fiirchte  ich,  mein  stummes  Herz,  den  un- 

verzweifelten  Blick,  den  Leichtsinn,  das  So  und  So, 
das  leere  Achselzucken ! 

Ich  weiB  nicht,  ob  Du  bist,  mein  Richter,  aber  ich  wiinsche, 

daB  Du  bist,  mein  Richter,  und  will  Deine  gute  Rute 
besprechen. 


Franz  Werfel  * Ntue  Gedichte 


229 


Ich  sitze  in  diesem  kalten  Zimmer  vor  meiner  Lampe.  Horchst 

Du  an  meinem  Fenster?  Ich  kann  die  Sterne  sehn. 

Ich  wende  meinen  Kopf  scheu  zum  Fenster  und  rufeDir  diesen 

Gesang  zu  und  mache  diesen  Gesang  den  Schlafenden 
kund. 

Meine  Lampe  erfriert.  In  das  Grab  des  schrecklichsten  Todes 

sehe  ich,  ich  sehe  den  geistigen  Tod.  Ich  fiihle  das 
fieberlose  Ubel,  Tragheit  des  Herzens! 

Mit  kalten  Fingern  sitze  ich  da,  ohne  Hilfe,  und  vollig  ratios. 


Bald  werde  ich  mich  unter  meine  Decke  legen,  meinen  Leib 

dehnen  und  ruhig  atmen. 

Lafi  es  nicht  zu,  mein  Gott,  dieses  Stunde  urn  Stunde,  dies 

Heute  und  Gestern,  dies  Immer  und  Ewig! 

Aber  vielleicht  hast  Du  keine  Macht  tiber  mich,  wie  ich  keine 

Macht  iiber  diesen  Gesang  habe,  der  in  seiner  Wahr- 
heit  noch  gleisnerisch  ist. 

Und  nicht  einmal  den  Wahnsinn  darfst  Du  mir  mit  seinen 

Sperberschwarmen  und  groBen  Steppen  schenkeni 


230 


Franz  Werfel  ♦ Is! cue  Gedichte 


TRACHEIT  DES  HERZENS. 

Und  immer  wieder  flieht  ein  Antlitz  fort 
Und  schwanket  iiber  fremdem  Wasserort. 
Unwiederbringlich  Aug  und  Liebeszeichen 
Wird  keine  Reue,  keine  Qual  erreichen. 

Mein  Gott,  wieviele  Liebe  liefi  ich  aus, 

Nicht  kalt,  nicbt  heiB  durchmessend  Weg  und  Haus ! 
Schlafriger  Schacher  konnte  ich  nicht  halten 
Gewognes  Aug,  darbietende  Gestalten. 

Unaufgefundener  Blick  sank  irr  hinab, 

Arme  Umarmung  rasselte  ins  Grab, 

Und  ich,  ein  Morder  ungeheurer  Giiten, 

Geh  meinen  Kreis,  den  lauen  Ort  zu  hiiten. 

Und  immer  wieder  bleiben  Arme  leer, 

Und  abgewendet  wall  ich  durch  mich  her. 

So  Tag  fur  Tag  das  feige  Herz  zersprechend 
Und  elend  mit  Almosen  Gott  bestechend. 


Franz  Werfd  ♦ Neue  Gcdichte 


231 


LIED  NACH  EINEM  TAGE. 

Herr,  sehr  wenig  ist,  was  ich  dir  gab, 

Deine  Flamm  ist  klein  in  mir  gelungen, 

Herr,  der  Du  mich  aus  den  Zeugungen 
Fallen  liefiest  irr  in  meinen  Trab. 

Dennoch  Fremdling  ich  war  so  verwandt, 

Und  ich  sah  sich  Augen  iibermilden, 

Und  erkannte  in  deinen  Gebilden 
Weise  Anmut,  die  ich  nicht  verstand. 

Ach  so  schwankte  ich  durch  Traum  und  Kreis, 
Durch  Spitaler  wankend  und  durch  Sale.  . . 
Nur  das  schwarze  Wiirgen  in  der  Kehle, 
Manchmal  Trane,  war  Dein  PreisI 


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232 


Franz  Werfel  * Neue  Gedichte 


DERTEMPEL. 

O Tempel,  in  die 
Zarteste  Stunde  gebaut, 

Wenn  schon  die  unermiidlichen 

Schmetterlinge, 

Die  kreisenden,  welken  an 
Der  alten  Lampe  des  Weisen  und 
Die  Traumer  plotzlich  das  Haupt 
Tauchen  aus  tausend  Fenstem. 

Tempel, 

In  solcher  Stunde  erschallend, 
Lafit  du  uns  gehn 
Uber  die  Treppe. 

Aber  wenig  leuchtet 
Die  Later ne  voran  des  Priesters, 
Wenn  tie!  der  Tierkreis 
Briillet  und  leis  im  Schlaf. 

Wie  bald  doch  steh  ich 
Und  schon  im  Kuppelsaal. 

Dort  aber  rundet 
Der  offene  Himmel. 

Ein  Morgen 

Macht  ihn  schon  fast 

Zum  verschwommenen  Knaben. 

Doch  in  dem  hellen  Boden 

Findet  er  sich  bemessen 

Zu  unseren  FiiBen  wieder 

Genau 

Im  bildenden  Wasserteich. 

Wie  da  ruhen 

Uber  unseren  Schultern, 

Die  einhaltenden  Vogel, 

Die  Planeten  sich  aus. 


Franz  Werf el  * Ntue  Gedichte  233 

Sitzen  sanft  eine  Weil’  nur, 

Geschlossene  Fliigel 
Auf  atemlosen  Saulen. 

Trallert  einer  im  Schlaf. 

Aber  als  letzter, 

Luzifer  schwirrend 
Hebt  sich  hinweg 
Morgender  Stern. 

Mit  fernem  Gelachter 
Spiegelnd  Gefieder 
Im  schon  helleren  Bassin. 

Nun  aber  seh  ich 
Wolken  griinen  im  Wasser. 

Sehe  dreifach 
Das  Strandgut  treiben 
Im  kleinen  Umkreis 
Des  Brunnenteichs. 

Wohl  weiB  ich, 

Und  nimmer  tauschet  mich  wer, 

Mattes  und  Morsches. 

Drei  Dinge  schwimmen, 

Kleines  Brett  Noahs, 

Binsenkorb  Mosis, 

Holzspan  der  Krippe. 

Drei  Schatten  schwimmen 
Auf  wachsendem  Himmel. 

Nun  aber  schreiten  — 

(Da  es  doch  bald  mehr  Friihe  ist) 

Die  Manner  hinaus, 

Die  herrlichen 
Nach  der  Abfertigung. 

Uber  den  Brauen 

Schimmern  die  Glatzen  vor  Osten. 


✓ 'S. 


234 


Franx  Werfel  * Neue  Gedichte 


Sie  neigen  und  schreiten, 

Die  Heiligen  schreiten 
Hinter  Planeten. 

Friihe  Arbeiter, 

Und  kiihl 

Von  diesem  Himmel  und  Frische. 
So  schreiten  sie, 

Ohne  zu  wecken, 

Gesenkte  Stimen, 

Aus  alien  Tiiren  zugleich, 

Hinaus  aus  diesem 
Kuppelkreis, 

Die  Verschmaher  der  Speise. 


Franz  Werfel  • Neue  Gedichte 


235 


MUDIGKEIT. 

Tiefe  Sch wester  der  Welt 
Weilt  auf  bewimpeltem  Bord, 

Schiitzt  ihren  Krug  vor  dem  Glanz, 
Der  schon  im  Westen  zerstiirzt. 

Mit  dem  Gelachter  des  Volks 
Lost  sich  das  Schifflein  und  schaumt, 

Aber  die  Gotti  n und  Gold 
Rollt  mit  den  Wellen  noch  lang. 

Herz  und  Atem  rersinkt, 

Woge,  in  welchen  Schlag? 

Mischt  schon  die  Fledermaus 
Elemente  und  Mohn  ? 

Abendgestade  und  Blick 
Schwindet  hin.  Kiel  und  Delphin. 
Lebt  noch  iiber  der  Bucht 
Maulbeer,  Limone  und  01 1 


236 


Franz  Werfel  ♦ Neue  Gcdichte 


FRAUEN. 

(Nach  cinem  Fieber  zu  sagen.) 

Waren  es  Frauen  nicht. 

Die  uns  an  ihr  grofies  Antlitz  hoben.  . . 

Die  uns  in  weiBen  Wagen  schoben 
Durch  die  unschuldigen  Auen  nicht? 

In  das  AbendiibermaB  der  Stadte 
Tempelbrand  und  Kuppelgoldenwerden 
Fiihrten  sie  uns  wieder  an  der  Hand, 

Wenn  wir  den  Nachmittag  im  Sand 

Gespielt  oder  auf  griinen  Erden 

Vor  des  kleinen  Friedhofs  eingesturztem  Rand. 

0 Frau’n,  o Doppelspiel, 

0 fernste,  ferns te  Herzen, 

So  nah,  wie  nur  das  Fernste  nahe  ist. 

Nun  tragt  ihr  eure  unbekannten  Schmerzen 
An  uns  vorbei  durch  diese  Zimmerfrist. 

Wir  kennen  nicht 
Euer  Gesicht, 

Das  wir  doch  kennen  aus  den  hallenden  Tagen, 

Da  wir  in  seiner  tiefen  Nahe  dichten  Nah’  die  Augen 

aufgeschlagen . 


Franz  Werfel  ♦ Neue  Gedichie 


237 


DER  EHRGEIZ. 

Ein  Weib  von  scharf  und  schreitender  Gestalt, 
Mit  keuschem  Antlitz,  Handen  feucht  und  kalt. 
Das  Auge  dunkelt  aus  geschwarzter  Schlucht, 

Die  weifie  Lippe  spannt  verruchte  Zucht. 

Sie  nimmt  zerkrampft  in  den  verworrenen  Schlaf 
Ein  Lacheln  mit,  das  sie  im  Spiegel  traf, 

Und  kehrt  sie  in  das  Krahn  der  Friihe  heim, 
Schmeckt  sie  auf  ihrer  Zunge  bosen  Schleim. 

Niemals  errotet  sie,  doch  sie  erbleicht, 

Ihr  Mund  wird  oft,  lhr  SchoB  wird  nie  erreicht. 
Beladen  schwankt  vor  ihr  die  Mutter,  schwach. 
Sie  streift  sie  von  der  Briicke  in  den  Bach. 

Und  geht  mit  Gliedern,  die  sie  nicht  entlaBt, 

Die  Sehnen  spannend  durch  das  Adelsfest. 

Die  Masken  winken,  bis,  auf  dem  sie  steht, 

Das  Scheusal  sie  — ihr  EntenfuB  — verrat. 


41  Vol.  m/i 


238 


Franz  Werfel  * Neue  Gedichie 


MORPHEUS  SENEX. 

Ich  bin  der  Berg  der  Schlafe.  Durch  meine  Ritzen  wachst  Moos 
Ich  bin  an  meinem  Schenktisch  ein  langsamer  Wirt. 

Meine  tiefen  Augenlider  hangen  klumpig  und  groB 
Uber  BackenfraB  zum  Lausebart  nieder,  der  klirrt. 

Die  Baskenwolbung  meiner  Schenke  ist  nachtlich  befleckt 
Von  Pestilenz  der  Lampenhur,  die  alten  Atem  haucht. 

Die  Tische  sind,  FlieBen,  dicke  Glaser  bedreckt 

Von  Asche,  Speichel  und  Unflat,  den  diegute  Freundschaft  raucht. 

Meine  Diener  sind  taube  Hexen,  sie  fahren  mit  krahendem  Fun 
Um  die  Tische,  zerbrechen  Geschirr  und  vergieBen  Trank. 
Meine  treuen  Gaste  Saufaus  und  Rotzaug  liiften  ihnen  den  Schurz, 
Wiegen  weise  das  Haupt  und  priifen  den  guten  Gestank. 

Ich  riihre  immer  mit  dem  Be  sen  im  Suppentopf, 

Oder  schleife  durch  meinen  Sumpf,  oder  mache  mich  naB. 
Zwei  Greise  noch  wachen  und  wackeln,  ein  Kropf  und  ein 

Wasserkopf, 

Lallen  und  speicheln  und  schlagen  oiiges  AB. 


Theodor  Ddubler  ♦ Henri  Rousseau 


239 


Theodor  Q5aubfer: 

HENRI  ROUSSEAU 

D OUSSEAU  ist  voll  von  Kindlichkeit:  das  Kind  verlangt 
*■  ' gemalte  Photographien.  Auch  er  malt  sehr  behutsam.  Er 
nimmt  sich  bitter  ernst:  dadurch  wird  er  ungemein  riihrend, 
aber  niemals  komisch.  Wer  glaubt,  Henri  Rousseau  spiele, 
tandle  aus  Freude  am  Tandeln,  irrt  sich.  Er  hat  den  hassenden 
Blick  des  Kindes,  das  beim  Spiel,  wenn  es  Spiel  fur  romantische 
Tatsache,  innigste  Wahrheit  halt,  sozusagen  von  einem  Er- 
wachsenen  ertappt  wird.  Auch  er  kann  dann  blutrot  werden. 
Er  fiirchtet  sich,  auf  der  Grenze  zwischen  Genie  und  grotesker 
Figur,  oft  lacherlich,  also  blofi  grotesk  zu  sein.  Daher  seine 
Tigerblicke,  die  ein  ganzes  Katzenraubtier  sozusagen  im  Satz 
nachschleppen.  Ich  bin  noch  nie  liber  einen  Tiger  so  erschrocken. 
Bei  Delacroix : nur  Schaustiick ; hier  bei  Rousseau : Entsetzlich- 
keit.  Und  er  hat  die  Katze  doch  bloB  eingekafigt  gesehen: 
folglich  wirft  er  sich  tigerhaft  auf  die  Kundschafter  in  seinem 
Dschungel.  Denn  die  kennt  er,  von  Paris  aus!  Mit  einem 
Tigersprung  beherrscht  er  seine  Sumpfwildnis.  Er  weiB  und 
erzahlt  uns  von  den  Pflanzenspitzen  und  Blumenstickereien 
vor  Tropenhorizonten.  Diese  Pflanzen  erschopfen  den  Sumpf: 
fruchtbar  gewordene  Dschungelfurchtbarkeit  wuchtet  vor  uns 
in  die  Tigergegend  mit  Aufklarern.  Welche  Feuchtigkeit  in 
Stamm,  Rohrgebilde  und  Blatt.  Beinahe  chinesische  Mystik! 

Rousseau  ist  ein  guter,  ein  hauslicher  Mensch,  und  er  katz- 
buckelt  sehr  bedrohlich,  wenn  man  das  Biirgerliche,  das  Philistrose 
an  ihm  abgeschmackt  findet.  Er  haBt  ebenfalls  das  Biirgerliche, 
um  den  Burger  in  Schutz  zu  nehmen.  Oder  auch:  er  haBt  den 
Burger,  um  das  Biirgerliche  zu  verteidigen.  Irgend  etwas  ist 
ihm  peinlich  am  Biirgertum,  aber  er  liebt  es  doch. 


240 


Theodor  D&ubler  * Henri  Rousseau 


Rousseau  ist  ganz  unliterarisch : schon  aus  diesem  Grund 
kein  Futurist.  Er  bedeutet  als  Sondererscheinung  sehr  viel:  in 
der  eigentlichen  modernen  Stromung  konnte  man  ihn  vorlaufig 
iiberspringen.  Wir  sind  aber  iiberzeugt,  dafi  er  unmerklich 

en  ruhigern  Periode 
muB  er  sehr  bestimmten  Einflufi  gewinnen. 

Etwas  hat  er  gebracht,  was  die  Futuristen  anstrebten,  ohne 
auf  ihrem  Wege  vorlaufig  dazugelangt  zu  sein:  den  Mythos  des 
Luftschiffes.  Wir  meinen  eine  kleine  Landschaft,  „An  der 
Marne“,  und  dariiber  einen  beinahe  noch  ungelenken  Doppel- 
decker  und  einen  unheimlichen  Flugmollusken  mit  Menschen 
in  seiner  Flohgondel.  Im  Griin  der  Gegend  steht  auch  ein  Haus, 
um  seine  Beziehungslosigkeiten  zu  den  Luftereignissen  anzu- 
deuten,  unter  Baumen.  Nichts  geht  dort  drin  vor;  es  birgt  keine 
Poe-Romantik : die  Leute  drin  habens  gewiB  sehr  hauslich, 
wahrend  sich  oben  im  Apparat  die  Insassen  mit  unglaublichen 
Umstandlichkeiten  abgeben  miissen.  Man  denke,  Menschen  die 
einen  Drachen  bewohnen!  Und  dort  unten  ists  so  einfach. 

Rousseau  ist  der  erste,  der  Telegraphenstangen  kennzeichnen 
konnte.  Es  wird  zum  Gewitter  um  Telephondrahte.  Er  ist  der 
ausdriicldich  Beflissene  um  Starkstromkandelaber.  Aber  alles 
das  malt  er  in  treuen  Grautonen.  In  bescheidenem  Kartoffel- 
gelb.  In  gutmiitigem  Feldbraun.  Und  auf  einmal  doch  wieder 
fast  bengalisch  erhellt  bunt : wie  vor  Hagel  und  Blitz.  Ja,  dann 
bliihen  die  Eisenbaume  mit  Drahtgezweige.  Glasblau,  porzellan 
griin.  Es  wird  sofort  losgehn : blitzen. 

Die  Festungsmauern  vor  Paris:  das  silbrige  Griingrau  der 
Bannmeile  bei  der  Hauptstadt.  Drin  vor  dem  Diinngrau  das 
kurze  Aprilgriin.  Besonders  frisch  vor  der  GroBstadt : denn 
sehr  rasch  kommts  abermals  zur  Kahlheit  der  Baumgerippe. 
Einsamkeit  vor  den  Wallen : sogar  Schonheit.  Eigentlich  fort- 
wahrend  etwas  marzartig.  Dabei  melancholisch.  Nervenbe- 
ruhigend,  wenn  man  bummeln  geht.  Was  fur  Leute  wohnen  in 
der  Vorstadt?  Brave  Biirgermenschen  mit  ihrem  Familienhund. 
Hexenhafte  Weiber  mit  ihrer  Leibkatze.  Braute,  die  in  ihrer 


bereits  viel  gewirkt  hat:  in  einer  kiinftig 


\A  \ 


Theodor  Ddubler  ♦ Henri  Rousseau 


241 


wcifien  BrautauhnacKung  zum  erstenmal  hafilich  sind.  Klein- 
biirger  zum  photographieren. 

Alles  hat  sich  altmodisch-elegant  angetan.  Nach  einer  Uber- 
einkunft  nebeneinander  aufgestellt.  Artig,  anstandig.  Die  Sonn- 
tagsbinde  klein  und  richtig  aufs  gestarkte  Hemd  gelegt.  Den 
Schnurrbart  zurechtgewirbelt,  nicht  aufgewichst.  Die  Haare 
etwas  romantisch  gekammt;  aber  ordentlich.  Die  Manner  sind 
oft  ein  wenig  mannequinhaft,  die  Frauen  leicht  bosartig.  Ver- 
bissen  altjungferlich : wenn  das  darzusteUen  ist. 

Haufig  eine  Familie  auf  dem  Lande.  Die  Baume  immer  ein 
Geheimnis : mystisches  Geader  mit  belebenden  Herzblattern. 
Blattpflanzen  mit  griinenden  Lungenfliigeln.  Lauter  wachsende, 
bliihende  Wandererlebnisse  in  einer  menschenerfiillten  Wald- 
gegend.  Der  Stadthund  ist  auch  mit  hinausgelaufen,  er  ist  so 
frohlich,  wie  ein  Hund  von  drauBen,  wenn  er  in  den  Schnee 
hinaus  darf. 

Niemand  weifi  soviel  vom  Winde  zu  erzahlen  wie  Henri 
Rousseau.  Vom  Windhauch  in  den  Baumen.  Das  ist  wie  der 
Atem  einer  beseligenden  Liebe.  Ein  Gliicksgeschenk  an  die 
Welt. 

Einmal  flotet  ein  junger  Mann  im  hin-  und  hergewehten 
Griin.  Sein  Weib  tragteine  Rankenschlange.  Em  nackterKnabe 
mochtedazu  tanzen.  Ein  Hund  bellt  auf : aus  der  Tragikheraus, 
ein  Tier  sein  zu  miissen,  daB  nicht  in  die  Musik  einbezogen 
ward.  Das  Bild  heiBt:  „Das  gliickliche  Quartett“.  Wir  mochten 
es  ein  Quintett  nennen,  denn  eine  grofie  Blattpflanze  hat  teil 
an  der  Weihe  des  Bildes.  Auch  ein  hochgewordenes  Graser- 
biindel  neben  dem  Mann  (die  groBe  griine  Blume  aus  Blattern 
steht  beim  Weib),  ist  eine  melodische  Leibhaftigkeit  in  der 
Gruppe.  Also  sogar  ein  Sextett?  Die  Baume  zahlen  nicht  als 
Einzelheiten  mit ; sie  sind  Chor  und  gehoren  dem  kiihlenden 
Hauch.  In  den  Pflanzen  am  Boden  hingegen  ist  Einzigkeit, 
liebebediirftige  Einzelheit:  herzhafte  Warme. 

Botanisch  betrachtet  Rousseau  seine  wundervollen  Blumen : 
sie  bleiben  voll  von  Feuchtigkeit,  obschon  sie  oft  alle  etwas 
Asternhaftes  unter  seinem  Schauen  abkriegen.  Nicht  selten 


242 


Theodor  Daubler  * Henri  Rousseau 


reichen  sie  uns,  Blatt  fur  Blatt,  Alabasterhande : weich  gezeich- 
nete,  deutlich  veranschaulichte.  Auch  umgestlilpte  Marzgerten, 
betupft  mit  griinlichem  Blatt gekn os pe,  tragt  ein  braves  Biirger- 
madchen  vom  Lande  nach  Hause.  Ihre  Gedanken  sind  heimlich 
einem  Laden jiingling  zugewandt.  Malen  lafit  sie  sich  aber  mit 
einer  Kattungardine  in  Van-Dyck-Aufmacbung.  Sie  steht  vor 
einem  Gitter  wie  bei  einem  Vorstadtphotographen  aus  den  ge- 
schmackvollsten  Achtzigerjahren  des  vorigen  Jahrhunderts.  Die 
Landscbaft  hinter  Gitter  ist  beinabe  sienesisch,  farbenmystisch. 
Um  ihren  Kopf  dammert  ein  rosa  Schein  wie  um  eine  Konigin 
der  Seelen.  Und  sie  selbst,  wie  steht  sie  da?  Sie  bleibt  die 
Hauptsache  im  Bild.  Bestimmt:  sie  ist  rundlich  geworden,  bevor 
sie  in  die  Ehe  trat.  Sie  wird  in  Frieden  zwei  bis  drei  Kinder 
bekommen. 

Ein  andres  Bild:  friedlich  ists  wirklich  auf  dem  Gutshof, 
unter  weifigekleideten  Kindern  und  schaumbeflaumten  Gansen. 
WeiBgewolk  schaukelt  sich  in  der  Luft.  Oben  gibts  also  Wind. 
An  den  geaderten,  rostbraunen  Baumen  kann  man  nichts 
merken.  Ein  Ahornblatt  hangt  etwas  wie  imWindhauch:  es 
konnte  aber  zufallig  abgeknickt  sein.  Doch  oben  in  den  Wolken 
gibts  ein  Hin  und  Her.  Dabei  kein  beabsichtigter  Kontrapunkt 
der  Farben.  Grauliche  Beschaulichkeit  mit  lila  Einfallen  und 
weifien  Verlautbarungen  in  der  Farbenskala. 

Sogar  eine  geschichtliche  Feier : das  Freiheitsfest.  Ein  harmlos 
lustiger,  ganz  ungefahrlicher  Wind  hat  sich  von  einem  Hiigel 
oder  einer  Mittagswolke  losgemacht  und  ist  in  die  Gesellschaft 
der  Menschen  geeilt.  Es  wird  soeben  getanzt.  Um  einen  Baum. 
Fahnen  sind  in  weiten  Reihen  gehifit:  blau,  weifi,  rot.  Letzte 
Periickentrager  sehn  zu.  Schnurrbartgendarmen  mitDreimastem 
auf  den  Kopfen  bleiben  backenknochig  und  rotwangig  zugegen. 
Vertreterinnen  republikanischer  Einfachheit  stehn  hinter  Blatter- 
gerank  so  vorteilhaft,  dafi  sich  ihre  Kleider  auf  dem  Bilde  herr- 
lich  geziert,  warmatmig  bestickt  ausnehmen.  Die  da  tanzen  sind 
Bauernvolk:  derb  und  taumlerisch.  Paris  hat  sie  befreit.  Paris 
hat  sie  beschenkt.  Pariser  sehn  beim  Gewippe  um  den  Freiheits- 
baum  zu.  Auf  unsichtbaren  Drahten  drehn  sich  ein  paar  Lam- 


Theodor  Daubler  • Henri  Rousseau 


243 


pions:  blau,  weifi,  rot.  Sie  drehen  sich  im  Windgetandel  erst 
um  sich  selbst  und  dann,  etwas  rascher , zuriick.  Und  so  sehr 
lange  Zeit.  Am  Abend  werden  sie  wohl  angeziindet ; Warme 
wird  sie  aufwartsdrangen : sie  hangen  aber  fest,  und  folglich 
werden  sie  sich  beruhigen.  Der  eigne  Warmhauch  wird  den 
Tanz  mit  den  Lauhauchen  aufheben.  Sie  werden  regungsloser 
herab hangen:  blau,  weifi,  rot. 

Ein  milder,  ein  ganz  siiBer  Friihlingshauch  an  der  glitzem- 
den  Seine : Kastanienbaume  ziehn  soeben  ihre  goldgriinen  At- 
laskleider  an.  Wind  legt  silbeme  Scharpen  um  die  Frischge- 
wandeten : in  den  Beeten  iiber  gutem  Humus  blaubraune  und 
gelbblaue  Stiefmiitterchen . Ein  ganz  langer  Zug  von  Malern 
bewegt  sich  durch  die  Allee:  es  geht  zu  den  „ Independants** . 
Keine  Jury  darf  hier  die  Hoffnungen  nach  schwerer  Winter  - 
arbeit  knicken. 

Die  anstandigen  „freiesten“  Kiinstler  erfiillen  ihre  Pflicht: 
sie  ziehen  in  ihren  besten  schwarzen  Gewandern  in  Reihen 
nach  dem  Ausstellungsgebaude.  Einige  sogar  mit  Schubkarren, 
so  viel  Bilder  wollen  sie  aufhangen.  Die  Wandgebiihr  von  25  Fr. 
haben  sie  ja  entrichtet.  Das  ist  ein  riihrendes  Bild  von  Rousseau : 
er  selbst  ist  auch  unter  den  Pilgernden. 

Er  hat  auch  ein  groBes,  dickes  Kind  gemalt.  Es  steht  mit 
seinem  Hampelmann  im  vergniigtesten  Grim.  In  frischester 
Luft:  man  merkts  an  den  Blattem  und  Blumen.  Drastisch  ist 
das  Baby.  Es  hat  nackte  Waden  und  nackte  Arme.  Ein  tolles 
Erlebnis  und  bereits  ein  starker  Stilausdruck. 

So  war  Rousseau. 


244 


Gottfried  Benn  ♦ Die  Reise 


Gottfried  Glenn : 

DIE  REISE 

DOENNE  wollte  nach  Antwerpen  fahren,  aber  wie  ohne 
* ' Zerriittung?  Er  konnte  nicht  zu  Mittag  kommen.  Er 
mufite  angeben,  er  konne  heute  nicht  zu  Mittag  kommen,  er 
fahre  nach  Antwerpen.  Nach  Antwerpen,  hatte  der  Zuhdrer 
gedacht  ? Betrachtung  ? Aufnahme  ? Sich  ergehen  ? Das  erschien 
ihm  ausgeschlossen.  Els  zielte  auf  Bereicherung  und  den  Aufbau 
des  Seelischen. 

Und  nun  stellte  er  sich  vor,  er  saBe  im  Zug  und  miiBte  sich 
plotzlich  erinnern,  wie  jetzt  bei  Tisch  davon  gesprochen  wiirde, 
dafi  er  fort  sei ; wenn  auch  nur  nebenbei,  als  Antwort  auf  eine 
kurz  hingeworfene  Frage,  jedenfalls  aber  doch  so  viel,  er  seiner- 
seits  suche  Beziehungen  zu  der  Stadt,  dem  Mittelalter  und  den 
Scheldequais . 

Erschlagen  fiihlte  er  sich,  SchweiBausbriiche.  Eine  Kriimmung 
befiel  ihn,  als  er  seine  unbestimmten  und  noch  gar  nicht  ab- 
sehbaren,  jedenfalls  aber  doch  so  geringen  und  armseligen 
Vorgange  zusammengefaBt  erblickte  in  Begriffen  aus  dem  Le- 
bensweg  eines  Herrn. 

Ein  Wolkenbruch  von  Hemmungen  und  Schwache  brach  auf 
ihn  nieder.  Denn  wo  waren  Garantien,  daB  er  iiberhaupt  etwas 
von  der  Reise  erzahlen  konnte,  mitbringen,  verlebendigen,  daB 
etwas  in  ihn  trate  im  Sinne  des  Erlebnisses  ? 

GroBe  Rauheiten,  wie  die  Eisenbahn,  sich  einem  Herrn 
gegeniiber  gesetzt  fiihlen,  das  Heraustreten  vor  den  Ankunfts- 
bahnhof  mit  der  zielstrebigen  Bewegung  zu  dem  Orte  der 
Verrichtung ; das  alles  waren  Dinge,  die  konnten  nur  im  Ge- 
heimen  vor  sich  gehen,  in  sich  selber  erlitten,  trostlos  und  tief. 


Gottfried  Benn  ♦ Die  Reise 


245 


Wie  war  er  denn  iiberhaupt  auf  den  Gedanken  gekommen, 
zu  verlassen,  darin  er  seinen  Tag  erfiillte  ? War  er  tollkiihn, 
herauszutreten  aus  der  Form,  die  ihn  trug?  Glaubte  er  an 
Erweiterung,  trotzte  er  dem  Zusammenbruch  ? 

Nein  sagte  er  sich,  nein.  Ich  kann  es  beschworen:  nein.  Nur 
als  ich  vorhin  aus  dem  Geschaft  ging,  nach  Veilchen  roch  man 
wieder,  gepudert  war  man  auch,  ein  Madchen  kam  heran  mit 
weiBer  Brust,  es  erschien  nicht  ausgeschlossen,  daB  man  sie 
eroffnet.  Es  erschien  nicht  ausgeschlossen,  daB  man  prangen 
wiirde  und  stromen.  Ein  Strand  riickte  in  den  Bereich  der 
Moglichkeiten,  an  den  die  blaue  Brust  des  Meeres  schlug.  Aber 
nun  zur  Versohnung  will  ich  essen  gehn. 

Durch  Verbeugung  in  der  Tiire  anerkannte  er  die  Individua- 
litaten.  Wer  ware  er  gewesen  ? Still  nahm  er  Platz.  GroB 
wuchteten  die  Herren. 

Nun  erzahlte  Herr  Jansen  von  den  Eigentiimlichkeiten  einer 
tropischen  Frucht,  die  einen  Kern  enthalte  von  Eigrofie.  Das 
Weiche  aBe  man  mit  einem  Loff el , es  habe  gallertartige  Kon- 
sistenz.  Einige  meinten,  es  schmecke  nach  NuB.  Er  demgegen- 
iiber  habe  immer  gefunden,  es  schmecke  nach  Ei.  Man  aBe  es 
mit  Pfeffer  und  Salz.  Es  handelte  sich  um  eine  schmackhafte 
Frucht.  Er  habe  davon  des  Tages  3—4  gegessen  und  einen 
ernstlichen  Schaden  nie  bemerkt. 

Hierin  trat  Herrn  Korner  das  AuBerordentliche  entgegen. 
Mit  Pfeffer  und  Salz  eine  Frucht  ? Das  erschien  ihm  ungewohn- 
lich,  und  er  nahm  dazu  Stellung. 

Wenn  es  ihm  doch  aber  nach  Ei  schmeckt,  wies  Herr  Mau 
auf  das  Subjektive  des  Urteils  hin,  gleichzeitig  etwas  weg- 
werfend,  als  ob  er  seinerseits  nichts  Uniiberbriickbares  sahe. 
AuBerdem  so  ungewohnlich  sei  es  doch  nun  nicht,  fiihrte  Herr 
Offenberg  zur  Norm  zurvick,  denn  z.  B.  die  Tomate?  Wie  nun 
vollends,  wenn  Herr  Kritzler  einen  Oheim  aufzuweisen  hatte, 
der  noch  mit  70  Jahren  Melone  mit  Senf  gegessen  hatte,  und 
zwar  in  den  Abendstunden,  wo  Derartiges  bekanntlich  am 
wenigsten  bekommlich  sei? 


r.V.V.V.V.V 


246 


Gottfried  Benn  ♦ Die  Reise 


Alles  in  allem : Lag  denn  in  der  Tat  eine  Erscheinung  von 
so  ungewohnlicher  Art  vor,  ein  Vorkommnis  sozusagen,  das 
die  Aufmerksamkeit  weiterer  Kreise  auf  sich  zu  lenken  geeignet 
war,  sei  es,  weil  es  in  seinen  Verallgemeinerungen  bedenkliche 
Folgeerscheinungen  hatte  zeitigen  konnen,  sei  es,  weil  es  als 
Erlebnis  aus  der  besonderen  Atmosphare  des  Tropischen  zum 
Nachdenken  anzuregen  geeignet  war? 

Soweit  war  es  gediehen,  als  Roenne  zitterte,  Erstickung  auf 
seinem  Teller  fand  und  nur  mit  Miihe  das  Fleisch  afi. 

Ob  er  aber  nicht  doch  vielleicht  eine  Banane  gemeint  habe, 
bestand  Herr  Korner,  diese  weiche,  etwas  miirbe  und  langliche 
Frucht? 

Eine  Banane,  wuchs  Herrn  Jansen  auf?  Er,  der  Congokenner  ? 
Der  langjahrige  Befahrer  des  Moabangi  ? Nein  das  notigte  ihm 
geradezu  ein  Lacheln  ab!  Weit  entschwand  er  viber  diesem 
Kreis.  Was  hatten  sie  denn  fiir  Vergleiche?  eine  Erdbeere  oder 
eine  NuB,  vielleicht  hie  und  da  eine  Marone,  etwas  siidlicher. 
Er  aber,  der  beamtete  Vertreter  in  Hulemakong,  der  aus  den 
Dschungeln  des  Jambo  kam? 

Jetzt  oder  nie,  Aufstieg  oder  Vemichtung,  fiihlte  Roenne, 
und : wirklich  nie  einen  emstlichen  Schaden  bemerkt  ? tastete 
er  sich  beherrschten  Lautes  in  das  Gewoge,  Erstaunen  malend 
und  den  Zweifel  des  Fachmanns : Vor  dem  Nichts  stand  er ; 
Ob  Antwort  kame  ? 

Aber  safi  denn  nicht  schlieBlich  auf  dem  Stuhl  aus  Holz  er, 
schlicht  umrauscht  von  dem  Wissen  um  das  Gefahrvolle  der 
Tropenfrucht,  wie  in  Sinnen  und  Vergleichen  mit  Angaben  und 
Erzahlungen  ahniicher  Erlebnisse,  der  schweigsame  Forscher, 
der  durch  Beruf  und  Anlage  wortkarge  Arzt?  Diinn  sah  er 
durch  die  Lider,  vom  Fleisch  auf,  die  Reihe  entlang,  langsam 
erglanzend.  Hoffnung  war  es  noch  nicht,  aber  ein  Wehen  ohne 
Not.  Und  nun  eine  Festigung:  mehreren  Herren  schien  in  der 
Tat  die  nochmalige  Bestatigung  dieser  Tatsache  zur  Behebung 
von  etwa  aufgestiegenen  Bedenken  von  Wert  zu  sein.  Und  nun 
war  kein  Zweifel  mehr:  einige  nickten  kauend. 


<* 


Gottfried,  Benn  * Die  Reise 


247 


Jubel  brach  aus,  Triumphgesange.  Nun  halite  Antwort  mit 
Aufrechterhaltung  gegeniiber  Zweiflern,  und  das  gait  ihm.  Ein- 
reihung  geschah,  Bewertung  trat  ein ; Fleisch  afi  er,  eln  wohl- 
bekanntes  Gericht;  AuBerungen  kniipften  an  ihn  an,  zu  An- 
sammlungen  trat  er,  unter  ein  Gewolbe  von  groBem  Gliick; 
selbst  Verabredung  fiir  den  Nachmittag  zuckte  einen  Augenblick 
lang  ohne  Erbeben  durch  sein  Herz. 

Aus  Erz  saBen  dieManner.Voll  kosteteRoenne  seinenTriumph. 
Er  erlebte  tief,  wie  aus  jedem  der  Mitesser  ihm  der  Titel  eines 
Herrn  zustieg,  der  nach  der  Mahlzeit  einen  kleinen  Schnaps 
nicht  verschmahte  und  ihn  mit  einem  bescheidenen  Witzwort 
zu  sich  nimmt,  indem  Ermunterung  fiir  die  andern,  aber  auch 
die  entschiedene  Abwehr  jeghchen  iibermaBigen  Alkoholgenusses 
eine  gewisse  Atmosphare  der  Behaglichkeit  verbreitete.  Der 
Eindruck  der  Redlichkeit  war  er  und  des  schlichten  Eintretens 
fiir  die  eigene  Uberzeugung;  aber  auch  einer  anderweitigen 
Auffassung  gegeniiber  wiirdeer  gern  zugeben:  da  ist  was  Wahres 
dran.  Geordnet  fiihlte  er  seine  Ziige;  kiihler  Gelassenheit,  ja 
Unerschiitterlichkeit  auf  seinem  Gesicht  zum  Siege  verholfen; 
und  das  trug  er  bis  an  die  Tiir,  die  er  hinter  sich  schlofi. 

Schattenhaft  ging  er  durch  den  Gang,  nun  wieder  1m  Gefiihl 
des  Schlafes,  in  den  man  sank,  ohne  einen  Wirbel  iiber  sich  zu 
lassen,  negativ  verendet,  nur  als  Schnittpunkt  bejaht.  Zwei 
Huren  wuschen  den  Gang  auf,  von  weitem  schon  ihn  wahr- 
nehmend,  aber  sich  in  die  Arbeit  versunken  stellend,  bis  er  da 
war.  Nun  erst  trat  in  die  Augen  das  jahe  Erkennen,  Keuschheit 
und  Verheifiung  aus  der  Reife  des  Bluts. 

Roenne  aber  dachte,  ich  kenne  euch  Tiere,  iiber  300  Nackte 
jeden  Morgen!  aber  wie  stark  lhr  die  Liebe  spielt!  Eine  kannte 
ich,  die  war  an  einem  Tag  von  Mannern  einem  Viertelhundert 
der  Rausch  gewesen,  die  Schauer  und  der  Sommer,  um  den 
sie  bliihten.  Sie  stellte  die  Form,  und  es  geschah  das  Wirkhche. 
Ich  will  Formen  suchen  und  mich  hinterlassen,  Wirkhchkeiten 
eine  Hiigelkette,  o von  Dingen  ein  Gelande ! 

Er  trat  aus  dem  Haus.  Helle  Avenuen  waren  da,  Licht  voll 
Entriickung,  Daphneen  im  Erbliihn.  Es  war  eine  Vorstadt; 


248 


Gottfried  Benn  * Die  Reise 


Armes  aus  Kellern,  Kriippel  und  Graber,  soviel  Ungelacht. 
Roenne  aber  dachte,  jeder  Mensch,  dem  ich  begegne,  ist  noch 
ein  Sturm  zu  seinem  Gliick.  Nirgends  meine  schwere,  drangende 

Zerriittung. 

Er  ging  langsam,  er  schiirfte  sich  vor.  Es  war  eine  ungewohnte 
StraBenstunde,  ihm  seit  Monaten  nicht  mehr  bekannt.  Er 
blatterte  das  Entgegenkommende  bebutsam  auseinander  mit 
seinen  tastenden,  an  der  Spitze  leicht  ermtidbaren  Augen. 

Aufzunehmen  gilt  es,  rief  er  sich  zu,  einzuordnen  oder  prii- 
fend  zu  iibergehn.  Aus  dem  Einstrom  der  Dinge,  dem  Rauschen 
der  Klange,  dem  Fluten  des  Lichts  die  stille  Ebene  herzustellen, 
die  er  bedeutete. 

Es  war  eine  fremde  Gegend,  durch  die  er  ging,  aber  es  mochte 
immerhin  ein  Bekannter  kommen  und  fragen,  woher  und  wohin. 
Und  obschon  er  einen  Patienten  jederzeit  hierfiir  zur  Hand 
gehabt  hatte,  so  war  es  doch  nicht  der  Fall,  und  ihm  graute 
vor  dem  Erlebnis,  vor  dem  er  stehen  wiirde : daB  er  aus  dem 
Nichts  in  das  Fragwiirdige  schritt,  im  Antrieb  eines  Schatten, 
keiner  Verknotung  machtig  und  dennoch  auf  Erhaltung  rechnend . 

Scheu  sah  er  sich  um ; hohnisch  standen  Haus  und  Baum ; 
unterwiirfig  eilte  er  vorbei.  Haus,  sagte  er  zum  nachsten  Ge- 
baude,  Haus,  zum  ubernachsten ; Baum,  zu  alien  Linden  seines 
Wegs.  Nur  um  Vermittlung  handele  es  sich,  in  Unberiihrtheit 
blieben  die  Einzeldinge ; wer  ware  es  gewesen,  an  sich  zu  nehmen 
oder  zu  ubersehen  oder,  sich  auflehnend,  zu  erschaffen?  Ein 
bischen  durch  die  Sonne  gehen,  mehr  wollte  er  ja  nicht;  es 
warm  haben,  und  der  Himmel  hatte  ein  Blau:  nie  endend, 
miitterlich  und  sanft  vergehend. 

Weit  war  er  noch  nicht  von  seinem  Krankenhaus  entfernt, 
da  iibermannte  ihn  schon  die  Not.  Wohin  trug  er  sich  denn, 
etwa  in  das  All?  War  er  der  Traumer  denn,  weich  streifend 
den  Hang,  oder  derHirt  auf  den  Hiigeln?  Trat  an  die  Mai- 
kastanie  vielleicht  er,  den  Ast  beklopfend  mit  dem  Hornmesser, 
bis  in  Saft  vom  Zweige  die  Rinde  glitt  und  wurde  die  gehohlte 
Flote?  Gesange,  hatte  sie  er?  War  er  vielleicht  der  Freie,  der  in 
Segeln  schritt,  und  uberall  die  Erde,  loschend  mit  seinem  Blick  ? 


Gottfried  Benn  * Die  Reise 


249 


O,  er  war  wohl  schon  zu  weit  gegangen ! Schon  schwankte  vor 
der  Strafie  Feld,  unter  gelben  Stiirmen  gefleckter  Himmel,  und 
ein  Wagen  hielt  am  Saum  der  Stadt.  Zuriick!  hiefi  es,  denn 
Heran  wogte  das  Ungeformte,  und  das  Uferlose  lag  lauernd. 

Nun  nahm  ihn  wieder  die  Strafie  auf,  schnurgerade  und  unter 
einem  flachen  Licht.  Von  Tiir  zu  Tiir  lief  sie,  und  sachlich  um 
den  Fufi  der  Botenfrau ; aus  den  Kellem  iiber  sie  wehte  die  Kiiche 
Nahrungund  Notdurft;  vor  dem  Spiegel  der  Herr  kammte achtbar 
seinen  Bart ; ldang  der  Fufi  auf  Metall,  sorgte  fur  Entwasserung 
das  Gemeinwohl ; lag  ein  Gitterchen  an  der  Mauer,  kam  im  Winter 
nicht  der  Frost,  und  in  ihr  Recht  traten  Forder  und  Schacht? 

Wie  einsam  steht  es  um  die  Strafie,  daebte  Roenne,  sie  ist 
eindeutig  fixiert  und  wird  entwicklungsgeschichtlich  kaum  durch- 
dacht;  aber  schon  und  sicher  ist  es,  hier  zu  wandeln,  so  dicht 
am  Leib  miindet  sie,  und  eigentlich  ist  es  kein  Gehen  mehr, 
sondem  ein  Traumen  auf  dem  Riicken  des  Zwecks. 

Dann  prangten  zwischen  Pelz  und  Locken  Damen  in  den 
Abend  ihr  Geschlecht.  Bliihen,  Ziingeln,  Fliedem  der  Scham 
aus  Samt  und  Bander  iiber  Hiiften.  Roenne  labte  sich  an  dem 
Geordneten  einer  Samtmantille,  an  der  restlos  gelungenen  Unter- 
ordnung  des  Stofflichen  unter  den  Begriff  der  Verhiillung ; ein 
Triumpf  trat  ihm  entgegen  zielstrebigen,  kausal  geleiteten 
Handelns.  Aber  — und  plotzlich  sah  er  die  Frau  nackt  — diese 
nicht;  es  miifite  die  Emiichterte  sein,  die  sich  noch  einmal 
kriimmen  liefie. 

Da  trat  ein  Herr  auf  ihn  zu,  und  ha  ha,  und  schon  Wetter, 
ging  es  hin  und  her,  Vergangenheit  und  Zukunft  eine  Weile 
im  kategorialen  Raum.  Als  er  fort  war,  taumelte  Roenne.  Sie 
alle  lebten  mit  Schwerpunkten  auf  Meridianen  zwischen  Refrak- 
tor  und  Barometer,  er  nur  sandte  Blicke  iiber  die  Dinge,  gelahmt 
vonSehnsiichten  nach  einem  Azimuth,  nach  einer  klaren  logischen 
Sauberung  schrie  er,  nach  einem  Wort,  das  ihn  erfafite.  Wann 
wiirde  er  der  erzene  Mann,  um  den  tags  die  Dinge  brandeten 
und  des  Nachts  der  Schlaf,  der  gelassen  vor  einem  Bahnhof 
stande,  wieviel  Erde  es  auch  gabe,  der  Verwurzelte,  der  Un- 

erschiitterliche? 


250 


Gottfried  Bonn  * Die  Reise 


Reisen  hatte  er  gewollt;  aber  nun  schienen  Gleise  iiber  die 
StraBe,  und  schon  sank  sein  Blick.  Oh,  daB  es  eine  Erde  gab, 
wirklich  griin,  stark  irden,  silbem  verfernt,  iiber  die  die  Augen 
strichen,  wie  ein  Fltigel,  und  Stadte,  flache  weiBe,  an  Kiisten , 
und  Kutter,  braune,  die  man  hinnahm,  liebte  und  vergaB. 

Oder  ein  Leben  um  das  Radwerk  einer  Uhr ; um  Hyazinthen- 
knollen  die  Hand;  die  Schulter,  die  das  Fischnetz  zog,  silbem, 
und  ihr  Abwurf  auf  den  Strand. 

Da,  durch  die  helle  diinne  Luft,  in  die  die  Knospen  ragten, 
und  unter  dem  ersten  Stern,  kam  eine  Frau  vorbei  und  toch 
blau  und  langte  Roenne  nach  dem  Schadel  und  legte  ihn  tief  m 
den  Nacken,  bettend,  und  iiber  der  Stim  stand  die  friiheNacht. 

Roenne  schluchzte  auf : wer  knirschte  so  tief  wie  ich  unter 
dem  Stoff,  wer  ist  so  geknechtet  von  den  Dingen  nach  Zu- 
sammenhang  als  ich,  aber  eben  dies  schweifende  Gewasser,  tief, 
dunkel  und  veilchenf arben , aus  dem  Aufklaff  einer  Achsel  — 
mich  staubt  Zermalmung  an. 

Zwischen  die  Strafien  rinnt  Nacht,  iiber  die  weiBen  Steine 
blaut  es,  es  verdichtet  sich  die  Entriickung;  die  Straucher 
schmelzen,  welches  Vergehn! 

Nun  fiel  ein  Regen  und  Ioste  die  Form.  Wohnungen  traten 
unter  Iaues  Wasser,  in  Friihlingsgewolke  stand  alle  Stadt.  Uber 
ihr  aber  schwebte  er,  entriickt,  einsam,  mit  einer  Krone  irgend 
woher.  Jah  wurde  er  der  Herr  mit  Koffer,  der  auf  die  Reise 
ging  durch  Aue  und  Land.  Schon  wogten  Hiigel  heran,  weich 
bewaldert;  nun  briiderlich  die  Acker;  die  Versohnung  kam. 

Er  sah  die  Strafie  entlang  und  fand  wohin. 

Einrauschte  er  in  die  Dammerung  eines  Kinos,  in  das  Un- 
bewuBte  des  Parterres.  In  weiten  Kelchen  flacher  Blumen  bis 
an  die  verhiillten  Ampeln  stand  rotliches  Licht.  Aus  Geigen 
ging  es,  nah  und  warm  gespielt,  auf  der  Riindung  seines  Hims, 
entlockend  einen  wirklich  siiBen  Ton.  Schulter  neigte  sich  an 
Schulter,  eine  Hingebung;  Gefliister,  ein  ZusammenschluB ; 
Betastungen,  das  Gluck.  Ein  Herr  kam  auf  ihn  zu,  mit  Frau 
und  Kind,  Bekanntschaft  zuwerfend,  breiten  Mund  und  frohes 
Lachen.  Roenne  aber  erkannte  ihn  nicht  mehr. 


Gottfried  Betttt  ♦ Die  Reise 


251 


Er  war  eingetreten  in  den  Film,  in  die  scheidende  Geste, 
in  die  mythische  Wucht. 

GroB  vor  dem  Meer  wolkte  er  um  sich  den  Mantel,  in  hellen 
Bnesen  stand  in  Falten  der  Rock ; durch  die  Luft  schlug  er  wie 
auf  ein  Tier,  und  wie  kiihlte  der  Trunk  den  Letzten  des  Stamms. 

Wie  er  stampfte,  wie  riistig  blahte  er  das  Knie.  Die  Asche 
streifte  er  ab,  lassig,  benommen  von  den  groBen  Dingen,  die 
seiner  harrten  aus  dem  Brief,  den  der  alte  Diener  brachte,  auf 
dessen  Knien  der  Ahn  gescbaukelt. 

Zu  der  Frau  am  Bronnen  trat  edel  der  Greis.  Wie  stutzte  die 
Amine,  am  Busen  das  Tuch.  Wie  holde  Gespielin!  Wie  Reh 
zwischen  Farren!  Wie  ritterlicb  Weidwerk!  Wie  Silberbart! 

Roenne  atmete  kaum,  bebutsam,  es  nicht  zu  zerbrechen.  Denn 
es  war  vollbracht,  es  hatte  sich  vollzogen. 

Uber  den  Triimmern  einer  kranken  Zeit  hatte  sich  zusam- 
mengefunden  die  Bewegung  und  der  Geist,  ohne  Zwischentritt. 
Klar  aus  den  Reizen  segelte  der  Arm ; vom  Licht  zur  Hiifte, 
ein  heller  Schwung,  von  Ast  zu  Ast. 

In  sich  rauschte  der  Strom.  Oder  wenn  es  kein  Strom  war, 
ein  Wurf  von  Formen,  ein  Spiel  in  Fibern,  sinnlos  und  das  Ende 
um  alien  Saum. 

Roenne,  ein  Gebilde,  ein  heller  Zusammentritt,  zerfallend, 
von  blauen  Buchten  benagt,  uber  den  Lidern  kichernd  das  Licht. 

Er  trat  auf  die  Avenue.  Er  endete  in  einem  Park. 

Dunkel  drohte  es  auf,  bewolkt  und  schauernd,  wieder  aus 
dem  Gefiihl  des  Schlafs,  in  den  man  sank,  ohne  einen  Wirbel 
uber  sich  zu  lassen,  negativ  verendet,  nur  als  Schnittpunkt  be- 
jaht ; aber  noch  ging  er  durch  den  Friihling,  und  er  schuf  sich 
an  den  hellen  Anemonen  des  Rasens  entlang  und  lehnte  an 
eine  Herme,  verstorben  weiB,  ewig  marmorn,  hierher  zerfallen 
aus  den  Briichen,  vor  denen  me  verging  das  siidliche  Meer. 


252  Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient 


Xoudwig  Q{ubiner 

LEGENDE  VOM  ORIENT 

Tjie  Menschen  brauchen  Berater.  Sie  brauchen  im  Menschen - 

tum  Fiihrer.  Statt  dessen  haben  sie  Krieg. 

Und  warum  werden  gerade  die  feinsten  Menschen  nicht 
Fiihrer  ? Warum  nicht  gerade  die  edelsten,  lautersten,  wissend- 
sten  ? Warum  nicht  die  Sohne  der  Erkenntnis  ? Weil  gerade  sie 
aus  lauter  Wissen,  Edelmut,  Anstandigkeit  verhaspelt  sind  in  die 
diimmste  Modemeinung;  verfangen  ganz  im  Elend  der  Ab- 
hangigkeit  von  Gewesenem.  Weil  sie  Optimisten  irgend  einer 
vagen  Zukunft  sind,  die,  meinen  sie,  erfiillet  wiirde,  auch  wenn 
man  nichts  dafiir  tut.  Unter  den  Besten,  Fahigsten  und  Den- 
kendsten  geht  immer  noch  der  Aberglaube  um,  wer  Erkennt- 
nisse  habe,  der  sei  losgesprochen  und  frei  von  dem  lauten  Kampf, 
von  dem  offentlichen  Bemiihen  um  andere  Menschen ; entbunden 
von  jener  Durchzwingung  der  Meinungen,  die  ja  eine  Erkenntnis 
erst  zur  Verwirklichung  bringen  kann : entbunden  von  der  Pro- 
paganda. 

Aber  Ende  und  Tod  beginnt,  wenn  der  Edle,  Lautere,  Feine 
aus  Angst  vor  der  Verantwortung,  aus  Drang  in  die  ruchlose 
Isolation  des  Gelehrten : beginnt,  alles  was  edel,  lauter,  fein  in 
ihm  ist,  zu  klassifizieren ; alles,  was  zukiinftig  an  ihm  ware,  als 
angeblich  langst  GewuBtes  zu  historisieren.  Wenn  er  daran 
geht,  alles,  was  er  erwunscbt,  zu  einer  bloBen  Denkkategorie 
zu  gestalten. 

Die  Edlen,  Lauteren,  Anstandigen  haben  sich  nicht  iiber  ihr 
Schicksal  zubeklagen.  Sie  haben  es  besser  zu  machen.  Sie  haben 
ihre  Feinheit,  Lauterkeit,  Edelart  nicht  zu  betrachten,  sondern  sie 
haben  sie  durchzusetzen.  Sie  haben  sich  fur  sie  zu  entscheiden. 

Sie  haben  sich  zu  entscheiden. 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


253 


Ein  Wort  Emersons:  „Wehe,  wenn  der  Allmachtige  einen 
Denker  auf  diese  Erde  sendet.  Dann  ist  alles  in  Gefahr.  Es 
ist,  als  ware  ein  Brand  in  einer  groBen  Stadt  ausgebrochen,  und 
keiner  weiB,  was  aufier  Gefahr  ist,  und  wie  alles  enden  wird. 
Da  ist  kein  Teil  in  der  Wissenschaft,  der  nicht  morgen  eine 
Veranderung  seiner  Lage  erfahren  sollte,  kein  literarischer  Ruf, 
keine  sogenannten  ewigen  Namen  des  Ruhms,  die  nicht  einer 
Priifung  unterzogen  und  verurteilt  wiirden.  Die  besten  Hoff- 
nungen  eines  Menschen,  die  Gedanken  seines  Herzens,  die 
Religion  der  Volker,  die  Sitten  und  Morallehren  der  Menschheit, 
alle  smd  der  Gnade  einer  neuenVerallgemeinerungunterworfen. 
Verallgemeinerung  bedeutet  stets  ein  neues  Einstromen  der 
Gottheit  in  den  Geist.  Daher  auch  der  Schauer,  der  sie  begleitet." 

Aber  heute  sind  die  Menschen  bereit,  einem  Denker  zu  folgen. 
Nach  soviel  Grauen  ist  ihnen  keine  Erschiitterung  der  Welt,  die 
vom  Geiste  kommt,  mehr  grauenhaft.  Nach  soviel  Gefahr  fur 
die  Menschheit  ist  jede  Anderung  der  Welt  aus  dem  Geiste  nur 
himmlische  Sicherheit.  Und  der  Schauer,  der  eine  neueVerall- 
gemeinerung  begleitet,  ware  heute  nur  ein  Schauer  des  Glucks. 

Wo  diese  neue  Verallgemeinerung  — das  vollige  Aufstrahlen 
unseres  realen,  taglichen  Lebens  in  einer  unbedingten  Fiihrung 
des  Geistes  — wo  das  zu  suchen  sei,  ist  die  Frage.  Sehr  edle, 
ganz  lautere  Menschen  bieten  sich  an.  Kopfe,  deren  jedes  Stuck 
ihrer  Lebensgrammatik  bis  heute  hochweihevolle  Anstandigkeit 
war.  Sie  sagen,  der  neueWeg  der  Menschheit  fiihre  zu  einer 
tatsachhchen  Unio  mystica  des  Abendlandes  mit  dem  Geiste 
des  Orients.  Die  Briicke  zwischen  beiden  sei  das  Judentum. 
Wolle  man  die  Moglichkeit  dieses  neuenWeges  erforschen,  so 
konne  man  sie  vor  allem  an  der  Realitat  des  Judentums  priifen. 

Der  bedeutendste  Sprecher  dieser  Gruppe,  ihr  wortmachtig- 
ster,  klarster  Reprasentant  ist  Martin  Buber.  Das  groBeWissen, 
die  Strenge  gegen  sich  selbst  und  die  Leidenschaft  des  Schrift- 
stellers  geben  es  Buber  an  die  Hand,  die  Ideen  der  Menschen, 
welche  er  vertritt,  am  umfassendsten  und  am  tiefsten  darzu- 
stellen.  Man  hat  kein  besseres  Mittel,  diese  Ideen  zu  priifen, 
als  in  Bubers  letztem  Buch.  Dieses  Buch  ist  programmatisch. 


42  Vol.  m/i 


Ludwig  Rubiner  * Legtnde  vom  Orient 


es  vereinigt  mit  Aufsatzen  seine  drei  Reden  vom  Judentum.  Das 
Buch:  Qeist  des  Oudeni urns' ‘ erschien  in  eben  diesen 

Wochen  bei  KurtWolff,  dem  LeipzigerVerlage,  der  dasVerdienst 
hat,  oft  programmatische  Literatur  unserer  Zeit  zu  veroffent- 
lichen.  Bubers  person lichesVerdienst  ist  es,  dieVoraussetzungen 
derer,  fur  die  er  spricht,  ganz  aufierordentlich  gut  formuliert 
zu  haben. 

* 


DieVoraussetzungen  seien  zwei  groBe,  differente  Menschen- 
typen.  Sie  werden  der  „motorische  Mensch“  und  der  „senso- 
rische  Mensch“  benannt.  Der  sensorische  Mensch  sei  im  Abend- 
lander  zu  finden,  im  Europaer,  historisch  am  gepragtesten  im 
Hellenen.  Dieser  sei  der  Rezeptive,  der  Mensch,  der  seine  Urn- 
welt  aufnimmt  und  daraus  die  Welt  findet.  Sein  Gegensatz,  der 
motorische  Mensch,  trage  unter  dem  Drucke  einer  Idee  seine 
Welt  in  die  Umwelt  hinein.  Der  motorische  Mensch  sei  der 
orientalische  Mensch.  Der  reinsteTypus  des  motorischen  Men- 
schen  liege  im  fiir  uns  sichtbarsten  Typus  des  Orientalen:  im 
Juden. 

Lassen  wir  zunachst  die  Frage  offen,  obwirklich  die  Begriffe 
Abendland  — Sensorium,  und  orientalisch  = Motor  sich  dek- 
ken.  Jedenfalls,  den  ,,sensorischen“  Menschen,  den  Menschen 
seiner  Umwelt,  kennen  wir  reichlich.  Aber  sehr  wenig  kennen 
wir  den  motorischen  Menschen,  den  unbedingt  Handelnden. 
Er  ist  einfach  seltener.  Soviel  seltener,  als  wirkliches  Handeln 
seltener  ist  denn  Stimmung ; Mitgerissen  sein ; Hingabe,  noch 
ehe  dasWissen  um  Hingabe  da  ist,  im  Genufi. 

Die  Formeln  fiir  einen  sensorischen  und  einen  motorischen 


Menschentypus  werden  als  erste  Voraussetzung  fiir  alles  Kom- 
mende  aufgestellt ; aus  Griinden,  die  noch  klar  werden. 

Hier  ist  zu  sagen:  Definitionen  diirften  diesen  Platz  nicht 
einnehmen.  Es  sind  keine  Voraussetzungen.  Fragen  wir  nach 
dem  unbedingt  handelnden  Menschen,  so  miiBten  wir  auch 


die  starkste  Konsequenz  ertragen  konnen.  In  Wahrheit  sind  die 
ersten Voraussetzungen  fiir  den  handelnden  Menschen:  Glau- 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


255 


bigkeit.  Wissen  um  das  Absolute 
serung  des  Absoluten  in  der  Welt  (Geist).  Unbedmgtes  Durch- 
drungensein  von  dem  Kritenum : Wert.  Und  vor  allem : der  han- 
delnde  Mensch  ist  ein  offentlicher  Mensch,  kem  Pnvatwesen. 
Eln  Mensch  des  Zusammenhanges,  nicht  der  Isolation.  Das 
sind  die  Vorbedingungen  fiir  die  Konstitution  des  handelnden 
Menschen.  Man  kann  lhn,  wenn  man  durchaus  will,  auch 
„motorisch“  nennen.  Ob  er  Onentale  oder  Abendlander  ist, 
spielt,  wie  man  sieht,  bereits  keine  Rolle  mehr. 

Nun  heifit  es  aber:  ,,Beide  (der  motorische  und  der  sensori- 
sche  Mensch)  denken;  aber  des  einen  Denken  meintWirken, 
des  andern  Denken  meint  Form.'4  Aber  Wirken  — wofiir? 
Form  — wovon?  Allzulange  horen  wir  schon  das  geheimnis- 
volle  Murmeln  der  Form-Theorien.  Wir  machen  das  nicht 
mehr  mit!  Denn  diese  vage,  doch  in  sich  selbst  schon  selig  ver- 
sinkende,  inzuchtartige  Setzung  der  Form  an  sich  konnte  nur 
moglich  sein  in  einem  Zeitalter  des  unsichersten  Relativismus. 
In  einer  Zeit,  die  den  blofien  Schein  einer  Sicherheit  schon  als 
Beruhigung  und  die  Sicherheit  selbst  aufnimmt.  — Vor  der  Idee 
des  Absoluten  verhert  aber  „Form“  jede  Selbstandigkeitsbe- 
deutung.  Und  ,, Wirken"  kann  doch  nur  im  Sinne  desWirkens 
zur  Formwerdung  von  Geistigem  ausgesprochen  werden,  im 
Sinne  der  Verwirldichung.  Worin  sollte  denn  Wirken  sich  aus- 
sern,  wenn  nicht  in  Form.  Aber  beide,  selbst  zu  Zwecken  der 
Definition,  als  Gebilde  an  sich  zu  trennen,  ist  mWahrheit  nur 
Vermischung.  Wird  das  gut  gemacht  dadurch,  dafi  wir  es  mit 
Verwirrern  nur  aus  Liebe  zu  tun  haben?  mitVermischern  aus 
ubergrofier  Gerechtigkeit  gegen  Gewesenes,  heute  schon  Form- 
Seiendes;  und  daft  alles  dieses  von  einer  tiefen  Befangenheit  in 
mancherlei  Neo-Renaissancevorstellungen  ausgeht. 

,,Der  Eindruck,  der  einen  der  Sinne  des  motorischen  Men- 
schen trifft,  geht  als  Stofi  durch  alle,  und  die  spezifischen 
Sinnesquahtaten  erblassen  vor  der  Wucht  des  Gesamtzustandes." 
— Eindruck?  Aber  welche  Welt  liebhchster  Stillebenmalerei 
spricht  hier  zu  uns?  Nein,  es  handelt  sich  nicht  um  Fragen 
des  Zeitstils,  nicht  um  abgetanen  Impressionismus ; das  ware  ja 


(Gott).  Kenntnis  der  Aus- 


256 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


nur  aufierlichstes  Symptom.  Sondem  da  rum,  daB  „Eindruck“ 
nur  da  eine  Rolle  spielt,  wo  noch  die  Gipfelung  der  Relativitats- 
philosophie  aus  dem  neunzehnten  Jahrhundert  die  Hauptsache 
ist,  namlich  im  sogenannten  Grfebnis.  Daher  spater  der  ganz 
folgerichtige  Anbau : „ Wie  der  Okzidentale  die  Bewegung,  die 
bewegte  Erscheinung  der  Welt  aus  seiner  Empfindung  begreift, 
so  ist  es  dieses  sein  Wissen  um  den  Kern  und  Sinn  seines  Lebens, 


aus  dem  er  den  Kern  und  Sinn  der  Welt  erschliefit.“ 


Em- 


pfindung? Nein.  Denn  nicht  Erlebnis  treibt  zum  Handeln, 
treibt  zu  irgendetwas  iiberhaupt,  sondern  der  Geist.  Wissen  ? 
Aber  wo  ist  das  Kriterium  des  Wissens,  wenn  nicht  im  Abso- 
luten?  Beim  motorischen  Menschen  sei,  nach  jener  Empfin- 
dungshypothese,  „das  Sehen  nicht  souveran,  es  dient  nur  der 
Vermittlung  zwischen  der  bewegten  Welt  und  der  latenten  Be- 
wegung des  eigenen  Leibes,  der  befahigt  ist,  jene  mitzuempfinden 


und  mitzuleben 


Die  Bewegung  der  Welt  ist  es,  die  er  mit 


dem  Gesicht  wie  mit  den  andern  Sinnen  aufnimmt,  und  die 
sich  in  ihm  fortpflanzt.“  Es  ist  doch  die  Rede  vom  handelnden 
Menschen.  So  mufi  man  gegen  diesen  Irrtum  feststellen : der 
Leib  ist  vor  Gott  nicht  dazu  da,  um  die  Bewegung  mitzu- 
machen,  sondem  um  sie  zu  machen ! — Vor  lauter  Differenzen 
kommt  es  oft  zur  Flachheit:  „Er  (der  motorische  Mensch) 
wird  weniger  des  Umrisses  inne  als  der  Gebarde;  weniger  des 
Nebeneinander  als  des  Nacheinander“.  Aber  erstlich  ist  „Ge- 
barde“  schon  ein  Ruhendes,  daher  auch  in  der  Hofmannsthal- 
zeit  ein  mit  Vorliebe  zu  verschlafener  Pseudo-Bewegtheit  be- 
nutzter  Ausdmck.  Und  dann:  Fur  den  Handelnden  gibt  es 
kein  „Nacheinander“,  ebensowenig  wie  dessen  Schulgegensatz, 
das  „Nebeneinander“  (als  Ruheangelegenheit).  Die  Aufstellung 
solcher  Gegensatze  ist  die  Konsequenz  des  philosophischen 
Naturalismus  von  Hochrenaissance-Ideen.  „Der  motorische 
Mensch  (der  orientalische)  spurt  die  Welt  mehr,  als  er  sie  wahr- 
nimmt ; denn  sie  erfafit  und  durchfahrt  ihn,  sie,  die  dem  Okzi- 
dentalen  gegeniibertritt.“  Aber  das  ist  einfach  nicht  richtig. 
Denn  es  gilt  ja  nur:  unter  Gott  stehen  (oder  Gott  vergessen 
haben)!  — „Der  Okzidentale",  meint  die  Empfindungshypo- 


Ludwig  Rubtner  ♦ Legende  vom  Orient 


257 


these,  — „begreift  seine  Empfindung  aus  derWelt.derOrientale 
die  Welt  aus  seiner  Empfindung."  Aber  es  handelt  sich  nicht 
urns  „Begreifen",  sondern  ums  Handeln!  Das  Handeln  wird 
uns  diktiert.  Ja,  gabe  es  Unterschiede  im  Handeln.  Aber  es 
gibt  nur  den  einen : von  Gott  gerufen  sein  und  handeln,  oder 
Gott  vergessen  und  ruhen.  Dieselbe  relativistische  Willkur,  die 
das  Wissen  des  Orientalen  um  den  Sinn  der  Welt  aus  der  Em- 
pfindung hypostasierte,  zieht  auch  den  Schlufi:  „Der  Orientale 
tragt  die  Wahrheit  im  Kern  seines  Lebens  und  findet  sie  in  der 
Welt,  indem  er  sie  ihr  gibt.“  Aber  woher  das  Wissen  der 
Wahrheit?  Und  scheint  nicht  hier  eine  Art  von  umgekehrtem 
Hegel  aufgestellt  zu  sein,  etwa : „alles,  was  „gegeben“  werden 
kann,  ist  Wahrheit!"  Doch  das  ware  Gehirnspiel  innerhalb 
eines  Kreises  von  Definitionen. 

Aile  diese  Voraussetzungen  erwiesen  sich,  aus  Mangel  an 
notigeren,  starkeren  ersten  Voraussetzungen,  als  geriistlos. 

Das  Hauptthema  derer,  fiir  die  Buber  spricht:  ,,Die  einige 
Welt  soli  — und  hier  begegnen  einander  alle  groBen  asiatischen 
Religionen  und  Ideologien  — nicht  bloB  konzipiert,  sie  soil 
realisiert  werden.  Sie  ist  dem  Menschen  nicht  gegeben,  sondern 
aufgegeben ; es  ist  seine  Aufgabe,  die  wahre  Welt  zur  wirk- 
lichen  Welt  zu  machen."  Das  ist  sehr  schon.  Und  jeder  von 
uns  nimmt  diese  klare  und  selbst  schon  ethisch  wirkende  Be- 
stimmung  der  Ethik  froh  an.  Aber  — im  Falle  am  Ende  ,,Ethik" 

cils  etwas  Asiatisches  leicht  verdachtig  gemacht  werden  soil, 
gegeniiber  dem  abendlandischen  Sensoriker,  dem  hellenischen, 
angebhch  anethischen  Menschen  — hier  gilt  es  zu  erklaren: 
Wir  sind  nicht  Asiaten.  Doch  selbst  wenn  Ethik  etwas  Boto- 
kudisches  ware,  dann  noch  sind  wir  fiir  sie! 

„Hier  bewahrt  sich  der  motorische  Charakter  des  Orientalen 
in  seiner  hochsten  Sublimierung : als  das  Pathos  der  Forderung." 
Es  gibt  gewiB  nichts  Starkeres  auf  der  Welt  als  das  Pathos  der 
Forderung.  Haben  wir  andere  Aufgaben,  als  immer  wieder, 
immer  mehr  zu  fordern,  fordern,  fordern!  Aber,  wenn  man 
die  Forderung  als  Ausdrucksart  eines  blofien  Sondertypus  der 
Menschheit  verdachtigt,  macht  man  siedamit  nur  unwirksamer. 


258 


Ludwig  Rubiner  * Lcgende  vom  Orient 


Doch  die  Forderung  ist  die  hochste  Stufe  des  scHaffenden  und 
zeugenden  Menschen  (nicht  des  Orientalen  allein).  Wie  man 
sie  unwirksam,  heillos  macht,  dessen  ein  Beispiel:  „Die  For- 
derung mag  durch  eine  aanz  innerfiefie  ’at  erfiillt  werden; 
someintes  der  Inder  der  Vedanta,  der,  das  Gewebe  des  Scheins 
zerreiBend,  sein  Selbst  als  mit  dem  Selbst  der  Welt  identisch 
erkennt  und  die  wahre,  die  einzige  Welt  in  der  allumfassendsten 
Einsamkeit  seiner  Seele  verwirklicht."  Aber  das  ist  Unfug: 
Diese  angeblich  innerliche  Tat  ist  keine  Tat,  Die  Verwirk- 
lichung  in  der  allumfassenden  Einsamkeit  der  Seele  ist  nicht 
umfassend;  schlimmer  noch:  nicht  einmal  um  ein  Gran  ver- 
wirklicht!  Macht  denn  einer  dem  Krieg  ein  Ende,  wenn  er  in 
der  allumfassenden  Einsamkeit  seiner  Seele  den  Frieden  aller 
Nationen  verwirklicht?  Nein,  er  verwirklicht  gar  nichts.  Er 
umfiihlt  nur  wohlwollend  irgendeine  Verwirklichung,  die  andere 
tun.  Das  ist  billig,  denn  er  brauchte  sich  nicht  zu  enfsc/ieiden. 
Erste  Bedingung  zum  Menschentum  heifit : Entscheidet  Euch ! 

Das  Thema  der  Entscheidung  gehort  ja  zum  Wichtigsten  im 
ganzen  Leben  des  Menschen.  Keine  Handlung  ohne  Entschei- 
dung, ohne  Parteinahme  fur  einen  absoluten  Wert.  Aber  man 
sollte  es  doch  nicht  mit  einer  Sonderphilosophie  umspielen; 
man  schwacht  es  sonst ! „Der  Jude  bringt  die  Welt  zur  Einheit, 
indem  er  sic6  enis<£ eidet. ' ‘ Nur  der  Jude?  Warum  die  Angst 
davor,  jedem  Menschen  die  Entscheidung  nahezubringen  ? „Der 
in  der  Entscheidung  steht,  weifi  nichts,  als  dafi  er  zu  wahlen 
hat,  und  auch  das  weifi  er  nicht  mit  dem  Denken,  sondern  mit 
demSein.“  Das  ist  tief  richtig.  Aber  ist  es  nur  jiidisch?  Nein,  es 
ist  menschliches  Urphanomen.  Wie  konnten  diese  Einsichten 
statt  Stichworte  einer  Gruppe  — Aufrufe  zur  Humanitas  werden ; 
es  fehlt  immer  nur  erne  kleine  Menschlichkeits-Sekunde  daran. 
„In  Wahrheit  wirkt  die  Tat  tief  und  heimlich  ins  Schicksal  der 
Welt,  und  wenn  sie  sich  auf  ihr  gottliches  Ziel,  die  Einheit 
besmnt,  wenn  sie  sich  von  der  *B edingtheit  fosmaefit  und  im 
eigenen  Lichte,  das  ist  im  Lichte  Jahves,  wandelt,  ist  sie  frei 
und  gewaltig  wie  Gottes  Tat.  . . Was  Europa  fehlt,  ist  die 
Ausschliefilichkeit  der  Kunde  vom  wahrhaften  Leben,  die  ein- 


Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient 


geborene  Gewifiheit,  jenes  Gins  tut  not.  Dies  ist  es,  was  in  den 
groBen  Lehren  des  Orients  und  einzig  in  ihnen  schopferisch 
besteht.  Sie  setzen  das  toahrhafte  Leben  als  das  fundamental, 
von  nicftts  anderem  abgefeitete,  auf  nic6ts  anderes  zurudc* 
zufuhrende  m efapdgsische  tyr inzip ; sie  verkiinden  den  Weg.“ 
Man  lese  das  nicht  als  verantwortungslose  Weisheit,  sondern 
als  Aufruf,  und  es  ist  herrlich.  Es  bat  mit  der  ganzen  Welt  der 
Menschen  zu  tun.  Aber  aus  einem  unsichtbaren  Winkel  schwebt 
ein  Schatten  von  Angst  und  Hochmut  voriiber ; und  alles,  was 
schon,  mutig,  wirklich  ist,  wird  vom  Menschen  abgezogen  und 
dem  orientalischen  Menschen  zugeschoben.  (Dabei:  fragte  man 
heute  die  Schopfer  unserer  Zeit,  Maler,  Dichter,  unbedingt 
Fordernde,  Literaten,  nach  ihrem  Wege,  so  wiirden  sie  sagen 
miissen,  dafi  diese  Dinge  in  ihrem  Schaffen  Selbstverstandlich- 
keit  und  Wirklichkeit  sind.  Ganz  fern  von  Exotismus  und 
Seelen-Orient !) 

Zuletzt  kommtdieserTraditionalismus  aus  einem  ganz  naiven 
Besitzaberglauben.  Es  ist  die  Uberzeugung,  dafi  aller  Besitz  der 
Welt  erhalten  bleiben  miisse,  weil  sie  sich  soviel  Miihe  darum 
gemacht  hat.  Und  nicht  bedenken  jene,  dafi  es  eine  Vorbedingung 
des  Erfolges  aller  Miihe  ist,  dafi  man  sie  sich  umsonst  macht, 
stets  bereit,  alles  Errungene  wieder  zu  opfern,  stets  vor  dem 
Nichts-zu-Verlieren-haben!  Aber  jenen,  fur  die  Buber  spricht, 
ist  unumstofilich  gewifi,  dafi  alles  Seiende  bewahrt  werden  mufi. 
So  unumstofilich  gewifi,  dafi  sie  zuerst  nicht  fur  das  Handeln, 
sondern  immer  fiir  das  Bewahren  eintreten.  Ihre  Neigungen 
gelten  jeder  Art  von  Gewesenheit,  von  Antiquitatenkult,  Biblio- 
philenpolitik,  Ancien-Regimokratie:  „Das  Zeitalter,  in  dem  wir 
leben,  wird  man  einst  als  das  der  asiatischen  Krisis  bezeichnen. 
Die  fiihrenden  Volker  des  Orients  sind  teils  unter  die  aufiere 
Gewalt,  teiis  unter  den  innerlich  vergewaltigenden  Einflufi 
Europas  gekommmen.“  Und  dazu  ein  geradezu  riihrendes 
Naseriimpfen  iiber  Chinas  moderne  Staatsformen.  — Aber  seit 
wann  ist  denn  ausgemacht,  dafi  Seiendes  erhalten  bleiben  mufi? 
Dafi  die  Erhaltung  ein  Wert  ist?  Denn  wenn  es  fiir  Gott  gilt, 
die  Welt  sich  zu  nahern,  dann  schiittelt  er  sie! 

* 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


260 


Es  geht  wahrhaftig  nicht  um  entgegengesetzte  Meinungen. 
BloBes  Rechtbehalten  1st  in  der  Welt  gar  nichts  niitze.  Aber, 
bei  Gott,  das  hier  ist  ein  Kampf  um  Ziele. 


Sollte 


man  es 


wohl  glauben,  daB  Menschen  heute  noch,  nacb  alien  unseren 
Erfahrungen,  oder  womoglich  trotzdem,  der  Meinung  sind,  es 
gabe  immer  noch  zu  wenig  Nationen ; die  Welt  miisse  immer 
noch  starker  nationalisiert  werden!  DaB  sie  gar  nach  dem 
Ereignis  des  Krieges,  dieses  Endeffektes  der  allgemeinen  Na- 
tionalisierung  der  Erde,  immer  noch  den  Zionismus  betreiben, 
immer  noch  suchen,  die  Juden  aller  Lander  zu  einer  neuen, 
geographisch  abgesonderten  Nation  zu  machen,  unter  der  Be- 
hauptung,  die  Juden  seien  schon  eine  Nation,  eine  alte ! 

Darauf  lauft  die  Orientalisierung  des  menschlich  Anstandigen 
schliefilich  hinaus.  Daher  riihrt  das  ewige  Sichducken,  das 
immerwahrende  Es-nicht-gewesen-sein-wollen,  Nichts-gesagt- 
haben- wollen . AlleUmwege  der  Barockmystik,  alle  Feierlichkeit 
der  Rede,  aller  Glanz  junger  Fahigkeiten  dienen,  um  aus  den 
wertvollen  Kraft en  des  Menschen wesens  zur  Konstituierung 
einer nationalenSondergruppe  zu  gelangen.  In jenemProgramm- 
buch  ist  eine  ganz  wunderbare  Darstellung  der  ersten,  not- 
wendigen  geistigen  Situation  fiir  den  scfiaffenden  ‘IJlenschen 
gegeben.  Aber  der  Autor  sagt : fiir  den  jiidischen ! Um  die  (still 
geduckte)  Hochmutsphase  des  jiidischen  Nationalismus  unmerk- 
lich  einzufiihren.  Jene  Gegend,  wo  es  nicht  mehr  heiBl:  Jude 
gleich  Sondermensch.  Sondem  Mensch  = gleich  Jude. 
Indes  solche  Gedankengange  kommen  nicht  aus  irgend  einer 
spezifischen  Naturanlage  des  Denkers,  sondem  sind  nur  ein 
schwerer  menschlicher  MiBgriff.  So  sagt  der  Zionist:  „Man 
falscht  den  Sinn  des  Aktes  der  Entscheidung  im  Judentum, 
wenn  man  ihn  als  einen  blofi  ethischen  behandelt;  er  ist  ein 
religioser,  vielmehr:  er  ist  der  religiose  Akt,  denn  er  ist  die 
Verwirklichung  Gottes  durch  den  Menschen. “ Da  wird  also 
erstlich  angenommen,  es  gabe  einen  Unterschied  zwischen 
Ethisch  und  Religios.  Als  ob  nicht  das  Sollen  allein  und  ledig- 
lich  fiir  Gott  geschehe!  Zum  andern,  — welche  naiv  gefiihlvolle 
Natur-Milchmadchenmystik,  Gott  miisse  durch  den  Menschen 


Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient 


261 


verwirldicht  werden!  Aber  diese  fatale  und  allzu  pfauenartig 
eitle  Spatrenaissance-Theologie  kommt  nur  daher,  daB  man 
im  Menschen  immer  durchaus  eine  Einheit  feststellen  will. 
Man  will,  versteckt  quietistisch,  den  Wert  ausschalten;  die 
AuBerwertigkeit  soli  als  etwas  Hoheres  hingestellt  werden, 
wahrend  sie  in  Wahrheit  nur  ein  Defizit  ist.  Und  also  will  man 
den  Menschen  auch  in  seinen  offenbaren  Minderwertigkeiten 
rechtfertigen,  wiederum  aus  Angst  vor  dem  moglichen  Resultat 
einer  Wertung!  Wie  ungeistig.  Wie  mutlos.  Denn  nicht  das 
kann  ja  unser  hochstes  Ziel  sein,  die  Bilderbogenidee  : zur 
Einheit  zu  gelangen,  sondern  das  ist  es : zur  Reinheit  zu  ge- 
langen.  Selbst  wenn  man  dabei  zur  Trennung  kommt.  Doch 
der  Zionist  baut  sein  Handeln  auf  eine  vorgebliche  Einheit: 
„In  der  Unbedingtheit  seiner  Tat  erlebt  der  Mensch  die  Ge- 
meinschaft  mit  Gott.“  Die  iibliche  pantheistische  ekstatische 
Konfession.  Aber  mogen  doch  endlich  die  Mystiker  aufhoren, 
von  einer  Gemeinschaft  des  Menschen  mit  Gott  zu  reden. 
Denn  nie  wird  diese  Gemeinschaft  erlebt.  Nie  hat  ein  Emster 
gewagt,  siezu  behaupten.  Diese  Gemeinschaft  ist  nicht  moglich. 
Solche  Vorstellung  von  Gott  ist  allzusehr  Damenkloster.  Und 
stets  noch,  wo  den  Menschen  Absolutes  sicher  stand,  wo  Re- 
ligion nicht  in  Sensual-Pietismus  verglitt,  wuBte  man,  daB  der 
letzte,  dem  Menschen  erreichbare  Punkt  der  Heiligkeit  allein 
ist:  zur  Fahigkeit  vom  <Bewufitsein  der  Existenz  Gottes  zu 
gelangen. 

Aber  warum  glauben  denn  diese  Mystiker  nicht  ans  Wunder, 
sondern  nur  an  ihre  Worte  ? „Das  Psalmwort,  Gott  ist  alien 
nahe,  die  ihn  rufen,  alien,  die  ihn  mit  der  Wahrheit  rufen  — 
heiBt:  mit  der  Wahrheit,  die  sie  tun.11  — Nein.  Das  heiBt  es 
nicht.  „Rufen“  heiBt  nie  Tun  (und  hier  heiBt  es  zudem 
„Glauben“).  — „Die  Wahrheit  ist  kein  Was,  sondern  ein  Wie.“ 
Hier  greift  man  ins  Innere  der  zionistischen  Mystik:  da  liegen 
nur  die  alten  ruchlosen  Konsequenzen  der  selbstgefalligsten 
Impressionisten-  und  Formphilosophie.  Aber  seit  deren  Wirk- 
samkeit  ist  das  Uhrwerk  einer  Generation  abgeschnarrt.  Und 
hier  nimmt  der  Zionismus  durch  Selbstverbrennung  an  sich 


262  Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 

Rache  fur  die  innere  Feigheit  seines  Kreislaufs  um  sich  selbst: 
„Nicht  der  Inhalt  der  Tat  macht  sie  zur  Wahrheit,  sondem 
ob  sie  in  menschlicher  Bedingtheit  cxler  in  gottlicher  Unbe- 
dingtheit  geschieht.  Nicht  die  Materie  der  Tat  bestimmt  dar- 
iiber,  ob  sie  im  Vorhof,  im  Reich  der  Dinge  verlauft  oder  ins 
Allerheiligste  dringt,  sondern  die  Macht  der  Entscheidung, 
die  sie  hervorbringt,  und  die  Weihe  der  Intention,  die  ihr  inne- 
wohnt.“  Zu  deutsch : es  kommt  nicht  darauf  an,  was  geschieht, 
sondern  nur,  dafi  etwas  geschieht.  Aber  das  ist  falsch,  und  auf 
die  fiirchterlichste,  gefahrlichste  Art.  Man  sieht  es  am  Krieg. 
Denn  das  Was  einer  Wahrheit,  ihr  Inhalt,  wird  ebenso  stark 
aus  dem  Resultat  wie  aus  dem  Weg  zu  diesem  Resultat  be- 
stritten.  Erst  der  ^Weg  zum  Resultat  macht  das  Resultat  sieg- 
reich.  Daher  kann  die  (eine  ausgezeichnete  Formulierung  Mar- 
tin Bubers)  ,,Materie“  der  Tat  — durch  die  der  Weg  der  Tat 
doch  gehen  muB  — unmoglich  eine  matiere  negligeable  sein. 
— Und  was  ist  „Weihe  der  Intention4*?  Unsinn!  Denn  nur 
die  Intention  bestimmt  die  Weihe.  Aber  erinnert  man  sich  noch 
an  die  vielen  intereuropaischen  Kongresse  vor  dem  Krieg, 
denen  nur  das  Bediirfnis  nach  Weihe  die  Intention  gab,  und 
die  darum  Bluffs  waren  und  auch  von  fern  nicht  imstande, 
der  ganz  weihelosen  Intention  des  Kriegs  ebenbiirtig  gegeniiber- 
zutreten ! Man  schaue  die  Zionisten  an : sie  sind  geweiht,  aber 
es  fehlt  lhnen  jede  Intention.  Sie  wallen,  aber  sie  sind  noch 
nicht  einen  vorwartstragenden  Schritt  gegangen! 

Ziehen  wir  den  Schlufi : bei  diesem  ungeheuren  Aufgebot 
von  Hingabe,  Nachdenken,  Konnen;  bei  diesem  funkelnd 
tauchenden  Kreisen  einer  Rhetorik  der  Andeutungen  kommt 
es  einzig  an  auf  die  schone  Geste.  Auf  Fresko.  Judentheater 
mit  Reliefbiihne.  Und  das  Herz  steht  einem  still,  wenn  man 
daran  denkt,  dafi  von  irgend  einer  Schonheitstheorie  der  Zio- 
nisten das  wahre  Schicksal,  das  Leben  von  Hunderttausenden 
Juden  abhangen  sollte. 

„Das  innere  Schicksal  des  Judentums  scheint  mir  daran  zu 
hangen,  ob  — gleichviel  in  dieser  Gestalt  oder  einer  andern  — 
sein  ^Pathos  wieder  zur  ^Cat  wird."  Aber  das  ist  doch  eine 


Ludwig  Rubincr  ♦ Legend  e vom  Orient 


263 


grauenhafte  SchauspieiaufTassung  des  Lebens!  Militarmarsche 
pflegt  man  zu  komponieren,  wenn  es  im  Lande  schon  Truppen 
gibt.  Und  Pathos  hat  nur  ein  Daseinsrecht  zur  Bestrahlung 
von  bereits  Geleistetem.  Doch  die  hier  wollen  um  des  Pathos 
willen  marschieren  lassen,  marschieren  nach  Palastina. 

Aber  kommt  es  ihnen  nicht  auf  den  Orient  an  ? Auf  den 
Orient  des  ,,motorischen“  Menschen,  den  altneuen  Orient. 


Der  alte  Orient ! — Es  ist  sehr  wohl  moglich,  daB  jene  all- 
gemeinste  menschliche  Ehrenangelegenheit,  die  Gnischeidung, 
historisch  sichtbar  zuerst  im  Trieb  der  Juden  sich  zeigte.  Aber 
woran  sie  sich  verwesentlicht : alles  Denken,  Greifen,  Fiihlen: 
alle  taglichen  Gegenstande,  alle  Bilder  der  Dichterhirne  — 
alles  ist  ganzlich  ein  Teil,  nur  ein  Teil  des  groBen  altorienta- 
lischen  (iiberjiidischen)  Ideenreiches.  Der  Zionist  verteidigt 
die  biblichen  Schriften  gegen  den  (als  Beschuldigung  kindli- 
chen)  Vorwurf,  sie  seien  blofie  Nachkommen  der  babylonischen. 
Als  ob  das  wichtig  ware!  Nicht  wichtig  sind  wortliche  und 
sachhche  Ubereinstimmungen  oder  Abweichungen . Wichtig 
ist : daB  babylomsches  Weltdenken  in  denselben  Grundvorstel- 
lungen  verlauft  wie  jiidisches.  Literarische  Fiihrer  des  Zionis- 
mus  sprechen  vom  Mythos.  Aber  der  Theoretiker,  er,  der  Hoch- 
gebildete,  der  es  weifi,  und  sich  gewifi  damit  auseinanderge- 
setzt  hat,  verschweigt  uns,  daB  wir  seit  Jahren  ganz  ungeheuer- 
hche  Aufschliisse  uberdenaltonentalischen  Mythos  haben.  DaB 
die  groBen  Mythenforscher  Stucken,  Hugo  Winckler,  Alfred  Je- 
remias,  dafi  die  Veroffentlichungen  der  vorderasiatischen  Gesell- 
schaft  uns  sagten : Das  Weltgefiihl,  die  Rezeptivitat  und  die 
Ausdrucksart  des  alten  Orients  ruhen  in  einer , uns  heute 
geradezu  unvorstellbaren  Art,  auf  der  Abstraktion.  Das  alt- 
orientahsche  Weltbild  ist  abstract:  ein  Gestirn 
Zeiten  von  ganz  anderer,  schon  sachlich  geographischer,  prak- 
tischen  Bedeutung  fur  alle  Bevolkerungsschichten  als  heute 
ist  jedem  Menschen  gegenwartig  in  seinen  Stellungen.  Aber 
dominierende  Bedeutung  fur  die  Welterklarung  und  die  Pro 


in  jenen 


264 


Ludwig  Rubiner  * Legend  e vom  Orient 


duktivitat  der  Bildersprache  bekommt  die  erstaunliche  Tatsache, 
dafi  man  die  Gestirnstellungen  wirklich  vorher  festlegen  Icann. 
Die  Zahl  kommt  zu  einer  Gefiihlsbedeutung,  die  sie  heute 
langst  abgeschliffen  hat.  Die  Babylonisten  haben  das  heute 
festgestellt,  nicht  durch  Raten,  sondem  durch  machtige,  wissen- 
schaftliche  Einzelarbeit ; und  sie  haben  die  Durchsetzung  der 
gesamten  modernen  Kultur,  die  entferntesten  Negerstamme 
mit  eingeschlossen,  von  babylonischer  Sternmythologie  aus  dem 
Anfang  des  dritten  Jahrtausends  a.  Chr.  n.  bis  in  unsere  heu- 
tigen,  gefiihlsmafiigsten,  bereits  instinktiv  gewordenen  Ge- 
brauche  festgestellt.  Die  Abstraktion  auch  des  alten  Orients  ist 
iiber  jede  Vorstellung  weit  entfernt  von  unserer  heutigen  Ab- 
straktionstatigkeit.  Unsere  Abstraktion  ist  Steigerung  des  Men- 
schendenkens  bis  zur  allgemeinsten  Giiltigkeit,  bis  zu  einer 
letzten  Zeichensprache  des  Denkens,  die,  iiber  die  ganze  von 
Menschen  bewohnte  Erdkugel  hin,  das  Denken  jedes  Menschen 
einbezieht.  Aber  die  altorientalische  Abstraktion  ist  menschen- 
fern.  Sie  setzt  die  geozentrische  Weltauffassung  der  Antike 
voraus,  und  sie  hat  die  Anschauung  von  der  Erde  als  einer 
Ebene,  iiber  der  die  Stembewegungen  in  der  langsamen  Rund- 
wanderung  des  Tierkreises  vor  sich  gehen.  Der  Zug  der  Pla- 
neten  durch  die  zwolf  Tierkreiszeichen  beherrscht  Gefiihl,  Phan- 
tasie,  Vorstellen  und  Handeln  jenes  antiken  Menschen  volhg. 
Das  hohe  Mysterium,  das  heilig  Esoterische,  der  Angelpunkt 
aller  Prophetie  und  des  antiken  Messianismus  ist  die  Feststel- 
lung,  dafi  auch  der  Aufgang  der  Sonne  wahrend  des  Fruhlings- 
aquinoktiums  (der  Friihlingspunkt,  die  Kreuzung  der  Ekliptik 
mit  dem  Himmelsaquator : das  himmlische  Kreuz)  im  Tierkreis 
weitenriickt,  von  einem  Tierkreiszeichen,  um  dreifiig  Grad,  zum 
andern  in  ungefahr  2200  Jahren.  Diese  Dauer  des  Verweilens 
des  Friihlingspunktes  in  einem  Tierkreiszeichen  ist  „das  Zeit- 
alter“.  Um  das  Jahr  2900  v.  Chr.  trat  die  Welt  ins  Zeitalter  des 
Stiers,  um  700  v.Chr.  ins  Zeitalter  des  Widders ; seitetwa  dem 
Jahre  1500  unserer  Zeitrechnung  stehen  wir  im  Zeitalter  der 
Fische.  Schon  diese  Andeutungen  hellen  AuBerordentliches  auf. 
Jedes  dieser,  ganz  subjektiv  vom  geozentrischen  Standpunkt  aus 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


265 


beurteilten  kosmischen  Daten  ist  ein  weithin  wirkendes  Zentrum 
riesiger  religioser  und  politischer  Um  walzungen : der  machtigste 
wirkende  Inhalt  jedes  iiberindividuellen  Handelns  der  alten  Zeit. 
Das  Wissen  um  den  Wechsel  der  kosmischen  Zeitalter,  und  die 
Vorstellung  davon  ist  heiligste  Lebenskunde  des  orientalischen 
Altertums,  der  groBte  Umfang  und  die  reichste  Quelle  jedes 
bewegungschaffenden  Mythos. 

Aber  nicht  fur  uns! 

Jeder  heute  kennt  die  astronomischen  Griinde,  aus  denen 
jene  antike  Abstraktion,  dieser  MutterschoB  des  orientalischen 
Mythos,  fur  uns  keinen  echten  Gefiihlstrieb  mehr  gebaren 
kann. 

Eine  plumpe  und  flach  unwissende  Aufklarung  meinte  einst, 
Religion  — die  Auswirkung  des  Mythos  — sei  Priestertrug  ge- 
wesen.  Das  war  dumm  und  falsch  gemeint,  denn  solange  der 
Mythos  echt  war,  war  auch  seine  Lebenswirkung  wahr.  Aber 
ebenso  dumm,  falsch,  flach,  unwissend  und  plump  ist  es  auch, 
unsrem  heutigen  MenschlichkeitsbewuBtsein  eine  neue  Ver- 
dunklung  entgegenzuhalten,  und  zu  sagen:  „Humanitas  ist  ein 
iiberwundener  Standpunkt;  es  kommt  darauf  an,  wieder  zur 
ewigen  Wahrheit  des  Mythos  zuriickzukehren,  um  jeden  Preis 
von  Menschenleben !“  0 lebensgefahrlicher  Irrtum!  Keineewige 
Wahrheit  ist  Mythos,  sondem  nur  eine  zeitliche.  Ebenso 
respektabel,  ebenso  uns  fern  wie  andere  zeitlich  gebundenen 
Gefiihlswahrheiten.  Aber  heute  nicht  um  das  erbarmlichste 
Menschenleben  wertvoller,  wirkungsberechtigter,  Iebenszielge- 
bender  als  beispielsweise  fiir  die  heutigen  Bewohner  Griechen- 
lands  eine  Erinnerung  an  die  zwolf  Taten  des  Herakles.  (Die 
ungeheure  Weltdiskrepanz,  das  schauerliche  Mythoselend  des 
mittelalterhchen  Judentums  — dieser  Gemeinschaft  aus  Isola- 
tion — tritt  zutage  in  der  wertvollen  Quellenforschung  von 
Erich  Bischoff : „Babylonisch-Astrales  im  Weltbild  des  Talmud 
und  Midrasch.“) 

Dafi  auch  Zionisten  dies  wissen,  ware  vorauszusetzen.  Aber 
aus  einem  tiefen  Instinkt  vemachlassigten  sie  die  Mitteilung,  dafi 
die  wichtigste  Dimension  der  altorientalischen  Welt  — zu  der 


266  Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient 

das  biblische  Judentum  nur  als  ein  ethnographisches  Sonder- 
segment  gehort  — daB  ihr  Wichtigstes  die  Abstraktion  ist.  Sie 
sprechen  oft  von  Mythos  — und  es  ist  nicht  angenehm,  daB 
dieses  Wort,  dessen  Inhalt  doch  erst  zur  Mitteilung  von  Ge- 
heimnissen  dient,  schon  in  seinem  stilistischen  Gebrauch  selbst 
als  geheimnisvoll  verdunkelnde  Klangschwingung  gebraucht 
wird.  Wer  vom  Mythos  spricht,  miisste  auBerste  Klarheit  dar- 
iiber  schaffen,  daC  der  Mythos  eine  Versinnlichung  durch  das 
alltagliche  Mogliche  und  Greifbare  einer  abstrakten  Ur- 
konzeption  ist.  Man  darf  nicht  mehr  das  Abstrakte  des  orienta- 
lischen  Blicks  verschweigen.  Aber  der  Zionist  macht  seinem 
Gegeniiber  dunkle  Andeutungen  vom  Mythos  und  kniipft  an 
diese  Andeutungen  ethische  Folgerungen ; Forderungen  dessen, 
was  sein  fotfte.  Die  ethische  Folgerung,  die  er  aus  dem  Mythos 
zieht,  hei  Bt : Auf  nach  Zion ! Doch  wie,  wenn  man  einmal  dem 
Mythos  ins  Gesicht  blickte?  Und  wenn  man  aus  anderer  — 
heutiger  — Voraussetzung  zu  anderer  — heutigerer  — Folge  ge- 
langte?  Wenn  — ganz  abgesehen  von  allem  Folgern,  ganz  aufier- 
halb  des  Folgerns  — einem  jenes  Ethos  selbst  fadenscheinig 
diinkte  ? Und  wenn  von  allem  nur  iibrig  bliebe : Der  erste  Be- 
ginn  des  Menschen : das  Ethische ; und  die  letzte  Ausflucht  des 
Menschen : das  Ethische. 

Aber  das  haben  wir  ja  schon  lange  gewuBt! 

Man  entgegnet  mir : Der  Mythos  sei  iiberhaupt  zu  jeder  Zeit, 
iiberzeitlich,  der  Vorbeginn  alles  Fiihlens,  Denkens,  Ent- 
schlieBens  des  Menschen,  und  jeder  Mensch  habe  im  Dunke 
seiner  Geistesverrichtung  den  Jahrtausendweg  der  Menschheit 
am  Mythos  zuriickzulegen.  Darauf  ware  zu  antworten:  Das  ist 
von  vomherein  falsch,  denn  diese  Hypothese  entspringt  der 
willkiirlichen  Ubertragung  rein  naturwissenschaftlicher  Prin- 
zipien  (Phylogenese)  auf  das  Geistige.  Es  ist  aber  auch  sach- 
lich  falsch,  denn  gerade  die  Tatsache,  daB  in  unserer  Kultur 
Rudimente  rein  instinktmassig  herrschen,  die  in  ihrer  VoII- 
kommenheit  vor  Jahrtausenden  die  Regenten  des  bewuBten 
Willens  waren,  zeigt,  das  wir  im  Mythos  vor  einem  bloB  histo- 
rischen  Faktum  stehen.  Jene  Lebenserscheinungen  unserer 


Ludwig  Rubtner  • Legende  vom  Orient 


267 


Zeit,  die  sich  als  letzte,  verblafite  Auslaufer  eines  Mythos  er- 
kennen  lassen,  zeigen  vor  allem,  da6  es  in  unserer  Kultur 
Wurmfortsatze  Babylons  gibt.  Sind  sie  zu  bewahren?  Wird 
etwa  jemand  den  Blinddarm  als  das  herrlichste  Symbol  allge- 
mein  iiberzeitlichen  Tierlebens  preisen?  — Man  hat  mit  ge- 
fahrlichen  Wurmenden  des  Mythos  zu  machen,  was  man  mit 
dem  Wurmfortsatz  zu  machen  pflegt,  wenn  er  Entziindungen 
her  vorruft . 

Aber  der  neue  Mythos?  Darauf  ist  zu  fragen:  Warum  muB 
denn  durchaus  ein  neuer  Mythos  aus  der  Erde  gestampft 
werden  ? Leben  wir  etwa  fur  zukiinftige  Mythologen  ? Oder, 
leben  wir  nicht  vielmehr,  um  zu  handeln!  Und  wenn  durch- 
aus der  neue  Mythos  da  sein  soil,  so  kann  er  doch  erst  kommen, 
wenn  eine  neue  Abstraktion  da  sein  wird.  Innerhalb  des  alt- 
orientalischen  Kosmos  konnen  wir  heute  nicht  mehr  schopferisch 
denken.  Und  gerade  das  Hauptresultat  der  babylonischen  Ab- 
straktion, das  bis  zu  Paracelsus  hochwirkend  ist,  erscheint  uns 
heute  notwendig  als  eine  kunose  Bildlichkeit,  etwas  niedlich 
Dichterisches,  eine  angenehme,  oberflachliche  Metapher:  die 
Annahme  einer  Entsprechung  von  Himmel  — Makrokosmos 
und  Erde  — Mikrokosmos ; die  Annahme  der  notgedrungenen 
Parallelitat  zwischen  Makrokosmos  — Himmel  — Erde  und 
Mikrokosmos  Mensch.  Die  letzte  grosse  Ausschwingung  des 
babylonischen  Gestirnmythos  wurde  wirkend  in  der  Kabbala. 
Aber  betrachten  wir  das  Schema  des  kabbalistischen  Menschen 
mit  seinen  mythischen  Himmelsentsprechungen : Als  Abbild 
irgend  eines  Seins,  als  Feststellung  genommen  ist  es  heute 
volliger  Unsinn.  Aber  als  Aufzeichnung  ethischen  Strebens 
gefafit  — wenn  man  den  alten  ethischen  Sinn  der  Gestimbe- 
trachtung  einsetzt  — ist  es  unendlich  schon.  Und  dabei  stellt 
sich  wieder  heraus : Nennt  nur  das  Ethische,  das  Wollen,  das 
Streben,  das  Handeln,  und  es  wird  schon  durch  sein  bloBes 
Genanntsein  lebendig.  Noch  auf  der  Hintertreppe  ist  das 
Ethische  interessant,  das  heifit  von  uns  alien  als  machtigster 
Faktor  unseres  Lebens  erkannt.  Was  bleibt  vom  Ethos?  Alles. 
Was  bleibt  vom  Mythos?  Eine  historische  Schabracke. 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


268 

Und  dazu,  fiir  den  Mythos,  Palastina  bemiihen?  Palastina 
nahelegen:  deutschen  Juden,  die  zu  Friedenszeiten  schon 
schwer  in  Frankreich  leben  konnten ; italienischen  Juden,  denen 
es  nicht  anders  in  Deutschland  urns  Herz  war;  franzosischen 
Juden,  denen  Amerika  zu  wenig  franzosisch  war ! Fiir  Menschen, 
die  bereits  Nationen  angehoren;  fur  schon  — wie  ihre  Mit- 
biirger  — allzu  Einnationalisierte,  die  der  Krieg  zu  noch 
groBerem  Nationalismus  drangte;  fiir  sie  wiederum  eine  neue 
Nation  errichten!  . . 

* 


Der  Mythos  ist  langst  Gebrauch  geworden.  Unsinnig  ist  es, 
zu  wiinschen,  daB  der  Gebrauch  wieder  Mythos  werde ! 

Das  wissen  wir  ja,  daB  wir  in  alien  Richtungen  der  blinden 
Gefiihlshingabe  noch  heute  unter  dem  Druck  des  alten  Orients 
stehen;  bis  in  fcheinbar  geistige  Sublimierungen : in  unserem 
Musiksystem,  in  unseren  Sprachbildern,  sogar  inTraditionellem 
unserer  Architektur  und  der  bildenden  Kunst.  Also  klar  aus- 
gesprochen;  In  unserem  bloBen  Vegetativleben.  Und  in  den 
meisten  unserer  staatspolitischen  Symbole!  (Umfassend  nach- 
gewiesen  von  Robert  Eisler  in  dem  bedeutenden  Werke  „Wel- 
tenmantel  und  Himmelszelt“.  Daraus  auch  die  Suggestivideen 
des  Imperialismus  sich  als  alte  Symbole  einer  verwesten  Mythen- 
welt  ergeben.  Jedoch  wenn  unser  Vegetativleben,  unser  seelisches 
Pflanzenleben  unter  dem  Strahlendruck  des  Orients  steht: 
Wichtig  ist  heute,  tausendmal  wichtiger,  das  einzig  Wichtige 
ist  die  Frage:  Welcher  ist  der  Strahl,  der  von  uns  ausgeht? 
Deutlicher:  Welches  ist  unser  ‘Wiffe? 

Und  nur  ruhevoll  platschernd  ware  die  Folgerung : Also  auf, 
und  verstarkt  den  Orient  in  Euch  noch,  auf  zum  Orient  nach 
Zion!  Ruhevoll  verriickt  ware  das!  Es  lage  ein  Fall  von  uner- 
hortestem,  inzestuosem  Egoismus  vor : Ein  Mensch  glaubt,  daB 
einer  Sondergruppe  von  Menschen,  hier  den  Juden,  bestimmte 
wertvolle  Krafte  eigen  seien.  Diese  Krafte  will  er  — nicht  etwa 
der  Menschheit,  die  es  sehr  notig  hat,  zufiihren,  sondem  wieder- 


Ludwig  Rubiner  * Legende  vom  Orient 


269 


um  jener  Gruppe  selbst,  die  sie  produziert ! Der  Zionist  schiebt 
alles,  was  stark,  bedeutend  — womoglich  neu  — ist,  auf  Seite 
des  Orientalen;  alles  Relativische  auf  Seite  des  Okzidents.  0 
Typisierung!  1st  es  nicht  Unrecht,  mitVolkern  und  Jahrtausen- 
den  umzuspringen,  nur  um  einige  Begriffe  zu  destillieren  ? O 
diinnste  aller  Legenden! 

Doch  auch  diese  Begriffe  sind  nicht  dicht.  (Man  zeige  mir 
die  Unentschiedenheit  etwa  und  Relativitat  der  Heilenen.)  Nein, 
der  Theoretiker  des  Zionismus  pflegt  ein  Abkommling  der  riihr- 
seligen  Goethephilologie  zu  sein,  die  Wucher  mit  der  Vorstel- 
lung  vom  Erlebnis  trieb.  Innerhalb  dieser  Vorstellung  ist  alles 
gleichwertig. 

Aber  seid  gewiB,  es  gibt  Werte  auf  der  Welt ! Also  kame  es 
auf  die  „Richtung“  an  ? Ja,  es  kommt  auf  die  Richtung  an. 
Es  kommt  so  auf  sie  an,  daB  heute  ein  minderer  Mann,  der 
reinen  Herzens  einer  Richtung  sich  ergibt,  mehr  fur  das  Gluck, 
die  Starke  und  die  Menschlichkeit  der  Menschheit  tut  als  ein 
grofier,  doch  hochst  isolierter  Solipsist  in  der  „allumfassenden 
Einsamkeit  seiner  Seele“.  Er  tut  mehr.  Einfach  sachlich  leistet 
er  mehr.  — Heute,  des  wichtigsten  Beispiels  halber,  ein  organi- 
sierter  Genosse.  Heute!  — 

Der  Geist  kennt  nur  Verwirklicher  seiner  Befehle.  Je  nach 
der  Art  der  Triibung,  der  Einschiebung,  des  minderen  Mittler- 
tums  zwischen  Geist  und  Verwirklichung  gibt  es  Nationen.  Und 
nun  sucht  der  Zionist  vom  Absoluten,  vom  Geist,  einen  Spezial- 
geist,  emen  Judengeist  abzusondern.  Er  sucht  noch  eine  weitere 
Triibung,  Einschiebung  bewuBt  zu  konstruieren,  iiber  die  schon 
vorhandenen  hinaus.  Eine  Nation,  die  in  der  Luft  schwebt. 
Er  will  eine  Gemeinsamkeit  fundamentaler  Art  fur  die  Heutigen 
finden,  die  nicht  fundamentaler  Art  ist.  Die  Tatsache  Juden- 
tum,  die  Tatsache  lrgend  einer  Gemeinsamkeit  der  Juden  — 
durch  das  Faktum:  Jude  sein  — hegt  nicht  in  der  Natur, 
sondern  nur  in  ihrer  Isolation.  Woher  aber,  wird  man  mich 
fragen,  eben  diese  Isolation?  Aus  dem  Kult,  antworte  ich.  Wer 
Sabbat  macht  und  beschneiden  laBt,  ist  isoliert. 


43  Vol.  m/i 


Ludwig  Rubiner  ♦ Legend*  vom  Orient 


Es  ist  auch  nur  ein  Kult,  gar  keine  wirkliche  Religion  mehr. 
Eine  Religion  (man  wird  linden,  der  zionistische  Theoretiker 
scheut  selbst  hier  die  Klarheit  und  tritt  fiir  eine  vage  Religiositat 
ein),  die  in  jeder  Einzelheit  nichts  mit  ihrer  realen  Umgebung 
zu  tun  hat,  ist  erstens  keine  mehr,  und  dann  isoliert  sie  ihre 
Vertreter.  Der  Zionist  muB  beispielsweise  gewohnlich  die  Juden 
gegen  den  Vorwurf  verteidigen,  sie  standen  dem  Ackerbau  fern. 
Er  kann  anfiihren,  daB  die  meisten  und  starksten  Bilder  des 
Alten  Testaments  dem  Ackerbau  entnommen  sind.  Schon.  Aber, 
wie  sollen  etwa  heute  Ballin  oder  Rathenau  oder  der  Zigaretten- 
arbeiter  Moritz  Itzig  zu  einer  Religion  stehen,  deren  wirksamste 
Bilder  aus  (noch  dazu  veralteten)  Methoden  des  Saens  und 
Pfliigens  genommen  sind!  Dazu:  jedes  der  (cosmiscfien  Bilder 
dieser  Religion  ist  einem  Weltbild  entnommen,  das  nicbt  etwa 
nur  poetisch  symbolischer  Art  ist,  sondern  einer  ganz  historisch 
eindeutig  bestimmten,  physikalischen  und  astronomischen  Na- 
turanschauung  entspricht.  Dieses  Weltbild  war  vor  fiinftausend 
Jahren  regierende  Selbstverstandlichkeit.  Heute  ist  ein  anderes 
regierende  Selbstverstandlichkeit.  Aber  das  tangiert  eben  nur 
die  kultische  Gemeinschaft.  Es  tangiert  nicht  im  geringsten  die 
religiose  Idee.  Nicht  unsere  glaubig  briiderliche  Menschen- 
gemeinschaft. 

Also  Aufklarung  ? 

Ja.  Lieber  flachste  Aufklarung,  als  Verwirrung  aus  Tiefe. 
Nebenbei:  Nie  erhoben  sich  atzendere  Aufklarer,  als  die 
pfieten  des  Alten  Bundes,  in  ihrem  Kreis.  Ihre  Feinde,  heute 
angeschaut,  waren  die  empfindungsvoll  Erlebnisstolzen,  Be- 
sitzenden ; die  auf  ihre  Geistgeheimnisse  eitlen  Hihi-Wesen ; die 
Mystiker  der  Bibliotheken ; und  die  Austeiler  leerer  Versprechen 
aus  Tiefe. 

Und  Gott? 

0 er  ist  fiir  uns  machtiger  da,  als  fiir  Sie  Einzelne,  die  ihn 
mystisch  immer  erst  wieder  „verwirklichen“  miissen.  Fiir  uns 
ist  er  Wirklichkeit,  und  ihm  suchen  wir  nur  die  Wirldichkeit 
unserer  Erdkugel  zu  nahern.  Denn  fiir  ihn  sind  wir  nicht  Orien- 
talen  oder  Abendlander  — fiir  ihn  sind  wir  Gemeinschafts- 


Ludwig  Rubiner  * Legends  vom  Orient  271 

menschen.  Menschen  der  Menschheit.  Es  gibt  nichts,  das  wesent- 
licher  ware!  Heute  benannt:  Sozialisten! 

* 

Immer  noch  sind  wir  alle  heimlich  versucht,  nach  Blutsunter- 
schiedenzu  forschen.  Das  letzte  Jahrhundert  hat  unsere  Niistem 
so  witternd  gemacht,  unsern  Spiirsinn  fur  Subkutanes  so  ge- 
scharft,  dafi  uns  heute  jene  Annahme  beinahe  als  zu  simpel  er- 
scheint : Die  Juden  unterschieden  sich  von  den  Nichtjuden  durch 
den  Kult.  Doch  es  ist  so.  Und  dieser  Unterschied,  den  wir  in 
religionsfremden  Gegenden  fast  nicht  mehr  zu  sehen  bekommen, 
ist  mindestens  ebenso  geheimnisvoll  wie  Blutverschiedenheit, 
Blutgemeinschaft  oder  die  grobe  Naturalmystik  von  der  Ver- 
erbung.  (Und  man  mufi  die  Kraft  des  Geistes  kennen,  urn  zu 
wissen,  daB  er  nicht  nur  Judennasen  formen  kann,  sondern  bei 
amerikanischen  Einwanderem  sogar  Amerikanerkinne.)  Aber 
auch  nicht,  wie  Sombart  meint,  die  Glaubensgrundlagen  des 
Alten  Testaments  haben  die  Praxis  des  modernen  Judentums 
geformt  — denn  gerade  fiir  diese  Hypothese  kommt  der  Mo- 
ment, wo  Jude,  Calvinist  und  Quaker  praktisch  ununterscheid- 
bar  werden!  Nein,  ein  ebenso  einfacher  wie  furchtbarer  Vor- 
gang  hat  dem  Judentum  zu  seiner  Sondergemeinschaft  verholfen : 
Sein  Kult,  im  alten  Orient  zu  Hause,  stimmt  in  allem  Wesent- 
lichen  nicht  mehr  zu  den  Tatsachen  des  neuen  Abendlands  ; 
also  werden  die  Tatsachen  des  neuzeitlichen  Landes  dem  alten 
Kult  angepafit!  Das  tut  der  Talmudkommentar ; dieses  un- 
glaubliche,  jahrhundertlange,  aufreibende  Bemiihen,  angebliche 
Gesetze  zu  finden.  Gesetze,  nach  denen  AuBerlichstes  verschie- 
denster  Art  in  nie  gewesener  Ubereinstimmung  erblickt  werden 
konne. 

Durch  Jahrhunderte  hindurch  stand  die  jiidische  Gemeinde 
vor  jeder  neuen  Tatsache  absolut  fassungslos,  unglaubig,  skep- 
tisch  — nur  den  Kult  hat  sie  nie  angezweifelt.  Wahrend  gerade 
der  Kult  der  anderen  Glaubensgemeinschaften  (—  nicht  viel- 
leicht  der  Glauben  — ) im  engsten  geographischen  Zusammen- 


43*voi.  in/i 


272  Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient 


hang  mit  der  jeweilig  aktuellen  Umwelt  steht ! Aber  diese  ge- 
waltsame  Selbstisolation  der  Juden,  unglaubig  fort  von  der  Welt 
ihres  Lebens,  und  hin  zu  der  Zeichensprache  einerWelt,  die 
schon  lange  nicht  mehr  da  war,  die  in  ihren  Zeichen  bereits 
nichts  lebendig  einflufikraftig  Uberzeugendes  mehr  bedeuten 
konnte;  diese  erarbeltete  Schulung  im  Nichtsehenwollen,  dieses 
Gespenstischmachen  der  wirklichen  Welt : das  ist  natiirlich  eine 
tausendmal  mehr  mystische  Erscheinung  als  alle  neuzionisti- 
schen  Mystiken.  — Sicherlich  gibt  es  heute  noch  Liebhaber  von 
Postkutschen  — aus  Romanlektiire.  Nun  aber  eine  alte  Post- 
kutsche  auf  ein  modemes  Automobilchassis  zu  setzen ; voman 
einen  Chauffeur  im  Postillonskleid,  der,  weil  er  nicht  trompeten 
kann,  statt  des  Posthoms  ein  signalblasendes  Grammophon  in 
Betrieb  setzt:  das  ist  doch  eine  Magic-City- Idee ! Aber  der 
Zionismus  ist  eine  Magic-Gity-Idee. 

Denn : Menschen  haben  endlich  gelernt,  ihreWelt  zu  sehen, 
zu  unterscheiden , zu  begreifen  — im  Gegensatz  zu  ihren  Vor- 
fahren.  Und  diese  Menschen  will  man  an  einen  Ort  fiihren,  der 
zwar  ihrenVorfahren  langst  nicht  mehr  wirklich  war,  unter  dessen 
Illusion  sie  aber  ihre  nachste  Lebenswelt  verfehlten!  Was  nun 
sollen  diese  heutigen  Menschen  dort,  an  jenem  Ort,  dessen 
Realitat  doch  schon  zu  biblischen  Zeiten  nicht  mit  seinem  auf 
den  Himmel  bezogenen  Plan  iibereinstimmen  konnte?  Sollen 
sie  vielleicht  dorthin  ihre  neue,  wirkliche  Lebenswelt  impor- 
tieren?  Sollen  sie  vielleicht  inmitten  orientalischer  Realitat  nun- 
mehr  einen  romantischen  Kult  des  femen  Europas  pflegen  — 
weil  bisher  ihr  Ungliick  darin  bestand,  ihre  europaische  Realitat 
liber  altestem  Orientkult  zu  vergessen! 

Dieses  neue  Zion  ware  noch  viel  schlimmer  als  jene  Post- 
kutsche. 

Es  geht  mit  dem  Zionismus  wie  mit  der  Alchemie.  Jahr- 
hunderte  lang  suchen  Laboranten  nach  symbolischen  Rezepten, 
aus  Blei  Gold  zu  machen.  Und  der  Sinn  der  Rezepte  war  gar 
nicht  die  Erlangung  des  wirklichen  Goldmetalles , sondern  eine 
Anleitung  zur  sittlichen  Wiedergeburt  des  Einzelmenschen. 


Ludwig  Rubiner  ♦ Legcnde  vom  Orient 


273 


Sollte  so  nicht  der  Fall  des  Zionismus  liegen  ? Er  sagt  „Zion“ 
und  meint  Reinheit  des  Einzelnen;  er  verheiBt  Palastina  und 
melnt  das  Paradies  auf  Erden : Die  Besitzlosigkeit,  die  Unbe- 
dingtheit  des  Menschen  vor  Gott.  (Im  Gegensatz  zum  Tal- 
mudisten,  der,  in  seine  Umwelt  verstrickt,  sie  kiinstlich  ne- 
gieren  will.)  Aber  die  plumpen  Tatzen  der  zionistischen  Sudel- 
koche  aller  Konfessionen  wollen  durchaus  den  Juden  hin  ins 
geographische  Palastina  zerren ! 

„Juden“.  Urn  wen  handelt  es  sicb  da  eigentlich? 

um  Juden  als  Rasse  — die  jiidische  Rassenreinheit  wird 
heute  selbst  von  den  Rassentheoretikern  nicht  mehr  behauptet. 

Rjchi  um  Juden  als  Nation  — denn  das  strebt  ja  der  Vul- 
garzionismus  erst  an  und  behauptet  dieTatsache  nur  riicklaufig. 

Sondern,  unabhangig  selbst  von  einer  Untersuchung  des 
historischen  „Warum?“  (was  nur  wieder  schwankende  und 
je  nach  wissenschaftlichen  Zeitstimmungen  wechselnde  Be- 
griindungsversuche  ergibt),  unabhangig  selbst  von  der  histo- 
rischen Lime  muB  man  flir  die  Wahrheit  feststellen : Es  gibt 
heute  deutlich  und  greifbar  zwei  jiidische  Riesenkontinente  in 
der  Welt.  Die  europaischen  Juden  auf  der  einen  Seite,  die  Ost- 
juden  auf  der  andern.  (Dieser  Unterschied  reicht  bis  nach 
Amerika^)  Die  klare  Betrathtung  der  menschhchen  Situation 
beider  Teile  ergibt  die  nackte  Tatsache:  Die  europaischen 
Juden  sind  eine  Gruppe  von  gehaBten  Menschen.  Die  Ost- 
juden  sind  eine  Gruppe  von  hilflosen  Menschen. 

HaB  ist  etwas,  worliber  man  doch  einmal  zur  Verstandigung 
kommen  kann.  Dagegen  Hilflosigkeit  ist  eine  schlimme 
Krankheit. 

Der  Zionismus  macht  den  Kranken  stolz  auf  seine  Krank- 
heit. Und  so  schon  es  ist,  jemandem  zuzureden,  gerade  aus 
seinen  Mankos  und  negativen  Seiten  und  alien  Dingen,  die 
man  vermiBt,  sich  ein  produktives  Lebenselement  zu  schaffen  — 
so  sehr  ist  doch  notig,  daB  der  Ratgeber  deutlich  angeben  kann, 
welchem  Sinne  denn  diese  Produktivitat  diene.  Dagegen  raten 
zionistische  Bewegungen  den  Ostjuden  die  heilige  Bewahrung 


27  A 


Ludwig  Rubtner  * Legende  vom  Orient 


ihrer  Hilflosigkeit  an,  zum  Zwecke  der  Produktion  derselben 
Hilflosigkeit ! 

Die  erste  Pflicht  des  Menschen,  die  einzige,  ist,  den  Neben- 
menschen  auf  das  Niveau  der  eigenen  Verantwortung  zu  bringen. 
Es  war  einmal  eine  sehr  beliebte  Tatigkeit  von  Damen  der  Ge- 
sellschaft,  Striimpfe  fur  die  nackten  Negerkinder  in  Afrika  zu 
stricken.  Das  ist,  aus  geographischen  Griinden,  komisch;  es 
war  aber,  im  Letzten,  richtig,  neu,  und  verantwortungsvoll  ge- 
dacht.  So  sollte  es  heute  guter  Ton  sein,  vomehm,  ja  — wenn 
es  sein  muss  — unausweichlich  elegant,  die  Hilflosigkeit  der 
Ostjuden  zu  heilen.  Nicht  durch  Judenschulen  hilft  man  ihnen, 
sondem  durch  Schulen ; nicht  durch  Betonung  ihrer  besonderen 
Hilflosigkeit,  sondem  indem  man  sie  zur  Selbsthilfe  anstachelt. 
Wie  ? die  Japaner  tragen  Gehrocke  oder  feldgraue  Uniformen  ; 
in  China  sind  die  Zopfe  verschwunden  ,*  und  es  sollte  irgend 
einen  Grund  geben  fiir  Kaftans,  Schlafenlockchen  und  unter- 
scheidende  Sitten  aus  Troglodytenzeit  — selbst  wenn  sie  nur 
symbolisch  gemeint  sind.  Und  gerade  dann!  Man  darf  sich 
nicht  durch  die,  meist  im  verachtlichen  Sinne  gebrauchte 
Behauptung  einer  angeblichen  ..Assimilation**  vieler  Juden 
tauschen  lassen.  Im  Kampf  gegen  die  Assimilation  lassen  sich 
die  Zionisten  gern  vom  Typus  des  antisemitisch-nationalis- 
tischen  Corpsstudenten  helfen.  Das  macht  diesen  Kampf  ver- 
dachtig.  Dieser  Kampf  wird  gefiihrt  gegen  die  letzten  geistigen 
Lebensmoglichkeiten  des  Abhubes  der  Ostjuden,  das  heifit  gegen 
die  armsten,  verlassensten,  unwissendsten,  jammerlichsten 
Menschen.  Satte  kampfen  da  gegen  wahrhaft  Ungliickliche,  ein- 
fach  Ungliickliche,  ohne  jeden  seelischen  Beischmack  Ungliick- 
liche.  Solche,  fiir  die  auch  die  leiseste  Anderung  ihrer  aujieren 
Lage  schon  das  Gluck,  das  Wunder,  das  Zion  bedeutet.  Und 
fiir  die  Zion  vor  allem  Anderung  ihrer  Lage  bedeutet ! 

Aber  der  Kampf  gegen  Assimilierung  ist  zudem  ein  Kampf 
gegen  Nichtvorhandenes.  Assimilierung?  Aber  woher  kame 
dann  das  erbitterte  Ringen  um  haltbare  Staatstheorien , wenn 
es  bis  heute  gelungen  ware,  auch  nur  die  Assimilierung  des 
Deutschen  an  Deutschland,  des  Franzosen  an  Frankreich,  fest- 


Ludwig  Rubiner  ♦ Legende  vom  Orient  275 


zustellen?  Oder  haben  sich  bis  heute  etwa  die  Europaer  an 
Europa,  die  Menschen  der  Menschheit  assimiliert? 

Lieber  gehaBt  sein,  ais  hilflos.  Hilflosigkeit,  selbst  im  „eigenen 
Haus“,  laBt  das  Haus  zusammen fallen.  Aber  HaB  hat  in  dem 
Augenblick  seine  Rolle  ausgespielt,  wo  es  gilt,  gemeinsam  mit 
seinen  Nebenmenschen  fiir  die  allerdrangendsten,  ailemachsten, 
primitivsten  Aufgaben  der  Erde  zu  arbeiten. 


276 


Glosscn 


GLOSSEN 


Vier  fetlder. 

I. 

JESUS. 

Obwohl  alies  dieses  vielleicht  nur 
krause  und  struppige  Einbildungen 
sind,  wirre  und  wilde  Phantasien, 
Nachtgebilde,  und  obwohl  ich  diesen 
Menschen,  diesen  Jesus,  vielleicht,  oder 
besser:  wahrscheinlich  iiberhaupt  nie 
mit  diesen  meinen  Augen  gesehen  habe, 
ihn  nie  zu  Gesicht  bekommen  habe, 
so  mochte  ich  doch  beinah  glauben, 
daB  ich  ihn  einstmals  sah,  und  ich 
mochte  nicht  zweifeln,  daB  er  mir  eines 
Tages,  am  spaten  Winterabend,  da  es 
schon  angefangen  hatte  zu  dunkeln,  im 
Schnee  erschien.  Dort,  dort  in  der  Vor- 
stadt,  im  AuBenviertel,  wo  die  bleichen, 
weiten,  gespensterhaften  Felder  an  die 
letzten  entlegenen  Hauser  grenzen,  wo 
die  Einode  an  die  Bewohntheit  streift, 
sie  gleichsam  leise  streichelt,  dort  be- 
gegnete  er  mir,  dort  kam  er  mir  mit 
stillen  und  groBen  Schritten  langsam 
entgegen,  der  Ungeheure,  der  Unbe- 
greifliche.  Einem  Toten,einemausdem 
Grab  Entstiegenen,  einem  schrecklich 
und  urplotzlich  Auferstandenen  ghch  er, 
und  das  miifite  erdochwohl,  denn  Jesus, 
der  edle,  groBe  Freund  der  Menschen, 
ist  ja  doch  wohl  schon  langst  gestorben, 
langst  begraben,  langst  nicht  mehr 
lebendig.  Dort  aber  lebt  er  im  Geister- 


scheine  des  riesig-kalten  Abends,  fabel- 
haft-groB  und  schon.  0,  es  ware  schade, 
wenn  dies  nur  Einbildungen,  nur  Ver- 
zuclcungen  waren.  An  gewisse  Dinge 
will,  will  man  glauben;  man  zwingt  sich 
dazu,  und  man  Icann  nicht  anders. 
Wunderbar  waren  schon  die  groBen, 
stechend-glanzenden  Sterne  am  Winter- 
himmel  und  die  Kalte,  die  mir  Herum- 
stehenden  durch  die  diinnen  Kleider 
drang.  Ich  schlotterte  in  meinem  diin- 
nen  Anzug,  dessen  erinnere  ich  mich 
noch  sehr  gut,  aber  eine  unendliche, 
heiBe,  gute  Frohlichkeit  durchzitterte 
mich  und  machte  mich  leben,  wie  ich 
nie  vorher  und  nie  nachher  wieder 
lebte.  Der  Geist  ist  es,  der  uns  leben 
macht,  und  er,  den  ich  im  Zwielichte 
hin  und  her  schreiten  sah,  war  ein  Geist, 
war  doch  sicherlich  hauptsachlich  oder 
lediglich  nur  ein  Geist,  ganz  nurGefiihl 
und  ganz  nur  Geist.  Mich  durch- 
schauerte,  durchgliihte  ein  Geist,  und 
alies  rings  um  mich  fing  an  zu  singen, 
zu  reden,  zu  tonen.  Die  Stille  und  die 
Liebe  in  derselben  tonten,  ich  war  mir 
dessen  auf  das  allerlebhafteste  bewufit, 
und  ich  freute  mich.  Es  war  ein  unaus- 
sprechliches  Freuen,  Hoffen  und  Glau- 
ben und  Ueben  in  mir,  und  da  stand 
der  Ratselhafte  mit  Haaren,  die  ihm  in 
entziickenden,  goldenen  Schiangen  und 
Wellen  vom  Kopf  auf  die  Schultem 
niederfielen,  ein  Anblick,  der  mich 
starren  machte.  Das schone blonde  Haar 


Glossen 


277 


umloderte  ihn  wie  ein  zehrendea  Feuer 
und  dazu  sein  Blick,  nein,  ich  muB 
gestehen,  dafi  ich  etwas  so  Furchtbar- 
Sc  hones  nirgends  sonst  im  Leben 
wieder  sah.  Solche  Dinge  sieht  man  ein- 
mal  im  Leben  und  nachher  nie  mehr 
wieder,  und  sollte  man  auch  tausend 
Jahre  alt  werden.  Sonderbar  ist  es 
iibrigens,  daB  sich  mir,  als  ich  die 
fremdartige  Gestalt  sah,  sogleich  der 
Gedanke  aufdrangte,  es  sei  Jesus,  den 
ich  da  vor  mir  sehe.  Ich  habe  in spateren 
Tagen  oft  besonders  hieriiber  viel  nach- 
gedacht,  bin  jedoch  nie  recht  klug 
geworden.  Im  Klaren  iiber  irgend  etwas 
sein,  heifit  unter  Umstanden  alles 
wieder  verlieren.  Oft  ist  das  Unklare 
am  schonsten,  und  hoheitsvolleGebilde 
wollen  unddiirfen  nicht  ganzlich  durch- 
schaut  und  erkannt  sein.  Mit  durch- 
dringendem  Forschen  kann  man,  so 
bildeich  mir  ein,  den  Gegenstand,  statt 
ihn  nun  sich  noch  besser  zu  eigen  zu  ma- 
chen,  oft  auch  vernichten  undin  Nacht 
und  Unsichtbarkeit  versenken,  genug, 
ich  will  froh  sein,  wenn  ich  mireine  Ah- 
nung  aufbewahre  und  will  weiter  nichts 
zu  wissen  begehren.  Jesus  war  also  nicht 
tot : das  war  der  herrliche Gedanke,  und 
an  ihn  klammerte  ich  mich.  Die  Liebe 
stand  dicht  vor  mir  im  Schnee  mit 
wunderbarer  Zartlichkeitsgebarde  und 
mit  himmlisch-scheuen  Augen,  die  ei- 
nen  schrecklichenGlanzbesaBen.  Indie 
Erscheinung  warf  ich  mein  ganzes 
Wesen.  Aus  einer  Wirtschaft,  die  nah 
lag,  drang  wiister  Trinkerlarm;  es  ist 
mir  dies  ebenso  unvergeBlich  geblie- 
ben  wie  die  Holdheit  und  iiberirdische 
Sanftheit  der  gottlichen  Erscheinung. 
Ich  fragte  mich,  was  Jesus  hier  wolle, 
hier  drauBen  am  auBersten  Rande  der 
Stadt,  ob  es  denn  fiir  ihn  in  der  Welt 


etwas  zu  tun  gabe,  und  auf  was  fiir 
Art  er  wohl  denken  konne,  sich  bemerk- 
bar  zu  machen.  Sonderbare  Gedanken 
schossen  mir  durch  den  Kopf.  Ich  gin g 
dann  ins  Haus  hinein,  hinauf  in  mein 
Zimmer,  ziindete  die  Lampe  an,  setzte 
mich  an  den  Tisch,  ergriff  die  Feder 
und  schrieb  auf  ein  Blatt  Papier  das 
Gesicht  und  alle  Gedanken,  die  darauf 
Bezug  hatten,  sorgfaltig  nieder.  Als  ich 
fertig  war,  gingich  ans  Fenster,  offnete 
es,  es  war  schon  spat,  und  schaute 
hinaus  in  die  Nacht,  in  die  der  Halb- 
mond  aus  seiner  Hohe  hinabschaute, 
und  da  sah  ich  den  fremden  Mann 
immer  noch  auf  der  StraBe  stehen.  Ich 
hatte  ihm  irgend  etwas  zurufen  mogen, 
aber  ich  fand  kein  geziemendes  Wort, 
und  die  Stimme  war  mir  wie  abge- 
schnitten.  Ich  schlofi  das  Fenster  und 
legte  mich  ins  Bett  Am  andern  Mor- 
gen, als  ich  herunterging,  war  mir,  als 
sahe  ich  die  Spuren  von  des  Fremdlings 
FuB  im  Schnee.  Er  selber  war  weg. 

II. 

DER  ARME  MANN. 

Er  war  ein  unscheinbarer,  gedriick- 
ter,  zaghafter,  armer  Mann.  Energie 
und  SelbstbewuBtsein  waren  nicht 
seine  Sache.  Stolz  kannte  er  keinen. 
Wo  hatte  er  Stolz  haben  wollen?  Er 
war  klein,  unbedeutend  und  schwach. 
Die  Zeitung  las  er  mit  einem  Getiihl 
von  Bewnnderung.  Er  staunte  groBe 
Herren  ehrfurchtsvoll  an.  Alles achtete 
er,  nur  sich  selber  nicht.  Woher  hatte 
er  Achtung  vor  sich  selbst  nehmen 
wollen?  Von  Figur  war  er  ebenso  un- 
ansehnlich  und  schmachtig  wie  von 
Charakter.  Sein  Leben  bestand  aus 
Unterwiirfigkeit  und  Gehorsam.  Der 


278 


Glo $ sen 


Sinn  seines  Lebenswandels  war  ein 
fortlaufendes,  armes  Sichschmiegen, 
Durchschliipfen,Abfinden  und  Ducken. 
Er  war  und  blieb  arm*  Zart  und  diinn 
war  er  und  geboren  zum  Dienen  und 
Nichtsbedeuten.  Feig  und  knechtisch 
war  er  nicht.  Hierunter  versteht  man 
etwas  anderes.  Knechtisch  gesinnt  ist 
der,  der  anders  gesinnt  sein  konnte 
und  der  eigentlich  verpflichtet  ware, 
anders  gesinnt  zu  sein.  Feig  ist  der, 
der  da  ganz  genau  weiB,  daB  er  Mut 
und  Tapferkeit  zeigen  sollte.  Unser 
Mann  hier  wuBte  weder  von  Feigheit 
noch  von  Tapferkeit  etwas,  er  wuBte 
nur,  daB  er  ein  armer  Mann  sei.  Es 
gibt  Leute,  die  durch  gemeine,  feige 
Haltung  hoch  emporsteigen,  wahrend 
ihnen,  wenn  sie  sich  mannhaft  und 
charakterfest  auffiihren  wiirden , das 
Leben  sauer  gemacht  werden  konnte. 
Hier  unser  Mann  dachte  keinen  Augen- 
blick  ans  Emporsteigen  und  Laufbahn- 
machen,  er  trug  niemals  in  seiner 
armen  kleinen  Seele  einen  solchen 
vermessenen  Gedanken.  Irgend  etwas 
in  der  Welt  bedeuten,  war  fur  ihn  zu 
Iciihn.  Er  war  fur  die  Armut  geschaffen 
und  fur  die  Niedrigkeit  geboren.  Ach, 
was  fiir  ein  kiaglich,  armselig  Lied 
singe  und  intoniere  ich  hier?  Bin  ich 
der  Musikant  der  Klaglichkeit  ge- 
worden?  Ihm  war  immer  bang,  und 
gegenuber  den  Dingen  der  Welt,  die 
er  vollkommen  respektierte,  kannte  er 
nur  ein  fortwahrendes  Erzittem.  Ein 
Bureaulist , Kanzlist  und  Schreiber 
war  er,  so  ein  diirftiges,  armes.  Papier 
in  der  Hand  hin-  und  hertragendes, 
scheues.  schiichtemes,  bittendes,  um 
Erbarmen,  Mitleid  und  Nachsicht 
flehendes,  armes,  schwaches  Mannchen 
war  er.  Der  Name  Mann  pafite  fur 


ihn  gar  nicht.  Er  glich  einem  zarten 
Iieben  Jiingferchen  in  Mannsgestalt. 
BlaB  und  abgemergelt  sah  er  aus.  Aber 
er  sah  nicht  schlecht  aus.  Ich  sah  ihn 
einige  Mai  und  wie  ich  ihn  sah,  hatte 
ich  ihn  lieb,  erbarmte  und  dauerte  er 
mich,  war  er  mir  sympathisch.  Auch 
redete  ich  ein  paar  Mai  mit  ihm. 
Seine  Stimme  klang  leise  und  gedriickt. 
Els  war  keine  rechte  Stimme  und  von 
einem  Klang  war  keine  Rede.  Ich  habe 
gedriickte,  scheue  Wesen,  sei  es  ein 
Kind,  ein  Mann,  ein  armes  Frauchen, 
ein  Hund,  oder  sonst  ein  armes  Tier, 
ein  krankes  Katzchen  usw.  immer 
geliebt.  Ich  habe  mich  von  jeher  sol- 
chen Wesen  sogleich  aufs  Tiefste, 
Freieste  und  Schonste  verbunden  ge- 
fiihlt.  Stimme  und  Nase  und  Gang 
des  Mannes  waren  einander  ahnlich. 
Stets  trug  er  einen  devoten,  ehrbaren, 
sauberen,  furchtsamen,  dienstbeflisse- 
nen,  langen,  schwarzen  Rock.  Der 
Rock  war  ihm  wie  angegossen,  so,  als 
sei  er  schon  im  langen,  schwarzen  Rock 
zur  Welt  gekommen,  um  auf  derselben 
nie  zu  etwas  Hoherem  zu  gelangen 
als  dazu:  sich  vor  ihr  zu  furchten! 
Sein  zaghafter,  feiner,  netter,  furcht- 
samer  Schritt  bettelte  und  stotterte 
um  Verzeihung  fiir  das  Wagnis  Gang 
und  das  Verbrechen  Auftreten,  denn 
er  fiirchtete  stets,  er  stoBe  irgendwo 
an  und  kranke  irgend  jemanden.  Ober 
seine  Kindheit  ist  mir  nichts  bekannt. 
Ob  er  noch  lebt,  weiB  ich  nicht.  Viel- 
leicht  starb  er.  Du  Guter,  Armer,  daB 
du  in  den  schonsten,  strahlendsten 
Himmel  kommen  mogest,  daB  dich 
Engel  mit  wunderbarem  Gefieder  ura- 
flattern.  DaB  dich  die  siiBeste  Liebes- 
und  Trostmusik  umtone,  und  dafi  du 
selig  seiest  im  Himmel.  Selig  sind  ja 


Glosscn 


279 


die  Armen  und  Schwachen.  Ihnen  ge- 
hort  das  Himmelreich ! Er  tat  nie  irgend 
jemand  weh,  trat  nie  irgend  jemand 
zu  nah  und  er  fiigte  nie  irgend  jemand 
etwas  Leides  zu.  Wie  hatte  er  das  je 
vermocht.  Zum  Wehtun  gehort  mehr 
Kraft,  als  der  arme  Mann  besaB.  Ein 
einziges  Mai  in  seinem  stillen,  sanften 
Dulderleben  rebellierte  er,  begehrte 
er  auf  und  stellte  er  sich,  wie  man  sagt, 
auf  die  HinterfiiBe. 

Er  trat  wegen  einer  erlittenen  Un- 
gerechtigkeit,  die  ihm  zu  bunt  und  zu 
dick  war,  vor  seinen  gestrengen  und 
erhabenen  Herrn  Direktor  und  for- 
derte  seine  Entlassung,  welche  ihm 
allsogleich  gegeben  wurde: 

„Kommen  Sie  so?  Das  hatten  wir 
Ihnen  nicht  zugetraut.  Wissen  Sie, 
was  das  ist?  Wir  wollen  es  Ihnen 
sagen.  Das  ist  so  und  so,  und  kurz 
und  gut:  Sie  konnen  ihre  Sachen 
packen  und  gehen.  Aufsatzige  Ange- 
stellte  haben  wir  nicht  notig.  Voila!44 

Und  der  Arme  sah  sich  auf  die 
StraBe  gesetzt.  Er  sah  sich  herzlos 
entlassen,  wo  er  in  seiner  Treuherzig- 
keit  und  seinem  Gerechtigkeitssinn 
geglaubt  hatte,  man  wiirde  sich  be- 
mtihen,  ihn  zu  bewegen,  ferner  1m 
Dienst  zu  verweilen. 

Das  war  in  des  armen,  guten  Mannes 
Leben  das  groBe  Erlebnis.  Kurze  Zeit 
darauf  bettelte  er  um  Gnade  und 
giitiges  Verzeihen,  daB  ihm  der  Herr 
Direktor  doch  das  Geschehene  ver- 
zeihen und  ihn  wieder  anstellen  moge. 
Man  hatte  Nachsicht  mit  ihm,  und 
weil  er  ein  treulicher,  fleiBiger  und 
piinktlicher  Arbeiter  war,  so  wurde  er 
wieder  aufgenommen,  und  der  Mann 
war  gliicklich  daruber. 


„Ei,  Sie  miissen  nicht  aufprotzen, 
potz  tausend44,  sagte  der  Herr  Gewalt- 
haber.  Das  Mannchen  kratzte  sich  im 
Haar,  schaute  demiitig  zu  Boden  und 
lachelte. 

0 du  guter , sanfter , geduldiger 
Mann,  du  liebes  gutes  Wesen,  das  nie 
ein  Unrecht  tat,  moge  Gott  dich  be- 
hiiten.  Amen! 

♦ 

Nachtrag: 

Mit  seinem  Gut  ging  der  arme 
Mann  stets  auBerst  sorgfaltig  um. 
Seine  Stiefel  waren  immer  peinlich 
sauber.  Schulden  machte  er  nie.  Seine 
Wohnung  entsprach  seiner  Beschei- 
denheit  und  Sparsamkeit.  Wie  viel 
Kinder  er  hatte,  oder  ob  er  iiberhaupt 
Kinder  hatte,  ist  mir  nicht  bekannt. 
Wenn  er  eine  Frau  hatte,  so  liebte 
und  ehrte  er  sie  sicher,  und  wenn  er 
Junggeselle  war,  so  gab  seine  Auf- 
fiihrung  sicher  keinen  AnlaB  zu  klagen. 
Eine  Beschwerde  war  nie  notig  gegen 
ihn  emzureichen.  Wenn  ihn  in  der 
Wirtschaft  die  Kellnerin  nur  nicht 
ganzlich  sitzen  lieB,  sondern  ihn  mit 
einiger  Freundlichkeit  behandelte,  so 
war  er  froh.  Politisiert  hat  er  stets  sanft. 
Es  versteht  sich  dies  eigentlich  von 
selber.  Er  war  kein  Revolutionar. 
Seme  Steuern  bezahlte  er  piinktlich. 

III. 

MORI. 

Einmalwar  ein  Mann,  der  hieB  Mori. 
Das  war  ein  eigentiimlicher  Mann.  Er 
ging  ganz  ordentlich  gekleidet.  Freilich 
war  sein  Hut  ein  wenig  alt  und  ver- 
bogen.  Aber  die  Hauptsache  bei  Mori 
war,  dafi  er  so  ernst  war.  Er  machte 


280 


Gloss  en 


ein  so  ernstes  Gesicht.  Er  schaute  dar- 
ein,  als  habe  er  den  Tod  vor  den  Au- 
gen. Leute,  die  den  Leuten  und  dem 
Leben  ein  so  ernstes  Gesicht  entgegen- 
setzen,  sind  nicht  beliebt.  Mori  sah 
fast  aus,  wie  ein  Ritter  des  Mittelalters, 
wie  ein  Rauber.  Er  sah  nach  Gedanken 
aus,  und  Leute,  die  nach  Gedanken 
aussehen,  sieht  man  nicht  gern.  Man 
weicht  ihnen  aus,  als  seien  sie  Ver- 
brecher.  Der  Gedankenreichste  wurde 
ja  ans  Kreuz  geschlagen  und  muBte 
sterben  den  jammervollen  Tod  der 
Kreuzigung.  Mdri  hatte  ein  gutes  Herz, 
er  war  ein  guter  Mann,  ein  ganz  braver 
Mann,  nur  war  er  zu  ernst.  Die  Leute 
schauten  ihn  ganz  furchtsam  an,  als 
hatten  sie  Boses  von  ihm  zu  erwarten. 
Aber  Mori  war  nicht  bds,  nur  ernst 
war  er.  Er  konnte  nicht  lachen,  nicht 
lustig  und  fidel  sein.  Und  er  konnte 
keine  Witze  machen.  Wer  nicht  lustig, 
witzig  und  fidel  ist,  wer  das  Leben 
ernst  nimmt,  der  ist  schon  allein  darum 
den  Leuten  ein  wenig  verdachtig,  Mori 
schaute  alle  Leute  so  bang,  so  ernst, 
so  fraglich  an.  Er  war  ein  unheimli- 
cher,  ungemutlicher  Mann ; die  Leute 
aber  wollen,  daB  man  gemiitlich  ist. 
So  groBe,  emste  Augen ! Hu,  es  gruselt 
mich!  Alles  wich  Mori  aus.  Wo  er 
stand  und  ging,  mochte  niemand  ste- 
hen  und  gehen.  Wo  er  auftrat,  wurde 
es  mauschenstill.  Die  Leute  hatten 
einen  seltsamen,  unbegreiflichenSchau- 
der  vor  ihm,  wie  vor  dem  Grabe.  Da 
ging  Mori  zum  Madchen  Emma,  um 
sie  zu  fragen,  ob  sie  ihn  liebe.  Das 
Madchen  Emma  war  lieb  und  hiibsch, 
aber  nicht  fur  Mdri.  Sie  sagte  ihm: 
„Ich  habe  Angst  vor  dir,  du  bist  so 
ernst.  Du  magst  nicht  lachen  unddu  be- 
tragst  dich  nicht  wie  andere  Menschen. 


Ich  liebe  dich  nicht  und  bit te  dich,  zu 
gehen  und  mich  in  Ruhe  zu  las$en.“ 
Da  schniirte  sich  um  Moris  Herz  eine 
unnennbare  Trauer,  und  er  ging.  Wo- 
hin  er  gehen  solle,  das  wuBte  er  nicht 
recht.  Eine  Todessehnsucht  griff  ihn 
an,  und  tief  lieB  er  den  Kopf  hangen. 
Bist  du  lebensuberdrussig,  Mdri  ? — 
Noch  nicht,  aber  bald!  — Da  ging 
Mdri,  weil  er  sich  nach  Unterh&lt  und 
Verdienst  umsehen  muBte,  zu  einem 
Herrn  und  batdenselben  um  eine  kleine 
Anstellung.  Mdri  schaute  mit  seinen 
ernsten  Augen  den  Herm  an  und  dieser 
ihn,  dann  sagte  der  Herr:  „Sie  gefallen 
mir  nicht,  ich  kann  Sie  nicht  brau- 
chen,  es  tut  mir  leid,  es  ist  nichts  zu 
machen,  gehen  Sie  nur  lieber  wieder." 
Da  ging  Mori,  und  das  arme  Herz  war 
ihm  noch  schwerer  als  vorher,  es 
driickte  ihn  fast  zu  Boden.  Miide  und 
matt,  wie  er  sich  fuhlte,  wollte  er  in 
ein  Gasthaus  einkehren,  um  daselbst 
zu  ubernachten.  , .Morgen  frith,  wenn 
ich  gut  geschlafen  habe,  ist  es  mir 
vielleicht  wieder  leichter  und  besser  zu 
Mute",  sagte  er  zu  sich  selber.  Der 
Wirt  sah  den  ernsten,  sonderbaren 
Mann,  und  kaum  hatte  er  ihn  unters 
Auge  gefaBt,  so  machte  er  auch  schon 
eine  abwehrende  Handbewegung  und 
sagte:  „Tritt  mir  lieber  nicht  ins  Haus 
hinein.  Geh  dorthin,  woher  du  ge- 
kommen  bist.  Du  scheinst  mir  ein 
Strolch  zu  sein,  und  ich  mag  nichts 
mit  dir  zu  schaffen  haben."  Und  Mdri 
muBte  gehen.  Da  war  er  der  ungliick- 
lichste,  armste  Mann  der  Welt.  Nicht 
Liebe  und  nicht  Vertrauen,  nicht  Brot 
und  nicht  Verdienst,  nicht  Arbeit  und 
nicht  Anstellung,  nicht  Kost  und  nicht 
Logis,  nicht  Essen  und  nicht  Trinken, 
nicht  Ruhe  und  nicht  Schlafstatte  hatte 


Glossen 


281 


er.  Er  ging  zum  See.  Es  war  Mitter- 
nacht,  und  keine  lebendige  Seele  war 
in  der  Nahe.  Wie  Mori  ans  Wasser 
trat,  fliisterte  das  mitleidige,  gute  Was- 
ser: „Komm  duzumir,  duArmer.  Bei 
mir  hast  du’s  gut.  Da  kannst  du 
schlafen  auf  den  weichsten  Kissen. 
Ich  bin  weich  und  sanft,  und  wenn  du 
in  meinen  Armen  liegst,  hast  du  Ruhe. 
Ich  habe  dich  lieb,  Mori,  und  ich  bin 
freundlich,  und  wer  zu  mir  kommt, 
den  plagen  keine  Sorgen  mehr,  und 
aller  Kummer  hort  auf.  Komm  du, 
komml"  Da  dachte  Mori,  daB  das 
Wasser  fiir  ihn  gut  sei  und  ging  ins 
Wasser. 

IV. 

DIE  ARBEITER. 

Es  war  ein  warmer  Vorfriihlingstag. 
Das  Wetter  war  schon  und  mild.  Die 
ersten  gelben  und  blauen  Blumen 
zeigten  sich  im  Griinen.  Die  Sonne 
lachelte  freundlich  und  der  Himmel 
glich  in  seiner  siiBen  Blaue  einer  blau- 
gekleideten,  liebreizenden  Prinzessm. 
Ein  frischer,  heiterer  Wind  strich  liber 
die  jugendliche,  frohe  Erde  dahin.  Die 
Welt  war  wie  neu  geboren,  alles  war 
wie  aufgerissen,  als  habe  sich  eine  un- 
endliche  Weltfreiheit  und  ein  unend- 
liches  Erdengliick  geoffnet.  Liebe, 
Sehnsucht  und  Freiheit  schienen  wie 
selbstverstandlich,  und  alle  Aufrichtig- 
keiten,  Schonheiten  und  Offenheiten 
traten  zutage.  Die  Nacht  und  die 
Miidigkeiten  schienen  auf  immer  ver- 
schwunden.  Holder,  siiBer  Friihlings- 
sturm,  reizende  Ahnung,  seelenvolles 
Drangen  brausten  aus  alien  Rich- 
tungen  liber  die  Hauser  und  Felder, 
die  den  gotthch-scheuen  Hauch  und 
Anstrich  des  Gliickes  ohne  Namen 


besafien.  Und  niemand  arbeitete,  nie- 
mand  nahm  ein  Werkzeug  in  die  Hand, 
niemand  ging  an  diesem  Gottertag,  an 
diesem  Wundertag  zur  Arbeit.  Es  ging 
ein  Ruf  durch  die  ganze  weite  helle 
Welt:  „Legt  jetzt  die  Arbeit  nieder!" 
Mauschenstill  und  wie  am  Sonntag- 
morgen  war  es,  wo  schongekleidete 
Madchen,  mit  der  Sonntagswonne  in 
der  lieben  Brust,  feierlich  spazieren. 
Eine  stumme,  gewaltig  schone  Kir- 
chenmusik,  eine  Liebesmusik  und  eine 
Freiheitsmusik,  eine  Freundschafts- 
und  Verbriiderungsmusik  tonte  und 
klang  daher  mit  Wogen,  hoch  hinauf 
in  das  Entziicken  und  in  die  freudige 
Begeisterung  geschleudert  und  hinab- 
geworfen  wieder,  in  ebenso  schonen, 
kraftvollen  Wellen,  in  alles  Weiter- 
und  Weiter-Ergreifen.  Die  ganze  Welt 
war  von  Liebe  und  Giite  und  siiBer 
Duldsamkeit  so  stark  ergriffen,  daB  es 
keinerlei  Fremdheit  und  Unfreund- 
schaft  mehr  gab,  daB  die  Menschen 
einander  unter  freiem  Himmel  und, 
ohne  daB  sie  sich  naher  kannten,  an 
den  Hals  fielen  und  Tranen  der  Freude 
iiber  eine  solche  Seligkeit  vergossen. 
Ein  so  bezaubernder  Weltgedanke  floB 
und  lautete  durch  die  frohe,  aus  MiG- 
verstandenheiten  und  Unbegriffen- 
heiten  auferwachte,  auferstandeneWelt, 
daB  zahlreiche  gute,  liebeiiberflossene 
und  freudeiiberstromte  Leute,  betrof- 
fen,  still,  an  der  Erde,  neben  eines 
FliiBchens  bescheidenem  Rand  saBen 
und  standen  und  in  ihre  ganziich  be- 
nommene,  libergossene  Seele  hinab- 
weinten.  Viele  jubelten  und  schluchz- 
ten  vor  Lust  und  rangen  vor  Gluck  die 
Hande.  Ein  wunderbaresBeten  stromet 
liber  alle  Lippen,  und  niemand,  nie- 
mand arbeitete.  Es  hatte  niemand  mehr 


282 


Glossen 


arbeiten  konnen,  und  alle  nicht  mehr 
arbeitenden  Menschcn  begriffen  ein- 
ander.  Els  gab  keine  kalteScheidewand 
mehr,  es  gab  keine  Verstandnislosigkeit 
mehr,  es  gab  keine  Entfernung  und 
keine  Fremdheit  mehr.  Alles  war  nah, 
alles  war  offen,  und  jede  Frage  war 
beantwortet,  und  jedes  Ratsei  war  ge- 
l6st,  und  alles  Leid  war  verschwunden. 
Und  niemand  arbeitete.  Aus  alien  Ge- 
genden  strflmten  die  Arbeiter  herbei, 
harmlos,  wie  sanfte,  gute,  kleine  Kin- 
der, die  an  der  Elternhand  vors  Haus 
traten,  urn  den  freundlichen  Nachbar 
n i besuchen!  Kein  Arbeiter  arbeitete ; 
keiner  von  den  muhseligen  Millionen, 
die  immer  arbeiten,  die  immer  tage- 
werken,  arbeitete  an  diesem  schonen 

Tag.  Gott  im  Himmel,  du  Allmach- 
tiger,  ich  sehe  ein,  dafi  ich  traume. 
Solch  ein  schoner  Tag  darf  ja  nur  ein 
Traum  sein.  DaB  doch  alle  Menschen 
glllcklich  waren.  DaB  es  keinen  Un- 
glijcklichen  gabe.  DaB  die  Welt  ftei  sei. 
DaB  das  Leben  gut  sei. 

Robert  falser. 

Q e fangeneb  egrab  en . 

Es  gibt  dort  im  Gefangenenlager 
gelbenSand  undweichwehendeBirken. 
Uber  den  Sand  zieht  eine  kleine  Schar. 
Auf  schweren  Schritten.  Einzelne  tra- 
gen  erdenbraune  Mantel  mit  tief  im 
Nacken  sitzenden  Miitzen,  andere  aber 
sind  schwarz  gekleidet. 

Russen. 

Undvor  ihnenan  derSpitze  schreitet 
in  weitem  Mantel,  mit  Schlapphut  und 
schweren  Stiefeln  der  Pope.  Wie  ein 
Wiistenprediger,  ein  Heiliger,  sieht  er 
aus. 


Vor  dem  Popen  aber,  getragen  von 
vier  nackengebeugten  Mannem,  auf 
holzemer  Bahre  ein  Sarg,  schwarz  wie 
verbranntes  Holz. 

Ein  totgeborenes  Ungeheuer. 

Die  Sonne  brennt. 


Und  sie  beginnen 
leise  — 


— anfangs  ganz 
zu  singen.  (Gesang  wie  Silber- 
stimmen  mitagyptischen  Choren.)  Das 
alte  Borodinolied  des  Tatentreters  Na- 
poleon : 

„Skaschi-ka  djadja  wed  ne  darom 
Moskwa  spalomaja  poscharom  Fran- 
zuska  otdana  . . . “ 

„Sag  doch,  Onkel,  nicht  umsonst  ward 
das  durch  Feuer  versengte  Moslcau 
den  Franzosen  gelassen. . .'4 
Dann  stellen  sie  sich  um  das  Grab. 
Der  Pope  spricht  geweihte  Worte.  Die 
Muskelarme  lassen  den  Sarg  ins  Grab. 
Ein  Poltern  von  brockelnder  Erde. 


Der  Pope  hebt  die  gebraunte  Hand 
und laBt seine Stimmetonen:  ,,  ...Von 
ihm  hattet  ihr  eins  lernen  konnen : das 
Geben,  die  Briiderlichkeit.  Der  Krieg 

hat  uns  zusammengeworfen,  wie  der 
Wind  die  Blatter.  Wir  leben  getrennt 
von  denen,  die  wir  lieben.  Und  wer 
konnte  uns  Liebe  geben?  Euch,  nach 
dem  Licht  des  Lebens  sich  sehnenden 
jungen  Seelen,  die  ihr  der  Liebe  be- 
durft.  Einer  liebmeinenden  Hand. 


Wir  wollen  nicht  an  die  Heimat 
denken.  Nein  — nicht  das  Wort  aus- 
sprechen.  Wir  konnen  nur  eins,  das 
ist,  uns  einandererganzen.  Uns  helfen. 
Uns  Freunde  sein.  Und  seht,  ein  sol- 
cher  Freund  war  er,  dessen  Bild  wir 
nicht  mehr  vor  uns  sehen.  Es  sind 
schon  viele  fern  ihrer  Heimat  gestor- 
ben.  Viele  sind  nicht  mehr  — schweigt 
stille  fur  Augenblicke  im  Leben  und 


Glosscn 


283 


gedenket  seiner  Mutter,  die  ihn  ge- 
boren.  . . . M 

Die  braunen  Mantel  gehen  wieder 
zursinkenden  Sonne.  Andere  schwarz. 
Und  vor  ihnen,  an  der  Spitze,  in  wei- 
tem  Mantel  der  Pope. 

Vor  dem  Popen  aber,  getragen  von 
vier  nackengebeugten  Mannern,  eine 
leere  Bahre. 

Etliche  unter  ihnen  fangen  wieder 
an  zu  Iachen.  (Was  ist  ihnen  der  Tod?) 

Dann  beginnt  wieder  das  Gelaute 
der  Silberstimmen  und  der  agyptischen 

Chore: 

„Skaschi-ka  djadja  wed  ne  darom. . . '* 
„Sag,  Onkel,  doch  nicht  umsonst.  . . . 
Ne  darom.  . . 

Nicht  umsonst.  . . . “ 

fKarl  Gdwenberg. 

Q, )er  daheimgebfiebene  CJKut. 

Korperliches  und  geistiges  Frei- 
fiihlen  von  allem  Umgebenden.  In 
diesem  Freifiihlen  schaffend  wirken: 
das  ist  der  Dreiklang  des  Mutes. 

Unsere  geschriebenen  Geschehnisse 
handeln  von  nichts  anderem  als  von 
Mut.  Vom  Mut  der  Eisenkampfer. 
Doch  das  ist  der  Worterbuchmut,  den 
jeder  leicht  findet,  weil  er  gedruckt 
steht  und  sichtbare  Taten  zeigt.  Ich 
will  nicht  reden  von  diesem,  denn  fur 
ihn  gibt  es  meistens  ehrende  Zeichen. 
Aber  die  Daheimgebliebenen  kampfen 
auch  im  Mute.  Greise,  Mutter,  Frauen, 
Braute  und  Kinder.  Ein  Turnier  gegen 
das  Unsichtbare  in  ihnen.  Jeder  tragt 
seinen  eigenen  Mut  in  sich  wie  seinen 
eigenen  Gott. 

Den  Gott-Mut  zur  Arbeit,  zum 
Schaffen.  Zwar  gibt  es  etliche  unter 


ihnen,  die  klagen,  weil  vieles  ihnen 
fehle.  Das  Taglichgewohnte.  0,  I hr 
weifiwestigen  Bauche,  seid  dankbar, 
daB  Ihr  lernen  konnt.  Lernen,  Kanzler 
Eurer  Selbst  zu  sein. 

Und  Mut  braucht  man  zum  Schaffen , 
wenn  alle  Gedanken  an  die  da  drauBen 
zittern  wie  zuckende  Flammen. 

Den  Gott-Mut  zur  Wahrheit.  Sich 
selbst  und  andere  nicht  betriigen.  Denn 
alle  Wahrheit  birgt  Versuchung  und 
Leiden. 

Gott-Mut  zum  Entbehren.  Entbeh- 
rung  der  Speisen,  der  Freuden  und 
der  Liebe.  Es  geht  uns  wie  Sokrates, 
der  Prachtschmuckdurch  Athentragen 
sah  undsagte:  „Jetzt  sehe  ich,  wieviel 
Dinge  ich  nicht  brauche.** 

Wir  sehen  jetzt  auch,  was  wir  eigent- 
lich  nicht  brauchen.  Aber  mir  scheint, 
als  seien  einige  noch  nicht  gedemutigt 
genug,  aus  dieser  Weltkrankheit  ge- 
lernt  zu  haben,  um  in  eine  hohere  Kastc 
zu  kommen. 

Das  ist  es  und  muB  es  sein : Wo  alles 
kampft,  sollt  Ihr  daheim  den  Mut  be- 
sitzen,  auf  Vorteil  zu  verzichten.  Ver- 
zichten  auf  HaB.  Liebet,  so  wird  man 
Euch  lieben.  Man  fragte  ein  kleines 
Madchen,  das  von  alien  geliebt  wurde, 
warum  jeder  es  gern  habe.  Els  antwor- 
tete:  „Ich  glaube,  weil  ich  jeden  so 
sehr  liebe. “ 

Man  muB  den  Mut  besitzen,  liebe- 
volle  Wohltaten  zu  geben.  Und  wenn 
man  arm  wie  ein  Stein  wiirde. 

Sie,  die  Frauen,  welche  dulden  um 
des  Geliebten  willen,  haben  uns  Wohl- 
taten gegeben.  Und  der  5edanke  an 
sie  sei  schon  fur  uns  eine  Wohltat. 

Fester,  fester  bindet  sich  um  uns 
der  Mut  zur  Pflicht.  Jeder  hat  seine 
Pflicht . Und  sei  er  Reiniger  schmutziger 


Glossen 


StraBen.  Jeder  hat  die  Pflicht,  die  ihm 
sein  Inneres  gibt. 

Und  dann  dieses:  Wo  so  vieles  zu 
Einem  gemacht,  wo  Philosophen  und 
Handarbeiter  beieinander  sindv  Brutal- 
bauern  und  Feinfiihlende,  ist  es  mehr 
als  eine  Pflicht,  sein  Selbst,  seinen  Cha- 
rakter  zu  entwickeln.  — „Immer  gibt 
es  dort  am  meisten  Eigenart,  wo  es  am 
meisten  Charakter  gibt/*  — 

Mut  zum  Gedulden  — die  schwere 
Last  des  Wartens.  Geduld  (trage  Tu- 
gend?),  denn  unser  ganzes  Leben  ist 
nichts  als  Warten  und  Hoffen. 

Mut  zur  Hoffnung,  dem  blumen- 
blilhenden  Fruhling  des  Verworfenen. 

Nicht  Trauer  ist  Grdfie  des  Men- 
schen  im  Ungliick,  sondern  gottlicher 
Gleichmut. 

Und  auch  Frohsinn  ist  Mut.  Der 
Mut  der  Frauen,  die  Kranke  um  sich 
haben  oder  Briefe  an  die  Kampfer 
schreiben.  Es  liegt  Genie  im  Frohsinn 
wie  im  Genie  Shakespeares. 

Die  Welt  ist  ein  Brief  Gottes  an 
jedermann. 

Auch  der  Mut  ist  ein  Brief  Gottes 
an  jedweden  unter  uns. 

fKarl  Bdwenberg. 


3fauser. 

Der  Zweck  des  Hauses  ist:  Schutz* 
Das  zweite  menschliche  Verlangen  nach 
Eigenbesitz  aber  gibt  ihm  die  gestei- 
gerte  Form. 

Sowurzelndenn  schlieBlich  tausend- 
fach,  nach  dem  Gesetze  dieser  Zweck- 
maBigkeiten,  in  der  tragen  Erde: 
fei,  aufrecht  in  Scharfe  oder  Locker- 
heit  gegen  den  Himmel. 


Unter  dieser  Form  bleibt,  emdc6* 
tert,  das  Gemeinsame:  der  erdene  Ap- 
parat,  die  Mauern,  Steine,  Balken. 
Dinge,  die  wir  mit  Handen  greifen 

konnen . 

Grfebt  unter  dieser  Form  bleibt  das 
Gemeinsame  (und  tiefer  als  der  Zweck, 
der  zu  denkende):  das  Wesen. 

Nicht  mehr  gilt  daher  in  seinem  Be- 
reich  die  Abstraktion  des  Denkers.  An 
ihre  Stelle  tritt  das  natiirlichfreie  Ge- 
schenk:  die  Vision:  die  Gesichte  des 
Sehers ! Sie  fordern  Vertiefung,  wahrte 
sie  auch  ein  Leben  lang  um  Eines 
Dinges  willen. 

Sodann  erwachen  unter  den  tausend 
Formen,  die  sich  in  Rauch  losen,  die 
Rhythmen,  die  jenen  zugrundelagen. 

Zu  oberst  breitet  sich  die  Region 
der  Zusammenhange.  Die  von  Ver- 
trautsein  und  Sehnen.  Mit  tausend 
Armen  greift  von  innen  her  Leben  aus 
dem  Gebilde  nach  alien  Seiten. 

In  einer  Landschaft  etwa  herrschc 
einsam  das  Haus.  Seine  Fronten  ent- 
lang,  seine  Flachen  aufwarts,  iiber  die 
Fenster  hin  bis  um  den  Schlot  werde 
es  lebendig  fur  uns.  Die  wir  sinngc- 
geoff  net,  bereit  sind  zu  jedemGeschenk. 

Kann  sein,  wir  gewahren,  wie  dieses 
Haus  sich  in  Beziehung  setzt  zu  den 
Dingen  auBer  ihm  und  seiner  Art:  zu 
einem  Zaun  etwa.  Oder,  ganz  anders: 
zu  einem  Acker.  Oder  entgegengesetzt 
vielleicht : zu  einer  Tanne. — Wir  stehen 
unter  den  Bogen  unausgesetzter,ruhiger 

Strome.  Das  Dimensionale  (das  Haus) 
ordnet  den  vordem  chaotischen  Raum ; 
dieser  tritt,  ein  Medium,  unter  Soan- 
nung  bis  in  seine  Partikelchen. 

Anders  (als  jedes  einsame  Haus) 
offenbaren  sich  jene  versammeltenWiir- 
fel,  die  wir  Stadte  nennen.  Seiten  nur 


Glossen 


285 


und  schiichtern  geschieht  hier  ein  Aus- 
greifen  nach  Andersartigem.  Zu  seines- 
gleichen,  ihresgleichen  vielmehr,  ist 
ihre  Haltung,  ihre  Bewegung  verflichtet . 

Es  ist  da,  wie  unter  Menschen,  ein 
Aufbrechen  von  Tugenden  und  Lastern 
aus  Machtanspruch.  Aber  es  sind 
Hausertugenden  und  Hauser-,  nicht 
Menschenlaster. 

Wenn  wir  daher  metaphorisch  von 
ibrer  Oberhebung.Verachtung,  Demut, 
Unterwiirfigkeit  sprechen,  ihre  Armut 
verschamt  oder  zynisch  nennen,  ihnen 
Protzigkeit  und  Solidaritatsgefiihle,  Ge- 
fiihle  liberhaupt,  zutrauen,  so  tun  wir 
dies,  weil  wir  zuvor  ein  Andres,  Leben- 
diges  gespiirt  haben:  zftrdme,  die  von 
jenen  ausgehen,  sei  es:  unsichtbaren 
Reichtums,  sei  es:  muffig  hauchender 
Krankheiten  undElende,  zudenen  uns 
ein  Grauen  neugierig  macht. 

Es  ist  offenbar:  die  Fronten  stofien 
vorwarts,  weichen  zuriick,  knickenein, 
nach  dem  Gigenwitlen  des  Objekts. 
Unsrem  Erleben  ist  gleichgiiltig  die 
MaBgabe  eines  Bauherrn  und  der  Zu- 
fall  einer  Niitzlichkeit,  die  irgendwo 
geschrieben  stehen.  Kerngefiihle  ent- 
decken  wir,  wieSehnsucht  und  Irrung, 
Treue  gegen  den  Schwachen,  Liebe  dem 
Schiitzenden;  doch  anders  in  diesen 
Wlirfelwesen  als  in  uns  Menschen- 
wesen. 

Das  Gewirre  der  Giebel  und  Dacher, 
der  Windschiefen  und  der  Kanten, 
skelettiert  sich  zu  einer  GesetzmaBig- 
keit,  die  auf  jenen  Gesichten  beruht. 
Dem  Kiinstler  zur  Aufgabe  wird:  die 
Losung  dieser  Mathematik  des  Zu- 
falligen  durch  andachtige  Strenge  und 
schopferische  Hingabe. 

Aber  weil  das  Wesen  selbst,  so  sehr 
wir  nach  ihm  fahnden,  so  sehr  wir  uns 


seinem  Erleben  ausliefern,  immer  un- 
beriihrbar  bleibt,  darum  miissen  wir, 
die  in  uns  Gefangenen,  ohnmachtig  des 
Pfeilweges,  Gleichnisse  wahlen.  Mit 
Farben,  Linien,  mit  Worten,  oder,damit 
das  Unberiihrbare  in  der  Mitte  sei, 
mit  Kontrasten. 

Wir  versuchen,  heifit  das,  unsre 
Sprache  zu  vergessen  und  die  Sprache 
jenes  Damons  zu  reden.  Darum  sind 
Kunstwerke  einAusbrechen  aus  unsrem 
Gefangensein. 

Nicht  geben  wir  den  Dingen  von 
uns,  was  sie  selbst  nicht  haben  konnen, 
wozu  sollte  die  Luge  taugen?  Willige 
Propheten  wollen  wir  sein  des  Lebens 
unter  den  Oberflachen.  Dazu  berufen, 
daB  die  unbewufite  Welt  sich  selbst  er- 
kenne ! Dankbar  fiir  das  Geschenk  ihrer 
Offenbarungen  durch  Erkenntnisse 
ihrer  Ganzheit,  und  voll  von  Gesichten 
ihres  innersten  Seins. 

Indem  wir  also  des  Wesen s pflegen, 
enthiillt  sich,  unter  der  Region  der 
Zusammenhange,  die  letzte,  dunkelste, 
dem  Damon  nachbarliche : die  der  Ein- 
samkeit  (und  des  Grauens).  Gefiihl  der 
Stille.  Verwunderung.  Wir  spiiren, 
nistend  gleichsam  iiber  Wolken,  stau- 
nend  in  Erdkreise,  — wir  spiiren  den 
Damon  genauer. 

Ein  Wiirfel  offnet  sich,  entlaBt  in 
langer  Folge  Menschen  auf  die  Strafie 
(die  nicht  minder  seltsam  lebendige). 
In  ihm  wiederum  verschwinden  Men- 
schen, von  denen  wir  wissen,  daB  sie 
drinnen  Treppen  steigen.  Auf  aller- 
hand  Knopfe  driicken.  Schalter  dre- 
hen.  Tiiren  offnen,  Tiiren  schliefien. 
Sich  nahren,  umarmt  schlafen.  Kinder 
zeugen.  Streiten,  sterben  und  geboren 
werden.  Tausend  anderes. 

Aber  von  all  dem  schweigt  das  Haus. 


286  Glosscn 


Ein  schwaches  Licht,  aufblendend,  er- 
Idschend,  ist  Zeichen  fur  Unerhortes. 

Es  ist,  um  zu  verbergen.  Heimlich 
zu  tun  mit  seinen  Inhalten,  eifersiichtig. 
Wir  empfinden  eine  besondere  Art  von 
Gleichgultigkeit  und  von  Bosheit. 
Selbst  — ein  extrem  Denkbares  — 
ein  Glashaus  wahrte,  trotz  schamloser 
EntbloBung,  das  Trennende  stark.  Un- 
greifbar  bliebe  alles  dab  in  ter. 

Sein  Gegenteil:  ein  kahler  Wiirfel, 
ohne  Offnung,  einturig  vielleicht, 
schleuderte  Ahnung  machtigen  Lebens 
nach  auBen. 

Ungeheurer  Ausdruck  der  Unnah- 
barkeit,  feindseliger  Kalte,  der  gefes- 
selten  Wut:  zwei  solcher  Wiirfel  sich 
nahe  zu  sehenl  Keuchend  unterm 
Mond,  der  sich  i^ie  Blei  auf  sie  lotet. 
Gebannt  in  sonnengrellen  Tag,  dem 
sie  fluchen,  die  Nachtlichen.  Grell  in 
der  Nacht,  die  Gespenstigen.  Weil 
i mmer  und  liberal!  Fremden,  Einsamen. 
Damonen. 

Je  toter  und  starrer  das  AuBen,  desto 
entfesselter  das  Unsichtbar-Lebendig- 
innerel 

Zum  Rausch  drangen  sich  die  Ge- 
sichte : es  werden  Schlote  zu  aufragen- 
den  BewuBtheiten . Sagen  wir:  des 
Stolzes.  Nennen  wirs:  des  anmaB- 
lichen  Strebens  Himmels  und  der  Holle. 

Fenster  — Miindungen.  Dicher  — 
Lasten  und  Leid.  Des  Kubus  selbst 
— Ausdruck  von  Wesen  und  Inhalt. 

Auf  dieser  Seite,  dicht  am  Irrealen, 
sind  wir  zu  Ende.  Knapp  trennen  sich 
Tod  und  Leben.  Was  etwa  noch  fol- 


gen  kdnnte,  ist  Anarchie  des  Geistes: 
Unformbarkeit. 

Die  Realitat  fordert  ihr  Mittler- 
recht:  auszudriicken.  (Nicht:  zu  seinl) 
Die  *Form  taucht  endlich  auf.  Ihr  Zu- 
falligstes,  als  letztes,  miihelos  nach  dem 
Wesenhaften,  erlebt,  wird  gebandigt, 
bezogen  — ungefahrlich  sein. 

Zu  bedeuten  war:  der  innerste  un~ 
greifbarste  Punkt,  das  ^VPestn,  sei  Aus- 
gang  und  Ziel  der  Darstellung  zugleich. 

flu&gang  fiir  die  dariiber  zu  blat- 
ternde  Form,  Um  Wahrheit  jedem 
Pinselstrich,  jedem  Wort  Halt,  Be- 
ziehung,  Giiltigkeit  zu  geben : auf 
Grund  des  Erlebnisses. 

Und  ZieL  Das  heiBt;  Durch  Ver- 
nichtung  eben  dieser  Form  als  StofF 
und  Selbstzweck,  durch  Aufiosung  ins 
Dienstbare,  Durchscheinende  — un- 
umschrieben  das  Wesen  lebendig-sicht- 
bar  zu  machen,  selbstleuchtend:  um 
des  Erlebnisses  willen. 

Wir  ahnen  Leben  der  Seele  ohne 
den  Leib.  Soweit  auch  mag  der  Da- 
mon bestehen,  unabhangig  der  Form. 
Wir  spiiren  Druck  und  Leben  unsicht- 
bar  bleibender  Hauser  an  ihrem  Schat- 
ten,  der  auf  die  StraBe  fallt.  Denn  es 
sind  gerade  die  Schatten  die  Beweise 
von  der  Dinge  Lebendigkeit.  Aber 
nicht  weiter  falle  Wesen  von  Form, 
als  Schatten  vom  Hause. 

Was  wir  nicht  greifen,  nur  afcnen 
konnen,  mit  Kraft  und  Demut  zu  ent- 
hiillen,  hingegossen  sein  an  diestarken 
und  feinen  Wesensdinge,  sei  Sehnsucht 
und  Ziel  des  Sehers.  # 


DIE  WEISSEN  BLATTER 

EINE  MONATSSCHRIFT 


DRITTER  JAHRGANG  1916 
QUARTAL  JULI-SEPTEMBER 


VERLAG  RASCHER  & C§,  ZURICH  und  LEIPZIG 


Original  from 

UNIVERSITY 


I. 

AUFSATZE 

HEFT  SEITE 

Eduard  Bernstein,  Volker  zu  Hause.  Erinnerun- 

gen  V.  Vom  Leben  und  Treiben  in  Zurich  .VII  45 

Eduard  Bernstein,  Volker  zu  Hause.  Erinnerun- 
gen  VI.  Geheime  Kongresse  und  die  Auswei- 


sung  aus  der  Schweiz IX  262 

Franz  Blei,  Balkanvolker VII  1 

Theodor  Daubler,  Matisse VIII  191 

Daniel  Henry,  Der  Kubismus IX  209 


II. 

GEDICHTE 

Hans  Gathmann,  Ruf IX  257 

Willy  Kiisters,  Gebet  um  Tod IX  258 

Walter  Rheiner-Schnorrenberg,  Drei  Gedichte . . VII  14 

Alfred  Wolfenstein,  Bewegung  (Presto,  Andante, 

Scherzo,  Allegro) IX  259 

III. 

DRAMAT ISCHES 

Heinrich  Mann,  Madame  Legros.  Drama  in  3 Akten  VIII  1 19 


IV. 

EPISCHES 

HEFT  SEITE 

Peter  Baum,  Aus  seinenWerken  (Verse  undProsa)  VII  75 
MaxBrod,  Die  ersteStunde  nach  demTode.  Eine 

Gespenstergeschichte IX  223 

Francis  Jammes,  Der  Hasenroman VII  17 

Lu  Marten,  Geburt  der  Mutter IX  285 

Hans  Reimann,  Scherze IX  291 

V. 

GLOSSEN 

Georg  Brandes,  Ein  Appell VII  89 

Otto  Freundlich,  Uber  eme  unveroffentlichte 

Schrift IX  297 

Rudolf  Fuchs,  Die  Hinrichtung VII  88 

Annette  Kolb,  Ein  gutes  Buch VII  101 

Annette  Kolb,  Epilog  zu  den  Briefen  an  einenToten  VIII  199 

Alfred  Lemm,  Einiges  vom  Problem  der  Form  .VII  94 

Romain  Rolland,  Glaube  und  Hoffnung VII  92 

Ludwig  Rubiner,  Das  Paradies  in  Verzweiflung  .VII  97 

R.  S.,  Heut  und  morgen.  Notizen VIII  201 

R.S.,  Notizen IX  301 

Wilhelm  Speyer,  ,,Das  ist  die  Holle“ VII  88 

Robert  Walzer,  Besetzt VIII  200 

Kleine  Dokumente VII  101 

VI. 

ZEICHNUNGEN 

Arthur  Segall,  Sechs  Holzschnitte VIII  113 


Franz  Bid  * Balkanvolker 


1 


c Tranz  ZBfei: 

BALKANVOLKER 

^ EME  INSAME  Sitten  und  Brauche,  Trachten  und  Volks- 

lieder  definieren  nicht,  was  man  eine  Nation  nennt ; auch 
Eigentiimlichkeiten,  die  man  als  rassenhaft  anspricht,  tun  das 
nicht;  auch  nicht  ein  von  den  Volksindividuen  bewohntes  ge- 
meinsames  Territorium;  femer  nicht  eine  staatliche  Formung, 
die  sich  ein  Volk  gibt,  denn  die  Nation  ist  ein  weiterer  Begriff 
als  der  Staat  und  kann  daher  durch  ihn  nicht  bestimmt  werden . 
Und  endlich  ist  auch  das  gemeinsame  sprachliche  Verstandi- 
gungsmittel  der  Volksindividuen  nicht  das,  was  ein  Volk  zu 
einer  Nation  macht,  denn  das  Idiom  ist  noch  nicht  Sprache; 
und  der  Umstand,  dafi  Regierungsakte  in  diesem  Idiom  abge- 
fafit  werden,  schafft  noch  nicht,  was  man  eine  Literatur  nennt, 
so  wenig  wie  die  Bibeliibersetzung  in  das  Idiom  eines  poly- 
nesischen  Stammes  dieses  Idiom  zu  einer  Sprache  macht  im 
nationalen  Sinne,  in  dem  Sprache  nicht  nur  artikulierte  Mit- 
teilung  durch  Worte  bedeutet.  Es  gibt  eine  deutsche  Nation, 
die  zur  Zeit  unter  drei  Staaten  lebt.  Es  gibt  eine  polnische  Nation, 
aufgeteilt  lebend  und  ohne  eigenes  Staatswesen.  Es  gibt  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  ein  amerikanisches  Volk, 
aber  keine  amerikanische  Nation.  Die  Brasilianer  sind  ein 
portugiesisches  Volk,  keine  Nation.  Es  gibt  eine  tiirkische  Nation, 
aber  keine  albanische  oder  kuzowalachische  oder  bulgarische 
oder  serbische;  das  sind  Volkerund  Volksstamme,  die  vielleicht 
einmal  Nationen  werden  konnen,  — als  den  einzigen  und 
sichersten  Weg  dazu,  halten  sie  eine  eigene  Staatsform.  Aber 
die  Formung  im  Staate  kann  bestenfalles  eine  Nation  schufzen, 
nicfif  aber  sc&affen : aus  den  in  der  Monarchic  vereinigten 
Volkem  ist  keine  osterreichische  Nation  geworden.  Man  kann 


Franz  Blei  * Balkanvolker 


sagen:  Nationen  geben  sich  unter  giinstigen  territorialen  Be- 
dingungen  aus  dem  Uberflufi  ibres  national -kulturellcn  Besitzes 

eine  staatliche  Form,  Volkem  aber  wird,  wie  in  Osterreicb, 
diese  staatliche  Form  von  aufien  gegeben:  sie  erleiden  den 
Staat,  der  nicht  aus  ihrem  National-Organischen  erwachsen  ist, 
sondem  ihnen  aufgepfropft  wurde.  Was  die  Volker  Osterreichs 
vereint,  ist  ein  habsburgisches  Hausgesetz,  das  den  vier  Nationen 
dieses  Staates  immer  noch  besser  erscheint,  als  die  partikula- 
ristische  Auflosung  in  Einzelstaaten,  wie  dies  die  noch  nicht 
Nationen  gewordenen  etlichen  zwanzig  Volker  dieses  Reiches 
zu  ihrem  vermeintlichen  Heile  wollen . Der  eigene,  auf  Gemein- 
schaft  des  Idioms  gegriindete  Staat  soli,  so  meinen  diese  Natio- 
nalitaten,  sie  zu  dem  machen,  was  sie  nicht  sind  und  durch  den 
eigenen  Staat  auch  nicht  werden  konnen : zu  Nationen.  Diese 
mannigfachen  Stamme  glauben  in  ihren  ehrgeizigenWortfiihrern, 
die  Deutschen  und  die  Italiener  seien  erst  durch  die  staatliche 
Form,  die  sie  sich  gaben,  zu  Nationen  ge worden,  und  diesem 
mifiverstandenen  Beispiel  wollen  sie  folgen,  gefordert  darin 
von  einer  Idolatrie  des  schlechthin  Nationalen,  wie  es  der 
dritte  Napoleon  aufbrachte,  und  von  einer  Regierungstechnik 
Mettemichscher  Erfindung,  die  in  einem  gegenseitigen  Aus- 
spielen  der  in  der  Monarchie  vereinigten  Nationalitaten  das 
beste  Mittel  zu  haben  glaubte,  das  fur  die  Dynastie  und  ihre 
Maschinerie  notige  Geld  aus  den  Volkem  herauszukriegen . 
Weiter  gefordert  von  einer  russischen  Politik,  die  ihr  Ziel,  die 
Verdrangung  der  Tiirkei  aus  Europa  und  die  Eroberung  Kon- 
stantinop>els  am  besten  damit  zu  erreichen  hoffte,  dafi  sie  die 
Balkanvolker  auf  ihre  nationale  Besonderheit  aufmerksam  machte 
und  selbstandige  kleine  Balkanstaaten  protegierte.  Die  Tendenz 
aller  dieser  Volker  zu  eigener  staatlicher  Formung  kommt  nicht 
aus  dem  Uberflufi  eines  Lebens  als  Nation,  sondem  aus  sekun- 
daren  politischen  Motiven,  an  denen  andere  Staaten  interes- 
sierter  sind,  als  die  Individuen  des  betreffenden  Volkes,  die, 
noch  um  das  Notigste  beldimmert,  sich  den  Luxus  eines  eigenen 
Staatswesens  nicht  leisten  konnen  und  wenn  sie  es  tun,  ihn 
viel  teurer  bezahlen,  als  er  wert  ist.  Namlich  mit  den  Mog- 


Franz  Blei  * Balkanvolker  3 

lichkeiten,  aus  einem  Volke  eine  Nation  zu  werden:  den  ver- 
liehenen  Stoat  aufrecht  zu  erhalten  und  unter  schwierigsten 
Verhaltnissen  zu  behaupten,  wird  die  besten  Krafte  dieses 
Volkes  so  sehr  beanspruchen,  daB  nichts  davon  fiir  die  Biidung 
einer  Nation  iibrig  bleibt,  woran  alle  nationalen  Kirchen  und 
Bildungsinstitute  nichts  andem,  die  dem  Staate  wohl  seine 
Funktionare  herrichten,  nicht  aber  eine  Nation  schaffen.  Es  ist 
nicht  zynischer  Annexionismus,  der  den  koniglich-serbischen 
Bauern  Anschlufi  an  Osterreich  rat  und  ihnen  sagt,  dafi  ihr 
Konigtum  ihnen  zu  teuer  zu  stehen  kommt  und  daB  sie  als 
Teil  der  Monarchic  mehr  Krafte  frei  bekommen  fiir  ihre  Bii- 
dung zur  Nation,  die  allein  wichtig  ist.  Die  Politik,  die  Oster- 
reich gegeniiber  seinen  Nationalitaten  befolgte,  ist  ja  nicht 
Effekt  eines  unabanderlichen  Naturgesetzes,  wie  man  an  der 
Schweiz  sehen  kann,  wo  das  staatliche  Verbundensein  dreier 
Nationen,  die  ihre  Stammnation  in  andern  Staaten  haben, 
keiner  die  nationale  Selbstandigkeit  nimmt,  was  ja  auch  gegen- 
iiber  einer  Nation  gar  nicht  in  der  Macht  des  Staates  liegt: 
ein  napoleonisches  Deutschland  ware  niemals  national-franzo- 
sisch  geworden,  ware  immer  national-deutsch  geblieben,  so  wie 
die  Polen  polnisch  geblieben  sind  unter  einem  deutschen,  oster- 
reichischen  und  russischen  Staate.  Els  liegt  keineswegs  in  den 
Elxistenzbedingungen  der  osterreichischen  Monarchic,  die  sie 
zwingen,  zu  verhindern,  daB  ihre  Nationen  sich  als  Nationen 
behaupten  und  ihre  Volker  zu  Nationen  werden,  wenn  sie 
dazu  die  innere  zeugende  Kraft  haben,  die  allerdings  nur  sehr 
bedingt  in  einem  sprachlichen  Idiom  wurzelt,  weil  dieses  durch 
den  bloBen  Anspruch  darauf  noch  nicht  zu  einer  nationalen 
Sprache  wird.  Denn  Sprache  ist  noch  nicht,  wie  man  sich  mit 
dem  Metzger  verstandigt,  bei  dem  man  Fleisch  kauft.  Und 
Sprache  in  diesem  nationalen  Sinn  ist  noch  nicht,  was  ein 
meist  anderssprachiger  Gelehrter  in  einem  Buche  als  Wort- 
schatz  und  Regel  aufzeichnet.  Sprache  im  nationalen  Sinn  ist 
geistige  Geschichte,  ist  aufweisbare,  immer  gegenwartige,  offen- 
kundige  Leistung,  unbestritten  und  unbezweifelt,  nicht  erst 
durch  Untersuchungen  feststellbar,  sondern  lebendig  vor- 


4 Franz  Blei  ♦ Balkanvolker 


handen  fur  jedermann,  nicht  von  lachelndem  Wohlwollen  kon- 
zediert,  sondem  dawie  dieLuft.  Um  dieses  Selbstverstandliche 
wissen  auch  alle  diese  balkanischen  Volkerschaften,  die  in  den 
letzten  vierzig  Jahren  mit  dem  Anspruch  auf  ihr  sie  zu  GroBtem 
berechtigenden  Eigendasein  auftraten : da  sie  ihr  Recht  aus  ihrem 
gegenwartigen  Leben  nicht  einwandfrei  aufzeigen  konnten, 
versuchten  sie  es,  aus  ihrem  einmal  gewesenen  Leben  abzu- 
leiten,  in  der  tausendjahrigen  byzantinischem  Historic  etwa, 
in  deren  Verlauf  viele  dieser  Volker  einmal  „den  Staat“  gebil- 
det  haben,  indem  sie  entweder  die  Dynastie  oder  die  herr- 
schende  Klasse  oder  einen  gliicklichen  Heerfiihrer  stellten. 
Andere  dieser  Volker  gehen  noch  weiter  zuriick  in  der  Ge~ 
schichte,  berufen  sich,  wie  die  Albanier,  auf  Pyrrhus,  oder  wie 
die  Kuzowalachen  auf  die  Pelasger,  mit  welchen  angeblichen 
Ureinwohnern  Griechenlands,  deren  direkte  Nachkommen  sie 
seien,  man  schon  halb  im  Mythischen  ist.  Ein  iiber  den  Durch- 
schnitt  begabtes  Individuum  eines  zwanzigtausend  Kopfe 
zahlenden  Stammes  fiihlt  sich  als  Biirgermeister  schlecht  am 
Platze  und  traut  sich  zu,  Dynastien  und  Reiche  zu  griinden, 
wofiir  er  Recht  und  Titel  in  einer  Geschichte  sucht,  die  er 
zur  Befriedigung  seiner  Vorurteile  studiert  im  Grauesten  ihrer 
Vergangenheit.  Dient  der  Strebsame  mit  seinen  Anspriichen 
deraugenblicklichen  politischen  Konjunktur  einer  interessierten 
Grofimacht,  so  wird  diese  ihn  unterstiitzen,  ihretwillen,  nicht 
seinetwillen,  wie  er  meint  und  wie  ihm  gesagt  wird ; um  ihn 
sofort  fallen  zu  lassen,  wenn  er  der  Konjuktur  nicht  mehr 
dient:  die  neuere  Geschichte  des  Balkans  ist  voll  solcher  „Ver- 
ratereien",  welche  Grofimachte  an  diesen  Volkern  veriibten, 
das  heifit  an  dem  Ergeizigen,  den  sie  nicht  ans  Ziel  seiner 
Wiinsche  brachten.  Oder  ist  voller  „Dankesschuld“,  wenn  es 
im  Interesse  der  GroBmacht  lag,  die  Sache  soweit  zu  treiben, 
daB  es  zu  einer  staatlichen  Verselbstandigung  kam,  die  gegeben, 
aber  nicht  geschaffen  wurde,  und  daher  auch  wieder  genommen 
werden  kann:  drei  Grofimachte  iibernahmen  im  Vertrage  von 
1863,  betreffend  die  Jonischen  Inseln,  die  Garantie  eines 
konstitutionell  regierten  Griechenland,  das  heiBt,  sie  schufen. 


Franz  Blei  * Balkanvolker 


5 


indem  sie  schenkten,  eine  Abhangigkeit  Griechenlands  von 
der  Politik  dieser  drei  Machte.  Im  tiirkischen  Montenegro 
residierten  Bischofe  oder  Wladikas,  die  aus  den  Familien 
des  Landes  gewahlt  wurden.  Im  Jahr  1852  wollte  der  Wladika 
Danilo  eine  Dynastie  griinden,  was  der  russischen  Politik  sym- 
pathisch  war.  Danilo  machte  etwas  Krieg  gegen  die  Tiirkei, 
die  30,000  Mann  gegen  Montenegro  schickte.  Aber  Rufiland 
sammelte  Truppen  in  Befiarabien,  und  das  beunruhigte  Oster- 
reich  riet  dem  Sultan  nachzugeben,  was  der  auch  nach  einigem 
Zogern  tat:  das  Fiirstentum  Montenegro  gliickte  dem  Danilo, 
weil  Rufiland  es  wollte,  nicht  weil  die  montenegrinische 
,,Nation“  lieber  sterben,  als  ohne  eigenen  Staat  leben  wollte. 

Die  tiirkischen  Eroberer  konnten  und  wollten  mit  ihren  er- 
oberten  und  als  Christen  verachteten  Volkern  keinen  modernen 
Staat  bilden.  Das  machte  es  Rufiland  leicht,  fur  die  Autonomie 
dieser  christlichen  Volker  einzutreten,  die  ,, nicht  unter  ein  mo- 
hammedanisches  Joch  gebeugt  werden  diirften",  — wie  es 
sagte,  — die  Tiirkei  durch  Zerstiickelung  ihres  europaischen  Be- 
sitzes  aus  Konstantinopel  zu  drangen,  wie  es  dachte.  Der  bis 
zum  Mord  getriebene  Kampf  der  beiden  Dynastien,  welche 
Serbien  zum  Gliick  eines  selbstandigen  Konigreiches  verhalfen, 
ist  ein  Kampf  zwischen  Osterreich  und  Rufiland  seit  dem  ersten 
Alexander  Karageorg,  der  zu  osterreichisch  war,  bis  zu  Michael 
Obrenowitsch,  der  zu  russisch  war,  und  den  1 868  die  Kara- 
georgewitsche  wieder  umbrachten,  was  ihnen  aber  erst  mit  dem 
jetzigen  Konig  Peter,  der  Osterreich  wieder  zu  russisch  war, 
etwas  niitzte  und  im  Augenblick  schon  wieder  nichts  mehr 
niitzt,  — wovon  allem,  wer  zweifelt  daran,  der  koniglich-ser- 
bische  Bruchteil  dieses  Volkes  eine  aufierordentliche  Forderung 
in  seinem  Aufstieg  aus  einem  Volke  zur  Nation  erfuhr.  Als  man 
1 862  die  hellenische  Krone  einem  russischen  Prinzen  anbot, 
beeilte  sich  das  erschreckte  englische  Kabinett,  seinen  dtinischen 
Kandidaten  anzubringen  und  gab  ihm,  damit  er  was  in  die  Ehe 
mitzubringen  habe  und  den  russischen  Kandidaten  ausstechen 
konne,  die  Jonischen  Inseln  und  damit  dem  Volke  die  Idee  von 
„Grofi-Griechenland“,  von  der  man  in  Klein-Griechenland  nur 


I 


6 Franz  Bid  * Balkanvdlker 


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nicht  bcstimmt  weiB,  ob  sie  mit  England  gegen  Rutland  oder 
mit  Rufiland  gegen  England  zu  realisieren  sei,  was  noch  durch 
Frankreich  und  Italien  kompliziert  wird.  Die  Bulgaren  hatten 
im  Verlauf  der  russischen  Okkupation  von  1 828,  wie  es  Heifit, 
ihr  nation  ales  BewuBtsein  bekommen,  das  etwas  s pater  einen 
eigenen  Staat  verlangte.  Dieses  nationale  BewuBtsein  agierte 
vorerst  kirchlich,  und  zwar  auf  russische  antigriechische  Veran- 
lassung.  Die  Bulgaren  protestierten  gegen  den  griechisch-ortho- 
doxen  Patriarchen  in  Konstantinopel  und  die  griechischen  Bi- 
schofe,  die  in  der  Bulgarei  griechische  Schulen  griindeten  und 
die  slavische  Liturgie  durch  die  griechische  ersetzten.  RuBland 
begiinstigte  diese  kirchlich-autonomen  Bestrebungen,  in  der  Er- 
wartung,  daB  daraus  staatlich-autonome  hervorwiichsen,  die  im 
Sinne  seiner  antitiirldschen  Politik  lagen,  fiir  die  sie  in  einem 
GroB-Griechenland  Schadigung  befiirchten  muBte.  Die  bul- 
garischen  Kirchendissidenten  erinnerten  sich  nun,  daB  ihre 
Kirche  von  Rom  und  nicht  von  Byzanz  gegriindet  worden  war 
und  wandten  sich  an  Rom,  das  ihnen  die  slavische  Liturgie 
samt  dem  Ritus  gestattete,  und  sie  bildeten  die  Gemeinschaft 
der  Griechisch-Uniierten.  Diese  Annaherung  an  den  Westen 
paBte  aber  Rufiland  nicht,  das  die  Bulgaren  vor  dem  Panhel- 
lenismus  nur  schiitzen  wollte,  um  sie  dem  Panslavismus  zuzu- 
fiihren.  RuBland  erreichte  es  bei  der  Pforte,  daB  diese  den 
Bulgaren  das  Recht  gab,  ihre  eigenen  Bischofe  zu  wahlen  unter 
der  Bedingung,  daB  diese  die  spirituelle  Suprematie  des  oku- 
menischen  Patriarchen  in  Konstantinopel  anerkennen,  womit 
der  neue  Patriarch  aber  nicht  einverstanden  war.  Der  Firman 
von  1870  gab  schliefilich  der  bulgarischen  Kirche  mit  dem 
Exarchen  ihr  eigenes  Oberhaupt,  womit  das  Seltsame  Ereignis 
wurde,  daB  ein  mohammedanischer  Fiirst  eine  christliche 
Glaubensgemeinschaft  griindete.  Der  Preliminarvertrag  von 
San  Stefano  sollte  mit  der  Tiirkei  ein  Ende  machen,  wie  es 
RuBland  wollte.  England  protestierte,  aber  Gortschakoff  ver- 
harrte  auf  seinem  Willen,  einem  von  England  gewiinschten 
KongreB  die  tvirkischen  Angelegenheiten  nicht  vorzulegen, 
darin  wohl  bestarkt  von  seiner  Annahme  einer  guten  Verstan- 


Franz  Blsi  ♦ Balkanvolker 


7 

digung  mit  Osterreich,  dem  man  Bosnien  und  die  Herzegowina 
anbot.  Aber  Osterreich  verlangte  viei  mehr,  und  das  wollte 
man  nicht  geben.  In  London  war  man  Osterreichs  sicher  und 
auch  Frankreichs,  wo  bei  der  Wiederberufung  der  republika- 
nischen  Partei  der  englandfreundliche  Waddington  den  Herzog 
Decazes  ersetzte.  England  gab  nicht  nach.  Rufiland  rechnete 
auf  Bismarck,  dem  man  doch  zu  Sadowa  geholfen  und  an 
Sedan  nicht  gehindert  hatte,  indem  man  ihm  Osterreich  durch 
gewisse  Drohungen  vom  Leibe  hielt.  Bismarck  lieB  erst  eine 
Weile  den  eitlen  und  ihm  widerwartigen  Gortschakoff  durch 
Bravaden  sich  blamieren,  bevor  er  dem  russischen  Kanzler 
mitteilte,  dafi  er  nicht  disponiert  sei,  seine  Politik  zu  unter- 
stutzen.  Des  kriegsfeindlichen  Schuwaloff  Verhandlungen  in 
London  bewogen  Disraeli,  seine  Forderungen  zu  formulieren 
und  am  Kongrefi  teilzunehmen.  Das  Fiirstentum  Bulgarien 
ging,  wie  man  weiB,  daraus  noch  nicht  hervor,  wie  es  San 
Stefano  sehr  groBartig  aufgerichtet  hatte.  Das  auf  ein  Drittel 
des  russischen  Voranschlages  gebrachte  bulgarische  Reich 
wurde  in  zwei  Provinzen  konzediert,  deren  eine  groBere  dem 
Sultan  zu  verbleiben  hatte,  deren  andere  eine  autonome  Ad- 
ministration mit  einem  christlichen  Gouverneur  bekommen 
sollte.  England  verlangte  von  RuBland  erstaunlich  wenig  auf 
dem  Balkan,  denn  es  hatte  sich  vom  Zaren  in  der  asiatischen 
Tiirkei  viel  Wichtigeres  verschafft.  Offiziell  aber  iibernahm 
England  den  Schutz  des  Sultans  in  Hinsicht  auf  die  musel- 
manische  Bevolkerung  in  Indien.  Dem  Berliner  Kongrefi  blieb 
nach  all  den  Preliminarien  eigentlich  nicht  mehr  viel  zu  tun 
iibrig,  so  lebhaft  auch  die  Debatten  waren,  als  es  zur  Auf- 
deckung  gewisser  geheim  gehaltener  Abmachungen  kam.  In  vier 
langen  Sitzungen  wurden  Bulgarien  und  Rumelien  gegriindet ; 
in  weiteren  die  Unabhangigkeit  von  Rumanien,  Serbien  und 
Montenegro  anerkannt,  Serbien  um  Bosnien  verkleinert  und 
auf  Kosten  Bulgariens  dafiir  entschadigt,  Montenegro  zu 
Gunsten  der  Herzegowina,  das  heiBt  Osterreichs,  verkleinert. 

Wenn  man  die  64  Artikel  des  Berliner  Vertrages  liest,  hat 
man  nicht  den  Eindruck,  daB  hier  ein  Frieden  etabliert  wurde. 


Franz  Blei  * Balkanvolker 


Die  Vertragsmachte  waren  sich  uber  den  ..kranken  Mann“  einig 
und  wollten  ihn  kurieren.  Das  taten  sie  so,  dafi  sie  ihm  Arme 
und  Beine  abschnitten,  weil  er  dann  besser  wiirde  gehen  und 
besser  halten  konnen.  Das  ist  politische  Cbirurgie,  gegen  die 
nichts  zu  sagen  ist,  denn  in  ihr  kommt  der  Patient  nicht  hilfe- 
suchend  zum  Chirurgen,  sondem  dieser  zwingt  sich  dem  Pa- 
tienten  auf.  Die  Frage  ist  immer  nur,  ob  die  Operation  Ord- 
nung  schaff  t,  selbst  wenn  der  Operierte  draufgeht.  Der  Berliner 
Kongrefi  schaffte  diese  Ordnung  keineswegs.  Denn  alle  diese 
abgeschnittenen  Arme  und  Beine  sollten  nach  der  Meinung  der 
Vertragsmachte  eigentiimlich  weiterleben  und  verfiigten  doch 
weder  iiber  Herz  noch  iiber  Him;  es  waren  Volker,  nicht 
Nationen.  Und  wer  Herz  und  Him  geben  sollte,  dariiber  kann 
kein  Kongrefi  entscheiden : das  war  also  dem  freien  Spiel  der 
politischen  und  diplomatischen  Krafte  iiberlassen.  So  wurde 
aus  dem  Balkan  der  Keimboden  aller  kiinftigen  Kriege  im 
Streite  darum,  wer  zu  dem  Bein  den  Kopf,  wer  zu  dem  Arm 
das  Herz  geben  sollte.  Worum  sich  erst  nur  Rufiland  und 
Osterreich  stritten,  bekam  bald  noch  mehr  Beteiligte,  als  die 
adriatische  Ostkiiste  fur  Italien,  Griechenland  fur  England, 
Kleinasien  fiir  Frankreich  aktuell  wurden.  Ging  es  nicht  mit 
der  Pretension,  fiir  Bulgarien  oder  Serbien  Kopf  sein  zu  wollen, 
weil  ein  energisches  „Besetzt!“  herschallte,  so  erfand  man  oder 
schaffte  man  neue  Glieder,  die  man  dem  „kranken  Mann“  ab- 
schnitt:  Albanien,  Thrazien,  Epirus,  Mazedonien,  die  Inseln. 
Ein  liebendes  ethnographisches  Interesse,  die  Sonderheit  dieser 
Volker  zu  erhalten,  ist  es  nicht,  was  die  Grofi-  und  Gern- 
grofimachte  veranlafit,  sich  um  diese  Volker  zu  kiimmern,  die 
sie  gemeals  „unterdriickte  Nationalitaten“  anreden,  und  deren 
naive  Sonderhaftigkeit  sie  um  so  weniger  erhalten  mochten, 
als  sie  sich  gegeniiber  den  kapitalistischen  Umgangsformen 
eben  der  Machte  meist  abgeneigt  zeigen.  Was  man  darum  will, 
ist,  diesen  Volkem  den  „selbstandigen  Staat“  zu  geben,  mit 
dem  sich  reden  lafit,  denn  er  mufi  ja  die  Sprache  seiner  Griinder 
sprechen.  Da  gibt  es  einen  Monarchen,  den  man  dem  neuen 
Staate  aus  der  Verwandtschaft  der  Griinder  aussucht.  Da  gibt 


F ranz  Blei  * Balkanvolker  9 


es  natiirlich  auch  gleich  Staatsmanner,  weitblickende,  die  man 
leicht  in  der  — wenn  auch  und  eben  weil  — offenen  Hand  hat. 
Da  gibt  es  in  einem  fortgeschritteneren  staatlichen  Funktio- 
nieren  Parlamentarier  und  Wahler,  durch  die  man  erreicht, 
was  man  einmal  bei  dem  betreffenden  Staatsmann  nicht  er- 
reicht hat.  Ginge  es  nach  den  nicht-balkanischen  Interessenten, 
so  gabe  es  auf  dieser  so  volkerreichen  Halbinsel  einige  Dutzend 
Reiche,  — nur  der  beschrankten  Zahl  der  zum  Griinden  be- 
rechtigten  Grofimachte  verdanken  wir  es,  daB  die  Landkarte 
des  Balkan  nicht  so  bunt  ist  wie  die  des  Thiiringerwaldes.  Es 
konnte  in  der  Nahe  der  Monchsrepublik  Athos  als  ein  pikantes 
Vis-a-vis  einen  jiidischen  Staat  Saloniki  geben,  denn  die  be- 
giiterte  und  gebildete  Mehrzahl  der  Bewohner  dieser  weder 
griechischen  noch  bulgarischen  Stadt  sind  Juden.  Es  konnte 
einen  Staat  Kuzowalachien  geben,  dessen  20,000  Kuzowalachen 
sich  so  lange  fiir  Griechen  hielten,  bis  im  Jahre  1 88 1 Thes- 
salien  von  Griechenland  annektiert  wurde  und  der  Patriot 
Apostolo  Margariti  die  kuzowalachische  Nation  verkiindete,  die 
an  den  Abhangen  des  Pindus  von  Mezzowo  bis  gegen  Mona- 
stir  hin  wohnt  und  ihre  eigenen  Schulen  hat.  Dieses  Volk 
erinnert  sich  im  Jahre  1882,  dafi  im  12.  Jahrhundert  ein 
Grofiwalachien  von  der  Donau  bis  zum  Isthmus  von  Korinth 
reichte,  namlich  das  zweite  bulgarische  Kaiserreich,  dessen 
Bevolkerung  nicht,  sondern  dessen  Herren  diese  Walachen 
nur  stellten.  Margariti  versuchte  es  erst  mit  den  stammver- 
wandten  Rumanen,  die  sich  aber  mehr  fiir  ihre  Landsleute 
in  Transsylvanien  interessieren.  Dann  wandte  er  sich  an  die 
Albanier,  die  er  erinnerte,  daB  die  Griechen  Fremde  in  Europa 
seien,  namlich  exilierte  Agypter  und  Phonizier,  wahrend  die 
Walachen  und  die  Albanier  die  pelastischen  Herren  des  Landes 
gewesen  seien.  Er  wandte  sich  an  die  Tiirken,  die  aus  dieser 
dritten  Nation,  die  weder  griechisch,  noch  slavisch  sein  wollte, 
Vorteile  und  Geld  zogen.  Margariti  wandte  sich  noch  an  die 
„lateinischen  Briider“  in  Italien,  an  Osterreich,  an  Leo  XIII. 
Als  er  starb,  starb  auch  die  kuzowalachische  Nation,  die  ihren 
Staat  von  zuvielen  garantiert  haben  wollte.  DaB  es  kein  selbst- 


1 0 Franz  BUi  * Balkanvolker 


standiges  Reich  Mazedonien  gibt,  dankt  man  nicht  den 
Machten,  sondern  dem  Umstand,  da8  die  Mazedonier  zur 
Zeit  der  bulgarischen  Griindung  durch  den  Berliner  Vertrag 
zum  groBten  Teil  in  Sofia  wohnten,  wo  sie  das  politisch 
alctive  Element  bildeten,  das  auch  die  rumelische  Revolution 
im  Jahr  1 885  inszenierte.  Unter  Stambuloff  kam  eine  Zeit, 
wo  man  die  Mazedonier  als  „Fremde“  behandelte  und  sie  von 
offentlichen  und  politischen  Funktionen  fern  hielt.  Sie  rHchten 
sich  dafiir  an  Stambuloff,  indem  sie  ihn  umbrachten,  gaben 
ein  bulgarisiertes  Mazedonien  auf  und  dachten  an  ein  maze- 
donisiertes  Bulgarien,  dessen  Amtssprache  das  Franzosische 
sein  sollte  — das  die  Juden  in  Saloniki  sprechen  — , weil  sich 
eine  eigene  mazedonische  Sprache  nicht  feststeilen  liefi  und 
man  sich  auf  eines  der  gesprochenen  Idiome  aus  Paritat  nicht 
einigen  mochte.  Geringer  schienen  die  Schwierigkeiten  und 
giinstiger  die  Aussichten  fiir  die  Griinder  bei  den  Albanern, 
die  sich  selbst  Skypetaren,  das  heifit  Sohne  des  Adlers  nennen, 
und  sich  dem  Sultan  nur  unterwarfen,  weil  er  ihnen,  auf 
Kosten  der  Nachbarstfimme,  erlaubte,  ganz  nach  ihrer  Art  zu 
leben,  die  sich  seit  Pyrrhus,  ihrem  Nationalhelden,  nicht  ge- 
andert  hat,  unter  dem  sie  Soldner  in  Tarent  waren.  Wie 
spater  Soldner  der  Bourbonen  in  Neapel  und  noch  spater  der 
Griechen  und  des  Sultans.  Die  siidlichen  Tosken  sympathi- 
sieren  mit  den  Griechen,  die  in  Elbassan  am  Skombi  ihren 
nordlichsten  kolonialen  Vorposten  haben;  die  nordlichen 
Ghegen  sind  die  Feinde  der  Tosken,  worin  wie  in  ihren 
sonstigen  Brauchen  die  Albaner  niemand  storen  sollte ; eher 
miifite  man  diesen  letzten  Rest  einer  homerischen  Welt  als 
eine  Art  ethnographischen  Naturpark  in  Europa  erhalten.  Und 
nicht  nur  die  Italiener  sollten,  wie  sie  es  seit  Jahren  tun,  an- 
gesehenen  Familien  dieses  Volkes  eine  jahrliche  Pension  — 
nicht  viel,  100  bis  150  Lire  — zahlen,  sondern  alle  europa- 
ischen  Staaten  mtifiten  mit  solchen  Geldbeitragen  diesen  Park 
konservieren,  dessen  Menschen  von  der  Heiligkeit  der  Arbeit 
durchaus  nicht  iiberzeugt  sind,  sondern  episch  hinleben  in 
Brigandage,  Clan-  und  Familienfehden  und  im  Raub  die  wesent- 


Franz  Bid  * Balkanvolker 


I 


liche  Form  ihrer  Unabhangigkeit  sehen.  Sie  erheben  Tribut 
von  den  Bauern  der  slavischen  Ebene,  die  in  der  Pristina  liegt, 
mdem  sie  diese  Bauern  wie  ihre  Pachter  behandeln.  Am 
Georgstag  steigen  sie  von  ihren  Bergen  und  bestimmen  sich 
die  Hohe  des  Pachtzinses  je  nach  Bedarf  und  nach  dem  Stand 
der  Ernte;  und  am  Michaelstag  kommen  sie  den  Zins  holen: 
dieser  sehr  einfache  wirtschaftliche  Vorgang  heiBt  Tschetel, 
mit  tiller  Legalitat,  die  einer  solchen  Namensgebung  inne- 
wohnt.  Kein  Sultan  hat  je  daran  gerilhrt.  Ja  Abdul  Hamid, 
der  MiBtrauische,  suchte  sich  unter  den  Albanern  seine  Ver- 
trauten  und  befahl  seinen  Statthaltern,  ein  Auge  zuzudrilcken. 

1878  sammelten  sich  100,000  Albaner  in  Prizrend  und  zogen 

gegen  das  unabhangig  erklarte  Montenegro,  allerdings  ohne 
Erfolg.  Sie  wollten  die  Integritat  des  tiirkischen  Reiches 
schiitzen,  unter  dem  es  ihnen  vortrefflich  ging  und  — weil 
Italien  gut  fur  diesen  Zug  bezahlte.  Abdul  Hamid  lieB  sich 
die  Albaner  etwas  kosten,  worin  die  Jungtiirken  nicht  fort- 
fahren  wollten.  Seitdem  versucht  es  dieses  Volk,  das  die  Lire 
wie  den  Gulden  seit  langem  kennt,  mit  den  politischen  Vellei- 
taten  Europas  und  aspiriert  den  albanischen  Nationalstaat, 
soweit  er  sich  mit  den  alten  schonen  Brauchen,  die  man  nicht 
aufgeben  will,  vertragt.  Vor  diesem  Kriege  gab  es  drei  alba- 
nische  Reiche  auf  Probe:  ein  tiirkisches,  ein  wiedisches  und 
ein  griechisches  Albanien,  — das  profitabelste  zu  wahlen  war 
die  Zeit  zu  kurz,  und  die  Angelegenheit  dieses  Volkes  stockte, 
dem  wir  unter  alien  Balkanvolkern  die  meisten  Sympathien 
entgegenbringen,  so  viel,  dafi  wir  die  pelasgische  Abstammung 
fur  unbestreitbar  halten.  Ein  Volk,  das  es  wie  die  Ghegen 
mit  beiden  Gottern  halt,  im  Leben  mohammedanisch  ist  und, 
wenn  es  ans  Sterben  geht,  den  Popen  rufen  laBt,  weil  man  ja 
doch  nicht  wissen  kann,  ein  solches  Volk  darf  nicht  ruiniert 
werden  dadurch,  daB  man  ihm  einen  Staat  herrichtet,  in  dem 
es  Steuern  zahlen,  also  arbeiten  miiBte.  Irgendwo  in  Europa 
sollte  es  ein  Volk  noch  geben,  das  nicht  in  Fabriken  geht  und 
keine  Handlungsreisenden  empfangt. 

Staaten,  in  denen  sich  nicht  Nationen  formalen  Ausdruck 


2 Vol.  10/2 


12 


Franz  Blei  * Balkanvolker 


geben,  sondern  welche  als  Nation  noch  nicht  distinkten  Volkern 
gegeben  werden,  fordern  diese  Volker  nicht  nur  nicht,  sondern 
ruinieren  sie.  Sie  geben  ihr  Bestes  an  den  Staat,  der  keine 
andere  Voraussetzung  hat,  als  den  fremden  Willen  jener  Nation, 
der  ihn  auf  dieses  Volk  gegriindet  hat  und  jederzeit  wieder, 
weil  er  nicht  in  einer  Nation  gewurzelt  ist,  aufheben  kann: 
mit  dieser  standigen  Drohung  des  Moglichen  schafft  der  Griinder 
eine  Suveranitat,  die  das  dem  Volke  fremde  und  unorganische 
Staatswesen  doppelt  unertraglich  macht;  es  muB  ein  Staats- 
wesen  mit  aller  Kraft  aufrecht  erhalten  — die  Nationen  bilden 
und  halten  es  mit  dem  UberschuB  ihrer  Kraft  — und  dieses 
Staatswesen  ist  nicht  einmal  sein  eigenes,  ist  nur  bedingt  sein 
eigenes,  auf  Kiindigung  gewissermaBen ! Bedarf  schon  eine 
Nation  ziemlicher  Energie,  sich  den  selbsttatig  und  eigenlaufig 
werdenden  Staat  vom  Leibe  zu  halten  — und  aus  ihrem  kul- 
turellen  Gut  schopft  sie  allein  diese  Energie  — so  ist  ein  Volk 
dazu  auBerstande:  es  erliegt  dem  Staate  ohne  Widerstande. 
Wir  haben  im  deutschen  Reiche  einen  Stamm,  der  so  dem 
Staate  erlegen  ist,  und  in  dem  jeder  einzelne  seinen  mensch- 
heitlichen  Sinn  erfiillt  hat,  wenn  er  den  Staatszweck  erfiillt 
hat.  Dieser  Stamm  ist  der  kulturfirmste  und  national  schwachste : 
die  Widerstande  fehlten  ihm.  Er  ist  Staat,  oder  er  ist  iiber- 
haupt  nicht.  Der  sehr  gering  entwickelte  Staatsformungswille 
der  andern  deutschen  Stamme,  besonders  der  katholisch  glau- 
bigen,  uberlaBt  sich  diesem  einen  staatlichen  Stamme,  der 
diese  Arbeit  der  Staatsformung  fiir  alle  tut  und  tun  kann,  well 
er  keine  innerenWiderstande  zu  iiberwinden  hat.  Ohne  PreuBen 
gabe  es  heute  vielleicht  noch  kein  deutsches  Reich.  Aber  ohne 
PreuBen  gabe  es  immer  noch  eine  deutsche  Nation.  Und  gabe 
es  als  Deutsche  nur  PreuBen,  so  gabe  es  wohl  einen  preuBischen 
Staat,  aber  keine  preuBische  Nation. 

Es  wird  dem  preufiisch  gearteten  Volke  auf  dem  Balkan 
vorbehalten  sein,  den  balkanischen  Staat  zu  tragen,  und  den 
andern  staatlich  schwacheren  Volkern,  sich  diesem  tragenden 
staatlichen  Volke  zu  iiberantworten,  das  heiBt,  aus  Nationali- 
taten  eine  Nation  zu  werden.  Hundert  Jahre  lang  haben  die 


Franz  Bid  ♦ Balkanvolkcr 


13 


groBen  europaischen  Staaten  versucht,  das  Balkanproblem  zu 
losen,  indem  sie  es  zu  eigenem  Nutzen  verwirrten.  Man  ver- 
sucht es  vielleicht  die  nachsten  hundert  Jahre  damit,  den 
Balkanvolkcrn  selber  die  Losung  zu  iiberlassen.  Der  beliebte 
wirtschaftliche  Handel  braucht  darunter  nicht  zu  Ieiden,  wenn 
einmal  der  weniger  beliebte  diplomatische  Handel  ausge- 
schaltet  ist. 


14 


Walter  Rheiner-Schnorrenberg  ♦ Drei  Gedichie 


after  Q\fiem er*  & cfinorrenberg : 

DREI  GEDICHTE 

DAN  KGEBET 

Warum  mir  dies  Gliick  ? 

Blau  des  Himmels  regnet  auf  mich  herab, 
Sonne  kleidet  mich  ganz  in  Gold. 

Zu  mir  zuriick 

FlieBt  alle  Welt,  sie  entsproB  mir  so  hold  I 
Frauen,  sie  sind  mir  wunderbar  nah, 
Schweben  wie  Engel  und  wissen  es  nicht. 
Kommt,  Schmerzen,  Qual! 

Werft  an  die  Brust  mich  dem  Firmament! 
Mein  Weinen  ist  schauernder  Sternenweg. 
Alliiberall 

Bliiht  meiner  Liebe  Rosengeheg. 

0 wer  die  SiiBe  der  Dinge  kennt, 

Und  dich,  Leben,  schluchzendes  Wundertal! 


V. 

* 


/' 


Walter  Rhcincr-Schnorrcnbcrg  ♦ Drei  GedichU 


15 


DIE  TANZERIN 


Nein,  plotzlich  branntest  du  im  weiBen  Licht, 
in  dich  versunkner  Blitz  von  blauer  Seidel 
Warfst  deine  Arme,  schlank  und  grausam  beide, 
warfst  deinen  Korper  wirr  mir  ins  Gesicbt  I 

Licht  Schreitende  auf  sommerlicher  Heide, 
flicht  mild  dein  Lockengold  in  dies  Gedicht. 

Ja,  wirf  den  Nacken  auf  das  Hochgericht 
blitzender  Takte,  dafi  der  Gott  entscheide, 

dem  Du  entspriihst,  der  in  uns  alien  tobt, 
der  jauchzend  dein  Fontanendasein  lobt 
und  dich  entfaltet  wie  ein  buntes  Lied. 

Tanze  dein  Traumen  weiter,  sei  entbluht 
dem  Ewigen,  das  in  den  Steinen  gltiht 
und  sich  im  Glanze  heller  Augen  probt! 


16 


Walter  Rheiner-Schnorrenberg  ♦ Drei  Gedichte 


GEBET  DES  CHRISTEN  IM  KRIEG 

Der  du  brausest  in  Kanonen  — 

Aufruhr,  und  im  wirren  Glanze 
Manchmal  zeigst  ein  huschendes  Gesicht; 

Cast  bei  Leichnamen,  die  tbronen 
Stumm  am  Hiigel,  fern  vom  Tanze, 

Wirr  verhauchend  klagend  Ucbt; 

Der  du  wanderst  in  den  Graben, 

Obne  Ziel,  verweint  und  lungernd, 
Schleichst  um  Feuer  in  erstickter  Qual: 

Gib  uns,  blafi  in  tierisch  totem  Leben, 
Was  wir  sebnen,  dumpf  und  hungemd ; 

Zeig  uns  deiner  Hande  gliihend  Mai! 

Oft  gekreuzigt  sind  wir  und  sehr  bitter 
Mit  verfluchtem  Essig-Schwamm  getranlct; 
Regungslos  im  Bajonetten-Gitter 
Unsre  Leiber  blutig  eingezwangt. 

Heb  dich  auf  im  tosenden  Gewitter, 

Das  ob  unsern  leeren  Hirnen  hangt. 

Mach  uns  frei,  du:  Friedensfiirst  und  Ritter, 

Toten-Wecker!  Himmlisches  Gescbenk!! 


Francis  Jatntncs  ♦ Dcr  Hasenroman 


17 


Francis  $ amines: 

DER  HASENROMAN 

BERECHTIGTE  OBERSETZUNG  VON  JAKOB  HEGNER 

ERSTES  BUCH 

IN  dem  Thymian  und  dem  Tau  des  Fabeldichters  vernahm 
Langohr  die  Jagd ; er  entlief  iiber  den  aufgeweichten  lehmi- 
gen  Pfad,  denn  er  fiirchtete  seinen  Schatten,  die  Heidekrauter 
kamen  ihm  eilig  entgegen,  die  blauen  Kirchtiirme  standen  von 
Tal  zu  Tal  auf,  er  rannte  hinab,  stiirmte  bergan,  und  seine 
Spriinge  bogen  die  Halme,  wo  die  Tropfen  ineinanderflossen. 
In  diesem  gefliigelten  Lauf  wurde  der  Hase  ein  Bruder  der 
Lerchen,  er  flog  iiber  die  BezirksstraBen  hinweg,  und  am  Weg- 
weiser  iiberlegte  er  einen  Augenblick  Iang,  eh  er  dem  Feldweg 
folgte,  der  aus  dem  blendenden  Sonnenlicht  und  der  gerausch- 
vollen  Kreuzung  in  das  dunkle,  stille  Moos  fiihrt. 

An  diesem  Tage  war  er  beinahe  an  den  zwolften  Kilometer- 
stein  angestoBen,  zwischen  Markt  Kastetis  und  Balansun,  denn 
seine  Augen,  in  denen  die  Angst  wohnt,  stehn  seitwarts.  Noch 
konnte  er  einhalten.  Seine  natiirhch  gespaltene  Oberlippe  zit- 
terte  unmerklich  und  entblofite  die  langen  Nager.  Dann  streck- 
ten  sich  seine  gelben  Landstreichergamaschen  mit  den  vom 
Laufen  abgestumpften  FuBnageln : er  hiipfte  iiber  die  Hecke, 
in  Kugelform,  die  Ohren  auf  dem  Hinterteil. 

Eine  gute  Weile  noch  trug  er  seine  Haut  aufwarts,  indes  die 
beunruhigten  Hunde  seine  Spur  verloren,  und  wieder  abwarts, 
bis  zur  LandstraBe  in  die  Pyrenaen,  wo  er  ein  Pferd  mit  einem 
Karren  herankommen  sah.  In  der  Feme,  auf  dem  Weg,  wirbelte 
der  Staub  wie  im  Marchen  vom  Blaubart,  wenn  die  Schwester 


1 8 Francis  Jammes  ♦ Der  Hascnroman 


fragt:  Schwester  Anna,  siehst  du  noch  nichts?  Die  silbeme 
Trockenheit,  wie  war  sie  prachtig  und  duftete  bitter  nach  IVlinze. 
Nicht  lange,  so  stand  das  Pferd  vor  dem  Hasen. 

Es  war  ein  armseliger  Gaul  vor  einem  zweiraderigen  Gefahrt, 
und  er  konntenur  noch  im  Galopp  und  ruckweise  ziehn.  Jeder 
Schritt  erschiitterte  sein  gelockertes  Gerippe,  dafi  das  Geschirr 
klirrte,  und  die  helle  Mahne  flatterte  in  der  Luft,  griinlich,  wie 
der  Bart  eines  alten  Seemanns.  Miihsam,  als  waren  es  Pflaster- 
steine,  hob  das  Tier  seine  geschwulstig  aufgetriebenen  Hufe. 
Langohr  erschrak  vor  der  grofien,  lebendigen  Maschine  und 
ihrem  lauten  Gerausch.  Er  tat  einen  Satz  und  floh  weiter  iiber 
die  Wiesen,  die  Stirn  gegen  das  Gebirge,  den  Schwanz  gegen 
die  Heide,  das  rechte  Auge  gegen  die  steigende  Sonne  und  das 
linke  dem  Dorfe  zu.  Endlich  verkroch  er  sich  in  einem  Stoppel- 
feld,  unweit  einer  Wachtel,  die  in  der  Art  der  Hennen  mit  dem 
Bauch  im  Sande  schlief  und  von  der  Warme  betaubt  durch  die 
Federn  hindurch  ihr  Fett  ausschwitzte. 

Der  Tag  funkelte  im  Siiden.  Der  Himmel  erblafite  unter  der 
Hitze  und  wurde  perlgrau.  Ein  Mausefalk  schwebte  miihelosen 
Fluges  in  immer  hoheril,  immer  weitern  Kreisen.  Wenige  hun- 
dert  Schritte  geradeaus,  und  die  pfauengleich  schillernde  Flache 
eines  Flusses  walzte  das  Spiegelbild  von  Erlen  mit  sich ; ihren 
klebrigen  Blattem  entsickerte  ein  herber  Duft,  und  ihre  gewalt- 
tatige  Schwarze  brach  schneidend  in  den  klaren  Glanz  des 
Wassers.  Nahe  dem  Damm  glitten  die  Fische  in  Rudeln  vor- 
iiber.  Der  Mariengrufi  riihrte  mit  seiner  himmelblauen  Schwinge 
an  den  Sonnenbrand  eines  Kirchturms,  und  Langohrs  Mittags- 
ruhe  begann. 

* 

Regungslos  blieb  er  bis  zum  Abend  in  seinem  Stoppelfeld, 
nur  ein  Miickenschwarm  belastigte  ihn  ein  wenig,  ein  Flim- 
mern,  wie  ein  Weg  in  der  Sonne.  Erst  in  der  Dammerung  hiipfte 
er  zweimal  leicht  nach  vorn  und  dann  zwei  andere  Male  nach 
links  und  nach  rechts. 


Francis  Jatntnes  ♦ Der  Hasenroman 


19 


Die  Nacht  war  da.  Er  wagte  sich  an  den  Flufi,  wo  im  Mond- 
licht  an  den  Spindeln  des  Schilfrohres  das  Gespinst  der  Silber- 
nebel  hing. 

Mitten  im  blumigen  Gras  nahm  er  seinen  Platz,  erfreut,  dafi 
zu  dieser  Stunde  die  Tone  reiner  Wohlklang  waren  und  man 
nicht  wufite,  lockten  Wachteln  oder  Quellen. 

Waren  die  Menschen  alle  tot?  Nur  einer  wachte  draufien; 
geschaftig  iiber  dem  Wasser  holte  er  unhorbar  sein  strahlen- 
rieselndes  Netz  Heraus.  Aber  er  storte  nur  das  Herz  der  Welle, 
das  des  Hasen  blieb  in  Frieden. 

Und  da  geschah  es,  dafi  zwischen  den  Engelwurzdolden  be- 
hutsam  eine  Kugel  erschien.  Els  war  die  nabende  Freundin. 
Langohr  lief  ihr  entgegen,  bis  er  sie  tief  im  blaulichen  Heu  er- 
reicht  hatte.  Ihre  Nasen  kamen  aneinander.  Und  einen  Augen- 
blick  lang,  mitten  im  wilden  Ampfer,  tauschten  sie  Kiisse.  Sie 
trieben  ihr  Spiel.  Dann  wandten  sie  sich,  vom  Hunger  geleitet, 
gemachlich  und  Seite  an  Seite,  gegen  eine  dunkel  hinges treckte 
Meierei.  In  dem  armlichen  Gemiisegarten,  wohin  sie  einge- 
drungen  waren,  gab  es  knistemden  Kohl  und  wiirzigen  Thy- 
mian.  Nebenan  hauchte  der  Stall  seinen  Atem;  hinter  der  Tiire 
des  Verschlages  liefi  das  Schwein  sein  bewegliches  Grunzen 
horen  und  sein  Schnuffeln. 

So  verstrich  die  Nacht  mit  Essen  und  Lieben.  Allmahlich, 
im  Morgenrot,  regte  sich  die  Finstemis.  Flecken  leuchteten  von 
fernher.  Alles  begann  zu  schwanken.  Ein  Gockel  auf  dem  Hiihner- 
stall  zerrifi  die  stille  Luft.  Er  krahte  wie  besessen  und  klatschte 
sich  Beifall  mit  seinen  Fliigelstumpfen. 

Langohr  und  seine  Frau  verliefien  einander  an  der  Schwelle 
der  Domen-  und  Rosenhecke.  Kristallen  tauchte  ein  Dorf  aus 
dem  Nebel,  und  im  Felde  zeigten  sich  hastende  Rtiden,  deren 
Ruten  wie  straffe  Seile  schaukelten ; in  der  Minze  und  zwischen 
den  Halmen  miihten  sie  sich,  die  von  dem  Iieblichen  Paar  geist- 
voll  geschlungenen  Schleifen  zu  entwirren. 

* 


20 


Francis  Jammes  ♦ Der  Hasenroman 


Unter  Maulbeeren,  in  einer  Grube,  schlug  dann  Langohr  sein 
Lager  auf,  hier  verweilte  er  bis  zum  Abend,  mit  offenen  Augen. 
Hier  saB  er  wie  ein  Konig,  unter  dem  Spitzbogen  der  Zweige, 
ein  RegenguB  hatte  sie  mit  hellblauen  Perlen  geschmiickt.  End- 
lich  schlief  er  ein.  Doch,  sein  Traum  war  unruhig  und  nicht  so, 
wie  ihn  der  stille  Schlummer  des  schwiilen  Nachmittags  be- 
schert.  Fremd  war  ihm  die  starre  Schlaftrunkenheit  der  Eidecbse, 
die  kaum  zuckt,  wenn  sie  das  Leben  der  alten  Mauern  traumt ; 
und  fremd  die  zutrauliche  Feierstunde  des  Dachses,  der  da  in 
seinem  licbtlosen  Erdbau  sitzt  und  es  kiihl  hat.  Jedes  noch  so 
kleine  Gerausch  raunt  ihm  von  der  Gefahrlichkeit  dessen,  was 
sich  riihrt,  fallt  und  stofit ; ein  Schatten  bewegt  sich  unerwartet : 
Naht  ein  Feind?  Er  weiB,  dafi  man  im  Nest  nur  dann  gliicklich 
sein  darf,  wenn  alles  jetzt  ebenso  ist,  wie  es  vorher  war.  Daher 
kommt  seine  Liebe  zur  Ordnung  und  verhilft  ihm  zu  seiner 
Behaglichkeit. 

Denn,  warum  sollte  in  der  blauen  Windstille  trager  Tage  am 
wilden  Rosenstrauch  ein  Blatt  erzittern?  Warum,  wenn  die 
Schatten  des  Unterholzes  so  langsam  vorriicken,  als  ob  sie  den 
Tag  festhalten  wollten,  warum  sollten  sie  sich  plotzlich  regen? 
Und  warum  hatte  er  sich  zu  den  Menschen  begeben  sollen,  die 
nicht  fern  von  seiner  Zufluchtstatte  die  Maiskolben  einsammelten, 
darin  die  Sonne  lhre  fahlen  Lichtkorner  enthiillte?  Seine  Lider 
ohne  schiitzende  Wimpern  vertrugen  nicht  die  verwirrenden 
Wellen  der  Mittage,  gewifi  nurdarum  verbot  sich  ihmdieNahe  der 
Wesen.dieungeblendet  in  die  weifien  Flammen  der|Sicheln  sehn. 

Nichts  lockte  ihn,  ehe  nicht  die  Zeit  gekommen  war,  wo  er 
von  selbst  ausging.  Seine  Weisheit  war  eins  mit  den  Dingen. 
Das  Leben  war  ihm  ein  Tonwerk,  und  jeder  Mifiklang  riet  ihm 
zur  Vorsicht.  Er  verwechselte  memals  das  Gelaute  der  Hunde 
mit  einem  fernen  Glockenschall ; auch  nicht  die  Bewegung  des 
Menschen  mit  der  des  wehenden  Baumes ; den  Knali  des  Ge- 
wehres  und  den  des  knatternden  Blitzes;  den  Blitz  und  das 
Rollen  der  Karren ; den  Ruf  des  Sperbers  und  die  Dampfpfeife 
im  Dorfe.  So  gab  es  eine  ganze  Sprache,  und  ihre  Worter  waren 
ihm  bekannt  als  Feinde. 


Francis  Jammcs  * Der  Hasenroman 


21 


Wer  in  der  Welt  hatte  zu  sagen  vermocht,  woher  Langohr 
diese  Klugheit  und  solches  Wissen  besaB?  Keiner  wohl,  und 
keiner  kennt  ihre  geheimen  Wege.  Denn  sein  Ursprung  verliert 
sich  in  der  Nacht  der  Zeiten,  wo  die  Geschichten  alle  eins  sind. 

Kam  er  vielleicht  aus  der  Arche  des  Noah,  vom  Berg  Ararat, 
an  dem  Tage,  da  die  Taube,  die  in  ihrem  Gurren  noch  heute 
das  Rauschen  der  groBen  Wasser  bewahrt,  den  Olzweig  brachte, 
das  Zeichen,  dafi  die  Flut  abnahm  ? Oder  war  er,  so  wie  er  ist, 
geschaffen  worden,  der  Kurzschwanz,  der  Strohpelz,  die  Spalt- 
nase,  der  Langohr,  der  Graustrumpf?  Die  Hand  des  Ewigen, 
hatte  sie  ihn  fertig  unter  die  Lorbeeren  des  Paradieses  gesetzt? 

Gelagert  unter  einem  Rosenstrauch,  hatte  er  vielleicht  Eva 
belauscht?  Wie  sie  sich  baumte  gleich  einem  Fiillen,  zwischen 
den  Schwertlilien  die  Anmut  ihrer  gebraunten  Beine  auf  und 
nieder  fiihrte  und  vor  den  verbotenen  Granatbaumen  ihre  gol- 
den en  Briiste  spannte?  Oder  war  er  damals  bloB  ein  weifi  glii- 
hender  Nebelstreif?  Lebte  er  schon  im  Herzen  der  Porphyre, 
war  er,  unverbrennlich,  ihrer  Lava  entronnen,  um  nach  und 
nach,  ehe  er  sich  mit  seiner  Nase  in  die  Welt  wagte,  den  Granit 
und  dann  die  Zelle  der  Alge  zu  bewohnen?  Verdankte  er  dem 
geschmolzenen  Jaspis  seine  Pechaugen  ? Dem  lehmigen  Morast 
sein  Fell?  Dem  Seetang  seine  nachgiebigen  Ohren!  Dem  fliis- 
sigen  Feuer  sein  Fieberblut? 

Was  bekiimmerte  ihn  seine  Herkunft ! Still  begniigt  lag  er  in 
seiner  Grube.  Es  war  im  August,  ein  gewitterschwiiler,  zermiir- 
bender  Nachmittag,  der  Himmel  dunkel,  pflaumenblau,  hie 
und  da  geschwellt,  als  sollte  er  im  nachsten  Augenblick  iiber 
der  Ebene  bersten. 

Und  schon  halite  der  Regen  auf  den  Brombeerblattern.  lmmer 
schneller  trommelten  die  schlanken  Wasserstabe.  Langohr  aber 
fiirchtete  sich  nicht,  denn  die  Regentropfen  folgten  aufeinander 
in  einer  ihm  langst  vertrauten  Ordnung.  Und  die  Nasse  fiihlte 
er  nicht,  denn  das  Wasser  fiel  auf  die  dichte  Pflanzenwolbung. 
Nur  ein  einzelner  Tropfen  kam  bis  zum  Grunde  der  Grube 
und  schlug  immer  wieder  auf  dieselbe  Stelle. 


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22  Francis  Jammes  • Der  Hasenroman 


Und  so  bangte  dem  Graustrumpf  nicht  vor  diesem  Zu- 
sammenspiel.  Wohlbekannt  war  ihm  das  Lied,  worindieTranen 
des  Regens  die  langen  Stropben  bilden,  und  er  wufite,  daB 
weder  Hund  noch  Mensch,  noch  Fuchs  oder  Falke  daran  teil 
haben.  Der  Himmel  war  wie  eine  Harfe,  die  Silberfaden  des 
stromenden  Regens  waren  von  oben  hinunter  gespannt.  Und 
hier  unten  lieB  jedes  Ding  sie  auf  seine  besondere  Art  ertonen 
und  nahm  dann  wieder  sein  eigenes  Verlauten  auf.  Von  den 
griinen  Fingern  der  Blatter  rauschten  die  glasernen  Saiten  hoch 
und  dumpf.  Hatten  die  Nebel  Seele  und  Stimme  erhalten? 

Die  von  ihnen  erweichte  Erde  schluchzte  auf  wie  exne  vom 
Sudwind  gepeinigte  Frau,  und  dort,  woderBoden  amrissigsten 
war  und  am  trockensten,  lieB  sich  das  fortwahrende  Gerausch 
des Aufsaugens  vernehmen,  die  Inbrunst  brennender,  dem  vollen 
Ungewitter  hingegebener  Lippen. 

Die  Nacht  nach  diesem  Gewitter  war  klar.  Der  Regen  war 
fast  aufgesogen.  Auf  dem  Rasen,  wo  Langohr  sonst  seiner 
Freundin  begegnete,  schwebte  das  Wasser  nur  noch  in  dichten 
Nebelballen.  Es  sah  aus  wie  unterirdische  Baumwollstauden, 
die  ihre  Hiilsen  in  der  Flut  des  Mondlichtes  gesprengt  hatten. 
Langs  den  Boschungen  standen  die  regenschweren  Biische 
reihenweise  wie  Pilger,  vorniibergebeugt  unter  der  Last  ihrer 
Sacke  und  Schlauche.  Ringsum  Friede.  In  eine  Hand  legte  sich 
die  Stirn  des  Engels.  Das  Morgengrauen  harrte  frostdurch- 
schauert  auf  die  rosenfingerige  Schwester,  und  das  niedergesun- 
kene  Gras  betete  zum  Morgen  auf. 

Da  plotzlich  sah  Langohr  auf  seiner  Wiese  einen  Mann  nahen, 
und  er  erschrak  gar  nicht.  Ein  erstes  Mai  seit  Urzeiten,  seitdem 
der  Mensch  Fallen  stellt  und  Bogen  spannt,  erlosch  der  Trieb 
zur  Flucht  in  der  Seele  des  LeichtfiiBigen. 

Der  Mann,  der  herankam,  war  angetan  wie  ein  Baumstamm 
tm  Winter,  wie  mit  wolligem  Moos  bekleidet.  Er  hatte  eine 
Kapuze  auf  dem  Kopf  und  Sandalen  an  den  FiiBen.  Er  trug 
keinen  Stock.  Seine  Hande  lagen  verschrankt  in  den  Armeln 
seines  Mantels,  ein  Strick  diente  ihm  als  Giirtel.  Sein  bleiches, 
knochiges  Gesicht  hielt  er  dem  Mond  entgegen,  und  der  Mond 


Francis  Jammes  ♦ Der  Hasenroman 


war  minder  blaB.  Deutlich  sah  man  die  Adlernase,  die  Augen, 
tief  wiedieder  Esel,  und  den  schwarzen  Bart,  worm  dieBiische 
Flocken  von  Schafchenwolle  hinterlassen  hatten. 

Zwei  Tauben  begleiteten  ihn.  Sie  glitten  von  Ast  zu  Ast, 
hinein  in  die  mildtatige  Nacht.  Das  verliebte  Haschen  lhrer 
Fliigel  war  wie  der  Kelch  einer  entblatterten  Blume : als  wollte 
er  sich  wieder  vereinigen  und  sich  von  neuem  zur  Krone  ent- 
falten. 

Drei  armliche  Hunde  mit  Stachelhalsbandern  trabten  ihm 
schweifwedelnd  voran,  und  ein  alter  Wolf  beleckte  ihm  den 
Kleidsaum.  Ein  Schaf  und  sein  Junges  drangen  zwischen  Krokus 
vor  und  stampften  blokend,  unsicher  und  entziickt,  auf  sma- 
ragdgriinen  Traubenhyazinthen,  indes  drei  Sperber  mit  den 
beiden  Tauben  zu  spielen  begannen.  Ein  schiichterner  Nacht- 
vogel  pfiff  jubelnd  inmitten  der  Eicheln,  dann  schwang  er  sich 
auf  und  holte  den  Sperber  ein  und  die  Tauben,  das  Lamm  und 
das  Schaf,  die  Hunde,  den  Wolf  und  den  Mann. 

Und  der  Mann  trat  heran  zu  dem  Hasen  und  sprach  zu  ihm : 

„Ich  bin  Franziskus.  Ich  liebe  dich,  und  ich  griifie  dich, 
Bruder.  Ich  griifie  dich  im  Namen  des  Himmels,  der  die  Wasser 
spiegelt  und  die  glitzernden  Steine,  im  Namen  des  Sauerampfers, 
der  Rinden  und  der  Korner,  womit  du  deinen  Hunger  stillst. 
Komm  und  folge  diesen  Unschuldigen,  die  mich  begleiten  und 
sich  an  meine  Schritte  hangen,  so  glaubig  wie  der  Efeu,  der 
den  Baum  umklammert  und  nicht  daran  denkt,  dafi  sich,  viel- 
leicht  bald  schon.der  Holzfaller  zeigen  wird.  0 Hase,  ich  bringe 
dir  den  Glauben,  wie  wir  ihn  der  eine  in  den  andern  setzen, 
den  Glauben,  der  das  Leben  selbst  ist,  alles  das,  was  wir  doch 
nicht  wissen,  aber  woran  wir  glauben.  0 Hase,  liebes  freund- 
liches  Tier,  sanfter  Wanderer,  willst  du  dich  unserm  Glauben 
anschlieBen  ?“ 

Und  solange  Franziskus  sprach,  verhielten  sich  die  Tiere 
still,  sie  lagen  und  saBen  in  den  Zweigen,  im  Vertraun  auf  diese 
Worte,  die  sie  nicht  begriffen. 

Nur  der  Hase,  das  Auge  weit  geoffnet,  schien  jetzt  durch 
das  Gerausch  der  Menschenlippen  beunruhigt  zu  sein.  Das  eine 


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Francis  Jarnmes  * Der  Hascnroman 


Ohr  nach  vorn,  das  andere  nach  riickwarts  gerichtet,  war  er 
unschliissig,  ob  er  fliehn  solle  oder  bleiben. 

Dies  sah  Franziskus.  Er  rupfte  von  der  Wiese  eine  Handvoll 
Gras,  reichte  es  dem  LeichtfiiBigen,  und  der  folgte  ihm  nun. 

* 

Von  dieser  Nacht  an  blieben  sie  Gefahrten. 

Niemand  vermochte  ihnen  zu  schaden,  denn  der  Glaube 
beschiitzte  sie.  Wenn  Franz  mit  seinen  Freunden  halt  machte, 
auf  einem  Dorfplatz,  wo  die  Leute  beim  Gedudel  einer  Sack- 
pfeife  tanzten,  dann,  wenn  die  Ulmen  zerflieBen  und  auf  den 
dunkeln  Wirtshaustischen  die  Madchen  ihr  Glas  lachend  in 
den  Abendwind  heben,  bildete  man  einen  Kreis  um  sie.  Und 
das  junge  Volk  mit  Bogen  oder  Armbrust  dachte  nicht  daran, 
Langohr  zu  toten,  so  verwunderte  sie  sein  ruhiges  Wandeln, 
so  grausam  erschien  ihnen,  ein  armes  Tier  zu  hintergehn,  das 
ihnen  sein  Zutrauen  zu  FiiBen  legte.  Sie  hielten  Franziskus  flir 
einen  Fremden,  dessen  Gewerb  es  war,  die  Tiere  zu  zahmen, 
sie  offneten  ihm  fur  die  Nacht  ihre  Scheunen  und  reichten  ihm 
Almosen,  wofiir  er  seinen  Tieren  ihre  Lieblingsspeisen  kaufte. 

Auch  fanden  die  Fahrenden  miihelos  ihren  Unterhalt,  denn  der 
Herbst,  durch  den  sie  zogen,  war  freigebig,  die  Speicher  bogen 
sich,  man  liefi  sie  auf  den  Maisfeldern  Nachlese  halten  und 
teilnehmen  an  der  Weinernte,  mit  den  Gesangen  bei  Sonnen- 
untergang.  Die  blonden  Magde  driickten  Trauben  an  ihre  licht- 
umspielten  Briiste.  Ihre  Ellbogen  leuchteten  emporgehoben. 
Oben  iiber  dem  blauen  Dunkel  der  Kastanienhaine,  in  Ruhe, 
glitten  fallende  Sterne.  Das  Heidekraut  in  seinem  Samt  wurde 
schwarzer.  Wie  seufzten  die  Rocke  feme  in  den  Laubgangen. 

Jene  schauten  vor  sich  das  Meer,  ein  Gemalde  an  der  Him- 
melswand,unddiegeneigten  Segel,  den  weiBen  Sand  mit  seinen 
Flecken  von  den  Schatten  der  Tamarisken,  der  Erdbeerbaume 
und  der  Pinien.  Sie  wanderten  iiber  heitere  Matten,  wo,  herab- 
gefallen  aus  der  Unbeflecktheit  des  Schnees,  die  Sturzwasser 
zu  Bachen  werden,  doch  glitzernd  die  Erinnemng  noch  bewahren 
an  den  SpieBglanz  und  die  Fime. 


Francis  Jammcs  * Der  Hasenroman 


25 


Selbst  wenn  das  Jagdhom  erklang,  blieb  Langohr  jetzt 
unerschrocken  und  bei  seinen  Gesellen.  Sie  schiitzten  ihn  und 
er  sie.  Eines  Tages  wagte  sich  eine  Meute  heran  und  entfloh 
beim  Anblick  des  Wolfes,  ein  anderesmal  wieder  schlich  eine 
Katzeden  Tauben  nach,  entwich  aber  vor  den  Hunden  mit  dem 
Stachelhalsband,  und  ein  Wiesel  auf  der  Lauer  nach  dem 
Lammchen  versteckte  sich  vor  den  Raubvogeln.  Langohr 
schreckte  Schwalben  ab,  die  auf  die  Eule  lossturmten. 

* 

Langohrs  bester  Freund  war  einer  der  drei  Hunde  mit  den 
Stacheln,  eine  Jagdhiindin,  gutmiitig,  kleinen  und  gedrungenen 
Baus,  mit  gestutztem  Schwanz,  hangenden  Ohren  und  gebogenen 
Beinen.  Sie  war  artig  und  umganglich.  Ihre  Wiege  war  ein 
Schweinekoben  gewesen,  bei  einem  Schuster,  der  des  Sonntags 
jagte.  Nun  war  der  Schuster  tot,  und  niemand  nahm  sie  auf. 
So  jagte  sie  in  den  Feldern,  wo  sie  zuletzt  an  Franz  kam. 

Langohr  hielt  sich  immer  an  ihrer  Seite,  und  wenn  sie  schlafen 
wollte,  legte  sie  ihre  Schnauze  auf  ihn,  worauf  auch  er  ein- 
schlummerte.  Denn  alle  pflegten  der  Mittagsruhe,  und  Traume 
erfiillten  ihren  Schlaf  in  dem  stumpfen  Feuer  der  Sonne. 

Franz  schaute  dann  wieder  das  Paradies,  das  er  hinter  sich 
gelassen  hatte.  Ihm  war,  als  betrate  er  durch  das  grofie  Tor  die 
himmlische  HauptstraBe  mit  ihren  Hausern  der  Auserkornen. 
Es  waren  niednge  Holzbuden,  jede  gleich  der  andern,  in  einem 
Schatten,  der,  hell  erstrahlend,  zu  Tranen  der  Freude  riihrte. 
Aus  dem  Innern  hervor  leuchteten  da  ein  Hobel,  dort  ein 
Hammer  oder  eine  Feile.  Hier  auch  war  kein  Ende  der  erheben- 
den  Miih.  Denn  wenn  Gott  die  Menschen  bei  ihrer  Ankunft 
in  den  Himmel  fragte,  womit  er  ihre  irdischen  Werke  belohnen 
solle,  wollten  sie  immer  das  behalten,  was  ihnen  zum  Paradiese 
mit  verholfen  hatte.  Und  da  war  auf  einmal  eines  jeden  schlichtes 
Wirken  irgendwie  wunderbar  geworden.  Handwerker  traten 
auf  ihre  Schwellen,  und  die  Tische  waren  hinausgetragen  fur 
die  Abendmahlzeit.  Man  horte  den  Frohsinn  der  himmlischen 
Brunnen.  Und  auf  den  offenen  Platzen  entfalteten  sich  die 


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Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


Engel  wie  Segelboote  und  neigten  slch  in  der  Seligkeit  der 
andammernden  Nacht. 

Die  Tiere  aber  sahn  in  ihren  Traumen  die  Erde  und  das 
Paradies  nicht  so,  wie  wir  beides  kennen  und  sehn.  Sie  traumten 
von  unzusammenhangenden  Ebenen,  worin  ihre  Sinne  irre 
wurden.  Nebel  fiel  in  sie.  In  Langohr  wurde  das  Hundegebell 
ganz  eins  mit  der  Sonnenhitze,  mit  jahem  Knallen,  mit  einem 
Sch  witzen  der  Laufe,  mit  dem  T aumei  der  Flucht , dem  Schrecken , 
Lehmgeruch,  hellem  Wasser,  hin-  und  herschwankenden  Moh- 
ren,  knisterndem  Mais,  Mondschein  und  freudiger  Aufregung 
beim  Anblick  des  Weibchens,  wie  es  mitten  im  Duft  der 
Wiesenkonigin  erschien. 

Sie  alle  erblickten  hinter  den  geschlossenen  Lidern  die  beweg- 
ten  Abbilder  ihrer  Lebenslaufe.  Nur  die  Tauben  schiitzten  vor 
der  Sonne  ihre  lebhaften  unruhigen  Kopfchen : sie  erschauten 
im  Schatten  ihrer  Fliigel  ihr  Paradies. 


ZWEITES  BUCH. 

ALS  der  Winter  kam,  sagte  Franziskus  zu  seinen  Freunden: 
1 1 „Segen  iiber  euch,  denn  ihr  seid  Gottes.  Doch  bin  ich 
in  Unruhe,  denn  der  Schrei  der  ziehenden  Ganse  verkiindet  eine 
Hungersnot,  und  dafi  es  nicht  in  den  Absichten  des  Himmels 
Iiegt,  euch  die  Erde  zum  Wohltater  zu  machen.  Gelobt  seien 
die  verborgenen  Ratschlusse  des  Herrn." 

Das  Land  um  sie  war  wirklich  verodet.  Aus  seinen  straffen 
Schlauchen  voll  Schnee  traufelte  der  Himmel  ein  fahles  Licht. 
Alle  Friichte  in  den  Hecken  waren  abgestorben  und  alle  in  den 
Garten.  Und  die  Komer  hatten  ihre  Schoten  verlassen,  um 
in  den  Schofi  der  Erde  einzugehn. 

. . . „Gelobt  seien  die  verborgenen  Ratschlusse  des  Herrn,“ 
sagte  Franziskus.  „Vielleicht  will  er,  ihr  sollet  mich  verlassen 
und  ein  jeglicher  seines  Weges  ziehn,  auf  der  Suche  nach  Nah- 
rung.  Trennet  euch  also  von  mir,  der  ich  nicht  alien  zugleich 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


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folgen  kann,  wenn  euch  der  Trieb  jeden  wo  andershin  flihrt. 
Denn  Jhr  seid  im  Leben  und  bediirfet  der  Speise,  ich  jedoch 
bin  auferstanden  und  bin  hier  durch  die  Gn  ade,  den  leiblichen 
Bediirfnissen  enthoben,  und  Gott  liefi  mich  erscheinen,  damit 
ihr  von  mir  geleitet  waret  bis  an  diesen  Tag.  Aber  ich  weifi 
nicht  mehr,  was  tun,  und  kann  nicht  langer  mehr  fur  euch  sor- 
gen.  Wollt  ihr  mich  also  verlassen,  so  sei  einem  jeden  von  euch 
die  Zunge  gelost,  und  er  sag  es  offen.“ 

* 

Der  erste,  der  sprach,  war  der  Wolf. 

Er  hob  seine  Schnauze  gegen  Franziskus.  In  seinem  zer- 
zausten  Schweif  fegte  der  Wind.  Er  hustete.  Lang  war  das 
Kleid  seines  Elends.  Sein  klaglicher  Pelz  gab  ihm  das  Aus- 
sehen  eines  entthronten  Konigs.  Er  zogerte  und  blickte  im 
Kreise  um  sich,  von  Freund  zu  Freund.  Endlich  kam  seine 
Stimme  aus  dem  Schlund,  der  rauhe  Laut  des  Winterschnees. 
Und  wie  er  seine  Lefzen  offnete,  sah  man  seine  ganze  friihere 
Entbehrung  an  der  Lange  seiner  Zahne.  So  wild  war  sein  Aus- 
druck,  dafi  man  nicht  wufite,  ob  er  seinen  Herrn  beifien  oder 
ihn  liebkosen  wolle. 

Er  sagte: 

„0  Honig  ohne  Stacheln!  0 Armer!  0 Sohn  Gottes!  Wie 

konnte  ich  dich  verlassen  ? Mein  Leben  war  elend,  und  du  hast 
es  mit  Freude  erfullt.  In  den  Nachten,  wie  muBte  ich  da  den 
Atem  der  Hunde,  der  Hirten  und  der  Feuerbrande  belauschen, 
um  dann  im  richtigen  Augenblick  meine  Krallen  in  die  Kehle 
der  schlafenden  Lammer  zu  versenken.  Du  lehrtest  mich,  o 
Seliger,  die  Milde  der  Obstgarten  kennen.  Ja  eben  noch,  da 
sich  mir  der  Bauch  in  der  Lust  nach  Fleischesspeise  hohlte, 
emahrte  mich  deine  Liebe  zu  mir.  Wie  so  oft  war  mir  doch 
mein  Hunger  willkommen,  wenn  ich  meinen  Kopf  auf  deinen 
Schuh  legte,  denn  diesen  Hunger,  ich  ertrage  ihn,  um  dir  zu 
folgen,  und  aus  Liebe  zu  dir  will  ich  gerne  s ter ben.  “ 

* 


3 voi.  m/a 


28 


Francis  Jammes  ♦ Der  Hasenroman 


Und  die  Tauben  gurrten. 

Sie  beendeten  ihren  frierenden  Doppelflug  in  den  Zweigen 
eines  vertrockneten  Baumes.  Sie  konnten  sich  nicht  zum  Spre- 
chen  entschlieBen.  Jeden  Augenblick,  so  schien  es,  wollten  sie 
zustimmen,  dann  wieder,  in  Schrecken,  erfiillten  sie  von  neuem 
mit  ihren  weiBen  aufschluchzenden  Zartlichkeiten  den  Wald,  der 
dieser  Anmut  lauschte.  Sie  zuckten  wie  junge  Madchen,  die  ihre 
Tranen  und  ihre  Arme  vereinen.  Sie  sprachen  beide  zu  gleicher 
Zeit,  als  hatten  sie  nur  eine  einzige,  gemeinsame  Stimme: 
„0  Franz,  milder  als  der  Schimmer  des  Leuchtkafers  im 
Moose,  lieblicher  als  der  Bach,  der  uns  sein  Lied  singt,  wenn 
wir  unser  laues  Nest  in  den  wiirzigen  Schatten  der  jungen  Pap- 
peln  hangen.  Was  kiimmert  uns,  daB  Reif  und  Not  uns  aus 
deiner  Nahe  verbannen  und  uns  vertreiben  wollen,  hinweg  zu 
fruchtbaren  Strichen?  Urn  deinetwillen  werden  wir  die  Not 
lieben  und  Frost  und  Reif.  Um  deiner  Liebe  willen  wollen  wir 
auf  unsere  Neigungen  verzichten.  Und  miissen  wir  vor  Kalte 
sterben,  so  wird  es  Herz  an  Herz  geschehn,  o Herr." 

* 


Und  einer  der  Hunde  mit  dem  Stachelhalsband  trat  hervor. 
Es  war  die  Jagdhiindin,  die  Freundin  des  Hasen.  Wie  der  Wolf, 
hatte  auch  sie  schon  hart  unter  dem  Hunger  gelitten  und  klap- 
perte  mit  den  Zahnen.  Ihre  Ohren  runzelten  sich,  auch  wenn 
sie  sie  hob ; ihr  Schwanz,  zerfahren  wie  eine  Baumwollspindel, 
hielt  sich  unbewegt  wagrecht.  Die  rotgelben  Augen  richteten 
sich  auf  Franziskus  mit  der  Glut  des  unbedingten  Glaubens. 
Und  ihre  beiden  Genossen,  die  sich  anschickten,  vertrauensvoll 
zuzuhoren,  senkten  gutmiitig  und  unwissend  den  Kopf.  Und 
sie,  die  Hirtenhunde,  die  niemals  was  anderes  gehort  hatten  als 
das  Greinen  der  Schellen,  das  Bloken  der  Herden  und  den 
GeiBelschlag  des  Blitzes  auf  den  Gipfeln,  sie  warteten  ab,  gliick- 
lich  und  stolz  dariiber,  daB  die  kleine  Jagdhiindin  bekannte. 

Da  versuchte  diese  einen  Schritt,  aber  kein  Laut  kam  aus 
ihrer  Kehle.  Sie  leckte  die  Hand  des  Heiligen,  dann  legte  sie 
sich  ihm  zu  FiiBen. 


n 


Francis  Jamtnes  ♦ Der  Hasenroman  29 


Und  das  Schaf  blokte. 

Sein  Bloken  war  so  traurig,  als  hauchte  es  seine  Seele  dem 
Tod  entgegen,  schon  bei  dem  bloBen  Gedanken  an  eine  Tren- 
nung  von  Franz.  Als  es  nun  schwieg,  horte  man  auf  einmal 
sein  von  einer  befremdlichen  Schwermut  ergriffenes  Lammchen 
weinen  wie  ein  Kind.  Und  das  Schaf  sprach : 

,,Nicht  die  Munterkeit  der  Matten,  die  der  Morgen  mit  sei- 
nem  Brodem  dampft,  nicht  in  den  Bergen  das  SiiBholz,  das  der 
Nebel  mit  seinem  Silberseim  beperlt,  noch  die  Streu  in  der 
verraucherten  Hiitte,  sie  alle  sind  nicht  zu  vergleichen  mit  den 
Almen  deines  Herzens.  Lieber  als  dich  zu  verlassen,  ist  uns 
das  blutige  und  ekle  Schlachthaus,  das  Schwanken  auf  dem 
Karren,  der  uns  dorthin  bringt,  blokend  und  die  FiiBe  ge- 
bunden  und  die  Rippen  und  die  Wange  auf  dem  Brett.  0 Franz, 
unser  Tod  ware,  dich  zu  verlieren,  denn  wir  lieben  dich.“ 

Und  wahrend  dieser  Rede  hielten  Uhu  und  Sperber,  bei- 
sammen  hockend,  unbeweglich  stand,  die  Augen  voll  Angst  und, 
um  nicht  fortzufliegen,  die  Fliigel  fest  an  den  Leib  geprefit. 

* 

Der  lezte,  der  sprach,  war  der  Hase. 

In  seinem  stroh-  und  erdfarbenen  Haarkleid  nahm  er  sich 
aus  wie  eine  Gottheit  der  Fluren.  Inmitten  dieser  winterlichen 
Wiiste  glich  er  einer  Scholle  zur  Sommerszeit.  Er  rief  graue 
Erinnerung  wach  an  einen  StraBenarbeiter  oder  an  einen  Land- 
brieftrager.  In  den  Schnecken  seiner  Loffel  trug  er  aufrecht 
mit  sich  die  Erschiitterung  aller  Gerausche.  Sein  linker  Loffel 
horchte,  zu  Boden  gesenkt,  auf  das  Knistern  des  Frostes,  in- 
dessen  der  andre,  in  die  Feme  gestreckt,  die  Axtschlage  auf- 
sammelte,  von  denen  der  tote  Wald  widerhallte. 

„Wahrlich“,  sprach  er,  „o  Franz,  ich  kann  mich  begniigen 
mit  der  moosigen  Rinde,  die  unter  den  Uebkosungen  der 
Schneeflocken  aufgeweicht  und  von  den  winterlichen  Sonnen- 
aufgangen  durchduftet  ist.  Ofters  schon  sattigte  ich  mich  daran 
jetzt  in  diesen  Ungliickstagen,  wo  die  Brombeerzweige  nur 
rosige  Kristalle  sind  und  die  wippende  Bachstelze  ihren  hef- 


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Francis  Jammcs  * Dcr  Hascnroman 


tigen  Schrei  gegen  die  Larven  unter  dem  Ufereis  ausstoBt,  die 
ihr  Schnabel  nun  nicht  mehr  erreicht.  Und  diese  Rinden,  ich 
will  sie  weiter  kauen.  Denn,  o Franz,  ich  mag  nicht  hinsterben 
mit  den  sanften  Freunden  in  ihrem  Todeskampf,  sondern  leben 
will  ich  neben  dir  und  mich  nahren  von  den  bittern  Fasem 
des  Bastes." 

* 

Demnach,  und  weil  die  Heimat  eines  jeden  eine  andre  und 
nur  fur  ihn  allein  bewohnbar  gewesen  ware,  zogen  es  also  die 
Genossen  des  Hasen  vor,  sich  nicht  zu  trennen,  vielmehr  in 
diesem  Lande  des  morderischen  Winters  miteinander  zu  sterben. 

Eines  Abends  waren  die  Tauben  verwelkt  und  fielen  wie 
Blatter  von  ihrem  Zweige,  auch  der  Wolf  schlofi  seine  Augen 
dem  Leben,  die  Schnauze  auf  den  Schuh  des  Heiligen  gelegt: 
schon  seit  zwei  Tagen  hatte  der  Hals  den  Kopf  nicht  mehr  auf- 
recht  halten  konnen,  und  das  Riickgrat  war  wie  ein  Brombeer- 
zweig  geworden,  mit  Kot  belastet,  im  Winde  zitternd:  sein 
Herr  kiifite  ihn  auf  die  Stirn. 

Danach  gaben  die  Wachterhunde,  das  Schaf,  die  Sperber, 
der  Uhu  und  das  Lamm  ihren  Geist  auf,  und  zuletzt  die  zier- 
liche  Jagdhiindin,  die  der  Hase  vergeblich  zu  erwarmen  trach- 
tete.  Sie  verschied  wedelnd,  und  Langohr  war  dariiber  so  tief 
betriibt,  dafi  er  bis  zum  nachsten  Tag  nicht  imstande  war,  an 
die  Eichenrinde  zu  riihren. 

* 

Und  Franziskus,  in  dieser  Verheerung,  betete,  die  Stirn  in 
die  Hand  geschmiegt,  so  wie  im  UbermaB  des  Leidens  ein  Dich- 
ter  sein  Herz  abermals  schwinden  fiihlt. 

Dann,  zum  Hasen  gewandt,  sprach  er:  „0  Langohr,  ich 
hore  eine  Stimme  mir  eroffnen,  daB  du  diese  hier  (und  er  wies 
auf  die  Tierleichen)  in  die  ewige  Seligkeit  bringen  muBt.  O 
Langohr,  wisse,  es  gibt  fur  die  Tiere  ein  Paradies : aber  ich 
kenne  es  nicht.  Kein  Mensch  wird  es  jemals  betreten.  O Lang- 
ohr, fiihre  du  dorthin  die  Freunde,  die  mir  Gott  gegeben  und 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


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wieder  genommen  hat.  Du  bist  verstandig  unter  alien,  und 
deinem  Verstande  vertrau  ich  die  Freunde  an.“ 

Franzens  Worte  stiegen  auf  in  den  erhellten  Himmel.  Das 
harte  Winterblau  war  allmahlich  wieder  durchsichtig  geworden. 
Und  in  dieser  Helligkeit  wollte  es  scheinen,  als  ob  die  reizende 
Jagdhiindin  nochmals  ihre  geschmeidigen  Seidenohren  auf- 
richten  werde. 

„0  meine  Freunde,  ihr  Toten,“  sagte  Franziskus,  „seid  ihr 
denn  tot,  dieweil  ich  ailein  von  eurem  Tode  weiB?  Wodurch 
konntet  ihr  dem  Schlaf  beweisen,  dafi  ihr  nicht  blofi  einge- 
schlummert  seid?  Schlaft  denn  die  Frucht  der  Waldrebe  oder 
ist  sie  tot,  wenn  der  Wind  nicht  mehr  ihre  leichten  Wimpern 
beschwingt?  Vielleicht,  o Wolf,  geht  vom  Himmel  nur  nicht 
mehr  Hauches  genug,  um  deine  Flanken  zu  heben?  Und  ihr, 
Tauben,  damit  ihr  wie  ein  Seufzen  anschwellt?  Und  ihr,  Schaf- 
lein,  damit  eure  sanfte  Klage  die  Sanftheit  noch  der  iiber- 
schwemmten  Wiesen  erhohe?  Und  du,  mein  Uhu,  damit  dein 
Ruf  wieder  erwache,  der  Liebesseufzer  der  Nacht  selbst?  Und 
ihr,  Sperber,  damit  ihr  euch  aufschwingt  vom  Boden  ? Und  ihr, 
Wachthunde,  dafi  euer  Schnappen  zusammenstrome  mit  dem 
Rausches  der  Schleusen?  Und  du,  Hiindin,  damit  deine  kost- 
liche  Einsicht  neu  auferstehe  und  du  wieder  spielen  diirftest 
mit  dem  Graustrumpf  da?“ 

* 

Auf  einmal,  von  dem  Maulwurfshiigel,  wohin  er  sich  ge- 
lagert  hatte,  tat  Langohr  einen  Sprung  ins  Blaue  und  fiel  nicht 
zuriick;  und  dann  noch  einmal,  so  leicht  als  ging  es  liber  eine 
Wiese  von  blauem  Klee,  sprang  er  in  das  Leere  hinein,  in  das 
Engelrrtch . 

Kaum  hatte  er  diesen  Sprung  vollfiihrt,  fils  er  neben  sich 
die  kleine  Jagdhiindin  gewahrte,  und  er  fragte  sie  voll  Freude: 
„Warst  du  denn  nicht  tot  ?“ 

Worauf  sie  aufhiipfend  zur  Antwort  gab: 

„Ich  begreife  nicht,  was  das  heifit.  Mein  Schlaf  heute  war 
ruhevoll  und  hell.“ 


'.V«V«VV. 


32 


Francis  Jammes  ♦ Dcr  Hasenroman 


Und  Langohr  sah,  dafi  auch  die  andem  Tieie  ihm  in  den 
Raum  nachfolgten,  wahrend  auf  einer  zweiten  HimmelsstraBe 
Franziskus  ausschritt  und  dem  Wolf  mit  der  Hand  ein  Zeichen 
gab,  er  mogedem  Graustrumpf  vertraun.  Und  Isegrim,  gelehrig 
und  beruhigten  Sinnes,  fiihlte,  wie  ihn  der  Glaube  abermals 
iiberkam,  und  er  schlofi  sich  an  seine  Freunde,  nach  einem 
langen  Blick  auf  seinen  Herrn  und  in  dem  Bewufitsein,  dafi  fur 
die  Auserwahlten  sogar  das  Abschiednehmen  gottlich  ist. 


Sie  liefien  den  Winter  binter  sich.  Sie  staunten  iiber  ihren 
Gang  durch  diese  Wiesen,  die  ehemals  unerreichbar  waren  und 
so  hoch  iiber  ihnen.  Docb  das  Ver langen  nach  dem  Paradiese 
gab  ihnen  Halt  und  Sicherheit  in  dem  Himmel. 

Auf  den  Pfaden  der  Seraphim,  die  Lichtspaliere  entlang, 
auf  den  Milchstrafien,  wo  der  Komet  eine  Garbe  ist,  leitete 
Langohr  seine  Genossen;  Franziskus  hatte  sie  ihm  anvertraut, 
ihn  zu  ihrem  Fiihrer  erwahlt,  weil  er  Langohrs  Klugheit  kannte. 
Und  hatte  denn  Langohr  seine  m Herrn  nicht  bei  verschiedenen 
Gelegenheiten  Proben  erbracht  von  jener  Furcht,  die  der  Anfang 
der  Weisheit  ist  ? Hatte  er  bei  der  Begegnung  mit  Franziskus 
und  bei  der  Aufforderung  zum  Mitgehn  nicht  gewartet,  bis 
ihm  der  Heilige  ein  Biischel  frisches  Gras  zu  fressen  reichte? 
Und  als  alle  seine  Gefahrten  sich  aus  Liebe  zueinander  dem 
Tode  weihten,  hatte  da  er,  der  Graustrumpf,  nicht  weiter  die 
bittere  Baumrinde  gekaut  ? 

Darum  konnte  es  dem  Hasen  auch  im  Himmel  an  seiner 
Klugheit  nicht  fehlen ; wich  man  ab,  so  kam  er  immer  wieder 
auf  die  rechte  Strafie,  verstand  es,  Irrwege  zu  vermeiden,  und 
wufite,  wie  man  weder  an  die  Sonne  noch  an  den  Mond  sttifit, 
auch  wie  man  den  fallenden  Sternen  ausweicht,  die  so  gefahr- 
hch  sind  wie  die  Steine  aus  den  Schleudern ; und  sich  zurecht- 
zufinden  mit  all  den  Pfahlen,  die  die  Zahl  der  zuriickgelegten 
Kilometer  anzeigen  und  die  Namen  der  himmlischen  Dorfer. 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman  33 


Die  Landschaften  nun,  die  Langohr  und  seine  Genossen  he- 
re isten,  erschienen  ihnen  hinreiBend  und  begeisternd,  und  dies 
um  somehr,  als  sie,  anders  gerichtet  a Is  die  Menschen,  niemals 
die  Schonheiten  des  Himmels  geahnt,  sondem  ihn  immer  nur 
von  der  Seite  erblickt  hatten,  doch  nicht  in  der  Hohe  liber 
sich,  was  ein  Vorrecht  des  Herrn  der  Tiere  bleibt. 

Also,  Kurzschwanz,  Wolf,  Schaf,  Lam mchen,  Vogel,  Herden- 
wachter  und  Jagerin  stellten  fest,  dafi  der  Himmel  nicht  minder 
schon  war  als  die  Erde.  Und  alle,  aufier  Langohr,  dem  die 
Mars  chrichtung  zuweilen  Sorge  machte,  genossen  einer  unge- 
mischten  Freude  auf  dieser  Pilgerung  zu  Gott,  wo  an  Stelle 
des  Himmelfeldes,  noch  kiirzlich  unerreichbar  liber  ihren 
Hauptern,  jetzt  langsam  die  Erde  unerreichbar  wurde  unter 
ihren  FiiBen.  Und  in  dem  MaBe,  wie  sie  sich  von ihr  en tfernten, 
ward  ihnen  diese  Erde  zu  ihrer  neuen  Himmelskugel.  Das  Blau 
der  Meere  ballte  dort  Wolken  Schaumes,  und  die  Lichter  in 
den  Buden  besternten  dort  die  Weite  der  Nacht. 

* 

Allmahlich  naherten  sie  sich  den  Landem,  die  ihnen  Fran- 
ziskus  verheiBen  hatte.  Bereits  zergingen  der  rosenrote  Klee 
der  Sonnenuntergange  und  die  leuchtenden  Friichte  des  Dunkels, 
ihre  Speise,  groBer  immer  und  voller,  in  ihren  Seelen  zu 
paradiesischen  Siifien. 

Die  Blatter,  die  brennenden  Safte  flofiten  in  ihr  Blut  eine 
sommerliche  Kraft,  einen  frohen  Uberschwang,  wovon  die 
Herzen  schneller  schlugen  bei  der  Annaherung  an  die  kiinftigen 
Herrlichkeiten. 

* 

Endlich  gelangten  sie  zu  dem  Aufenthalt  der  seligen  Tiere, 
zum  ersten  Paradies,  dem  der  Hunde. 

Eine  Weile  schon  vernahm  man  ein  Bellen.  Sie  kamen  an 
den  Stumpf  einer  zerfressenen  Eiche  und  sahn  darin  eine  Dogge 
sitzen  wie  in  einer  Nische.  An  ihrem  abweisenden  und  zugleich 


34  Francis  Jammts  ♦ Der  Hasenrotnan 


sanften  Blick  merkte  man,  dafi  sich  ihr  Gehirn  ein  wenig  in 
Unordnung  befand.  Els  war  die  Dogge  des  Diogenes,  der  Gott 
eine  Einsamkeit  geschenkt  hatte  in  dieser  aus  dem  ganzen  Baum 
gehohlten  Tonne.  Unbewegt  sah  sie  die  StachelKunde  vorbei- 
ziehn.  Danach,  zu  deren  groBer  Verwunderung,  trat  sie auf  einen 
Augenblick  aus  ihrer  moosbewachsenen  Behausung  und  knotete 
sich  selbst  wieder  an,  indem  sie  mit  dem  Maule  nachhalf  — 
denn  ihre  Leine  hatte  sich  gelockert  — kehrte  dann  in  ihr  Holz- 
gewolbe  zuriick  und  sagte: 

,,Hier  findet  jeder  seine  Lust,  wo  er  sie  sucht.“ 

Und  wirklich  erblickten  Langohr  und  seine  Freunde  eine  An- 
zahl  Hunde  auf  der  Suche  nach  vorgestellten,  verlornen 
Wanderern.  Sie  wagten  den  Abstieg  in  tiefe  Schliinde,  um  die 
Verungliickten  dort  zu  finden,  ihnen  ein  wenig  Briihe  zu 
bnngen,  Fleisch  und  Branntwein,  in  den  kleinen  Fassern  an 
ihrem  Hals. 

Andre  wieder  warfen  sich  in  vereiste  Seen,  in  der  immer 
getauschten  Hoffnung,  einen  Schiffbriichigen  daraus  hervorzu- 
ziehn.  Sie  schwammen  zuriick  ans  Ufer,  zittemd  und  betaubt, 
jedoch  befnedigt  von  ihrer  nutzlosen  Treue  und  bereit,  sich 
aufs  neue  hinauszustiirzen. 

Wieder  andre  bettelten  hartnackig  um  ein  paar  alte  Knochen 
vor  der  Schwelle  verlassner  Hiitten  an  der  StraBe  und  warteten 
auf  die  FuBtritte,  die  ihren  Blicken  eine  verehrungswiirdige 
Schwermut  verleihen  sollten. 

Da  war  auch  ein  Scherenschleiferhund,  der  drehte  freudig, 
mit  hangender  Zunge,  an  dem  Raderwerk  eines  Steines,  auf 
dem  sich  kein  Messer  glatt  schliff.  Aber  seine  Augen  glanzten 
von  dem  hinnehmenden  Glauben  an  seine  erfiillte  Pflicht,  und 
er  unterbrach  seine  Anstrengungen  nur,  um  Atem  zu  holen 
und  sich  wiederum  anzustrengen. 

Dann  gab  es  da  einen  Wachterhund,  der  wollte  ewig  verirrte 
Schafe  in  ihre  Hiirde  zuriickfiihren.  Er  jagte  nach  ihnen  am 
Rand  eines  Baches,  der  am  Hang  eines  wiesengriinen  Hiigels 
leuchtete. 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


35 


Von  diesem  griinen  Hiigel,  und  aus  Unterholz  hervor- 
brechend,  stieg  eine  Meute  nieder,  die  den  ganzen  Tag  Traum- 
hiindinnen  und  Traumgazellen  verfolgt  hatte.  I hr  Gelaute,  fest- 
gehalten  auf  alten  Spuren,  erldang  wie  begliickte  Glocken  an 
einem  bliihenden  Ostermorgen. 

Nicht  weit  von  dieser  Stelle  richteten  sich  die  Wachthunde 
und  die  kleine  Jagerin  hauslich  ein.  Aber  als  diese  von  Langohr 
zartlichen  Abschied  nehmen  wollte,  gewahrte  sie,  daB  er  sich 
aus  dem  Staub  gemacht  hatte,  schon  seit  dem  Anschlagen  der 

Meute. 

Und  so  muBten  ohne  ihn  die  Sperber,  die  Eule,  dieTauben, 
der  Wolf  und  die  Lammer  ihren  Flug  wieder  aufnehmen.  Sie 
begriffen  gar  wohl,  daB  er,  ein  kleinglaubiger  Hase,  nicht  wie 
sie  zu  sterben  verstanden  hatte,  und  daB  er  lieber  als  sich  durch 
Gott  gerettet  zu  sehn,  sich  selber  retten  wollte. 

* 

Das  zweite  Paradies  war  das  der  Vogel;  es  lag  in  einem 
kiihlen  Waldchen,  ihr  Sang  tropfte  auf  die  Erlen  und  krauselte 
die  Blatter.  Und  von  den  Erlen  strdmten  die  Lieder  hinab  in 
den  FluB  und  erfiillten  ihn  so  mit  Musik,  daB  er  auf  den  Schilf- 
rohren  spielte. 

In  der  Feme  zog  sich  ein  Hiigel  hin,  voll  Friihhng  und 
Schatten.  Sein  Bau  war  von  einer  unvergleichhchen  Anmut. 
Er  duftete  nach  Einsamkeit:  nach  nachtlichem  Flieder  und 
dem  Odem  aus  dem  Herzen  dunkler  Rosen,  woraus  die  heiBe 
weiBe  Sonne  trinkt. 

Nun  mit  einemmal,  in  Pausen,  als  waren  die  kristallenen  Sterne, 
ihr  Licht  brechend,  auf  Wasser  gefallen,  horte  man  den  Sang 
der  Nachtigall  aufgehn.  Nichts  horte  man  als  den  Sang  der 
Nachtigall.  Auf  dem  ganzen  weiten  stillen  Hiigel  horte  man 
bloB  den  Sang  der  Nachtigall.  Die  Nacht  war  bloB  das  Seufzen 
der  Nachtigall. 

Da,  in  dem  Waldchen,  stieg  die  Morgenstunde  auf,  errotend 
wegen  ihrer  Nacktheit  inmitten  der  gefiederten  Sanger,  die 
noch  nicht  daran  dachten,  ihr  Zwitschern  abzustimmen,  so 


36 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


schwer  waren  ihre  Fliigel  von  Gefiihl  und  Morgentau.  Noch 
schlugen  die  Wachteln  nicht  in  den  griinen  Halmen.  DieMeisen 
mit  ihren  schwarzen  Kopfchen  rauschten  in  dem  Feigendicldcht 
wie  Kiesel  in  der  Stromung.  Elin  Griinspecht,  beinahe  wie  ein 
Biischel  Gras  von  goldschimmernden  Wiesen,  eine  Kleeblute 
auf  dem  Kopf,  zerrifi  mit  seinem  Schrei  die  Himmelsblaue. 
Dann  richtete  er  seinen  Flug  auf  die  alten,  blendend  bliihenden 
Apfelbaume . 

Die  drei  Sperber  und  die  Eule  gingen  ein  in  diese  Blumen- 
weiden,  und  nicht  ein  Rotkehlchen,  nicht  ein  Distelfink,  nicht 
ein  Hanfling  erschraken  vor  ihnen.  Die  Raubvogel  hockten 
sich  meder  ins  Geast,  in  anmafiender  und  schwermiitiger 
Haltung,  und  das  Auge  zur  Sonne  gekehrt,  schlugen  sie  dann 
und  wann  mit  ihren  Stahlschwingen  gegen  den  scheckigen  Kiel 
ihrer  Brust. 

Die  Eule  aber  suchte  den  Schattenhiigel  auf,  um  zuriickge- 
zogen  in  einer  Hohlung,  und  zufrieden  mit  ihrem  Dunkel  und 
ihrer  Einsicht,  die  Nachtigall  klagen  zu  horen. 

* 


Doch  die  kostlichste  Zuflucht  hatten  sich  die  Tauben  erwahlt. 
Sie  safien  auf  wiirzigen  Olbaumen  im  Abendwehn.  In  diesem 
Garten  lebten  junge  Madchen,  die  man  wegen  ihrer  tierhaften 
Anmut  eingelassen  hatte,  alle  die  jungen  Madchen,  seufzend 
und  wie  Jelanger-Jelieber,  alle  die  jungen  Madchen,  die  mit 
den  empfindsamen  Tauben  schmachten,  von  den  Tauben 
Venetiens  an,  die  den  gelangweilten  Dogaressen  fachelten,  bis 
zu  den  Tauben  Westindiens,  mit  dem  neckischen  Feuer  ihrer 
orangen-  und  tabakfarbenen  Fischerinnenschnabel ; alle  die 
Tauben  der  Traume  und  alle  die  traumenden  Tauben:  die 
Taube,  die  Beatrice  aufzog,  und  der  Dante  ein  Korn  reichte ; 
und  jene,  die  in  der  Nacht  von  der  enttauschten  Quitteria  ver- 
nommen  ward;  und  jene,  die  aufschluchzen  muBte  auf  der 
Schulter  Virginiens,  als  sie  im  nachtlichen  Quell,  im  Schatten 
der  Kokospalme,  vergebens  ihre  Liebesglut  zu  kiihlen  versuchte ; 
und  noch  die  Taube,  der  die  Siebzehnjahrige,  bedriickt  von 


Francis  Jammcs  * Der  Hasenroman 


37 


der  Schwiile  des  Sommers,  im  Hausgarten  bei  den  reifenden 
Pfirsichen  die  zartliche  Botschaft  anvertraut,  damit  sie  sie  mit 
forttrage,  auf  ihrem  Flug  ins  Ungewisse. 

Und  dann  waren  hier  die  Tauben  der  alten,  rosenumspon- 
nenen  Pfarrkirchen : die  Tauben,  die  aus  seiner  weihrauch- 
duftenden  Hand  Jocelyn  nahrte,  wahrend  seine  Gedanken  bei 
Laurence  weilten.  Und  die  Taube,  die  man  dem  sterbenden 
kleinen  Madchen  bringt ; und  die  Taube,  die  man  in  manchen 
Gegenden  auf  die  heiBe  Stirn  der  Kranken  legt ; und  die  ge- 
blendete  Taube,  die  so  schmerzlich  aufstohnt,  dafisieden  Zug 
ihrer  wilden  Sch western  in  den  Hinterhalt  des  Jagers  lockt; 
und  die  beste  aller  Tauben,  die  in  seiner  Dachkammer  den 
alten  vergessenen  Dichter  trostet. 

* 

Das  dritte  Paradies  war  das  der  Schafchen. 

Im  Schofie  eines  Smaragdtales,  bewassert  von  Bachen,  die 
unter  ihrem  besonnten  Kristall  eine  Decke  unerhorten  Griins 
zeigten ; nahe  bei  einem  perlmuttemen,  pfauengleich  schillemden 
See,  tiefblau  und  wie  Glimmerschiefer,  wie  die  Kehle  der  Kolibri 
und  die  Fliigel  der  Schmetterlinge : hier,  wo  sie  das  ungetriibte 
Salz  von  dem  goldgekomten  Granit  geleckt  hatten,  unter  dem 
Dach  ihres  dichten  WolIvlieBes  wie  Blatt  und  Ast  unter  Schnee, 
traumten  die  Lammer  lhren  langen  Traum. 

Diese  Landschaft  war  so  rein,  so  traumhaft  klar,  daB  sie  die 
Wimpern  der  Schafchen  angesilbert  hatte  und  hinemgeglitten 
war  in  das  Gold  ihrer  Augen.  Darin  schien  alles  so  durchsichtig, 
daB  man,  tief  in  ihrem  Wasser,  so  deutlich  enthiillten  sich  die 
Umrisse,  die  gelbgestrei ften  Kalkgipfel  zu  erblicken  vermeinte. 
In  die  Teppiche  der  Buchen-  und  Tannenwalder  waren  Bliiten 
eingewirkt,  von  Reif,  von  Himmel  und  von  Blut,  und  der  sanfte 
Wind,  wenn  er  dariiber  hinweggeweht  hatte,  zog  noch  leichter, 
noch  bedufteter,  noch  eisesklarer  von  dannen. 

Gleich  einer  blauen  Meerflut  wallten  die  kostlichen  Kegel 
der  Baume  hoch,  mit  verflochtenem  Silbertang.  Abwarts,  von 
den  felsigen  Zahnen  des  Gebirges,  dampften  Wasserfalle.  Und 


38 


Francis  Jammcs  * Der  Hasenroman 


auf  einmal  blokten  die  himmlischen  Herden  Gott  entgegen ; 
und  die  verziickten  Schellen  weinten  um  den  Schatten  der 
Farnkrauter.  Und  das  dunkle  Wasser  der  Grotten  brach  sich 

im  Licht. 

Gelagert  unter  wilden  Lorbeerbiischen  erscbien  das  wieder- 
gewonnene  Lamm  der  Bibel.  Seine  Pfote  ruhte  auf  seinem 
Mund  und  blutete  noch.  Seine  Wege  waren  hart  gewesen,  bald 
aber  sollte  es  an  dem  leicht  gesauerten  Zucker  der  Myrten 
wieder  gesund  werden.  Schon  zitterte  es  bei  dem  Laut  seiner 
zerstreuten  Gefahrten. 

Einziehend  in  dieses  gelobte  Land,  ihren  bleibenden  Auf- 
enthalt,  gewahrten  die  franziskanischen  Schafchen  das  Lamm 
aus  der  Fabel  des  Lafontaine,  wie  es  unter  Vergifimeinnicht  an 
der  spiegelhellen  Welle  graste.  Nicht  mehr  stritt  es  mit  dem 
Wolf  des  Gedichtes.  Es  trank,  und  das  Wasserlein  wurde  nicht 
triibe  da  von.  Die  ungefafite  Quelle,  fur  das  Gefiihl  durch  einen 
zweihundertjahrigen  Efeu  verschattet,  verbittert,  stromte  iiber 
den  Rasen  hin  ihre  zerbrochenen  Wellchen  und,  fortgerissen 
mit  ihrem  Glitzern,  das  schneeige  Beben  des  Lammes. 

An  den  Halden  der  Gliickseligkeit  hochhangende  Schafe,  die 
Schafe  sahn  sie  jener  Helden  des  Cervantes,  die  aus  Liebesgram 
alle  wegen  ein-  und  derselben  Schonheit  ihre  Stadt  verlassen 
hatten,  um  in  der  Feme  ein  Hirtenleben  zu  vollbringen.  Die 
Stimmen  dieser  Tiere  waren  die  allersanftesten : Stimmen  von 
Herzen,  die  insgeheim  ihr  eigenes  Leiden  lieben.  Sie  schliirften 
von  den  Quendelbeeten  die  immer  neuen  brennenden  Tranen, 
die  ihre  bukolischen  Dichter  wie  Tau  hatten  fallen  lassen  aus 
dem  Kelche  der  Augen. 

Am  Rande  dieses  Paradieses  erhob  sich  ein  undeutliches 
Gerausch  gleich  dem  unendlichen  Wellenschlag.  Es  war  der 
Floten  und  der  Klarinetten  immer  wieder  stockendes  Schluch- 
zen,  ein  Rufen,  von  den  Abgriinden  zuriickgeschnellt,  Gebell 
der  unruhigen  Hunde,  der  Sturz  eines  umgriinten  Steines  ins 
Leere.  Es  war  der  Schwall  der  Wasserfalle  hoch  iiber  den 
tosenden  Wildbachen.  Wie  die  Sprache  war  es  eines  Volkes  auf 
dem  Wege  zu  seinem  gelobten  Land,  namenlosen  Weintrauben 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


39 


entgegen,  brennenden  Dornbiischen  entgegen,  Laute,  unter- 
mischt  mit  dem  Aufschrei  trachtiger  Eselinnen,  die  die  Last  der 
vollen  Milchkannen  trugen  und  die  Hirtenmantel  und  das  Salz 
und  den  schieferig  abblatternden  Kase. 

* 

Das  vierte  Paradies,  in  seiner  fast  unbeschreiblichen  Nackt- 
heit,  gehorte  den  Wolfen. 

Auf  dem  Gipfel  eines  baumlosen  Berges,  in  der  Ode  des 
Windes,  in  durchdringenden  Nebeldampfen,  genossen  sie  des 
Gliickes  der  Martyrer.  Sich  also  verlassenzufiihlen,  empfanden 
sie  als  eine  herbe  Freude  und  ebenso  dies,  daB  sie  niemals 
langer  als  einen  Augenblick  lang  — und  unter  welchen  Qualen ! 
— ihrem  Blutdurst  hatten  entsagen  konnen.  Sie  waren  die 
Enterbten  mit  dem  ewig  unverwirklichten  Traum.  Schon  seit 
langem  konnten  sie  nicht  mehr  heran  an  die  himmlischen 
Lammer,  deren  blanke  Augenwimpern  in  dem  griinen  Lichte 
auf-  und  niederschlugen . Und  dann,  da  keines  dieser  Tiere 
starb,  durften  sie  auch  nicht  langer  den  Leib  erwarten,  daB  ihn 
der  Schafer  ihnen  hinwiirfe  an  den  immer  lachenden  Bach. 

Und  die  Wolfe  hatten  sich  bescheiden  gelemt.  Ihr  Pelz, 
rauh  wie  ihr  Fels,  war  zum  Erbarmen.  Eine  Art  von  klaghcher 
GroBe  herrschte  an  dem  seltsamen  Ort.  So  tragisch,  so  unselig 
wirkte  ihr  Erlostsein  — man  hatte  sie,  o Mitgefiihl ! , selbst 
wenn  man  sie  beim  Lammermord  ertappte,  auf  die  Stirne  kiissen 
mogen,  voll  Zartlichkeit,  diese  armen  Fleischfresser.  DieSchon- 
heit  ihres  Paradieses,  wo  nun  auch  der  Herzenswolf  des  Fran- 
ziskus  Wohnung  nahm,  war  in  der  Trostlosigkeit  beschlossen 
und  in  der  hoffnungslosen  Verzweiflung. 

Uber  dieses  Gebiet  hinaus  aber  erstreckte  sich  der  Tier- 
himmel  ins  Unendliche. 


.V*'’ 


Francis  Jammcs  ♦ Der  Hascnroman 


DRITTES  BUCH. 

I jER  Hase  nun,  der  hatte  beim  Anblick  der  himmlischen 
^ Hundeschar  kliiglich  das  Panier  ergriffen.  Solange  Franzis- 
kus  bei  ihm  war,  glaubte  er  an  Franziskus.  Bald  aber,  und  wenn 
auch  in  den  Gefilden  der  Seligen,  hatte  seine  mifitrauische 
Bauernnatur  witder  Gewalt  iiber  ihn  gewonnen.  Und  da  er  sich 
hier  nicht  so  recht  in  seinem  Paradies  fiihlte,  weder  eine  voll- 
kommene  Seligkeit  auskostete,  noch  den  Reiz  der  bekannten 
Gefahr,  gegen  die  man  ankampfen  konnte,  war  er  irre  geworden. 

Er  lief  also  hin  und  her,  mit  Unbehagen,  er  kannte  sich  nicht 
aus,  fand  sich  nicht  zurecht  und  suchte  vergebens,  was  er  doch 
immer  wieder  floh  und  was  ihn  geflohn  hatte.  Was  war  das 
nur?  War  denn  der  Himmel  nicht  das  Gliick?  Wo  mochte  die 
Stille  noch  stiller  sein?  In  welchem  andern  Neste  hatte  der 
Spaltnasige  einen  unbedrohten  Schlaf  besser  traumen  konnen 
als  in  diesen  wollenen  Wiegen,  die  der  Windhauch  hinbreitete 
unter  das  bebliitete  Strauchwerk  der  Sterne? 

Doch  schlief  er  hier  nicht,  ihm  fehlte  die  Unruhe  und  noch 
manches  andere.  In  den  Graben  des  Himmels  hockend,  spiirte 
er  unter  dem  weissen  Fleck  seines  Stummelschwanzes  nicht 
mehr,  wie  ihn  die  Feuchtigkeit  mit  Schauern  durchdrang.  Die 
Miicken,  weit  weg  in  ihrem  Teichparadies,  gewahrten  seinen 
immer  offenen  Augenlidern  nicht  langer  das  beizende  Brennen 
des  Sommers.  Wohin  war  dieses  Fiebern  geschwunden?  Sein 
Herz  schlug  nicht  mehr  mit  jener  Kraft  von  ehemals,  wenn 
auf  den  Kuppen  der  flammendroten  Heiden  das  Feuerrohr  einen 
Erdregen  um  ihn  herum  versprtihte.  Unter  der  weichen  Lieb- 
kosung  des  Rasens  sprofite  ihm  sein  sonst  sparliches  Haar  aus 
den  Schwielen  der  Pfoten.  Und  er  begann  den  UberfluB  des 
Himmels  zu  bedauern,  Ihm  war  wie  dem  Gartner,  der,  Konig 
geworden,  purpurne  Sandalen  tragen  muB  und  sich  seine  Holz- 
schuhe  zuriickwiinscht,  mit  ihrem  Schwergewicht  von  Lehm 
und  Armut. 

* 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


41 


Und  Franziskus  in  seinem  Paradies  erfuhr  von  den  Bedrang- 
nissen  des  Hasen  und  von  seiner  Verwirrung.  Undsein  Herzlitt 
darunter,  daB  einer  seiner  alten  Genossen  nicht  gliicldich  war. 
Seitdem  schienen  ihm  die  Gassen  des  himmlischen  Dorfes, 
seines  Wohnortes,  nicht  mehr  so  friedlich,  die  abendlichen 
Schatten  nicht  mehr  so  milde,  nicht  mehr  so  weifi  der  Atem 
der  Lilien,  nicht  mehr  so  heilig  der  Schein  des  Werkzeugs  in 
den  Schuppen,  nicht  mehr  so  hell  die  singenden  Kriige,  deren 
Wasser  in  frischen  Garben  auseinanderstrahlte,  kiihlespendend 
iiber  die  Leiber  der  Engel,  die  an  den  Brunnenrandern  saBen. 

* 

Also  begab  sich  Franziskus  zum  lieben  Gott,  und  er  empfing 
ihn  in  seinem  Garten  bei  sinkendem  Tag.  Els  war  dieser  Garten 
Gottes  der  einfachste  und  schonste.  Woher  das  Wunder  seiner 
Schonheit  kam,  war  unerklarlich.  Vielleicht  wuchs  darin  nichts 
anderes  als  die  Liebe.  Uber  die  Mauern,  ausgekerbt  von  den 
Weltaltern,  wucherte  dunkler  Flieder.  Entziickt  trugen  die 
Steine  ihre  lachelnden  Moose,  deren  goldne  Kopfchen  an  der 
schattigen  Brust  der  Veilchen  sogen. 

In  einem  zerstreuten  Schimmer,  der  nichts  von  Morgenlicht 
noch  von  Abenddammerung  an  sich  hatte,  denn  er  war  noch 
zarter  als  diese,  inmitten  eines  Beetes  bliihte  ein  blauer  Lauch. 
Em  Geheimnis  umgab  die  blaue  Kugel  seines  Bliitenstandes, 
der  sich  unbewegt  in  sich  verschlossen  hielt  auf  seinem  hohen 
Stengel.  Man  begriff,  dafi  diese  Pflanze  traumte.  Wovon  wohl? 
Vielleicht  von  dem  Werk  ihrer  Seele,  die  am  Winterabend  in 
dem  Topfe  summt,  worin  die  Suppe  der  Armen  kocht.  O gott- 
hches  Los!  Nicht  weit  von  den  Buchsbaumzaunen  strahlten 
die  Zungen  des  Lattichs  lautlose  Worte,  wahrend  ein  gedampftes 
Licht  um  den  Schatten  entschlafener  GieBkannen  lag.  Ihre 
Arbeit  war  getan.  Und  zu  Gott,  voll  heitern  Vertrauens,  nicht 
hochmiitig,  noch  kriechend,  erhob  ein  Salbei  sein  geringes 
Riichlein. 

* 


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Francis  Jatnmes  * Der  Hasenroman 


Franziskus  setzte  sich  neben  Gott  auf  eine  Bank  unter  eine 
mit  Efeu  umwachsene  Esche.  Und  Gott  sprach  zu  Franziskus : 
,,Ich  weifi,  was  dich  herfiihrt.  Man  soli  nicht  sagen,  daB  hier 
einer,  Hase  oder  Milbe,  sein  Paradies  nicht  finde.  Geh  also  zu 
dem  SchnellfiiBigen  und  frage  ihn,  was  er  begehrt.  Und  sobald 
er  es  dir  gesagt  hat,  will  ich  es  ihm  gewahren.  Wenn  er  nicht 
wie  die  andern  zu  sterben  und  zu  entsagen  verstanden  hat, 
gewiB,  so  war  es,  weil  sein  Herz  allzusehr  an  memer  gehebten 
Erde  hangt.  Denn,  o Franz,  gleich  diesem  Langohr  liebe  ich 
die  Erde  mit  einer  tiefen  Liebe.  Ich  liebe  die  Erde  der  Men- 
schen,  der  Tiere,  der  Pflanzen  und  der  Steine.  Franz,  suche 
den  Hasen  auf  und  sage  ihm,  daB  ich  sein  Freund  bm.“ 

Und  Franziskus  schritt  auf  das  Paradies  der  Tiere  los,  das, 
von  den  jungen  Madchen  abgesehn,  niemals  vorher  ein  Men- 
schenkind  betreten  hatte.  Dort  fand  er  den  Hasen  untrostlich 
umherirren ; sowie  aber  das  Tier  seinen  alten  Herm  auf  sich 
zukommen  sah,  verspiirte  es  eine  so  groBe  Freude,  daB  es  sich 
niederhockte,  die  Augen  erschrockener  als  je,  die  Nase  kaum 
merklich  zitternd. 

„Sei  gegriifit,  mein  Bruder, “ sagte  Franziskus.  ,,Ich  habe 
dein  Herz  klagen  gehort,  und  ich  bin  gekommen,  den  Grund 
deiner  Betriibms  zu  erfahren.  Hast  du  zuviel  bittere  Korner 
gegessen  ? Warum  genieBest  du  nicht  den  Frieden  der  Tauben 
und  der  ebenso  weiBen  Lammer  . . . ? O Maher  hinter  der 
Ernte,  was  suchest  du  also  unruhig  hier,  wo  doch  kerne  Unruhe 
mehr  ist  und  wo  du  niemals  wieder  das  Keuchen  der  Riiden 
fiihlen  wirst,wie  sie  herjagen  hinter  deinem  Landstreicherfell  ?“ 
„Mein  Freund, “ gab  der  Spaltnasige  zur  Antwort,  „was  ich 
suche?  ich  suche  meinen  Gott.  So  lange  du  mein  Gott  warst 
auf  der  Erde,  fiihlte  ich  mich  befriedigt.  Aber  in  diesem  Para- 
dies, wo  ich  verloren  bin,  weil  ich  deine  Gegenwart  entbehre, 
du  gottlicher  Bruder  der  Tiere,  erstickt  meine  Seele,  denn  hier 
finde  ich  ihn  nicht. “ 

,,Meintest  du  denn,“  versetzte  darauf  Franziskus,  „dafi  Gott 
die  Hasen  verlaBt  und  daB  sie  allein  in  der  Welt  kein  Recht 
auf  das  Paradies  haben  ?“ 


Francis  Jatnmes  ♦ Der  Hasenroman 


43 


..Dieses  nicht,"  erwiderte  ihm  der  Graustrumpf.  „Dariiber 
habe  ich  mir  keine  Gedanken  gemacht.  Dir  ware  ich  nachge- 
gangen,  denn  ich  habe  gelernt,  mich  in  dir  so  gut  auszukennen 
wie  in  der  irdischen  Hecke  mit  ihren  Flocken  warmen  Lammer- 
schnees,  der  mein  Nest  wohnlich  macht.  Vergeblich  habe  ich 
iiber  diese  Himmelswiesen  hin  den  Gott  gesucht,  von  dem  du 
daredest.  Dochwahrendihn  meine  Freunde  sogleich  entdeckten 
und  ihr  Paradies  fanden,  irre  ich  umher.  Von  dem  Tage  an,  da 
wir  von  dir  schieden,  und  in  der  Stunde  schon  meines  Eingangs 
in  den  Himmel  schlug  mein  kindisch  wildes  Herz  in  Heimweh 
nach  der  Erde. 

0 Franz,  mein  Freund,  du  einziger,  an  den  ich  glaube,  gib 
mir  meine  Erde  wieder.  Ich  fiihle,  daB  ich  hier  nicht  zu  Hause 
bin.  Gib  mir  meine  Furchen  wieder  voll  Kot,  meine  lehmigen 
Pfade.  Das  heimische  Tal  gib  mir  zuriick,  wo  die  Jagdhorner 
den  Nebel  aufriihren;  die  Wagenspur,  von  wo  aus  ich  mein 
Abendlauten  horte,  die  Meute  mit  den  hangenden  Ohren.  Gib 
mir  meine  Angst  wieder.  Gib  mir  meinen  Schrecken  wieder. 
Gib  mir  wieder  die  Erregung,  die  mich  ergriff,  wenn  plotzlich 
ein  SchuB  unter  meinem  Sprunge  die  duftenden  Minzen  hin- 
wegfegteoder  wenn  im  Strauch  unter  den  Quittenbaumen  mein 
Mund  an  das  Kupfer  der  kalten  Schlinge  stieB.  Gib  mir  die 
Wiese  wieder,  wo  du  mich  entdeckt  hast.  Gib  mir  wieder  die 
morgenroten  Wasser,  aus  denen  der  gewandte  Fischer  seine 
Netze  schwer  von  Aalen  herauszieht.  Gib  mir  die  blaue  Nach- 
lese  im  Monde  zuriick  und  mein  furchtsames  heimhches  Liebes- 
spiel  in  den  wilden  Ampfern,  wenn  ich  nicht  mehr  unterschei- 
den  konnte  zwischen  einem  Blumenblatt,  das  mit  Tau  iiberlastet 
ms  Gras  glitt,  und  der  rosigen  Zunge  meiner  Freundin.  Gib 
mir,  o du  mein  Herz,  gib  mir  meine  Schwache  zuriick.  Und 
sage  dem  lieben  Gott,  daB  ich  nicht  langer  bei  ihm  leben  kann.“ 

,,0  Graustrumpf,"  erwiderte  ihm  darauf  Franziskus,  „mein 
Freund,  sanfter  miBtrauischer  Bauer,  kleinglaubiger  Hase,  der 
du  lasterst;  du  konntest  deinen  Gott  nicht  finden?  so  wisse, 


um  diesem  Gott  zu  begegnen,  hattest  du  sterben  miissen  wie 
deine  Genossen." 


4 Vol.  m/2 


44 


Francis  Jammes  * Der  Hasenroman 


, ,Aber  wenn  ich  sterbe,  was  soli  aus  mir  werden  ?“  schrie 
der  Strohpelz. 

Und  Franzlskus  sagte  : 

,,Wenn  du  stirbst,  wird  aus  dir  dein  Paradies." 

* 

Wahrend  sie  sich  so  besprachen,  gelangten  sie  ans  Ende  des 
Tierparadieses.  Hier  begann  das  Paradies  der  Menschen.  Lang- 
ohr  neigte  den  Kopf  und  las  tiber  einem  Pfahl  auf  einer  blauen, 
guBeisernenTafel  mit  einem  Pfeil,  der  die  Wegrichtunganzeigte : 

Von  Kastetis  nach  Balansun  5 Kilometer 

Der  Tag  war  so  heiB,  daB  die  Schrift  in  dem  stumpfen 
Sommerlicht  zu  zittern  scbien.  In  der  Feme,  auf  dem  Weg, 
wirbelte  der  Staub  wie  im  Marchen  vom  Blaubart,  wenn  die 
Schwester  fragt : Schwester  Anna,  siehst  du  noch  nichts  ? Die 
silberne  Trockenheit,  wie  war  sie  prachtig  und  duftete  bitter 
nach  Minze. 

Und  Langohr  sah  ein  Pferdmit  einem  Karren  herankommen. 

Es  war  ein  armseliger  Gaul  vor  einem  zweiradrigen  Gefahrt, 
und  er  konnte  nur  noch  im  Galopp  und  ruckweise  ziehn.  Jeder 
Schritt  erschiitterte  sein  gelockertes  Gerippe,  daB  das  Geschirr 
klirrte,  und  die  helle  Mahne  flatterte  in  der  Luft,  griinlich  wie 
der  Bart  ernes  alten  Seemanns.  MUhsam,  als  waren  es  Pflaster- 
steine,  hob  das  Tier  seine  geschwulstig  aufgetnebenen  Hufe  . . . 

Da  uberfiel  ein  Zweifel,  starker  als  alle  bisherigen  Zweifel, 
die  Seele  des  Hasen  und  durchbohrte  sie. 

* 

Dieser  Zweifel  war  ein  Schrotkorn,  das  soeben  durch  den 
Nacken  in  das  Him  des  Loffelmanns  drang.  Ein  Blutschleier, 
schoner  als  der  gliihende  Herbst,  schwebte  vor  seinen  Augen, 
dann  die  Schatten  der  Ewigkeit  aufstiegen.  Er  schrie.  Die 
Finger  ernes  Jagers  schniirten  ihm  die  Kehle  zu,  wiirgten  ihn, 
erstickten  ihn.  Es  verlangsamte  sich  sein  Herz,  das  ehemals 
flatterte  wie  im  Wind  die  bleiche  wilde  Rose,  wenn  sie  zergeht 


Francis  Jammcs  * Der  Hasenroman 


45 


urn  die  Stunde,  da  es  Morgen  wird  und  die  Hecke  die  stiBen 
Lammer  liebkost.  Einen  Augenblick  blieb  er  unbeweglich  in 
der  Faust  seines  Morders,  matt  ausgestreckt,  lang  wie  der  Tod. 
Dann  schnellte  er  auf.  Seine  Klauen  krallten  vergebens  nach 
dem  Boden,  sie  erreichten  ihn  nicht  mehr,  denn  der  Mann  liefi 
nicht  Ios.  Langohr  verrann,  Tropfen  um  Tropfen. 

Auf  einmal  straubte  sich  sein  Haar,  und  er  wurde  den  som- 
merlichen  Stoppeln  gleich,  worin  er  einst  gelegen  batte  neben 
seiner  Schwester,  der  Wachtel,  und  neben  seinem  Bruder,  dem 
Mohn ; gleich  auch  der  lehmigen  Erde,  die  seine  BettlerfiiBe 
benetzt  hatten;  gleich  dem  Braun,  womit  die  Septembertage 
den  Hiigel  bekleiden,  dessen  Gestalt  er  angenommen  hat ; gleich 
der  Kutte  des  Franziskus;  gleich  der  Wagenspur,  von  wo  aus 
er  sein  Abendlauten  horte,  die  Meute  mit  den  hangenden  Ohren ; 
gleich  dem  starren  Felsen,  wie  ihn  der  Quendel  liebt ; er  glich  in 
seinem  Blick,  worin  jetzt  ein  Hauch  nachtlichen  Blaus  schwamm, 
dem  gesegneten  Rasenplatz,  auf  dem  ihn  einst  das  Herz  seiner 
Freundin  im  Herzen  der  wilden  Ampfer  erwartet  hatte;  in  den 
Tranen,  die  er  vergofi,  glich  er  dem  Engelquell,  an  dem  der 
alte  Aalfischer  sitzt  und  seine  Netze  ausbessert;  er  glich  dem 
Leben  ; er  glich  dem  Tode ; er  glich  sich  selbst ; er  glich  seinem 
Paradies. 


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Eduard  Bernstein  ♦ Vdlker  zu  Hause 


Gduard  Bernstein: 

VOLKER  ZU  HAUSE 

ERINNERUNGEN 

v* 

VOM  LEBEN  UND  TREIBEN  IN  ZORICH 

A LS  im  Jahre  1 877  in  Berlin  das  Denkmal  des  Freiherrn  vom 
Stein  enthiillt  wurde,  horte  ich  tags  nach  der  Enthiillung 
beim  Beschauen  des  Denkmals  einen  Lehrburschen  einen  andern 
fragen : „Du,  wem  soil  denn  der  da  vorstellen  ?“  Worauf  die  Ant- 
wort  erfolgte:  „Det  weeste  nich  ? Det  ist  der  Jeneral  Stein“. 

An  diese  Unterhaltung  ward  ich  erinnert,  als  ich  auf  der 
Platzpromenade  in  Zurich  vor  der  Denksaule  stand,  die  ein 
Reliefbild  des  ob  seiner  Idyllen  beriihmten  Dichters  Gessner 
zeigt.  Zwei  Knaben  im  Alter  von  etwa  14  Jahren  traten  heran. 
„Du“,  forschte  dereine,  „wer  isch  jetzt  auch  der  da  ?“  „0“,  kam 
es  zuriick,  „das  isch  so  e Sangervater  gsi“. 

Pragt  sich  nicht  in  diesen  beiden  Gesprachen  ein  Stiick  ver- 
gleichender  Volkerpsychologie  aus?  In  Berlin  muBte  es  ein 
General  sein,  in  Zurich  war  es  ,,so  e Sangervater". 

In  der  Tat  fallt  dem  Norddeutschen,  der  nach  Zurich  kommt, 
auf,  dafi  Komponisten  und  Musikdirigenten  bei  den  Bildsaulen 
der  Stadt  am  reichlichsten  bedacht  worden  sind.  Die  Musik 
spielte  eine  groBe  Rolle  in  Ziirichs  sozialem  Leben.  Die  beiden 
grofien  Sangerchore  Ziirichs  — der  gemischte  Chor  und  die 
Harmonie  — erfreuen  sich  eines  weit  iiber  die  Grenzen  der 
Schweiz  hinaus  reichenden  Rufes,  und  Ziirichs  groBe  Musikfeste, 

* Siehe  das  Dczcmbcrheft  der  Wcificn  Blatter,  2.  Jahrgang,  und  die  Februar-,  Mirz- 
und  Maibefte,  3.  Jahrgang. 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  House 


die  fur  die  Stadt  jedesmal  ein  Ereignis  sind,  an  dem  alle  Welt  An- 
ted nimmt,  und  das  durch  Aushangen  von  Fahnen,  Veranstaltung 
von  Umziigen  usw.  gefeiert  wird,  ziehen  viele  auswartige  Gaste 
von  Bedeutung  an.  Ein  zur  Zeit  meines  Ziiricher  Aufenthalts 
zu  Anfang  der  achtziger  Jahre  abgehaltenes  Sangerfest  hatte 
unter  anderen  den  greisen  Franz  Liszt  an  die  Gestade  desZiirich- 
sees  gelockt.  Und  bekannt  ist,  welche  Rolle  Zurich  im  Leben 
Richard  Wagners  gespielt  hat. 

Vom  Militar  dagegen  merkte  man  damals  wenig  in  Zurich, 
und  was  man  davon  sah,  offenbarte  auf  Schritt  und  Tritt,  dafi 
man  im  Lande  des  Milizsystems  sich  befand.  Aufierhalb  des 
aktiven  Dienstes  trug  kein  Mensch  Uniform.  Im  Restaurant 
Kronenhalle  fand  sich  zu  einer  Zeit  regel  mafiig  gegen  Abend 
ein  kleiner  Kreis  geistig  hochstehender  Personlichkeiten  zu- 
sammen,  an  deren  Tisch  ich  zuweilen  eingeladen  wurde.  Zu 
ihnen  gehorte  unter  anderen  ein  Dozent  der  Kriegswissenschaften, 
der  zugleich  Oberst  der  Armee  war.  In  seinem  Auftreten  liefi 
der  Mann  nicht  im  geringsten  den  Militar  durchblicken,  so  sehr 
ihn,  was  das  AuBere  betrifft,  sein  hoher  Wuchs,  und  geistig  sein 
groBes  Wissen  auf  militarischem  Gebiet  (er  bekleidete  spater 
Generalsrang)  dazu  befahigt  hatten.  Heutescheintder  Militaris- 
mus  in  der  Schweiz  starkere  Wurzeln  geschlagen  zu  haben.  Das 
kleine  Land  mit  seiner  friedliebenden  Bevolkerung,  die  keinen 
sehnlicheren  Wunsch  hat,  als  aus  den  Welthandeln  der  groBen 
Nachbarstaaten  herausbleiben  zu  diirfen,  ist  gegen  die  Ansteckung 
durch  seine  Umgebung  nicht  vollig  gefeit.  Um  sich  dagegen 
wehren  zu  konnen,  dafi  es  in  den  Tanz  hineingezogen  wird, 
den  der  Mihtarismus  der  GroBmachte  zu  entfesseln  beliebt,  zollt 
es  ihm  allerhand  Tribute.  Auch  eine  Illustration  zum  Dichter- 
wort,  daB  der  Frommste  nicht  im  Frieden  leben  konne,  wenn  usw. 

In  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  zeigte  sich 
davon  noch  wenig,  und  so  gab  es  denn  auch  in  der  Arbeiter- 
bewegung  der  Schweiz  noch  keinen  Antimilitarismus.  Nur 
wenige  Weiterblickende  sahen  die  verraterischen  Wolken  am 
Horizont.  Einer  von  ihnen  war  der  schweizerische  Sozialist  Karl 
Biirkli,  der  iiberhaupt  ziemlich  viel  von  militarischen  Dingen 


48 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


verstand  — seine  in  das  Gebiet  der  Militarwissenschaft  ge- 
horende  Schrift  „Der  wahre  Winkelried“  ist  seinerzeit  von 
Hans  Delbriick  in  den  PreuBischen  Jahrbiichem  sehr  emsthaft 
gewiirdigt  worden  — und  dessen  Name  selten  ohne  Beiftigung 
seines  militarischen  Titels  „Alt-Landwehrhauptmann“  genannt 
wurde.  In  unseren  Tagen,  wo  die  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  so  nahe  daran  sind,  in  die  Handel  Europas  emsthaft 
hineingezogen  zu  werden,  mag  es  interessieren,  daB  Biirkli  da- 
mals  wiederholt  erklarte,  es  gabe  kein  anderes  Mittel,  die  Schweiz 
vor  dem  Hineinziehen  in  diese  Handel  zu  schiitzen,  als  daB  sie 
sich  unter  die  Fittiche  der  grofien  transatlantischen  Republik 
begabe  und  sich  fiir  einen  ihr  zugehorenden  Bundesstaat  erklare. 

Karl  Biirkli  war  in  vieler  Hinsicht  ein  Original.  Von  Hause 
aus  gelernter  Handwerker,  war  er,  wie  so  viele  Schweizer,  in 
jungen  Jahren  weit  in  der  Welt  herumgekommen.  Er  hatte, 
dem  Sozialismus  mit  Leib  und  Seele  ergeben,  in  Paris  noch  die 
Vertreter  des  alteren  franzosischen  Sozialismus : Etienne  Cabet, 
Victor  Considerant  und  andere  kennen  gelernt  und  sich  an  einer 
sozialistischen  Kolonialexpedition  im  Texas  beteiligt.  Letzteres 
trug  lhm,  als  er  wieder  nach  Zurich  zuriickgekehrt  war  und  sich 
in  den  politischen  Parteikampf  stiirzte,  von  einem  ihm  feind- 
selig  gesinnten  Pamphletisten  eines  Tages  den  Beinamen  Alt- 
Rauberhauptmann  ein,  den  aber  seine  Freunde  willig  als  pas- 
senden  Spitznamen  fiir  ihn  iibernahmen,  weil  dem  so  Benannten 
bei  allem  realistischen  Denken  doch  noch  ein  Stiick  Romantik 
anhaftete.  Er  war  als  Sozialist  im  wesentlichen  Schuler  Charles 
Fouriers,  teilte  mit  dem  Meister  die  Eigenschaft,  einen  scharfen 
Blick  fiir  das  Tatsachliche  mit  einer  oft  sehr  kiihnen  Phantasie 
zu  verbinden,  und  glich  ihm  auch  darin,  dafi  ihm  die  Fahigkeit 
einer  geordneten  Darstellung  seiner  Ideen  abging.  Er  hatte  eine 
sehr  schone  Bibliothek,  las  viel  und  verarbeitete  das  Gelesene 
oft  sorgfaltig.  Aber  wenn  er  entwickeln  wollte,  dann  vollzog  sich 
im  Kopfe  des  Bekenners  der  Lehre  von  der  Souveranitat  der 
Triebe  so  etwas  wie  Souveranitat  der  Ideen,  und  er  stolperte 
leicht  iiber  einander  ins  Gehege  kommende  Gedanken.  Wie  fast 
alle  Sozialisten  alterer  Schule,  gab  er  sich  viel  mit  Theorien 


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Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


iiber  Geld  und  Kredit  ab,  und  eine  Schrift  zugunsten  von  zins- 
tragendem,  auf  Grund  und  Boden  fundiertem  Papiergeld  brachte 
ihn  einst  mit  uns  Sozialisten  der  Marxschen  Schule  in  heftigen 
Konflikt.  Aber  man  konnte  dem  ebrlichen  Kauz  nicht  lange 
bose  sein.  Er  hatte  mindestens  das  eine  fur  sich,  daB  er  selbst 
die  abstrusesten  Gedanken  durch  drastische  Bilder  zu  beleben 
wufite.  Meldete  unser  Alt-Rauberhauptmann  in  der  Ziircher 
Sektion  der  Internationale  sich  zum  Wort,  so  konnte  man  sicher 
sein,  daB  er  Leben  in  die  Debatte  brachte. 


Ziirich  hatte  namlich  im  Jahre  1 879  noch  eine  Sektion  der 
1872  auf  dem  Haager  Kongrefi  gesprengten  und  zwei  Jahre 
darauf  entschlafenen  alten  Internationalen  Arbeitcrassoziation. 
Sie  pflanzte  ihr  Dasein  als  letzte  Rose  fort,  wed  ein  gewisses 
Bediirfnis  fur  sie  fortbestand.  Wo  anders  sollten  sich  sonst  die 
Sozialisten  verschiedener  Nationalitaten,  die  Zurich  beherbergte, 
zu  gemeinsamen  Diskussionen  zusammenfinden,  als  in  einem 
internationalen  Verein?  So  iiberlebte  die  Ziircher  Sektion  die 
Mutterorganisation  noch  Jahre  nach  deren  Tode  und  hielt  im 
jetzt  verschwundenen  ,,griinen  Husli“  beim  untern  Miihlensteg 
ihre  Sitzungen ; sie  tagte,  als  ich  nach  Zurich  kam,  in  einer 
Wirtschaft  der  Stiissi  Hofstatt.  Dort  lernte  ich  die  ersten  deutsch- 
schweizerischen  Sozialisten  in  lhrer  Heimat  kennen  und  horte 
sie  sich  in  einer  Sprache  ausdriicken,  die  eine  mich  fremdartig 
anmutende  Mischung  von  Schriftdeutsch  und  schweizerischer 
Volksmundart  war. 

Im  allgemeinen  horte  ich  ihnen  nicht  ungerne  zu.  Die  Sprache 
hatte  etwas  Kernhaftes,  und  die  Schweizer  unterschieden  sich 
zumeist  von  den  deutschen  Sprechern  durch  groBere  Kiirze  und 
Pragnanz  ihrer  Ausfuhrungen.  Sie  ergingen  sich  in  kerne  groBe 
Rhetonk;  einer  von  ihnen,  ein  recht  intelligenter  Metallarbeiter, 
fiel  mir  dadurch  auf,  daB  er  seine  Ausfuhrungen,  sobald  er  nach 
seiner  Ansicht  das  Notige  gesagt  hatte,  unabanderlich  fast  rabiat 
mit  den  Worten  abbrach:  „Hab’  g’schlosse’.“ 

Starker  als  das  schweizerische  war  das  slavische  Element  in 


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Eduard  Bernstein  * V other  zu  Hause 


50 


der  Ziiricher  Internationale  vertreten,  voran  selbstverstandlich 
die  Russen.  Doch  zahlte  Ziirichs  Russenkolonie  zu  Anfang  der 
achtziger  Jahre  nurwenigePersonlichkeiten  von  internationalem 
Interesse.  Die  Tage,  wo  Peter  Lawroff  die  in  Zurich  studierende 
sozialistische  Jugend  Rufilands  um  sich  scharte,  waren  voriiber. 
Der  gelehrte  Verfasser  der  Historischen  Briefe  lebte  jetzt  in 
Paris  und  gab  dort  in  seiner  bescheidenen  Wohnung  in  der  Rue 
St.  Jacques  Voriesungen,  zu  denen  viele  studierte  Russen  in  den 
Ferien  pilgerten. 

Da  die  Internationale  Sektion  irgendwelche  praktische  Aktion 
nicht  ausiiben  konnte,  war  sie  als  Verein  der  reine  Debattier- 
klub.  Man  erorterte  alle  moglichen  Fragen  der  Theorie  und 
spekulierte  liber  die  sozialistische  Praxis  in  abstracto.  So  be- 
schaftigten  wir  uns  an  mehreren  Abenden  mit  der  von  Karl 
Hochberg  im  Jahrbuch  fur  Sozialwissenschaft  aufgeworfenen 
Frage,  was  die  Sozialdemokratie  zu  tun  hatte,  wenn  sie  beim 
gegebenen  Stande  der  Entwicklung  plotzlich  an  die  Regierung 
kame.  An  einem  dieser  Abende  war  auch  August  Bebel  an- 
wesend,  der  damals  noch  fur  seine  Tiirklinkenfabrik  reiste  und 
mit  diesen  Geschaftsreisen  Besuche  fur  politische  Zwecke  ver- 
band.  Er  horte  uns  eine  Weile  zu,  zeigte  sich  aber  von  dem 
Gehorten  nicht  sehr  erbaut ; namentlich  einige  Gedanken,  die 
der  von  Hochberg  nach  Zurich  eingeladene  Karl  Kautsky  und 
meine  Wenigkeit  liber  das  nach  Lage  der  Dinge  Mogliche  ent- 
wickelten,  hatten  ganz  und  gar  nicht  seinen  Beifall.  Sie  waren 
ihm  viel  zu  gemafiigt  und  wiirden  uns,  meinte  er,  wenn  wir  in 
einer  Revolution  mit  so  zahmen  Vorschlagen  auftraten,  leicht 
Bekanntschaft  mit  der  Laterne  machen  lassen.  Trotz  Sozialisten- 
gesetz  war  Bebel  damals  iiberaus  sanguinisch.  Die  hartnackige 
Dauer  des  schlechten  Geschaftsganges  liefi  ihn  hoffen,  dafi  die 
kapitalistische  Gesellschaft  sich  von  dem  auf  ihr  Iastenden  Druck 
nicht  mehr  erheben  werde,  und  mit  Windeseile  dem  Zusammen- 
bruch  entgegensteure.  Eine  falsche  Rechnung,  die  aber  dem 
im  schonsten  Mannesalter  stehenden  Politiker  die  wunderbare 
Spannkraft  verliehen,  kraft  deren  er  der  Partei  in  Deutschland 
damals  die  unschatzbarsten  Dienste  leisten  konnte. 


Eduard  Bernstein  * V other  zu  House  51 

Dem  dahin  siechenden  Schweizerischen  Arbeiterbund,  dem 
die  Internationale  Mitgliedschaft  als  Sektion  zugehorte,  konnte 
freilich  auch  er  kem  Leben  einhauchen.  Diese  groBgedachte 
Verbindung  weir  in  der  iiberlieferten  Form  nicht  mehr  aufrecht 
zuerhalten.  Mit  ihr  litt  auch  ihr  Organ,  die  in  Zurich  veroffent- 
lichte  ,,Tagwacht“,  an  Blutleere.  Die  Verhaltnisse  dieses  Blattes 
waren  so  proletarisch  wie  nur  moglich.  Es  ward  am  Zeltweg  in 
Hottingen-Ziirich  in  einem  Hauschen  von  fast  vorsiindflut- 
licher  Einfachheit  auf  einer  altmodischen  Presse  hergestellt,  die 
noch  mit  der  Hand  betrieben  wurde.  Ein  mafiig  groBer  Raum, 
zu  dem  man  auf  einer  schmalen  Treppe  emporstieg,  diente 
gleichzeitig  als  Setzersaal,  Maschinensaal  und  Redaktionslokal 
— letzteres  dadurch,  daB  in  einer  Ecke  ein  Stehpult  aus  ein- 
fachstem  Holz  und  ein  ebensolcher  Schemel  fiir  den  Redakteur 
aufgestellt  waren.  Im  gleichen  Raum  hielten  abends  bei  sehr 
bescheidener  Beleuchtung  der  ortliche  AusschuB  des  Arbeiter- 
bundes  und  andre  Kommissionen  ihre  Sitzungen  ab.  Da  ich 
mich  sofort  nach  meiner  Ankunft  an  der  Arbeiterbewegung 
Ziirichs  beteiligte,  habe  ich  noch  an  mancher  der  AusschuB- 
sitzungen  teilgenommen,  die  ob  des  ganzen  Zuschnitts  mich 
stets  etwas  urchristlich  anmuteten.  Sehr  viel  weniger  Luxus 
als  bei  diesen  Sitzungen  wird  es  auch  bei  den  Zusammenkiinften 
der  ersten  Christengemeinden  kaum  gegeben  haben. 

Ein  humoristisches  Vorkommnis  bei  einer  jener  Sitzungen 
diirfte  in  seiner  urwiichsigen  Form  nur  wenige  seinesgleichen 
zu  verzeichnen  haben.  Ein  Delegierter  fiihrte  heftig  Beschwerde 
iiber  einen  in  der  vorhergegangenen  Sitzung  gefaBten  BeschluB. 
Es  wurde  ihm  erwidert,  er  sei  es  ja  gerade  gewesen,  der  das 
Beschlossene  beantragt  habe.  „Jawohl“,  antwortete  der  Gute 
unerschiittert,  „ich  habe  den  Antrag  gestellt,  das  ist  richtig. 
Aber  ihr  durftet  ihn  nicht  annehmen“. 

Redakteur  oder,  wie  man  sich  in  der  Schweiz  ausdriickt, 
Redaktor  der  ,,Tagwacht“  war  Hermann  Greulich,  ein  geborener 
Schlesier,  der  als  Buchbindergeselle  nach  Zurich  gekommen 
war  und  dort  lange  Zeit  in  durchaus  proletarischen  und  selbst 
unterproletarischen  Verhaltnissen  gelebt  hatte.  Denn  er  heiratete 


52 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


friih,  und  friih  stellte  sich  auch  Kindersegen  ein.  Und  da  oben- 
drein  auch  altere  Anverwandte  mitzuernahren  waren,  gmg  es 
im  Haushalt  des  ungewohnlich  begabten  Mannes  sebr  knapp 
zu,  auch  mufite  Greulich,  wenn  die  Arbeit  im  Beruf  mcbt 
ausreichte,  Nebenerwerb  suchen,  bei  dem  es  nicht  wahlerisch 
sein  hiefi.  So  hat  er  zeitweilig  als  Kaffeeroster  auf  Taglohn 
gearbeitet.  Auch  als  er  Redakteur  der  Tagwacht  wurde,  blieb 
sein  Einkommen  proletarisch.  Denn  das  bloB  zwei-  oder  dreimal 
in  der  Woche  in  kleinem  Format  erscheinende  Blatt  hatte  eine 
geringe  Auflage  und  konnte  daher  auch  nur  ein  bescheidenes 
Gehalt  zahlen.  Um  so  groBer  waren  die  Anforderungen  an  den 
Redakteur,  dem  neben  der  Herstellung  des  Blattes  noch  allerhand 
Agitations-  und  Organisations verpflichtungen  oblagen.  Noch 
fehlte  der  Arbeiterschaft  jeder  MaBstab  fur  die  Einschatzung 
schriftstellerischer  Arbeit,  hinsichtlich  derer  ubrigens  auch 
unter  den  sogenannten  Gebildeten  sehr  irrige  Meinungen  ver- 
breitet  sind.  Kurz,  der  Kampf  urns  Dasein  wurde  unserm 
Greulich  nicht  leicht  gemacht.  Aber  er  hat  sich  durchgekampft, 
wobei  ihm  zeitweilig  Karl  Biirkli  helfend  zur  Seite  stand,  der 
seine  geistige  Begabung  voll  zu  wiirdigen  wusste. 

Als  ein  iiberaus  klarer  Kopf  verfiigte  Greulich  gerade  iiber 
die  Eigenschaft,  die  Karl  Biirkli  fehlte,  die  Gabe  leichtfliissiger 
und  geordneter  Darstellung.  Einige  Broschiiren,  die  er  verfaBt 
hat,  sind  in  dieser  Hinsicht  wahre  Muster,  und  an  manchen 
Abhandlungen  Biirklis  war  er  stiller  Mitarbeiter,  der  ihnen  die 
Form  gab.  Auch  einige  der  beliebtesten  deutschen  Arbeiter- 
lieder  haben  ihn  zum  Verfasser,  darunter  das  packende,  nach 
der  Weise  der  Wacht  am  Rhein  gesungene  : „Es  tont  ein  Ruf 
von  Landzu  Land41,  das  zum  Kehrreim  das  Motto  der  streiken- 
den  Weber  Lyons  vom  Jahre  1 83 1 hat : „Arbeitend  leben  oder 
kampfend  den  Tod“.  („Vivre  en  travaillant  ou  mourir  en  com- 
battant44.)  Heute  ist  Greulich  nach  einem  Leben  voller  Tatig- 
keit  einer  der  Vertreter  der  Schweizerischen  Sozialdemokratie 
im  Nationalrat  der  Eidgenossenschaft  und  fiillt  trotz  seines 
hohen  Alters  dieses  Amt  wirkungsvoll  aus.  Wie  nur  wenige  der 
aus  dem  ostlichen  Deutschland  Eingewanderten  beherrscht  er 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  su  Hause 


53 


das  schweizerische  Idiom.  Es  bricht  sogar  nicht  selten  bei  lhm 
durch,  wenn  er  zu  friiherenLandsleuten  ,,schnftdeutsch“  spncht. 

Dieses  vollige  Hineinleben  in  eine  fremde  Sprache  ist  kein 
rein  intellektueller  Vorgang.  Els  ist  zweifelslos  zugleich  Aus- 
flufi  einer  seelischen  Eigenschaft  — icb  mochte  sogar  sagen, 
einer  Charakteranlage.  Nach  meinen  Beobachtungen  findet  man 
es  zumeist  bei  Leuten  mit  einem  starken  Anlehnungsbediirfms. 
Willenskraftige  Menschen  konnen  sich  selbstverstandlich  durch 
Studium  griindliche  Beherrschung  fremder  Sprachen  aneignen, 
pflegen  diesen  aber  trotzdem  sprode  gegeniiber  zu  stehen.  Das 
Aufgehen  in  eine  fremde  Sprache,  das  keineswegs  immer  mit 
Eindringen  in  ihren  Geist  zusammenfallt,  ist  in  vielen  Fallen 
ein  passiver  Akt,  der  durch  Einwirkungen  des  Umgangs  herbei- 
gefiihrt  wird,  eine  Art  unbewufiter  oder  halbbewufiter  Nach- 
ahmung,  aber  kein  wahres  Erfassen.  Daher  die  Erscheinung, 
dass  wissenschaftlich  gebildete  Leute  beim  Gebrauch  einer 
erlernten  Sprache  oft  sich  viel  schwerfalliger  zeigen,  als  Leute 
mit  nur  oberflachlicher  Bildung.  Solche  Leute  behalten  aber 
dafiir  eine  ganz  andere  Herrschaft  liber  die  eigene  Sprache  als 
Halbgebildete. 

Einen  Einblick  in  das  Leben  und  Wesen  des  Schweizer- 
volkes  erhielt  ich  dadurch,  dafi  ich  in  Zurich,  so  lange  ich 
unverheiratet  war,  stets  bei  Schweizern  wohnte. 

Schon  meine  erste  Wirtin  iiberraschte  mich  ernes  Tages 
dadurch,  dafi  sie,  eine  einfache  Frau  aus  dem  Volke,  sich  neben 
ihrem  Zurichdeutsch  auch  franzosisch  auszudriicken  wufite. 
Ich  wohnte  aber  zu  kurze  Zeit  beiihr,  um  herauszubekommen, 
wie  und  wo  sie  das  Franzosisch  erlernt  hatte.  Anzunehmen 


ist,  dafi  sie  als  junges  Madchen  langere  Zeit  in  der  franzosi- 
schen  Schweiz  in  Stellung  war.  Ein  sehr  grofier  Prozentsatz 
der  Deutschschweizer  legt  Wert  darauf,  eine  Zeitlang  in  der 
welschen  Schweiz  gelebt  zu  haben,  und  ebenso  gehen  viele 
junge  Leute  aus  der  franzosischen  Schweiz  zeitweise  in  die 
deutsche  Schweiz  in  Stellung,  um  des  Deutschen  machtig  zu 
werden.  Und  in  biirgerlichen  Familien  ist  es  eine  weit  ver- 


breitete  Sitte,  die  Kinder  in  jungen  Jahren  mit  Kindern  der 


Eduard  Bernstein  ♦ Volkcr  zu  Hause 


gleichen  Gesellschaftsldasse  aus  dem  andern  Sprachgebiet  aus- 
zutauschen,  damit  jedes  die  Sprache  der  andern  sich  im  prak- 
tischen  Gebrauch  aneigne.  Kommt  dann  so  em  Kind  nach  vier 
oder  fiinf  Jahren  Abwesenheit  wieder  nach  Hause,  so  hat  es 
nicht  selten  die  eigene  Sprache  fast  vollstandig  verlernt  und 
will  zuerst  nur  die  andere  sprechen.  Aber  es  lernt  die  Mutter- 
sprache  schnell  zuriick,  und  da  es  mittlerweile  in  ein  reiferes 
Alter  getreten  ist,  behalt  es  jetzt  neben  dieser  soviel  von  der 
andern  Sprache,  um  sich  jederzeit  in  ihr  verstandigen  zu  konnen. 
Alles  das  wirkt  zusammen  dahin,  dafi  sehr  viele  Schweizer 
faktisch  zweisprachig  sind. 

Nach  kurzem  Logis  bei  der  vorerwahnten  Frau  in  einer  der 
engen  StraBen,  die  vom  Limmatquai  hinauf  zur  Niederdorf- 
strafie  fiihren,  bezog  ich  ein  Zimmer  in  dem  massiven  Gebaude 
der  schonen  BahnhofstraBe  Ziirichs,  das  den  Namen  Zentral- 
hof  tragt.  Els  war  im  vierten  Stock  gelegen  — ich  habe  beim 
Wohnen  stets  hoch  hinaus  gewollt  — aber  geraumig  upd  sehr 
gut  ausgestattet . Die  Zimmerdecke  war  so  schon  getafelt,  dafi,  als 
mir  Gottfried  Kinkel  einmal  einen  Gegenbesuch  machte,  er 
beim  Eintreten  ins  Zimmer  eine  ganze  Weile  stehen  blieb,  um 
dieDecke  zu  bewundem.  Meine  Wirtin  hatte  den  ganzen dritten 
und  vierten  Stock  des  Hauses  gemietet  und  die  Zimmer  gut 
mobhert,  um  sie  so  weiter  zu  vermieten.  Sie  kam  aber,  wessen 
ich  spater  inne  wurde,  sehr  schlecht  dabei  auf  die  Rechnung. 

Die  Frau  stammte  aus  einer  Patrizierfamilie  des  Kantons 
Bern  und  war  mit  allerhand  Vorurteilen  ihrer  Gesellschaftsldasse 
behaftet.  Sie  war  erzkonservativ,  sprach  am  liebsten  zu  mir  von 
den  Neuenburger  Legitimisten,  den  Pourtales,  den  Rougemont 
und  ahnhchen  Leuten,  war  sehr  entriistet  iiber  die  Mobilisierung 
vom  sogenannten  Biirgergut  in  ihrem  Heimatsort  und  nahm  es 
mit  Entsetzen  auf,  als  ich  ihr  eines  Tages  auseinandersetzte,  sie 
wiirde  am  verniinftigsten  handeln,  wenn  sie  die  beiden  groBen 
Wohnungen  aufgabe,  das  Mobiliar  verauBerte,  von  dem  Erlos 
ein  Ladengeschaft  einrichtete  und  dieses  mit  ihrer  Tochter  be- 
triebe.  ,,Wo  denken  Sie  hin  ? Elin  Ladengeschaft  halten  ? Nie- 
mals“,  war  ihre  emporte  Antwort. 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House 


55 


Und  diese  selbe  Frau  verrichtete  im  Hause  selbst  die  grobsten 
und  anstrengendsten  Arbeiten,  bissie  sich  buchstablich  zuTode 
gearbeitet  hatte.  Mit  ihrer  Tochter,  einem  harmlos  munteren 
achtzehnjahrigen  Madchen,  aus  dessen  braunen  Augen  viel 
Schelmerei  blickte,  besorgte  sie  die  ganze  Doppelwohnung 
allem,  nur  an  ein  oder  zwei  Tagen  in  der  Woche  von  einer 
Aufwartefrau  bei  den  groberen  Arbeiten  unterstiitzt.  DaB  sie 
sich  und  ihreTochter  im  Hause  geradezu  zuMagden  derMieter 
machte,  verstieB  in  ihren  Augen  nicht  gegen  die  soziale  Ehre, 
solange  nur  auBerhalb  des  Hauses  das  Ansehen  gewahrt  blieb. 
Aber  sie  war  grundehrlich  und  uberteuerte  ihre  Mieter  so 
wenig,  daB  sie,  wie  ich  ihr  einmal  bei  einer  Unterhaltung  iiber 
ihreVerhaltnissevorrechnete,  selbst  wenn  alle  Zimmer  vermietet 
waren  und  kein  Mieter  die  Miete  schuldig  blieb,  bei  dem  Ver- 
mietungsgeschaft  noch  iiber  700  Franken  jahrlich  zusetzte. 

Indes  gab  es  stets  ein  oder  zwei  unvermietete  Zimmer  und 
dazu  stets  Mieter,  welche  die  Miete  schuldig  blieben.  Dies 
manchmal  in  sehr  betrachtlichem  Umfange,  da  den  Mietern 
sehr  viel  gestundet  wurde.  Uberhaupt  muB  damals  in  Zurich 
die  Borgerei  noch  sehr  in  Ubung  gewesen  sein.  Ich  bin  auf 
allerhand  Falle  unglaublicher  Kreditwirtschaft  gestoBen.  Und 
vielsagend  mit  Bezug  auf  diesen  Punkt  war  der  Satz  auf  einem 
Schild,  das  ein  sehr  angesehener  demokratischer  Gelehrter  und 
demokratischer  Politiker,  Professor  Salomon  Vogelin  an  seiner 
Wohnungstiir  hatte  anbringen  lassen:  ,,Hierwerden  keineBiirg- 
schaften  gegeben.“ 

Wie  oft  muBte  der  Mann  angegangen  worden  sein,  fiir  Dar- 
lehen  zu  biirgen,  daB  er  sich  entschloB,  ein  solches  Schild  vor 
seine  Tiir  zu  setzen.  Vogelin  war  urspriinglich  Pfarrer  gewesen, 
hatte  als  solcher  der  radikalen  Ziircher  Reformtheologie  gehuldigt 
und  spater  die  Kanzel  mit  dem  akademischen  Lehrstuhl  ver- 
tauscht,  auf  dem  er  kritische  Religionsgeschichte  vortrug.  Ein 
glanzender  Redner,  der  seine  Vortrage  mit  Sarkasmus  zu  wiirzen 
verstand,  war  erein  geschatzter  Mitkampfer  der  Ziiricher  Demo- 
kratie  und  stand  mit  der  Arbeiterbewegung  in  enger  Fiihlung, 
auf  deren  Kongressen  er  treffliche  Referate  iiber  Erweiterung 


Eduard  Bernstein  » Volker  zu  Hause 


der  Fabrikgesetzgebung  gehalten  hat.  Pfarrer  und  Expfarrer  der 
reformtheologischen  Richtung  spielten  iiberhaupt  in  der  demo- 
kratischen  Partei  Ziirichs  keine  germgeRolle.  Das  Hauptorgan  der 
Partei,  der  „Winterthurer  Landbote“,  wurdevon  drei  gewesenen 
Pfarrern,  oft  als  die  drei  gestrengen  Pfarrherren  vom  Gemsberg 
bezeichnet,  redigiert.  Es  fehlte  auch  nicht  an  ausiibenden  Pfar- 
rern, die  sich  geradeheraus  als  Sozialdemokraten  bezeichneten. 

Wie  war  das  anders  geworden  seit  den  Tagen  von  1839,  wo 
ein  Petitionssturm  der  Konservativen  und  Religionsfanatiker  es 
zu  erwirken  wufite,  dafi  der  an  die  Universitat  Ziirich  berufene 
David  Friedrich  Straufi  sein  L^hramt  nicht  antreten  durfte. 
Der  Verfasser  des  „Leben  Jesu“  hat  die  ihm  damals  zugefiigte 
Unbill  lange  nicht  verwinden  konnen  und  sie  der  Repubhk  auf 
Rechnung  gesetzt.  Als  er  aber  in  den  sechziger  Jahren  eines 
TagesalsGast  nach  Zurich  kam,  wo  ihn  seine  Verehrer  gewaltig 
feierten,  und  er  nach  Tisch  mit  solchen  die  Kiinstlergasse  hin- 
auf  zum  Polytechnikum  emporstieg,  da  packte  es  ihn  doch,  der 
Repubhk  seinen  Tribut  abzustatten.  In  der  Nahe  des  nach 
Sempers  Entwiirfen  errichteten  herrlichen  Gebaudes  blieb  er 
plotzlich  stehen  und  sagte  zu  seinen  Begleitern  : ,,Meine  Herren, 
Sie  wissen,  ich  bin  ein  strenger  Monarchist  und  werde  es  bleiben. 
Aber  wenn  ich  hier  das  Juwel  von  Zurich  vor  mir  sehe,  wie  es 
von  der  Hohe  herab  Zurich  beherrscht,  dann  mufi  ich  doch  sagen, 
waren  wir  in  einer  Monarchic,  so  stiinde  an  dieser  Stelle  keine 
Hochschule,  sondern  entweder  ein  Schlofi  oder  eine  Kaserne.“ 

An  schonen  Schulgebauden  hat  es  in  Zurich  und  andern 
Kantonen  der  Schweiz  sicherlich  keinen  Mangel.  Ich  habe  selbst 
m kleinen  schweizenschen  Dorfern  prachtige  Schulhauser  ge- 
sehen;  die  Sale  der  Schulen  aber  werden  in  der  Schweiz  viel 
haufiger  als  bei  uns  Vereinen  aller  Art  fur  Kongrefisitzungen 
zur  Verfiigung  gestellt,  und  die  sozialistischen  Kongresse  machen 
da  keine  Ausnahme.  Indes  sind  den  Sozialisten  in  der  Schweiz 
auch  schon  Kirchenraume  fur  Versammlungen  iiberlassen 
worden,  womit  allerdings  nur  an  den  Gebrauch  angekniipft 
wurde,  dem  die  Kirchenraume  in  friihern  Zeitaltern  dienten. 
Und  nie  ist  wohl  ein  Kirchengebaude  fiir  einen  wiirdigeren 


A 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


57 


Zweck  verwendet  worden,  als  am  25. November  1912  das  alte 
Munster  der  Stadt  Basel,  in  dessen  Raumen  an  jenem  Tage  die 
besten  Redner  der  internationalen  Sozialdemokratie  ihre  Stimme 
fiir  den  Volkerfrieden  erheben  durften.  Mitte  der  achtziger 
Jahre  durften  wir  in  Zurich  einen  ArbeiterkongreB  im  Sitzungs- 
saal  des  Schwurgerichtsgebaudes  ahhalten,  und  der  Schreiber 
dieses,  der  zu  den  Vorsitzenden  dieses  Kongresses  gehorte, 
konnte  den  Gedanken  nicht  loswerden : „Wer  weiB,  ob  Du  nieht 
bald  einmal  auf  der  andern  Seite  des  grtinen  Tisches  zu  stehen 
haben  wirst“.  Denn  ich  war  zu  jener  Zeit  ein  arger  politischer 
Sunder.  # 

Im  Schulgebaude  der  Stadt  Olten  hatte  im  Jahre  1874  der 
Kongrefi  getagt,  auf  dem  der  Schweizerische  Arbeiterbund  ge- 
schaffen  worden  war.  Kein  Schulsaal  war  notwendig,  als  wir 
uns  im  Jahre  1 880  in  der  gleichen  Stadt  Olten,  wo  die  beiden 
Hauptbahnlinien  der  Schweiz  sich  kreuzen,  zu  einem  KongreB 
zusammenfanden,  auf  dem  dieser  Bund  zu  Grabe  getragen  wurde. 
Ein  grofieres  Zimmer  einer  Gastwirtschaft  geniigte,  die  erschie- 
nenen  Delegierten  zu  fassen.  Zugleich  mit  dem  BeschluB,  den 
Bund  aufzulosen  und  die  Organisation  der  schweizerischen 
Arbeiterschaft  auf  erne  neue  Grundlage  zu  stellen,  fand  auch 
der  BeschluB  Annahme,  die  „Tagwacht“  eingehen  zulassenund 
durch  ein  Blatt  zu  ersetzen,  fiir  das  der  Name  „Arbeiterstimme“ 
gewahlt  wurde.  Zum  Redakteur  ward  der  schweizerische  Sozialist 
Herter  ernannt,  ein  ehrlicher  und  bescheidener  Mann,  der  sich 
redliche  Miihe  gab,  das  Blatt  in  die  Hohe  zu  bringen,  der  aber 
ebenso  wenig  wie  Greulich  das  Kunststiick  fertig  bekam,  die 
Ungunst  der  Verhaltnisse  zu  besiegen.  Wie  schon  friiher  erwahnt, 
waren  dem  Bund  und  seinem  Organ  die  Riickschlage  des 
deutschen  Sozialistengesetzes  verhangnisvoll  geworden.  Speziell 
der  „Tagwacht“  war  in  dem  Auslandsorgan  der  deutschen  Sozial- 
demokratie, das  Ende  September  1879  in  Ziinch  unter  dem 
Titel  „Der  Sozialdemokrat“  ins  Leben  trat,  eine  Art  Rivale 
erstanden,  der  ihr  den  geistig  regsten  Teil  der  in  der  Schweiz 
lebenden  deutschen  Arbeiter  entzog. 


58 


Eduard  Bernstein  ♦ Vdlker  zu  Hause 


Die  mit  allerhand  interessanten  Einzelheiten  verquickte  Ge- 
schichte  der  Griindung  des  Ziiricher  „Sozialdemokrat“  ist  schon 
oft  erzahlt  worden . August  Bebel  hat  ihr  im  dritten  Band  seiner 
Lebenserinnerungen  ein  langes  Kapitel  gewidmet,  und  so  will 
ich  sie  hier  iibergehen,  so  sehr  ich  selbst  bei  ihr  beteiligt  war. 
Els  lag  in  der  Natur  der  Sache,  dafi,  nachdem  dieses  Blatt  ge- 
schaffen  war,  der  Ort  seiner  Herstellung  und  Versendung  so- 
lange  zu  einem  Zentrum  der  deutschen  Sozialdemokratie  wurde, 
als  diese  kein  offentliches  Parteileben  entfalten  konnte.  Um  die 
Redaktion  und  die  Expedition  des  ,,Sozialdemokrat“  sammelte 
sich  nun  ein  ein  ganzer  Kreis  von  Personen,  und  an  den  be- 
deutenderen  Orten  der  Schweiz  wurden  auf  Anregung  von  Zurich 
aus  Mitgliedschaften  der  deutschen  Sozialdemokratie  gegriindet, 
die  sich  speziell  mit  den  Angelegenheiten  der  Partei  befaBten. 

Redakteur  des  „Sozialdemokrat“  in  Zurich  war  in  der  ersten 
Zeit  Georg  von  Vollmar,  liber  dessen  hervorragendePersonlich- 
keit  und  Bedeutung  kein  Wort  mehr  zu  verlieren  ist.  Ihn  loste  an 
der  Jahreswende  1880/1881  meine  Wenigkeit  ab,  und  mir  wie 
vorher  Vollmar  stand  von  Deutschland  aus  Wilhelm  Liebknecht 
als  gleichberechtigter  Mitarbeiter  zur  Seite.  Die  Administration 
des  Blattes  und  seine  Versendung  iibernahm  bald  nach  dessen 
Griindung  Julius  Metteler,  seinerzeit  mit  Bebel,  Liebknecht  und 
anderen  einer  der  Mitbegriinder  der  sozialdemokratischen 
Arbeiterpartei  Eisenacher  Programms,  ein  eigener  Kopf  und 
beweglicher  Geist,  dazu  durch  seine  Tatigkeit  als  Kaufmannischer 
Leiter  verschiedener  genossenschaftlicher  Unternehmungen 
ebenso  geschaftlich  erfahren,  wie  er  sich  unter  alien  Gesichts- 
punkten  als  ganz  besonders  vertrauenswiirdig  bewahrt  hatte. 
Da  die  Verbreitung  des  ,,Sozialdemokrat“  in  Deutschland  als- 
bald  auf  Grund  des  Sozialistengesetzes  verboten  worden  war, 
mufite  seine  Beforderung  ins  Reich  auf  dem  Schmuggelwege 
geschehen,  undein  Stuck  Schmuggelarbeit  war  auch  die  Weiter- 
beforderung  der  verbotenen  Ware  von  bestimmten  Zentralstellen 
aus  an  die  vielen  Orte,  wo  der  ,,Sozialdemokrat“  bald  Leser  hatte. 

In  der  Organisation  und  Leitung  dieses  Schmuggels  hat 
Metteler,  unterstiitzt  durch  fahige  und  hingebende  Mitarbeiter, 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


59 


+ ^ ^ ^ ^ ^ — - * — ~ » — *•  «>  _ - ^ »•  ^ ^ *■  — • _ «T  —7^ » _Z^ * _ 


so  Bedeutendes  geleistet,  dafi  das  Wort  grofiartig  keine  Uber- 
treibung  bedeutet.  Ein  Wochenblatt,  mit  bis  auf  liber  zehn- 
tausend  steigender  Auflage  jahraus,  jahrein  so  sicher  liber  die 
Grenze  und  zur  Weiterversendung  zu  bringen,  dafi  es  den  Be- 
stellem  Woche  fiir  Woche  mit  annahernder  RegelmaBigkeit 
eines  am  Ort  erscheinenden  Blattes  zuging,  war  eine  Aufgabe, 
von  deren  GroBe  sich  Uneingeweihte  kaum  eine  rechte  Vor- 
stellung  machen  konnen.  Aber  sie  wurde  gelost,  und  der  Mann, 
der  Metteler  in  der  Praxis  des  Schmuggels  vorgearbeitet  hatte 
und  bis  zum  SchluB  sein  energischster  Mitarbeiter  dabei  blieb, 
Joseph  Belli,  hat  die  an  Wechselfallen  ernster  und  heiterer  Art 
reiche  Geschichte  dieser  Einschmuggelung  des  Ziiricher  „Sozial- 
demokrat“  ins  deutsche  Reich  mit  lebendiger  Anschaulichkeit  und 
viel  Humor  in  einem  Biichlein  geschildert,  daB  auch  dem  Fem- 
stehenden  ein  Bild  von  den  zu  bewaltigenden  und  bewaltigten 
Schwierigkeiten  geben  wird.  Das  Buch  ist  unter  dem  Titel  „Die 
rote  Feldpost  und  anderes“  im  Jahre  1912  bei  Dietz  in  Stutt- 
gart erschienen.  Den  Namen  „Feldpost“  hatte  Metteler  dem 
Stab  der  vomehmlich  unter  Beilis  Leitung  arbeitenden  eigent- 
lichen  Schmuggler  zuerteilt,  sie  aber  tauften  Metteler  ihren 
Postmeister,  und  daraus  ist  dann  spater  der  Beiname  ,,Der  rote 
Postmeister"  geworden,  unter  dem  Julius  Metteler  im  Andenken 
seiner  Mitstreiter  und  Jiinger  fortlebt.  Mettelers  imErdgeschoB 
eines  Eckhauses  am  oberen  Wolffbach  in  Hottingen  bei  Zurich 
gelegene  Wohnung  aber  und  im  besondern  das  zu  ihr  gehorende 
Expeditionszimmer erhielten  den  Beinamen  ,,Der 01ymp“.  Denn 
hier  liefen  nun  die  Faden  desjenigen  Stlicks  Leitung  der 
deutschen  Sozialdemokratie  zusammen,  das  mit  dem  „Sozial- 
demokrat"  zusammenhing.  Hier  auch  stiegen  zumeist  Bebel 
und  Liebknecht,  sowie  andere  in  Deutschland  selbst  wirkende 
Fiihrer  der  Partei  ab,  wenn  sie  in  Parteigeschaften  nach  Zurich 
kamen,  was  jetzt  ziemlich  haufig  der  Fall  war.  Und  hier  war 
ferner  das  Zentrum  fiir  die  Uberwachung  und  etwaige  Ent- 
larvung  derjenigen  Personen,  die  sich  in  den  Verdacht  der 
Spitzelei  gebracht  hatten  oder  sonst  zweideutige  Gesellen  waren. 

Im  ersten  Lebensjahr  des  ,,Sozialdemokrat“  war  von  dieser 


SVol.  HI/2 


aVa'a 


60  Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 

Spezies  noch  wenig  die  Rede.  Dafiir  war  es  die  Bliitezeit  einer 
geselligen  Zusammenkunft,  die  — ich  weiB  nicht,  von  wem  — 
in  Erinnerung  an  den  Berliner  Mohrenklub,  von  dem  im  dritten 
Kapitel  dieser  Erinnerungen  die  Rede  war,  den  Namen  Zuricher 
Mohrenklub  erhielt,  und  in  der  es  oft  sehr  heiter  zuging.  In 
einem  Vereinszimmer  der  Wirtschaft  zum  Thaleck  in  Hottingen 
fanden  sich  an  einem  bestimmten  Abend  in  der  Woche  der 
Stab  des  „Sozialdemokrat“,  dem  ausser  Metteler  und  Vollmar 
ein  nur  des  Deutschen  machtiger,  aber  mit  riihrender  Treue 
der  Sache  seines  Ursprungslandes  ergebener  Sozialist  polnischer 
Abstammung,  Emil  Schimanowski,  angehorte,  der  alte  Biirkli, 
Hermann  Greulich,  Karl  Kautsky,  meine  Wenigkeit  und  noch 
einige  vertrautere  Gesinnungsgenossen  deutscher,  schweizeri- 
scher  und  slavischer  Nationalitat,  sowie  jeweilig  anwesende 
Gaste  zu  zwangsloser  Unterhaltung  zusammen,  und  da  die 
meisten  von  uns  noch  diesseits  des  Schwabenalters  waren, 
wurden  gewohnlich  auch  allerhand  Lieder  gesungen  und  ward 
viel  Scherz  getrieben.  Metteler  war  ein  sehr  guter  Gesellschafter, 
der  es  unter  anderem  trefflich  verstand,  den  Dingenten  beim 
Absmgen  von  Liedern  zu  machen,  die  so  eingerichtet  waren, 
dafi,  wer  gewisse  Vorschriften,  wie  Auslassung  bestimmter 
Silben  oder  ahnliches,  nicht  innehielt,  einer  — stets  gern  erlegten 
— GeldbuBe  fiir  die  Zwecke  unserer  Partei  verfiel.  Vollmar, 
der  musikalisch  war,  begleitete  unsern  ,,Gesang“  auf  dem  Kla- 
vier  oder  trug  Lieder  mit  eigener  Begleitung  auf  der  Zither 
vor.  Karl  Kautsky,  gelenkig  und  iiberaus  erfinderisch,  erfreute 
uns,  wenn  die  Stimmung  sehr  ausgelassen  wurde,  durch  grofie 
Heiterkeit  auslosende  Imitation  von  Akrobaten  oder  als  Phan- 
tasietanzer.  Was  meine  Wenigkeit  betrifft,  so  will  ich  August 
Bebel  erzahlen  lassen.  In  der  Beschreibung,  wie  lebhaft  es  im 
Mohrenklub  zuging,  wenn  Liebknecht  und  er  nach  Zurich 
kamen,  sagt  er  in  seinen  Erinnerungen: 

„Alsdann  wurde  mit  besonderer  Andacht  das  beriihmte  ,Lied 
vom  Biirgermeister  Tschech*  gesungen,  der  in  den  vierziger 
Jahren  ein  Attentat  auf  Friedrich  Wilhelm  IV.  mit  ziemlich 
komischem  Ausgang  unternommen  hatte.  Eduard  Bernstein 


61 


Eiuari  BfrnsXziK  ♦ l zu  Hjusp 


war  alsdann  der  Vorsanger,  den  Refrain  sang  der  Chor.  Diesem 
Lied  folgte  das  ebenso  beriihmte  ,,Petroleumhed“  und  ahnhche 
Spottgesange  auf  die  Zustande  in  Deutschland.  Oder  Eduard 
Bernstein  und  Karl  Kautsky  — damals  die  beiden  Unzertrenn- 
lichen  — sangen  ein  Duett,  das  Steine  erweichen,  Herzen 
brechen  machte.“ 

Einen  groBen  GenuB,  den  er  uns  immer  wieder  gewahren 
muBte,  bereitete  uns  der  alte  Biirkli  mit  dem  Vortrag  einer 
selbst  erlebten  Szene  aus  dem  kirchlichen  Leben  Ziirichs.  Sie 
spielt  in  der  alten  Kirche  von  St.  Peter,  an  der  noch  Lavater 
gelehrt  hatte.  Dort  amtierte  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
ein  alter  Prediger,  der  dabei  unentwegt  sein  Ziirichdeutsch  und 
obendrem  im  breitesten  Ziiricher  Tonfall  sprach.  Der  bekam 
nun  rum  Heifer  einen  in  Deutschland  ausgebildeten  und  auf 
der  Kanzel  den  salbungsvollen  Ton  der  norddeutschen  Theo- 
logen  pflegenden  jungen  Geistlichen,  und  wenn  die  beiden  am 
SchluB  des  Kirchenaktes,  satzweise  sich  abwechselnd,  das 
evangelische  Glaubensbekenntnis  verlasen,  so  gab  das  einen 
Zweiklang  von  groBer  Komik,  was  Biirkli  meisterhaft  wieder- 
zugeben  wufite.  Dem  Leser  laBt  sich  das  schwer  iibermitteln. 
Indes  gibt  lhm  das  Folgende  vielleicht  eine  Idee  davon : 

Per  alte  Prediger  (mit  Kehllaut,  breitgezogenen  Vokalen  und 
noch  breiteren  Doppelvokalen) : Ich  glaube  an  Gott  den  Vater, 
allmachtigen  Schopfer  des  Himmels  und  der  Erden  . . . 

Per  Qfelfer  (salbungsvolles  und  hochtonendes  Schnftdeutsch) : 
Und  an  Jesum  Christum,  seinen  eingeborenen  Sohn 

In  dieser  Weise  welter  bis  zum  SchluB: 

Pier  alte  Prediger  (wie  oben  Ziirichdeutsch):  Ich  glaube  an 
den  heiligen  Gaischt  . . . 

Per  fjfetfer  (wie  oben  norddeutsch)  : ,,Eine  heilige  christliche 
Gemeinde  . . . 

Per  a(te  Prediger:  „Uuferstehig  des  Flaisches  . . . 

Per  3ie[fer;  Und  ein  awiges  Leben.  Amen  — “ 

Zu  den  slavischen  Gasten  des  Ziiricher  Mohrenklubs  gehor- 
ten  auch  einige  in  Zurich  studierende  serbische  Sozialisten,  und 
diese  brachten  gelegentlich  zwei  junge  Landsleute  mit,  die  noch 


62  Eduard,  Bernstein  • Vdlker  zu  Hause 

der  Prima  des  Gymnasiums  angehorten.  Unter  der  Hand 
erfuhren  wif,  dafi  sie  die  Sohne  eines  serbischen  Fiirsten  seien, 
der  seinerzeit  als  Hochverrater  hingerichtet  worden  war.  Es 
waren  die  Briider  Nenadowitsch,  Vettern  des  damals  im  Exil 
lebenden  Prinzen  Peter  Karageorgewitsch,  und  der  eine  von 
ihnen,  der  spater  in  Wien  als  Arzt  lebte,  hat  denn  auch  bei  den 
Aktionen,  die  1 903  Peter  auf  den  Thron  von  Serbien  brachten, 
eine  hervorragende  Rolle  als  Mittler  gespielt.  Ob  er  auch  mit 
dem  Mordanschlag  auf  den  Konig  Alexander  und  dessen  Frau 
zu  tun  hatte,  entzieht  sich  meiner  Kenntnis.  Von  dem  Sohn 
eines  Mannes,  den  der  Vater  Alexanders  hatte  enthaupten  lassen, 
wiirde  man  es  schliefilich  begreifen.  Als  ich  ihn  kannte,  fielen 
er  und  sein  Bruder  mir  nur  durch  ihr  bescheidenes  zuriick- 
haltendes  Benehmen  auf. 

Es  wird  behauptet,  dafi  eines  Tages  Peter  Karageorgewitsch 
selbst  im  Mohrenklub  erschienen  sei.  Moglich  ist  es  angesichts 
des  Vorangeschickten  gewiB,  doch  ist  mir  damals  nichts  davon 
zur  Kenntnis  gekommen.  Es  hatte  auch  schwerlich  irgend 
welchen  Eindruck  auf  mich  gemacht.  Als  mir  im  Jahre  1 883 
der  eine  der  Nenadowitsche  beim  Begegnen  auf  der  StraBe  mit 
freudestrahlendem  Gesicht  von  der  Verlobung  seines  Vetters 
Karageorgewitsch  mit  einer  Tochter  des  Nikolaus  von  Monte- 
negro Mitteilung  machte,  entlockte  mir  dies  nur  eine  konven- 
tionelle  Bemerkung.  Die  Hoffnungen  der  Karageorgewitsche 
waren  mir  Hekuba.  So  sehr  mir  auf  Grund  der  Schilderungen 
serbischer  Sozialisten  Milan  Obrenowitsch,  der  damals  auf 
Serbiens  Thron  saB,  zuwider  war,  so  gleichgiiltig  ware  mir 
seine  Entthronung  gewesen,  wenn  sie  lediglich  zu  einem  Wechsel 
der  Dynastien  gefiihrt  hatte.  Auch  spielte  Serbien  damals  fur 
die  groBe  Weltpolitik  eine  wesentlich  andere  Rolle,  als  sie  die 
Geschichte  ihm  spater  zugeschoben  hat.  Den  nationalen  Be- 
freiungsbewegungen  der  Serben,  wie  auch  der  Bulgaren,  stand 
ich  aber  mit  ungleich  groBerer  Sympathie  gegeniiber,  als  da- 
mals die  Mehrzahl  meiner  deutschen  Genossen. 

* 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


63 


1m  ganzen  zahlte  der  Mohrenklub  nur  wenige  Slaven  zu 
semen  Besuchem.  Anfang  der  achtziger  Jahre,  nachdem  die 
Sektion  der  Internationale  entschlafen  war,  schufen  Studierende 
slavischer  Zunge  sich  in  Zurich  einen  Verein  „Slavia“,  der, 
wie  schon  sein  Name  sagte,  Slaven  ohne  Unterschied  der 
besonderen  Nationalitat  umfafite,  und  dem,  wenn  er  sich  auch 
offiziel  politisch  farblos  hielt,  das  demokratische  und  sozialisti- 
sche  Element  die  Farbe  gab.  Ich  habe  seinen  Griindungsver- 
sammlungen  beigewohnt  und,  da  die  Vereinssprache  deutsch 
war,  auch  spater  ihm  gerne  Besuche  abgestattet.  Es  interessierte 
mich,  das  Verhalten  der  Slaven  untereinander  zu  beobachten, 
und  ich  mu6  sagen,  dafi  es  auf  mich  einen  durchaus  giinstigen 
Eindruck  machte.  Namentlich  vermieden  es  die  Russen  sehr 
taktvoll,  von  der  Tatsache,  dafi  sie  die  grofie  Mehrheit  bildeten, 
irgendwelchen  Gebrauchin  der  Gestalt  von  Uberstimmungen 
zu  machen.  Sie  zeigten  sich  von  alien  Teilnehmem  am  wenigsten 
..national".  Aber  auch  die  andem  Slaven  stelltendie  Kamerad- 
schaft  in  die  vorderste  Reihe.  Als  im  Herbst  1 885  der  von 
Konig  Milan  und  dessen  Hintermannern  angezettelte  serbisch- 
bulgarische  Krieg  ausbrach,  fraternisierten  auf  einem  gerade 
veranstalteten  Fest  der  Slavia  die  einberufenen  serbischen  und 
bulgarischen  Studenten  in  sehr  ansprechender  Form  demon- 
strativ  miteinander.  Auf  die  Dauer  war  der  Verein  indes  nicht 
aufrecht  zu  erhalten.  Die  russischen  Sozialisten  hielten  eigene, 
sich  endlos  hinziehende  Versammlungen  zur  Erorterung  ihrer 
internen  politischen  Gegensatze  ab,  eine  russische  Bibliothek 
mit  Lesezimmer  ward  gegriindet,  und  so  blieben  immer  mehr 
Russen  von  der  Slavia  fort.  Die  nichtrussischen  Slaven  waren 
jedoch  noch  zu  schwach  vertreten,  um  allein  einem  Verein  die 
Lebenskraft  zu  sichem. 

Vom  Durchschnitt  der  damaligen  deutschen  Studentenschaft 
unterschieden  sich  die  slavischen  Studenten,  die  ich  kennen 
lernte,  durch  ihre  groBe  MaBigkeit  im  GenuB  alkoholischer 
Getranke  und  ihr  Interesse  fiir  alles,  was  Demokratie  hieB. 
Allerdings  muBte  man  sie  als  eine  Art  Auslese  aus  der  Masse 
der  Studierenden  ihrer  Heimatlander  betrachten.  Aber  was  sie 


64 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


mir  von  den  Zustanden  an  den  heimischen  Hochschulen  er- 
zahlten,  liefi  erkennen,  daB  ihre  Lebensfiihrung  keine  sehr 
wesentlich  andere,  als  die  dort  iibhche  war.  Unzweifelhaft  hatte 
bei  diesen  Volkern  die  Ideologic  einen  starkeren  Einflufi  auf  die 
akademische  Jugend  als  in  dem  Lande  Kants  und  Schillers. 
Bei  den  deutschen  Studenten  Ziirichs  liberwog  in  bezug  auf 
fast  alles,  was  fiber  ihr  Fach  hinausging,  jener  Geist,  wie  er  aus 
den  jetzigen  politischen  Kundgebungen  deutscher  Gelehrter 
spricht,  und  den  man  nicht  gerade  Ideologic  nennen  kann. 

So  mafiig  aber  meine  slavischen  Bekannten  beim  Bier  waren, 
so  unmaBig  waren  sie  — oder  wenigstens  die  Russen  — im 
Genufi  von  Tee  und  Rauchen  von  Zigaretten.  Nur  tranken  sie 
den  Tee  in  recht  diinnem  AufguB,  und  die  Zigaretten  pflegten 
sie  sich  selbst  zu  drehen.  Aber  der  Menge  nach  war  der  Ver- 
brauch  des  Aufgusses  ein  gewaltiger,  und  selten  war  ich  mit 
Russen  zusammen,  ohne  dafi  sie,  sei  es  drehend  oder  rauchend, 
mit  ,,Papyrossi“  sich  beschaftigten . 

Zu  einer  emsthaften  politischen  Intimitat  kam  es  zwischen 
einigen  Russen  und  uns.  Besondere  Freundschaft  schlossen 
Kautsky  und  ich  mit  Paul  Axelrod,  der  im  Verein  mit  Georg 
Plechanow  und  Vera  Sassulitsch  Begriinder  der  ausgesprochen 
marxistischen  Fraktion  der  Sozialisten  RuBIands  war,  und  bei 
Axelrod  lernte  ich  neben  den  Genannten  auch  dessen  Landsmann 
Leo  Deutsch,  den  Verfasser  von  ,,Sechzehn  Jahre  in  Sibirien“ 
(Dietz,  Stuttgart)  kennen,  kurz  bevor  er  infolge  irgend  einer 
Denunziation  auf  einer  Reise  durch  Deutschland  in  Freiburg 
im  Breisgau  verhaftet,  von  der  badischen  Polizei  der  preuBischen 
und  von  dieser  an  RuBland  ausgeliefert  wurde.  Deutsch  war 
damals  ein  noch  ziemlich  junger  Mann,  der  sich  lebensfreudig 
und  willenskraftig  gab.  Als  ich  ihn  zwanzig  Jahre  spater  nach 
seiner  Rlickkehr  aus  Sibirien  wiedersah,  war  er  iiber  seine  Jahre 
gealtert  und  saB  meistens  still  in  sich  gekehrt  da.  Wer  ihn 
denunziert  hatte,  ist  unermittelt  geblieben,  obwohl  sich  Julius 
Metteler  alle  Miihe  gab,  es'herauszubekommen,  und  die  Aus- 
findung  von  Polizeispionen  war  Mettelers  besondere  und  eifrig 
betriebene  Kunst,  man  konnte  beinahe  sagen,  sein  Sport.  Noch 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


65 


vor  Deutschs  Verhaftung  war  unserer  Genossenschaft  auf  diesem 
Gebiete  ein  grofier  Fanggelungen,  dessen  Bekanntgabe  seinerzeit 
erhebliches  Aufsehen  erregte.  Die  Geschichte  fiihrt  uns  in  das 
Lokal  zuriick,  wo  der  Mohrenklub  zusammenkam  und  an  das 
sich  eine  besondereErinnerung  kniipft,  die  hier  erwahnt  werden 
mag,  wenngleich  August  Bebel  sie  schon  in  der  Geschichte  seines 
Lebens  mitgeteilt  hat.  In  das  Haus  zum  Thaleck  an  der  Ecke 
des  Zeltwegs  und  derSteinwiesgasse,  wo  in  der  unten  gelegenen 
Wirtschaft  der  Mohrenklub  sich  versammelte,  zog  zur  Zeit,  von 
der  hier  die  Rede  ist,  Ziirichs  beriihmter  Dichter  Gottfried  Keller 
ein.  Als  nun  eines  Abends  Paul  Heyse  bei  Keller  zu  Besuch 
war  und  aus  den  Parterreraumen  lauter  „Gesang“  zu  ihnen 
herauftonte,  fragte  Heyse,  wer  denn  da  unten  so  larme.  „Das 
sind  de  Sozialdemokrate“,  antwortete  Keller  in  halbem  Ziirich- 
deutsch.  Worauf  der  Dichter  der  „Kinder  der  Welt“  sich  hin- 
stellte  und  sofort  mit  komischem  Pathos  deklamierte : 

„Dort  unter  der  Schwelle 
Brodelt  die  Holle.“ 

Obwohl  ich  leicht  Gelegenheit  dazu  hatte  haben  konnen, 
Keller  personlich  kennen  zu  lernen,  da  der  mir  befreundete 
Reinhold  Riiegg  sehr  freundschaftlich  zu  ihm  stand,  habe  ich 
mir  das  entgehen  lassen.  Nicht  aus  mangelndem  Interesse  fur 
ihn,  sondern  infolge  einer  Charakteranlage,  die  mir  auch  in 
anderer  Hinsicht  oft  im  Wege  gewesen  ist.  Eine  eigentiimhche 
Scheu  hielt  mich  davon  ab,  Personen  von  Bedeutung  mich  vor- 
stellen  zu  lassen,  wenn  ich  nicht  politisch  mit  ihnen  zu  tun 
hatte.  Ich  konnte  das  Gefiihl  nicht  loswerden,  dafi  ich  ihnen 
personlich  nicht  genug  brachte,  um  die  Einfiihrung  zu  recht- 
fertigen.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  unter  anderem  es  damals 
geradezu  vermieden,  mit  zwei  Gelehrten  von  groBem  Ruf,  die 
in  Zurich  lebten  und  die  meiner  Familie  nahe  standen,  dem 
Physiologen  Ludimar  Hermann  und  dem  Chemiker  Victor 
Meyer,  in  Beziehung  zu  treten,  obwohl  ich,  was  letztgenannten 
betrifft,  fur  sein  Genie  und  seine  geradezu  bezaubernde  Per- 
sonlichkeit  die  groBte  Bewunderung  empfand.  Vielleicht  auch 
gerade  deswegen. 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


Aber  wenn  ich  den  Dichter  des  „Griinen  Heinrich**  nie  ge- 
sprochen  habe,  so  habe  ich  ihn  wenigstens  oft  genug  gesehen. 

Eine  Zeitlang  pflegte  Gottfried  Keller  gelegentlich  auf  seinem 
Heimweg  in  der  an  der  Grenze  von  Zurich  und  Hottingen  ge-  3 

legenen  Wirtschaft  zum  Pfauen  einzukehren.  Dort  sa8  er  dann 
mutterseelenallein  und  trank  seinen  Schoppen  Bier  oder  Wein. 

Das  gleiche  tat  in  einiger  Entfemung  ich,  da  auch  mir  die 
Wirtschaft  bequem  am  Nachhauseweg  lag,  und  so  hatten  wir 
beide  die  beriihmte  Epopee  vom  Bauer  und  der  alten  Eule  auf- 
fiihren  konnen  — „der  Bauer  sah  die  Eule  an,  und  die  Eule 
sah  den  Bauer  an“  — wenn  das  Interesse  ein  gegenseitiges  ge- 
wesen  ware. 

„Seinen  Schoppen**  muB  indes  bei  Keller  nicht  zu  buch- 
stablich  genommen  werden,  denn  er  war,  wie  die  meisten 
Ziiricher,  ein  herzhafter  Trinker.  Wenn  ich  ihn  aus  der  Wirt- 
schaft heimwandeln  sah,  hatte  ich  nicht  selten  den  Eindruck, 
als  ob  er  stark  geladen  hatte.  Es  wird  von  ihm  in  Zurich  eine 
Anekdote  erzahlt,  die  wohl  auch  irgendwo  schon  dem  Druck 
iibergeben  worden  ist : Keller  wollte  einmal  spat  abends  aus 
dem  Wirtshaus  in  seine  eben  erst  bezogene  Wohnung  zuriick 
und  war  des  Weges  nicht  sicher.  So  rief  er  einen  Voriiber- 
gehenden  an:  „He,  chonnet  Ihr  mir  nit  sage,  wo-n-ich  wohn?“ 

Der  Voriibergehende  sah  ihn  erstaunt  an : „Der  Tuusig,  Ihr 
seid  ja  der  Gottfried  Keller !“  Keller  aber  wurdebose:  „Dummer 
Chaib ! Han  ich  Eu  gfraget,  wer  ich  bin  ? Ich  han  Eu  gfragt, 
wo-n-ich  wohn\“ 

Man  hat  das  dem  Dichter  nicht  zur  Unehre  nacherzahlt. 

Denn  Trinken  und  angetrunken  sein  gait  in  Zurich  fur  etwas 
durchaus  Rechtschaffenes . So  riet  mir  einmal  mein  Ziiricher 
Arzt  als  Mittel  gegen  den  mich  gerade  qualenden  Schnupfen, 
abends  vor  dem  Einschlafen  sechs  Glas  starken  Grog  zu  mir  zu 
nehmen,  und  fiigte  hinzu : „Ich  tue  das  auch  ofters  prophylak- 
tisch“.  Starke  Trinker  waren  iibrigens  auch  mein  Landsmann 
Beust  und  seine  Sohne.  Der  Jiingere  versuchte  einmal,  unseren 
Wilhelm  Liebknecht  unter  den  Tisch  zu  trinken.  Aber  der  Alte 
war  wetterfest,  und  das  Gefecht  blieb  unentschieden. 


Eduard  Bernstein  « Volker  zu  Hause 


67 


Mir  selbst  ist  der  Zuricher  Weindurst  versagt  geblieben,  ob- 
wobl  ich  mehrere  Jahre  an  der  Quelle  safi.  Ich  wohnte  bei  einem 
guten  Gesinnungsfreunde,  der  fiir  ein  groBes  ungarisches  Wein- 
haus  reiste,  und  da  mein  Verhaltnis  zu  ihm  und  seiner  Familie 
ungemein  freundschaftlich  war,  wurde  mir  Wein  in  Fiille  ge- 
boten.  Ich  habe  indes  nur  wenig  Gebrauch  davon  gemacht. 

Uberhaupt  lebten  gerade  die  Matadore  des  Mohrenldubs 
auBerst  mafiig,  was  nicht  nur  daran  lag,  daBwir,  mitAusnahme 
Hochbergs,  der  aber  bloB  Gastrollen  bei  uns  gab,  alle  nur  iiber 
schmale  Mittel  verfiigten.  Vollmar,  der  viel  vertragen  konnte, 
trank  im  Hause  gar  nicht  und  im  Wirtshause  wenig.  Metteler 
riihrte  keinen  Tropfen  Alkohol  an,  Kautsky  tat  es  ihm  am  lieb- 
sten  nach,  ebenso  Karl  Hochberg,  und  wessen  ich  mich  an 
nennenswerten  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  riihmen  konnte, 
gehorte  damals  schon  der  Vergangenheit  an.  So  daB,  da  Vollmar, 
Kautsky  und  ich  obendrein  auch  nicht  rauchten.  Benoit  Malon, 
der  im  Sommer  und  Herbst  1 879  in  Zurich  wohnte,  in  der  Vor- 
stellung,  die  er  sich  als  Franzose  von  der  Besonderheit  der 
Deutschen  gemacht  hatte,  durch  uns  vollstandig  erschiittert 
wurde.  Sein  Bild  von  einem  Deutschen  war  ein  Mensch  ge- 
wesen,  der  furchtbar  rauchte  und  Unmassen  Bier  vertilgte. 

* 

Und  nun  zum  Spitzelfang  zuriick.  Eines  Tages  im  Jahre  1 884 
erschien  in  der  Wirtschaft  zum  Thaleck  ein  Kaufmann,  Elias 
Schmidt,  aus  Dresden  und  stellte  sich  dort  verkehrenden  So- 
zialisten  als  Gesinnungsgenossen  vor.  Er  hatte,  erzahlte  er,  im 
Geschaft  Bankerott  gemacht  und  sich  nun  mit  dem  Rest  des 
Seinigen  gefliichtet.  Von  Gesinnung  sei  er  mit  Leib  und  Seele 
Sozialist,  was  er  durch  sehr  radikale  Redewendungen  zu  be- 
kraftigen  suchte.  Daneben  machte  er  gute  Zeche  und  war  mit 
dem  Traktieren  recht  freigebig.  Wir  alteren  Parteigenossen 
merkten  ohne  weiteres,  dafi  mit  dem  Sozialismus  des  Mannes 
nicht  viel  los  war,  so  dafi  er  an  uns  nicht  heran  konnte.  Nur  auf 
eine  Anzahl  jiingerer  Sozialisten,  darunter  den  sehr  naiven  Wirt 
des  Thaleck,  den  schweizerischen  Sozialisten  J . Obrist,  machte 


68  Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 

er  mit  seinem  Radikalismus  und  seiner  anscheinenden  Gut- 
miitigkeit  einigen  Eindruck,  so  dafi  unsere  Warnungen,  sich  nicht 
mit  ihm  einzulassen,  bei  ihnen  auf  unfruchtbaren  Boden  fielen 
und  sogar  von  etlichen  als  ungehorige  Bevormundung  zuriick- 
gewiesen  wurden.  Wenn  mein  Gedachtnis  mich  nicht  tauscht, 
ist  damals  im  Thaleck  das  Wort  Olymp  fiir  unser  Hauptquartier 
am  Oberen  Wolffbach  geschmiedet  worden.  Jedenfalls  ist  es  zu- 
erst  von  Leuten  gebraucht  worden,  die,  ohne  Titanen  zu  sein, 
Ursache  hatten,  dem  Hauptquartier  zu  ziirnen.  Els  gab  recht 
bose  Worte,  und  wir  fingen  an,  das  Lokal  zu  meiden. 

Endlich  schopfte  aus  einem  nicht  weiter  zu  erwahnenden 
Grunde  auch  der  gute  Obrist  Verdacht  und  riickte  mit  noch 
einem  Genossen  dem  Schmidt  auf  den  Leib,  Willig  liefi  der 
Biedermann  sein  Zimmer  durchsuchen,  wo  sich  auch  in  der  Tat 
nichts  vorfand,  das  erlaubt  hatte,  auf  Spitzelei  zu  schliefien.  Als 
man  aber  darauf  bestand,  auch  den  Inhalt  seiner  gefiillten  Rock- 
taschen  zu  durchsuchen,  ward  er  blaB  und  bekundete  plotzlich 
einen  unaufschiebbaren  Drang  nach  einem  unnennbaren  Ort. 
Man  lieB  ihn  gewahren,  merkte  aber,  als  er  zuriickkam,  daB, 
was  er  dort  erleichtert  hatte,  eben  seine  Taschen  waren.  Weitere 
Nachforschungen  lieferte  in  wenig  appetitlicher  Umhiillung  ein 
ganzes  Biindel  Bnefe,  die  nicht  appetitlichere  Korrespondenz 
des  Schmidt,  die  dessen  Spitzeltum  auBer  jeden  Zweifel  stellte, 
in  die  Hande  der  Untersucher.  Der  edle  Bankrotteur  hatte  mit 
dem  Chef  der  Dresdener  Kriminalpolizei  in  lebhaftem  Brief- 
wechsel  gestanden  und,  da  er  von  diesem  nur  maBige  Bezah- 
lung  erlangen  konnte,  auch  sich  der  Berliner  und  Stuttgarter 
Polizei  angeboten  und  mit  dem  in  Miilhausen  im  ElsaB  sta- 
tionierten  und  offenbar  mit  dem  Geheimdienst  im  Schweizer 
Gebiet  betrauten  Polizeikommissar  Kaltenbach  Verbindung  an- 
gekniipft.  Die  Briefe  des  Genannten  an  Schmidt  wurden,  sorg- 
faltig  gereinigt,  dem  von  Metteler  angelegten  Spitzelarchiv  der 
Sozialdemokratie  einverleibt,  ihr  Inhalt  aber  ward  mit  gebiih- 
renden  Kommentaren  in  einer  Broschiire  veroffentlicht,  die  im 
Verlage  der  Volksbuchhandlung  Hottingen-Ziirich  unter  dem 
Titel  „Die  deutsche  Geheimpolizei  im  Kampfe  mit  der  Sozial- 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


69 


demokratie“  erschien.  Sie  ist  langst  vergriffen  und  nur  noch  Hier 
und  da  in  Bibliotheken  zu  haben,  hat  aber  nicht  jedes  Interesse 
verloren.  Man  erhalt  durch  die  Briefe  interessante  Einblicke  in 
den  Verkehr  der  Geheimpolizei  mit  ihren  Agenten.  Im  allge- 
meinen  ist  er  durch  das  Sprichwort  bezeichnet : „Man  liebt  den 
Verrat  und  verachtet  den  Verrater.“  Deutlich  tritt  die  Tendenz 
hervor,  die  Spitzel  moglichst  kurz  zu  halten  und  gewissermaBen 
nach  dem  Stuck  zu  bezahlen.  Je  mehr  und  je  wichtigere  An- 
zeigen,  um  so  besser  die  Bezahlung  und  umgekehrt.  Ein  be- 
quemes  und,  reinkommerziellbetrachtet,  auch  rationelles  System, 
das  aber  auf  dieMenschen,  gegeniiber  denen  es  angewandt  wird, 
die  verderblichste  Wirkung  ausiibt. 

Els  ist  das  beste  Mittel,  aus  dem  Spitzel  einen  Lockspitzel 
— oder  wie  man  das  Wort  agent  provocateur  sonst  iibersetzen 
will  — zu  machen.  Um  seine  Beziige  nicht  zu  verlieren,  son- 
dern  sie  womdglich  noch  zu  steigern,  geht  der  nach  dem  Stuck 
bezahlte  Spitzel,  wenn  ihm  der  Berichtstoff  ausgeht,  leicht  dazu 
iiber,  sich  solchen  zu  ,,machen“,  das  heiBt,  die  Leute,  die  er 
ausspioniert,  nach  Moglichkeit  zu  Handlungen  zu  veranlassen, 
welche  sie  sonst  nicht  begingen.  Selbst  Agenten  der  Polizei, 
denen  eine  feste  Lohnung  ausgesetzt  ist,  unterliegen  dieser 
Versuchung.  Denn  da  sie  nicht  in  einem  Beamtenverhaltms 
stehen,  sondern  jederzeit  gewartig  sein  miissen,  daB  lhnen  ihr 
Dienst  gekiindigt  wird,  heiBt  es  auch  fur  sie,  darauf  Bedacht 
nehmen,  daB  sie  guie  Berichte  liefern  konnen. 

Fiirdiesedepravierende  Wirkung  des  Systems  der  politischen 
Geheimpolizei  kamen  im  Laufe  der  Jahre  Beispiele  der  ver- 
schiedensten  Art  zu  unserer  Kenntnis,  darunter  einige  wahr- 
haft  erschiitternder  Natur.  Denn  nicht  immer  war  der  Kund- 
schafter  der  Polizei  von  vornherein  ein  Verrater.  Mancher  hatte 
sich  uspriinglich  zu  anscheinend  harmloser  Berichterstattung 
oder  mit  inneren  Vorbehalten  anwerben  lassen,  die  sein  politi- 
sches  Gewissen  ihm  vorschrieb,  und  ward  sich  erst  spater  inne, 
daB  er  der  Gefangene  eines  Systems  geworden  war,  das  fur 
seine  Werkzeuge  keinen  moralischen  Aufstieg  kennt.  Erlahmte 
er  unter  dem  Druck  dieser  Erkenntnis  in  seinem  Eifer,  so  lieBen 


70 


Eduard  Bernstein  • Volker  zu  Hause 


seine  Brotgeber  ihn  kiihl  fallen,  und  das  nicht  immer  sehr  sanft. 
Es  kamen  Beispiele  vor,  wo  man  sich  schwer  dem  Verdacht 
verschliefien  konnte,  dafi  Obere  einen  unbrauchbar  gewordenen 
Agenten  selbst  der  Gegenpartei  in  die  Hande  gespielt  hatten. 
Wie  das  auf  andern  Gebieten  der  Spionage  ja  auch  vorkommt. 

Je  mehr  die  Verbreitung  des  ,,Sozialdemokrat“  wuchs,  um 
so  starker  mehrte  sich  auch  das  Personal  der  Polizisten  und 
Polizeiagenten,  deren  Mission  es  war,  den  Schleichwegen  des 
Schmuggels  und  den  verschiedenen  Verbreitern  auf  die  Spur 
zu  kommen.  In  den  Zentren  der  Bewegung  im  Reiche  selbst 
ward  nach  Kraften  gespitzelt,  in  den  Grenzgebieten  Deutsch- 
lands  nach  der  Schweiz  zu  wurde  die  Uberwachung  verscharft, 
und  in  Zurich  suchten  immer  zweifelhaftere  Gestalten  sich  an 
die  Vertrauensmanner  der  Partei  heranzudrangen.  Selbstver- 
standlich  ware  nichts  vorteilhafter  gewesen,  als  in  der  Zentrale 
Einblicke  in  das  System  des  Vertriebs  und  seine  Hauptadern 
zu  erhaschen,  da  man  damit  die  Schliissel  zu  alien  weiteren 
Verbindungen  in  der  Hand  gehabt  und  die  Moglichkeit  gewonnen 
hatte,  immer  wieder  den  ganzen  Organismus  durch  Schlage  an 
bestimmten  Stellen  lahm  zu  legen . Indes  trotz  aller  Bemiihungen 
haben  es  die  Sendboten  und  freiwilligen  Zutrager  der  Polizei 
nie  erreichen  konnen,  diese  Aufgabe  zu  losen.  Der  „01ymp“ 
erwies  sich  ihnen  alien  als  unzuganglich.  Dagegen  konnte  der 
,,Sozialdemokrat“  immer  wieder  Entlarvungen  von  Spitzeln 
zur  Kenntms  bringen. 

Und  nicht  nur  Spitzel  mufiten  abgewehrt  werden.  An  jede 
aufierste  Opposition  drangen  sich,  namentlich  wo  sie  vom  Aus- 
land  her  wirkt,  Leute  heran,  die  irgend  einen  personlichen  Groll  zu 
befriedigen  haben  oder  von  Abenteurerdrang  getrieben  werden, 
es  einmal  mit  dem  politischen  Umsturz  zu  versuchen . Sie  werden 
dadurch  gefahrlich,  dafi  sie  meist  einen  unbandigen  Tatendrang 
entfalten,  der  sich  in  allerhand  tollen,  die  Bewegung  nur  bloB- 
stellenden  Projekten  Luft  macht.  Der  literarische  Kampf  kann 
ihnen  nicht  personlich  genug,  der  politische  nicht  wild  genug 
gefiihrt  werden,  bis  — ihr  Zorn  verraucht  ist  oder  ihrer  Aben- 
teurerlust  sich  ein  anderes  Feld  der  Betatigung  darbietet  und 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


71 


sie  dann  den  Beruf  in  sich  fiihlen,  aus  Umstiirzlern  zu  Rettem 
des  Vaterlandes  zu  werden. 

Ein  mustergiiltiges  Exemplar  dieser  Gattung  war  ein  Haupt- 
mann a.  D.  von  Ehrenberg,  der  sich  um  die  Mitte  der  achtziger 
Jahre  bei  uns  in  Zurich  einfand.  Der  Mann  war  nicht  unbegabt, 
aber  von  einem  rasenden  Ehrgeiz  und  Rachedurst  besessen. 
Er  behauptete,  ein  SproBling  aus  dem  Geschlecht  der  Zahringer 
und  in  dieser  Eigenschaft  legitimer  zu  sein,  als  die  regierende 
Familie  des  badischen  Herrscherhauses . Als  Militar  hatte  er 
sich  im  deutsch-franzosischen  Krieg  Auszeichnungen  erworben, 
spater  aber  sich  durch  eine  Schrift  gegen  den  Paradedrill  und 
ahnliches  miBliebig  gemacht,  sechs  Monate  Festungshaft  auf- 
diktiert  bekommen,  die  er  in  Wesel  absafi,  und  nach  deren  Ver- 
biiBung  den  Abschied  erhalten.  Nun  briitete  er  Rache,  und  da 
er  sie  in  der  siiddeutschen  Volkspartei,  der  er  sich  zuerst  zu- 
wandte,  nicht  befriedigen  konnte,  sollte  die  Sozialdemokratie 
ihm  dazu  Vorspann  leisten. 

Er  kam  nach  Zurich,  und  da  er  von  einem  vertrauenswiirdigen 
Genossen  eine  Einfuhrung  erhalten  hatte,  fand  er  ZulaB  am 
Oberen  Wolffbach.  Auch  war  der  erste  Eindruck  kein  un- 
giinstiger,  Als  kleiner,  schlank  aber  kraftig  gebauter  Mann  trat 
er  zunachst  sehr  bescheiden  auf  und  liefi  sich  anscheinend  ohne 
groBen  Widerspruch  etwas  sagen.  Als  ich  ihm  z.  B.  auf  seine 
Bemerkung,  er  gedenke  unseren  Arbeitern  in  Zurich  kriegs- 
wissenschafthche  Kurse  zu  geben,  erwiderte,  ich  konne  ihm 
nicht  dazu  raten,  was  fiir  die  Arbeiter  davon  in  Betracht  kame, 
wiirde  ihnen  ja  doch  beim  Militar  schon  beigebracht,  schwieg 
er  sofort.  Tatsachlich  aber  bedeutete  sein  Schweigen  alles,  nur 
nicht  Zustimmung.  Vielmehr  hatte  ich  es  mit  dem  Einwurf 
ein  fiir  allemal  bei  ihm  verdorben.  Was  er  plante,  war,  sozia- 
listischen  Arbeitern  dieWissenschaft  des  Putsches  beizubringen. 
Daraus  ist  in  der  Weise,  wie  er  sich  das  wohl  gedacht  hatte, 
nichts  geworden,  wenn  sich  auch  schlieBlich  ein  paar  unruhige 
Geister  fanden,  denen  ein  Mentor  seines  Schlages  gerade  ge- 
fehlt  hatte.  Aufierdem  veroffentliche  er  die  Anweisungen  fiir 
den  Putsch,  die  er  dem  „Sozialdemokrat“  zugedacht  hatte. 


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Eduard  , 


'ernstein  ♦ Volker  zu  Hausc 


unter  der  Firma  von  „Ratschlagen  fiir  die  Verteidigung  Ziirichs 
im  Falle  einer  feindlichen  Invasion"  in  der  Ziiricher  „Arbeiter- 
stimme“.  Die  Artikel  verraten  den  sachkundigen  Militar,  sie 
verraten  aber  auch  einen  hamischen  Geist,  dessen  Phantasie  in 
Brutalitaten  schwelgt.  Und  dafi  die  Brutalitat  bei  ihm  nicht 
nur  Phantasie  war,  hatte  sich,  wie  wir  spater  erfuhren,  beim 
Militar  in  seinem  Verhalten  den  ihm  untergebenen  Soldaten 
gegeniiber  kundgetan  und  zeigte  sich  nun  in  der  rohen  Art, 
wie  er  seine  Frau,  ein  sehr  hiibsches  und  liebes  Personchen, 
terrorisierte.  Dabei  war  er  Vegetarier  und  glaubte  als  rich- 
tiger  Phantast  seine  Hinneigung  zum  Proletariat  dadurch 
bekunden  zu  miissen,  dafi  er  die  Gartnerei  erlemte  und 
in  einem  kleinen  Anwesen,  das  er  gepachtet  hatte,  mit  Vor- 
liebe  grobe  Erdarbeiten  verrichtete.  Indes  dauerte  diese  De- 
monstration seiner  Volksfreundlichkeit  nicht  allzulange.  Ernes 
Tages  erhielten  wir  von  emem  in  Paris  lebenden  Sozialisten 
ungarischer  Nationalist  das  Stiick  eines  von  Ehrenbergs  Hand 
geschriebenen  Flugblatts,  worin  heftig  gegen  den  Ziiricher 
„SoziaIdemokrat“  losgezogen  wurde,  der  durch  seine  unerhorte 
Mafiigung  die  Partei  korrumpiere  — dies  zu  einer  Zeit,  wo  tat- 
sachhch  der  „SoziaIdemokrat‘‘  bei  der  Mehrheit  der  Fiihrer  der 
Partei  in  Deutschland  als  die  Stimme  der  radikalen  Opposition 
der  Partei  in  hochster  Ungnade  war.  Aber  dam  it  nicht  genug, 
hatte  der  Hauptmann,  wahrend  er  auf  der  einen  Seite  mit  den 
Anarchisten  in  Verbindung  getreten  war,  gleichzeitig  versucht, 
mit  den  um  den  General  Boulanger  gruppierten  franzosischen 
Revancheleuten  politische  Geschafte  zu  machen.  Er  hatte  ihnen 
mitgeteilt,  dafi  er  den  Plan  der  Festung  Wesel  in  der  Hand 
habe,  durch  seinen  EinfluS  auf  die  Sozialdemokratie  in  der 
Lage  sei,  erne  Erhebung  ms  Werk  zu  setzen  und  im  gegebenen 
Fall  diese  Festung  zu  nehmen,  und  hatte  als  Kosten  fiir  die 
Vorbereitungen,  die  er  auf  Wunsch  treffen  werde,  eine  fabel- 
hafte  Summe  Geldes  genannt.  Indes  scheint  man  in  Paris  auf 
sein  Angebot  nicht  eingegangen  zu  sein,  zumal  man  durch 
Mittelspersonen  in  Erfahrung  gebracht  hatte,  wie  es  in  Wirk- 
lichkeit  mit  des  Hauptmanns  Einflufi  auf  unsere  Partei  stand. 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


73 


Auch  hatten  wir  Personen,  die  an  einzelne  von  uns  mit  der 
Frage  herangetreten  waren,  wie  sich  die  deutsche  Sozialdemo- 
kratie  in  einem  Kriege  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
verhalten  wiirde,  in  keinem  Zweifel  dariiber  gelassen,  daB,  wenn 
Frankreich  Krieg  anfinge,  es  trotz  Sozialistengesetz  und  unbe- 
schadet  unserer  Stellung  zur  elsafi-Iothringischen  Frage,  die 
deutsche  Sozialdemokratie  zu  Gegnem  haben  wiirde.  Ob  Ehren- 
berg  davon  erfahren  hat,  weiB  ich  nicht,  war  es  der  Fall,  so 
wiirden  die  Beschimpfungen,  mitdenen  das  erwahnte  Flugblatt 
insbesondere  den  Schreiber  dieses  bedachte,  ihre  guten  Griinde 
gehabt  haben. 

Aus  dem  franzosischen  Geschaft  wurde  nichts,  statt  dessen 
nahmen  die  Schweizer  Behorden,  die  von  der  Sache  Wind 
bekommen  hatten,  nun  den  Mann  aufs  Korn,  da  seine  Trei- 
bereien  nach  ihrer  Ansicht  die  Neutralist  der  Schweiz  zu 
kompromittieren  drohten.  Ehrenberg  wurde  als  der  politischen 
Spionage  verdachtig  in  Untersuchungshaft  genommen,  und  — 
siehe  da  — unter  seinen  beschlagnahmten  Papieren  fand  sich  unter 
anderem  das  Konzept  eines  Berichts  an  die  deutsche  Qesandt- 
schaft  in  Bern,  worin  liber  die  im  Stabe  des  „Sozia!demokrat“ 
tat  i gen  Personen  und  deren  Gepflogenheiten  Angaben  gemacht 
wurden  und  der  Schreiber  sich  anbot,  eines  Sonntagnachmittags, 
wenn  Metteler  mit  Frau  den  gewohnten  Spaziergang  in  die 
Umgebung  Ziirichs  mache,  in  dessen  Wohnung  einzubrechen 
und  alle  wichtigen  Briefe  und  Adressenlisten  zu  stehlen.  Der 
Idealist  undTyrannenhasser  war  vorsichtigerweiseeine  pohtische 
Riickversicherung  eingegangen. 

Beim  Verhor  zeigte  er  sich  in  Ausfliichten  uberaus  gewandt, 
gebrauchte  aber  wiederholt  eine  so  obszone  Sprache,  daB  ihn 
der  verhorende  Polizeihauptmann  Fischer  ermahnen  muBte, 
wenn  nicht  auf  ihn,  so  doch  wenigstens  auf  den  Protokollfiih- 
rer  Riicksicht  zu  nehmen.  Als  man  ihm  eines  Tages  gestattete, 
zum  Wechseln  der  Kleidung  in  Polizeibegleitung  einen  Besuch 
in  seiner  Hauslichkeit  zu  machen,  nahm  er  diese  Gelegenheit 
wahr  zu  entwischen,  floh  nach  Deutschland,  schrieb  dort  ein 
giftiges  Buch  iiber  die  Demokratie  in  der  Schweiz,  wurde  auch 


74 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


in  Deutschland  verhaftet,  verstand  es  dort  gleichfalls  zu  ent- 
fliehen  und  tauchte  schliefilich  eines  Tages  im  Transvaal  auf, 
wo  er  zur  Zeit  des  Burenkrieges  wieder  eine  zweideutige  Rolle 
gespielt  zu  haben  scheint. 

Ware  der  Mann  nicht  so  voller  kleinlicher  Bosheit  gewesen, 
so  wiirde  er  immerhin  mit  seinen  vielen  Streichen  den  Mittel- 
punkt  eines  Spionenromans  haben  abgeben  konnen.  Aber  es 
fehlte  ihm  jede  menschlich  versohnende  Eigenschaft,  ohne  die 
wir  uns  einmal  fiir  niemand  interessieren  konnen.  Aufier  seinen 
durchaus  in  peronlichem  Arger  wurzelnden  Rachegeliisten  hatte 
Ehrenberg  nichts  von  einer  Leidenschaft  an  sich,  war  er  Be- 
rechnung  bis  ins  Kleinste  hinein.  Ob  er  jemals  ein  Spitzel  im 
genauen  Sinne  dieses  Wortes  war,  ist  zweifelhaft.  Nicht  aber 
zweifelhaft  ist,  daB  er  der  Gattung  der  skrupellosesten  Verrater 
angehorte. 

Das  gleiche  kann  man  jedoch  bei  weitem  nicht  von  all  den 
Leuten  sagen,  die  als  Spitzel  auf  unsere  schwarzen  Listen  ge- 
kommen  sind.  Es  waren  Personlichkeiten  darunter,  von  denen 
man  Grund  hat,  anzunehmen,  daB  sie  bewufit  keinen  Sozialisten 
ans  Messer  geliefert  haben,  andere,  die  unter  dem  Beruf,  dem 
sie  verfallen  waren,  wirklich  seelisch  gelitten  haben.  Das  Ka- 
pitel  der  Spitzel  und  Spitzelentlarvung  gehort  zu  den  an  Tragik 
reichsten  Abschnitten  der  Geschichte  des  Ziircher  „Sozial- 
demokrat“.  Unvermeidlich  war  es,  daB  bei  der  zunehmenden 
Intensitat  des  Kampfes  mit  den  Polizeiwerkzeugen  gelegentlich 
Personenverwechslungen  unterliefen  und  vor  Leuten  gewamt 
wurde,  die  sich  Unvorsichtigkeiten,  aber  keine  absichtliche  An- 
geberei  hatten  zu  Schulden  kommen  lassen.  Eine  Warnung  im 
„Staatsanzeiger“,  wie  der  „Sozialdemokrat“  von  den  Genossen 
im  Reich  genannt  wurde,  hieB  aber  unter  Umstanden  Achtung, 
und  mancher  Schmerzensschrei  von  Leuten,  die  uns  heilig  be- 
teuerten,  daB  sie  zu  Unrecht  in  Verdacht  gekommen,  hat  mir 
schlaflose  Nachte  verursacht.  Diese  Kehrseite  unseres  Kampfes 
vergessen  nur  zu  leicht  diejenigen,  denen  die  Zeit  des  Sozialisten- 
gesetzes  heute  aus  derEntfernung  romantisch  verklart  erscheint. 


Peter  Baum  ♦ Aus  seinen  Werken 


Gieier  Q}aum : 


AUS  SEINEN  WERKEN 


‘Peter  ‘Baum , der  PurslicP,  f&nfundviersigjdfxrig, 
vor  ‘Verdun  gef alien  iff,  Pint er Id  fit  vier  ‘BdcPer . 
Gs  erscPienen : die  SedicPte  „ Qott  und die  cCrdume“ 
1902  bei  flxel  £ Juncker , die  ‘Kovellen  „0m  alien 
c PcPlofi"  1908  bei  ‘Paul  Cassirer,  die  ‘Romane 
„cfpu/c“  1905  bei  der  ‘DeutscPen  ‘Verlagsanstalt 
Concordia  und  ,£Kammermusik“ , das  reifste  ‘WerP, 
19m  — Purs  vor  Ulusbrudi  des  IKrieges  — im 
SHyperi oncer tag. 


WINTERMORGEN 

Droben,  wo  sie  schliefen, 

Wachen  Wolken  auf, 

Tuen  ihre  Tiefen 
Allem  Lichte  auf. 

Selige  Fernen  griifien  sich 
Blauen  Auges,  still. 

Eine  Sehnsucht,  die  nicht  reden  will, 
Uberschiittet  mich. 

Wie  des  Friihlings  Raunen 
Uber  Walderschnee 
Duftet  durch  das  Weh 
Ein  entziicktes  Staunen. 


6 Vol.  IH/2 


.>* 


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76 


Peter  Baum  ♦ A us  seinen  Werken 


NEIN! 

Nein!  ich  schwamm  durch  deine  Nebelstunden, 
Horte  selber  das  losgekettete  Kreischen  — 

All  das  Hollengetlimmel  von  dunklen  Hunden 
Dich  zerflelschen. 

Aber  Ich  weifi  deine  rauhen  Kliifte, 

Deine  steinernen  Felsen  zu  riihren. 

Gliihend  will  ich  bei  deinen  Todesgottern 
Meinen  Sonnenaufgang  schiiren. 

Ja,  wir  steigen!  Wie  aus  dunklem  Frohne 
Meine  Sonne  durch  die  Himmel  siedet, 

Und  meine  sonnengoldne  Krone 

1st  aus  Quadern  des  Lichts  geschmiedet. 


DU! 

Du ! Ich  werde  dich  doch  als  Beute  davontragen, 

Meine  bosen  Stunden  muBt  du  biiBen 

Und  mit  zagen,  siifien 

Worten  mir  von  deiner  Liebe  sagen. 

Warte,  bald  ducke  ich  mich,  und  dann  packe  ich  dich 
Alle  Nachte  liege  ich  auf  der  Lauer. 

Ein  langes  Meer  von  Trauer 
Schiittete  Wildheit  in  mich. 

WENN  OFT  ICH  STAUNE 

Wenn  oft  ich  staune,  daB  ich  nicht 
Wie  jener  Baum  im  Winde  bebe, 

DaB  selbst  ich  Stirn  und  Arme  hebe 
Und  wandle  wie  das  Sonnenlicht  — 


Peter  Baum  * A us  seinen  Werken 


Dann  ist  ein  Lachen  iiber  mir, 

Und  staunend  fiihl  ich,  wie  mich  biegt 

Und  auf  und  nieder  wiegt 
Das  helle  Lachen  iiber  mir. 

WENN  FRECH  DER  ABEND  NIEDERBLECKT 

Wenn  frech  der  Abend  niederbleckt 
Mit  blutbefleckten  Wolkenzahnen, 

Und  in  den  Hausem  — dumpf,  versteckt  — 

Sich  Menschen  ineinander  qualen. 

Dann  schleiche  ich  durchs  Heiderohr 
Und  grinse  in  die  groBe  Leere, 

Recke  den  Kopf  hervor  — 

Heule  nach  meiner  Seele. 


WENN  DIE  NACHT  FALLT 

EINE  NOVELLE 

Die  Lebensbaume,  die  auf  dem  Grase  kauerten,  sie  waren 
nur  furchtsame  Hiiter.  Sie  wagten  nicht,  ihre  Konigin  gegen 
den  Himmel  zu  recken.  Inmitten  des  Rasens  stand  eine  groBe 
Zeder.  Rund  und  ragend  trug  sie  die  Dunkelheit  aus  den 
matten  Schatten  der  Dammerung  empor. 

In  der  Halle,  die  vor  dem  finsteren  Hause  ihr  Licht  aus- 
breitete,  verstummte  das  Sprechen,  wenn  die  Schritte,  die  im 
Garten  umgingen,  naher  kamen.  — Eben  noch  war  der  groBe, 
hagere  Mann  oben  gewesen,  um  seine  Frau  und  ihren  Vetter 
zu  begriifien.  Ohne  abzulegen,  trat  er  dann  wieder  ins  Freie. 
Er  wufite,  man  kannte  das  bei  ihm.  — Schon  seit  geraumer 
Zeit  trieb  er  sich  bis  tief  in  die  Nacht  drauBen  herum. 

Er  wuBte:  jetzt  horen  sie  ihn  aus  dem  Tore  gehn.  — Laut 
spricht  er  mit  dem  Knecht. 


Peter 


aunt  * A us  seincn  Wcrken 


Nun  gab  er  dem  Reh  Futter.  Er  erhob  sich  und  fuhr  fort, 
im  Garten  aufund  ab  zu  wandern.  Er  bemerkte  das  Stillwerden 
bei  seinem  Nahen  und  versuchte,  ob  es  wiederkehrte.  Das 
Lachen  erhob  sich  hinter  seinem  Riicken,  wie  die  Springflut 
bei  Neumond. 

Kein  Mifitrauen  hegte  er.  Vor  ihm  stand  friihes  Erlebnis. 
Da  entziindete  sein  VerwirrtwerdenbeimEintrittdesEhemanns 
dessen  Verdacht.  Der  wollte  sich  damals  mit  ihm,  dem  nur 
erst  traumenden  Knaben  schieBen.  — Auch  als  er  noch  Schuler 
war,  errotete  er,  wenn  einer  in  der  Klasse  vom  Lehrer  zur 
Rechenschaft  gezogen  wurde.  Immer  fiihlte  er  sich  als  Tater 
und  erschrak,  wenn  ein  anderer  fiir  ihn  unschuldig  verurteilt 
wurde. 

Jetzt  geht  er  wieder  auf  das  Haus  zu.  Er  wird  sie  wieder 
erschrecken,  — die  Unschuldigen. 

Der  Mann  im  Dunkeln  tragt  eine  Flinte  auf  dem  Riicken. 
Dicht  vor  der  Treppe  bleibt  er  stehn.  Totenstill  war  es  plotz- 
lich  dort  oben.  Er  schamte  sich.  Er  wollte  kein  Knecht  Rup- 
recht  sein,  der  die  Rute  und  einen  Eishauch  in  die  warme 
Kinderstube  trug.  — Freut  euch,  Kinder,  ich  store  nicht  eure 
Freundschaft. 

Mit  weit  ausholenden  Schritten  ging  er  zur  Laube. 

Dort  sich  hinsetzend,  offnete  er  einen  drahtvergitterten 
Kasten.  Die  gezahmte  Dohle  flatterte  erschrocken  auf  das 
faserige  Holz  des  Tisches  und  schritt  vorwarts  — auf  ihn  zu. 

Ihre  kurz  gestutzten  Schwingen  breiteten  sich  auseinander. 
Sie  stand  mit  gespreizten  Fliigeln,  wie  liebeswerbend  vor  ihm. 
Sie  zupfte  an  seinem  Barte,  immer  die  Schwingen  weit  geoffnet. 

Auch  da  im  Lichtschein  ein  Werben,  das  Freundschaft 
geworden  war.  Der  Vetter  ist  ihr  zu  nah,  wie  ihm  der  Vogel 
zu  fern  ist.  — Immer  leidenschaftlicher  reiBt  der  Vogel  an 
seinem  Barte. 

Jah  erhebt  sich  der  Mann.  Seine  haarige  Hand  fahrt  mit  dem 
Vogel  ins  Bauer.  Durch  das  Tor,  iiber  die  Wiese  geht  er  dem 
Wald  zu.  Fiihlt  er  Eifersucht.  — Ihre  Arme,  ihr  Nacken  — 
sie  gehoren  ihm.  Freundschaft  gonnt  er  ihr,  auch  er  pflegt 


Ptitr  Baum  ♦ A us  scintn  Werken 


solche.  Aber  nicht  immer  mochte  er  bei  ihr  sitzen.  — Abend 
fiir  Abend  treibt  es  ihn,  herumzuscbweifen. 

Auf  dieser  Wiese  sah  er  manchmal  in  der  Dammerung 
Bdcke,  die  um  ein  Weibcben  kampften.  — Der  Starkste  bleibt 
immer  Sieger.  — Gleichmafiig  scbreitet  er  weiter.  — Die 
Lichter  der  Fenster  hocken  triibselig  furchtsam  in  der  Finster- 
nis.  Die  Wolkenwalle  decken  den  Mond,  der  vorsichtig  die 
SchieBscharten  entlang  gleitet. 

Er  streift  durch  ein  paar  Holzungen.  Nun  steht  er  vor  den 
dicken  Eichen,  die  mitten  im  Wege  ragen.  Mit  einem  Schild 
sind  sie  geschmiickt,  das  ihren  Namen  verkiindigt.  — Amalien- 
Eiche.  — Es  ist  nicht  mehr  zu  lesen.  — Eine  rohe  Art.  Schandung 
des  Waldes.  An  den  Schildern  merkt  er,  daB  er  sich  auf  dem 
Gute  seines  Schwiegervaters  befindet.  — Auch  der  Vetter  seiner 
Frau  hatte  sich  iiber  den  Vandalen  lustig  gemacht.  Ein  feiner 
Kerb  Sie  paBten  nicht  zueinander.  Immer  errotete  er  und 
konnte  ihm  nicht  ins  Gesicht  schauen.  — Verwundert  horchte 
manchmal  der  hagere  Mann  auf,  wie  mannlich  und  unbefangen 
er  zu  seiner  Frau  sprach,  wenn  er  sich  von  ihm  unbeobachtet 
glaubte.  — Die  beiden  paBten  auch  gut  im  Alter  zusammen. 
Zur  Freundschaft!  Zur  Liebe  wahlt  sie  den,  der  Erlebnisse  in 
der  Stimme  und  in  den  Augen  tragt. 

Der  Junge  sagt,  daB  niemand  fiir  seine  Taten  verantwortlich 
sei.  Das  sind  Worte,  die  auch  er  einmal  im  Munde  trug.  Wenn 
man  aber  alter  wird,  bringt  man  Zucht  und  Ordnung  unter 
das  Gesinde. 

Jetzt  weiB  er,  wohin  er  will.  Dort  in  dem  Gasthaus  trifft  er 
Bekannte.  Er  eilt  auf  das  Haus  zu  und  geht  vorbei.  Lieber  will 
er  zum  Wasserfall.  Dort,  wo  der  Flufi  weiBen  Schaum  zur 
Tiefe  rollt.  Wenn  dann  der  Mond  durch  eine  Lichtung  der 
Wolken  schwebt. 

Der  Mann  bleibt  stehen.  Wird  dort  einer  erschlagen.  Nein. 
Nur  der  Vetter  seiner  Frau  glaubte  es,  ais  er  die  Eulenschreie 
horte.  Von  alien  Seiten  kommen  sie  jetzt.  Was  die  Stadter  fiir 
Ohren  haben. 


Peter  Baum  ♦ Aus  seinen  W erken 


Er  geht  doch  wohl  zuriick  ins  Gasthaus.  Aber  da  fragen  sie 
ihn  wieder,  ob  er  mit  seiner  Frau  erziimt  sei.  Soil  er  denn 
ewig  zu  ihren  Fiifien  sitzen.  Das  habe  er  friiher  getan,  sagen  sie. 
Die  Liigner. 

Er  bleibt  wieder  stehen  und  pfeift.  So  pfifF  er  seinem  Hund. 
Gestern  hat  er  ihn  tot  geschossen,  weil  er  ihm  den  Vogel  nicht 
brachte.  Der  Jahzorn. 

DaB  er  nun  doch  des  Vaters  Gut  und  des  Nachbars  Tochter 
erworben  hat.  Dafier  von  ihrem  Haupte,  das  in  der  Nacht  iiber 
zartem  Halse  thront,  traumt,  er,  der  Ba  jade  rein  unter  Palmen  hat 
tanzen  sehen. 

Einst,  da  hat  er  Prediger  werden  wollen.  Sein  Vater  und 
seine  Briider  verachteten  ihn  darum.  Dann  blies  er  die  christ- 
liche  Kanzel  aus.  — Eine  runde  Flamme  war  sie  gewesen,  in 
deren  Hohlung  er  stehen  wollte,  voll  Heiligkeit  — voll  Liebe 
zu  der  Menschheit. 

Dannn  wurde  der  Glaube  dunkel.  Das  Heil  der  Menschen, 
er  konnte  es  nicht  mehr  fassen.  Es  zerflatterte  vor  ihm,  wie  die 
Karawanen  und  Schlosser,  die  ihm  in  der  Wiiste  als  Trugbilder 
erschienen  waren. 

Dann  liebte  er  die  Natur.  Viel  hat  er  gesehen. 

Er  lebte  in  vielen  Erdteilen. 

Er  trat  aus  Felsen.  Abgrundtief  lag  der  Flufi  unter  ihm  und 
seiner  Flinte.  Da  war  ihm  die  Welt  klein  geworden. 

Die  Buchen  waren  jetzt  wieder  ernst  und  ragend  um  ihn 
wie  friiher. 

Als  er  sein  vaterliches  Gut  iibernahm,  dachte  er,  es  gleich 
zu  verkaufen.  — Im  weiBen  Kleide  aber  saB  sie  neben  ihrem 
graubartigen  Vater.  Sie  hatte  runde,  weiBe  Knochel  und  neckte 
ihren  Vetter.  Dann  blickte  sie  zu  ihm  hin,  dem  Fremdgewor- 
denen.  Bliiten  warf  sie  ihm  in  Haar  und  Bart  und  sagte,  er 
sei  ein  indisches  Gotzenbild. 

Die  Hirschgeweihe,  die  Holztafelung  — sie  senkten  ihn  in 
die  Kindheit. 

Als  er  sie  auf  den  Felsen  trug  und  iiber  den  mederstiirzenden 
Gischt  hob,  schrie  sie.  Der  Mond  war  damals  so  von  Wolken 


Peter  Baum  ♦ Aus  seinen  Wet  ken 


81 

umdrangt  wie  heute.  — Dort  schleuderte  einer  seiner  Vor- 
fahren  sein  ungetreues  Weib  in  den  Schaum.  So  die  Sage. 
Das  erzahlte  er  ihr  nachher.  Da  wollte  sie,  er  solle  sie  noch 
einmal  dorthin  tragen.  — Nachher  hielt  sie  ganz  still  iiber  den 
weifien  Wellen. 

Der  Mann  steht  am  Wasserfall.  Er  klettert  den  Felsen  hin- 
auf.  In  ein  paar  Satzen  ist  er  oben. 

Als  er  da  sitzt,  kommt  wieder  seine  Kindheit  iiber  ihn.  Er 
weifi  nichts  mehr  von  den  Wassern  fremder  Lande.  Er  treibt 
iiber  der  Unendlichkeit.  Uber  ihn  treibt  die  Unendlichkeit. 

Wolkenzauberfrauen,  die  den  Mond  bannen. 

Des  Mannes  Hinterkopf  fallt  auf  den  Felsen.  DaB  er  hier 
als  Junge  gelegen  hat,  hier  auf  dem  glatten  Gestein,  das  war 
doch  recht  gefahrlich.  Das  Brausen  des  Wassers  will  das  wache 
Leben  mitnehmen. 

So  regungslos  stehen  die  Walder.  Oben  am  Himmel  gehen 
Wolken. 

Ein  Zorn  hammert  tief  in  ihm  ein  Schwert.  Er  schliefit  die 
Augen. 

Gertrud,  lege  deine  Hand  um  meine  Stirn  wie  ein  Diadem. 
Der  Bajaderen  Haut  ist  nicht  so  weiB  wie  deine.  Singe.  Sie 
haben  keine  Seele,  keine  blaue  Seele.  — Er  lacht  hafilich.  — 
Die  bietet  sie  dem  Vetter  dar,  wenn  er  fort  ist. 

Da  schliefit  er  wieder  die  Augen.  Schwere  Wachtraume 
umdrangen  ihn.  Die  Wolken  und  der  Mond;  nein:  weifie 
Frauen  liegen  mit  dem  Antlitz  auf  der  Erde.  Mit  dem  Riicken, 
den  Hiiften  und  Beinen  sind  sie  fest  an  den  Boden  geschnallt.  — 
Die  Mondscheibe  wird  vom  Riemen  losgelassen.  Sie  rollt.  — 

Ein  kurzes  Stohnen  und  ein  ohnmachtiges  Wehren  der  auf 
dem  Riicken  zusammengeschniirten  Arme.  — Kopf  nach  Kopf 
trennt  sie  von  den  ungetreuen  Korpern.  Der  Mann  fahrt  auf. 
Er  sinkt  wieder  zuriick.  Dort  iiber  der  Wiese  das  flackrige 
Licht.  Sein  Haus  steht  da.  Er  mochte  es  zudecken. 

„Ein  Offenbaren  unseres  Schuldgefiihls  zeugt  von  keinen 
Verbrechen!“  murmelte  er.  „Unsere  Gesichter  sind  unserer 


82 


Peter  Baum  » A us  semen  Werken 


Phantasie  weiche  Tonmasse,  in  die  sie  den  Ausdruck  pragt, 
den  sie  will.4* 

Da  steht  er  im  Zimmer  seiner  Frau.  Er  weiB,  da6  die  Halle 
vor  dem  Hause  erloschen  ist.  Die  Flamme  blaht  sich  wie  ein 
unformliches  Tier.  Es  tanzt  iiber  der  Kerze.  — Nun  hort  er 
deutlich  Gertruds  Stimme. 

„Nein!  0 nein!  SchlieBe  die  Tiir!  Er  kann  wie  eine  Katze 
schleichen,  wenn  er  will.  Ein  tiickischer  Tiger  ist  er  dort 
drauBen  geworden.  Er  schiefit  uns  beide  tot.“ 

Der  Mann  reiBt  die  Flinte  an  die  Schulter  und  spnngt  in 
die  Hohe.  Wie  sie  sich  da  umschlingen,  bringt  er  sie  beide 
zur  Ruhe. 

Ein  Knall  und  StoB  der  Flinte.  Kopfiiber  stiirzt  er  in  den 
Strom,  der  ihn  zur  Tiefe  schleudert. 


KAMMERMUSIK 

FRAGMENTE 

. . . Der  Morgen  kam  wie  ein  Gaukler  durch  die  Fenster 
und  trieb  Schattenspiele.  Er  gliihte  Wein  in  die  Glaser,  Glut 
in  die  Marmorflammen  der  Vestalinnen  und  in  ihre  durch- 
aderten  Wangen. 

Verhagen  saB  im  groBen  Lehnstuhl  und  hatte  die  Mappe 
von  lyrischen  Fragmenten  vor  sich.  — Er  wachte  gern  iiber 
den  Schlaf  hinaus.  Dann  kam  die  verklarte  Wachheit,  in  der 
man  von  der  Formtarantel  gestochen  wurde.  Die  Verse  sprangen 
dann  in  ihm  hoch,  blutige  Fontanen,  ebenso  die  Bilder  vor 
geschlossenen  Augen.  — Nach  langen  Nachtmarschen,  auf  der 
Flucht  vor  Feinden  haben  sich  die  Cotter  geformt,  sagte  er. 

* 

Es  war  nachmittags.  Guilbert  von  Ariman  und  er  waren 
in  seinem  Musiksalon.  Die  Bilder  und  Statuen  glanzten  im 
Dunst  der  durch  die  weitoffenen  Fenster  stromenden  Sonne. 


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Peter  Baum  * A us  scinen  Werken 


83 


— Guilbert  webte  am  Spinett,  und  sein  Freund  blies  dazu 
die  Flote.  — Erst  ais  die  Dammerung  die  Notenkopfe  ein- 
sackte,  horten  sie  auf.  Sie  saBen  noch  lange  in  dem  warmen 
Netze  der  Musik  halb  gefangen.  Spat  erst  stand  Verhagen  auf 
und  fiillte  die  Glaser.  Da  begann  erst  wieder  eine  Unter- 
haltung.  Guilberts  lange  diirrastige  Kriegergestalt  reckte  sich 
hoch,  so  daB  seine  schwarzen  Augen  liber  dem  Raume 
schwebten.  Uber  blassem  Antlitz  seine  runde  Stirn,  eine 
Kanonenkugel. 

Er  sagte  schief  lachelnd : 

„So  hast  du  das  Bild  ihm  gleich  wieder  abgekauft.  Fiir  uns 
bleibt  nie  etwas  iibrig.“ 

„Ich  glaube  selbst,  daB  er  nicht  so  bald  wieder  solchen 
Kolibri  fliegen  laBt.“ 

Sie  sprachen  von  dem  Bild  des  jungen  Malers  Berton. 
Georg,  nach  dessen  Einfall  es  ausgefiihrt  worden  war,  sagte: 
„Morgen  holen  es  meine  Diener.  — Die  kleinen  Schuhe  der 
jungen  Frau  sind  schillernde  Eidechsen,  die  bald,  wenn  der 
Regen  aufhort,  uber  den  Kies  rascheln  werden.  Entziickend 
ist  die  Bewegung  des  Galan,  dessen  Kopf  vor  dem  Regen 
unter  den  schiitzenden  Schirm  des  Reifrocks  gefliichtet  ist. 
Das  Bild  strahlt  ganz  zart,  wie  ein  bleichsiichtiger  Regenbogen. 

— Freilich  von  dem  Bild,  das  ich  Walther  zur  Hochzeit 
schenken  werde,  verspreche  ich  mir  auch  viel.“ 

„Hat  er  es  schon  begonnen?“ 

„Nein.  — Natiirlich  ist  es  einwenigpathetisch.  — Die  Kleine 
ruht  im  goldenen  Nachen,  den  ihr  blaues  Kleid  iiberstrahlt. 
Ihn  ziehen  sich  blahende  Schwane,  deren  schimmernde  Un- 
schuld  mit  den  flockigen  Wolken  liber  ihnen  wetteifert.  Ich 
denke,  er  wird  daraus  ein  rlihrendes  Mysterium  von  Farbe 
machen.“ 

Des  Dieners  Gesicht  erschien  in  der  Tiir.  — Sie  verliefien 
langsam  den  Raum.  Das  Gesicht  Verhagens  war  etwas  ver- 
wittert  im  Gegensatz  zu  jenem  bleichen,  jugendlichen.  Walther, 
der  Poet  mit  den  Negerkiefern  und  der  weiBen  Stirn,  kam 
noch  hinzu.  An  der  Tafel  saBen  sie  bei  drei  Gedecken.  — 


Peter  Baum  ♦ A us  seinen  Werken 


Wahrend  des  Speisens  unterhielten  sie  sich  zwischen  kleinen 
Pausen. 

Guilbert  sagte:  ,,Gestern  war  ich  beim  Chevalier  von 
Gaumer.“ 

„Ach  ja,“  meinte  Georg,  ,,der  Philosoph.  Er  zeigte  mir 
bedeutende  Plane,  die  er  bei  Hofe  vorlegen  wollte.  Aber  er 
konnte  sich  kein  Ansehen  geben,  weil  er  stotterte." 

,,Und  auch  sonst  ein  Kriippel  ist.  Solche  Leute  bleiben 
bei  all  ihren  groBen  Gaben  verachtlich.“ 

Georg  blickte  erstaunt  auf : ,,Selbst  wenn  er  ein  guter  Kopf 
ist?“ 

,,Ein  Geist  mag  er  dann  sein,  aber  kein  Mann.“ 

Walther  sagte:  ,,Er  ist  ein  phlegmatischer  Mensch.  Seines 
Vaters  Geliebte  hangte  sich  an  ihn.  Dafiir  verstieB  er  sie 
beide,  emport,  dafi  sie  an  solchem  Halbaffen,  wie  er  sagte, 
Gefallen  fand.  Sie  gerieten  ins  Elend.  Er  ging  betteln  fur 
sie  und  deckte  sie  nachts  mit  seinen  Kleidern  zu.“ 

„Es  beriihrt  ekelhaft,  wenn  man  von  einem  Mann  riihrende 
Ziige  erzahlt.  Sein  Vater  hatte  fiir  mein  Gefiihl  wohl  recht.“ 
Georg  liebte  Guilbert  in  solchen  Momenten,  weil  er  noch 
Gefiihle  hatte,  die  friiher  wohl  haufiger  waren.  Ganz  wunder- 
bar  kam  es  ihm  manchmal  vor,  wenn  er  ihn  so  reden  horte. 

Guilbert  lachte : „Ubrigens,  man  ifit  bei  dir  herrlich.  Na 
ja,  auch  deine  Zunge  ist  wunderbar  abgetont.  Man  sollte 
dich  nicht  nur  bei  der  Wahl  eines  Buches  oder  Kunstwerkes, 
sondern  auch  eines  Koches  zu  Rate  ziehen. “ 

„Wer  beachtet  denn  mein  Urteil?“  fragte  Georg  lassig. 
,,Alle,  das  weist  du.“  — Doch  beneidete  er  ihn  nicht  darum. 
Ein  gestorter  Organismus  erhoht  die  Empfindlichkeit  im  Ge- 
schmack.  Er  aB  von  allem  nur  einen  Bissen. 

Georg  erzahlte : „Eine  junge  Frau  wollte  ein  Kind  haben,  das 
mir  ahnlich  ware.  Sie  hangte  mein  Bild  ihrem  Bett  ge 
in  Hoffnung,  aber  vergebens.  Der  Junge  hatte  die  abstehenden 
Ohren  ihres  Gemahls.  Darnach  legte  sie  den  Aberglauben  ab 
und  suchte,  verniinftiger  geworden,  mich  zu  verfiihren,  auch 
ohne  Erfolg  freilich.  Da  beschwor  sie  meine  Seele  aus  dem 


Peter  Baum  ♦ Aus  scincn  Werken  85 

Traum  der  Nacht.  Sie  muB  wohl  nicht  unerbittlich  geblieben 
sein.  Die  Dame  behauptet  wenigstens,  daB  ihr  Sohn,  der  junge 
Lord  Hastings,  mein  Ebenbild  sei.  Keiner  auBer  ihr  sieht  die 
Ahnlichkeit.“ 

..Merkwiirdig.  Ja,  das  sind  deine  Liebesabenteuer.*4 
„Ich  liebte  eine  andere.  Ich  hafite  aber  nach  und  nach  in 
den  Gefiihlen  Stiimperarbeit  mehr  noch  wie  in  der  Kunst.44 

„Du  sagtest  doch  immer : Zu  Gefiihlen  kann  man  sich  iiber- 
reden.“ 

„Ja,  es  ist  qualvoll.  Illusionen,  aus  denen  man  immer  wieder 
herausstiirzt.“ 


* 

Das  Gerucht  war  entstanden,  daB  Georg  und  die  beriihmte 
Schonheit,  die  Herzogin  von  Regnard,  ein  Verhaltnis  hatten. 
Guilbert  erzahlte  es  lachend  Walther.  Guilbert  safi  vor  seinem 
grofien  Glaskasten  mit  den  Steinen.  — Er  war  dabei,  sie  neu 
zu  ordnen. 

Er  sagte:  „Die  Arten  sind  oft  in  ihren  Verwandtschaften 
so  schielend.  Es  gehort  auBerordentlich  viel  schopferische  In- 
tuition dazu,  sie  mit  Sicherheit  zueinander  zu  legen.44 

„Solche  Frau  mit  sechs  Kindem,'4  fuhr  er  fort,  „ist  abscheu- 
lich  auBerhalb  ihrer  Spitzen.  Wenn  das  Mieder  fallt,  sinken 
auch  die  Briiste.  Ohne  die  andem  Entstellungen  im  sechs- 
maligen  Kampfe  mit  dem  Storch.44 

„Ach,  die  Miitterlichkeit  macht  erhaben  und  riihrend,44  er- 
widerte  Walther.  „Fiir  barbarische  Zeiten  magst  du  recht 
haben.  Die  Pflege,  die  man  heute  einer  Frau,  nachdem  sie  ge- 
boren  hat,  zukommen  lafit,  tilgt  auch  den  letzten  Rest  der 
Kriegsnarben.“ 

„Nein.  Von  zwei  Kindem  kann  eine  Frau  genesen.  Sechse 
machen  zur  Hexe.  Das  Gesicht  kann  entziickend  bleiben.  Es 
lohnt  sich  wahrhaftig  nicht, “ fuhr  er  fort,  „eine  Frau  zu  be- 
sitzen,  die  schon  geliebt  hat.  Der  erste  macht  sie  in  der  ersten 
Nacht  vollig  zur  Sklavin.  In  jener  Nacht  wird  ihr  Wille  ge- 
brochen.  Wenn  sie  spater  einem  andern  sich  gibt,  ist  es  immer 


86 


Peter  Baum  • A us  semen  Werken 


ein  Scheinleib,  den  er  umfangt.  Georg  mufi  sehr  verhungert 
sein,  dafi  er  solcher  Frau  in  die  Grube  geht.“ 

Er  war  in  guter  Laune  und  erzahlte  viel.  Er  setzte  sich  friiher, 
wenn  in  irgend  einem  Winkel  der  Erde  ein  Krieg  ausbrach, 
auf  sein  Pferd,  um  auf  einer  der  beiden  Seiten  zu  kampfen.  — 
Einmal  kam  er,  zum  Spott  seiner  Freunde,  an,  als  die  Fehde 
schon  beigelegt  war.  ..Nirgends  liebt  sich  so  siiB,“  sagte  er  zu 
Walther,  ,,als  zwischen  den  Pausen  der  Gewehrfeuer.“ 

Ein  paar  Tage  darauf,  als  er  die  Herzogin  und  sechsfache 
Mutter  traf  und  sich  mit  ihr  unterhielt,  war  er  bezaubert.  Er 
hatte  noch  nie  diesen  Charme  an  ihr  bemerkt. 

Sie  war  eine  galante  Frau.  Der  Ruch  des  Heldenmutes 
witterte  um  ihn.  Ihn  zu  lieben,  war  durchaus  eine  Ehre. 

Sie  sagte  von  Georg:  ,,Ach,  er  ist  herrlich,  aber  er  wollte  nie 
versprechen,  mich  morgen  noch  zu  lieben.  Er  sagte  immer: 
das  wird  sich  ergeben.  Das  Abschiedessen  aber  war  reizend. 
In  der  Aussicht,  mich  loszuwerden,  versprach  ermirewigeUebe. 
Er  wird  es  nicht  halten.  — Walther  von  Ariman,“  setzte  sie 
nachdenklich  hinzu,  „ist  jedoch  riihrend  anhanglich  an  alle 
Frauen,  die  er  geliebt  hat.“ 

„Es  ist  unbegreiflich,“  dachte  Guilbert,  als  er  morgens 
schied,  „wie  man  solche  Frau  so  leichtherzig  fahren.  lassen 
kann.  Der  Kelch  des  Lebens,“  sagte  er  seit  der  Zeit,  ,,aus  dem 
alle  trinken  diirfen,  schwebt  an  ihm  ungenossen  voriiber.“ 
Dabei  kam  es  ihm  nicht  zum  Bewufitsein,  dafi  in  diesem  Falle 
Georg  doch  getrunken  hatte. 

Guilbert  liebte  sie  lange.  In  der  Zeit  zeichnete  er  sich  gerade 
oft  aus.  Als  er  einmal  zum  Duell  ging,  sagte  er:  „Sei  unbe- 
sorgt.  Keiner  kann  an  mich  heran.  Meine  Arme  sind  zu  lang.“ 
Ein  andermal  sollte  er  einen  Wettritt  mit  dem  beriihmtesten 
Reiter  machen.  Als  sie  ihn  in  der  vorhergehenden  Nacht  bat, 
sich  zu  schonen,  antwortete  er  lachend : „Ich  kann  nur  auf 
einem  Pferde  mit  langen  Stelzen  sitzen.  Ich  kann  nicht  ver- 
lieren.  Meine  Beine  sind  zu  lang.“ 

Eines  Morgens  erwachte  er  in  ihrem  Himmelbett.  Er  war 
aus  ihren  Armen  nur  fur  eine  Stunde  eingeschlafen.  — Neben 


Peter  Baum  ♦ A us  seinen  Wcrken 


87 


sich  fand  er  statt  lhrer  eine  Holzpuppe  in  lhrer  GroBe,  mit 
scKon  geschnittenem  und  bemaltem  Gesicht  und  wundervoll 
hohen  Haaren.  Auf  der  heraushangenden  Zunge  klebte  ein 
Zettel.  Er  las:  „Dieses  UbermaB  von  Liebe  ertrug  sie  nicht. 
Da  sie  eine  Frau  ist,  die  man  nie  verlaBt,  muBte  sie  fliehen. 
Eine  ewige  Seligkeit  ermlidet  die  Augen  beim  Notenlesen. 
Darum  brach  sie  diese  Melodie  ab.  Mich  liefi  sie  zuriick,  um 
dich  fur  die  erste  Minute  zu  trosten.“ 

Sie  sagte  nachher,  sie  sei  nun  mal  veranderungssiichtig  ge- 
wesen.  Ihm  es  zu  sagen,  habe  sie  nicht  gewagt.  Er  sei  so  jah- 
zornig.  Sie  habe  sich  in  ihrem  leicht  brennbaren  Bett  gefiirchtet. 
Seine  Ntistern  hatten  gewifi  Feuer  geschnaubt. 

Er  flog  in  groBem  Zorn  in  seine  Kleider.  Seinen  Degen,  den 
er  aus  der  Scheide  gerissen  hatte,  tat  er  erst  auf  der  StraBe 
wieder  hinein.  Wahrend  er  hereinsank,  fiel  ihm  allerhand 
Widerwartiges  von  ihr  ein:  ihre  kreischende  Stimme  in  der 
Erregung.  Einmal  sah  er  sie  ohne  ihren  Flechtenbau  auf  dem 
Kopf.  Es  gibt  nichts  Enttauschenderes  bei  einer  Frau  als  diinne 
Haare.  Das  Schlimmste  war  — sie  aB  viel,  — daB  sich  oft 
nach  dem  Souper  ihr  Bauch  spannte. 

Er  sprach  spater  immer  mit  echt  gefiihltem  Grauen  davon, 
daB  sie  so  lange  Georgs  Geliebte  gewesen  war.  Er  war  ja  auch 
von  ihr  fur  ein  paar  Tage  befangen  gewesen,  gab  er  vor  sich 
und  andern  zu,  mehr  nicht. 


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GLOSSEN 


*Die  SJfinrichtung . 


indes  das  nacktc  Herr  sich  feierlich 
verlor  — 


Wir  standen  auf  der  StraBe  vor  dem  Wir  standen  auf  der  Strafie  vor  dem 


Tor. 

Hohl  brandeten  die  Herzen  bis  ans 
Ohr. 

Schon  traten  jene  tot  und  hiefJen  nns 
im  Chor, 

wenn  es  vo  ruber  war  (jetzt  tei  es  bald 
so  weit), 

die  Stimen  zu  verneigen  still  vor  dcr 
Gerechtigkeit, 

aJIein  mit  Lachen  aufzurauscben 
schrill  vor  der  gefallten  Nieder- 
trachtigkeit. 

Die  Luft  ging  hin  und  her  und  war 
wie  leichter  Wein. 

Da  . . Sckattengang  . . aus  dem  ver- 
lomen  Haus  . . zu  zwein  . . 

hoch  mit  dem  Letzten  glomm  gedampft 
im  Abendschein 

das  tote  Herz  empor,  von  der  gereckten 
Hand  getragen! 

Dumpf  dreimal  fiihlt  leb  tief  die  Stir ne 
mein  in  rauhen  Staub  geschlagen, 

und  alle  schlugen  hin  und  niemand, 
niemand  konnt  ein  Lachen  wagen. 


Nur  einer 


hi 


da  wir  Iagen 


ragt 


man 


und  Idagt  den  Abend  an  und  klagt 
den  Wahn, 

den  Himmel,  die  Gewalt,  und  klagt 
es  alles  an. 


Tor. 


*Rodoff  (Fqc6&,  <7 rag . 


1 Vas  ist  die  Dio  He! 


it 


fTD as  ist  die  Holle,'*  pflegte  Strind- 
berg zu  sagen,  und  er  meinte  damit: 
eben  dieses  Leben  hier,  und  nichts, 
was  vordem  war,  und  nichts,  was  zu- 
kunftig  sein  wird,  son  dem  eben  dieses 
Leben  sei  jene  Holle,  mit  der  die 
Religionen  uns  drohen.  . . 

Gut,  ich  ube  in  diesem  Kneg  cine 
anstrengende  und  keineswegs  gefahr- 
lose  Tatigkeit  aus:  ich  bin  Armierungs- 
soldat.  Man  hat  uns  in  der  Kammer 
die  Uniform  ernes  der  vomehmsten 
preuBischen  Garderegimenter  gegeben, 
und  das  ist  ein  wenig  bizarr,  denn  wir 
sind  sonst  mit  Ehren  nicht  uberhauft. 
Wir  arbeiten  emst,  immer  mit  Hin- 
gebung  an  dieses  gewisse  Stiick  Erde 
vor  uns,  im  P asser,  im  Schlamm,  wir 
husten  auch  viel  ....  gut,  gut,  Sie 
werden  nicht  glauben,  daB  ein  Mann 
in  meinen  Jahren,  ein  Mann  von  43 
dieser  hollischen  Jahre,  hier  vor  das 
Publikum  tritt,  sich  zu  beldagen.  Man 
tut  seine  Pflicht.  . . Aber  man  sollte 
dorh  denlcen.  daB  ein  Mann  in  meinen 


? a ri  r'i  \ / 


e 


Arm 

'w  i \ M 


t Y'r<  rr1: 


I I r U-i  I 


OF  M f 


GAh 


Glosscn 


Jahren  jedenfalls  des  Nachts,  wenn  er 
in  sein  Quarticr  zuriickkehrt,  — etwas 
crmudct  und  nicht  ganz  frfihlich,  zu- 
mai  wenn  es  noch  gilt,  die  EBgeschirre, 
die  Stiefel  und  die  Kleider  zu  reinigen ; 
man  soli  te  den  ken,  daC  solch  ein  Mann 
wenigstens  des  Nachts  seinen  siiBen, 
hi  n dam  mem  den  Frieden  hatte. 

Nein.  Es  kommen  Traume.  Es  kam 
ein  Traum: 

Ich  empfing  daheim  in  meinem 
Zimmer,  ich  frftstelnder,  unselig 
liebender  Gatte,  Besuch  von  meinem 
Freund.  Wirsprachen  stunden-,  aber 
stundenlang  von  alien  guten,  leben- 
bliihenden  Dingen.  Wie  er  davongeht, 
begleite  ich  ihn,  trunken  vor  Gliick 
liber  diese  Stunde  und  iiber  diesen 
einzigen  Freund,  bis  zu  meiner  Haus- 
treppe.  Dort  aber  steht  meine  Frau, — 
Anna  stehet  dort,  in  einem  gelben 
Friihjahrskostiim  und  mit  Danisch- 
Lederhandschuhen,  steht  dort  tief  ge- 
biickt  wie  cine  alte  Frau  und  scheuert 
mit  den  so  zart  bekleideten  Handen 
dieStufen  unsererTreppe.  Schrecklich 
ist  das  anzusehen,  dieser  Gegensatz: 
die  Handschuhe  und  der  nasse  Kot- 
lappen,  den  sie  halten.  Ich  pr esse  die 
gefalteten  Hande  an  die  Stim  und 
sinke  zu  ihren  FiiBen,  deren  Rosenrot 
ich  ahne,  hemieder.  „Anna,  geliebtel 
Du  verrichtest  den  niedrigsten  Dienst 
in  unserem  Hausl  Und  haben  wir 
nicht  Magde  genug?"  Sie  richtet  sich 
Idndlich  ahnend  auf,  blickt  hinter  mich 
und  spricht  mit  einer  trunkenen  Demut 
in  ihren  Augen : „Ja,  ich  scheuere  die 
Treppe.  . . Dieser  hat  es  befohlen, 
bis  er  aus  deinem  Zimmer  zuriick- 
kehrte/4  Ich  wende  mich  um.  Mein 
Freund,  der  Bruder  meiner  Jugend 
und  meines  ihm  immer  jungen  Herzens, 


ist  hinter  mir,  mit  einem  sograusamen, 
so  verwiisteten  Gesicht,  so  herrisch 
zerrissen  und  gliihend-wild  in  wol- 
liistiger  Bosheit,  wie  keines  Nero  Ge- 
sicht je  gewesen  ist. 

Das  ist  die  Holle,  meine  Herr- 
schaften,  von  der  Strindberg  zu 
sprechen  pflegte.  Und  hier  haben  Sie 
ein  Stuck  Krieg,  von  dem  Sie  sich  in 
Ihren  Feuilletons  nichts  traumen  lassen. 

tyjffiefm  Speyer. 


Gin  S%ppe((.* 

Jede  der  kampfenden  Groflmachte 
behauptet,  daB  der  Krieg,  den  sie  fiihrt, 
Notwehr  sei.  Jede  ist  die  Oberfallene, 
jede  kampft  fiir  ihr  Dasein.  Fur  jede 
ist  der  Mord  Notwehr,  wie  sie  jede 
ihrer  Liigen  eine  Notliige  nennt.  Da 
also  keine  der  Michte  den  Krieg  ge- 
wiinscht  hat,  so  laBt  sie  denn  Frieden 
schlieBen ! 

Nach  einem  Krieg  von  bald  zwei- 
undzwanzig  Monaten  scheint  indessen 
der  Frieden  ferner,  als  je.  Einer  jeden 
der  kampfenden  Machte  ist  es  darum 
zu  tun,  vor  allem  die  Zivilisation  zum 
Siege  zu  fiihren,  und  diese  Zivilisation 
wird  genannt : entweder  geistige  Ober- 
legenheit  oder  das  Recht,  oder  die  Frei- 
heit,  oder  der  Sieg  des  biirgerlichen 
Geistes  iiber  den  Militarismus. 

Die  Zivilisation!  Die  erste  Frucht 
dieser  Zivilisation  ist  gewesen,  daB  die 
wahrheittotende  russische  Zensur  sich 
iiber  die  Erde  verbreitet  hat.  Die 

* Erichien  in  der  Kopenhagener  Zcitung 
..Politikcn'*  und  wurde  ron  Oiwaid-Munchcn 
Ubersetzt. 


90 


G lessen 


nachste,  dafi  wir  zu  der  Zeit  der  Men- 
schenopfer  zuriickgekehrt  sind.  Nur 
dafi  man  in  der  barbarischen  Vorzeit 
jedes  Jahr  vier  oder  fiinf  Kriegsgefan- 
gene  einem  gefiirchteten  Gott  zum 
Opfer  umbrachte,  wahrend  man  jetzt 
vier  oder  fiinf  Millionen  Menschen  den 
Abgottern  opfert,  die  man  anbetet. 
Lamennais  hat  gesagt:  ,,Der  Satan 
flofite  den  Unterdriickern  der  Volker 
einen  teuflischen  Gedanken  ein.  Er 
sagte  zu  ihnen:  ,Nehmt  in  jeder  Fa- 
milie  die  kraftigsten  Manner  und  gebt 
ihnen  Waffen ! Ich  will  ihnen  zwei  Ab- 
gotter  geben,  die  sie  Ehre  und  Treue, 
und  ein  Gesetz,  das  sie  Pflichttreue, 
Gehorsam  nennen  werden.  Sie  werden 
diese  Abgotteranbeten  und  sich  diesem 
Gesetz  blind  unterwerfenV*  Wir  fol- 
gen  diesem  Kampfe  gegen  den  Mili- 
tarisms, wahrend  dessen  der  Zwang 
des  Militarismus  sich  bis  zu  dem  ein- 
zigen  Staate  verbreitet  hat,  der  sich 
frei  davon  gehalten  hatte,  und  wahrend 
dessen  die  biirgerliche  Macht  ganzlich 
ausser  Spiel  gesetzt  wurde  — jene 
biirgerliche  Macht,  jener  biirgerliche 
Geist,  fiir  deren  Oberherrschaft  iiber 
die  militarische  ein  Jahrhundert  lang 
gekampft  worden  ist. 

Wir  folgen  diesem  Kampf  fiir  die 
Freiheit,  wahrend  dessen  sowohl  von 
den  Fiirsprechern  der  Freiheit  wie  von 
den  Machtanbetern  jede  Schiffsladung 
aufgetrieben  und  jeder  Brief  geoffnet 
wird,  sogar  jeder  Privatbrief  zwischen 
zwei  Neutralen. 

Wir  folgen  diesem  Kampf  fiir  eine  ho- 
here  Kultur,  wahrend  dessen  Deutsch- 
land Belgien  mit  FiiBen  getreten  hat, 
Osterreich-Ungarn  Serbien,  England 
Griechenland,  RuBlandPolenundOst- 
preuBen  — diesem  Kampfe  fiir  das 


Recht,  wahrend  dessen  das  Recht  ganz- 
lich auBer  Kraft  gesetzt,  und  statt 
dessen  die  Staatsriicksicht  aufgetreten 
ist  — diesem  Kampf  fiir  die  Unab- 
hangigkeit  der  kleineren  Staaten,  wobei 
die  Unabhangigkeit  von  beiden  Seiten 
gekrankt,  bei  Seite  gesetzt,  abgeschafft 
wird. 

In  den  kriegfiihrenden  Landern  er- 
sehnen  die  Heere  natiirlich  vor  allem 
den  Sieg,  am  starksten  aber  ersehnen 
sie  den  Frieden.  Die  biirgerliche  Be- 
volkerung  stohnt  iiberall  nach  Frieden. 
Die  Regierungen,  die  hoch  zu  Pferd 
sitzen,  driicken  die  Sporen  in  die  Seiten 
des  miiden  Pferdes. 

Der  Wunsch  nach  Frieden  wird 
nicht  zum  Wort  kommen. 

In  den  neutralen  Landern  fiihlt  sich 
die  offentliche  Meinung  nicht  berech- 
tigt,  sich  fiir  den  Frieden  auszuspre- 
chen.  Die  offentliche  Meinung  steht 
zumeist  auf  jenem  Nahmadchenstand- 
punkt,  der  es  mit  der  einen  oder  andern 
der  kampfenden  Parteien  halt  und  dar- 
iiber  vergifit,  sein  Gewicht  in  die  Wag- 
schale  des  Friedens  zu  werfen.  Unter 
den  neutralen  Machten  gibt  es  eine 
die  groBere  Bedeutung  hat,  als  alle  die 
iibrigen  zusammen.  Ziehen  die  ameri- 
kanischen  Freistaaten  vor.  Geld  an  dem 
Krieg  zu  verdienen  oder  ihren  EinfluB 
zu  gebrauchen,  um  Frieden  zu  stiften? 
Gibt  es  iiberhaupt  niemand,  der  fur 
Frieden  ist,  auBer  der  gesunden  Ver- 
nunft  und  dem  gesunden  Empfmden? 

Den  Ruf  nach  Frieden,  der  sich 
bald  in  alien  Staaten  erheben  wird, 
schimpft  man  Feigheit.  Aber  wenn 
die  Menschen  schweigen,  werden  die 
Steine  reden.  Die  Steine  der  Ruinen 
rufen  nach  Frieden,  nicht  nach  Rache. 
Und  wenn  die  Steine  schweigen,  so 


Glossen 


91 


rufen  Felder  und  Wiesen  mit  Blut 
besprengt,  mit  Leichen  gecfiingt. 

Die  ganze  Welt  steht  unter  der 
Henschaft  der  Schadenfreude.  Die 
einzigeFreude  istdiejenige,  im  Interesse 
der  Selbsterhaltung  andern  Boses  zu- 
zufiigen.  Man  torpediert  mit  Gluck. 
Man  bombardiert  mitausgezeichnetem 
Erfolg.  Einer  schieflt  sein  zwanzigstes 
Flugzeug  herunter.  Und  es  wird  geju- 
belt.  Fragt  jemand:  wie  konnt  ihr 
jubeln  ? — dann  wird  mit  jenem  Satz 
geantwortet,  den  man  als  jesuitisch 
verdammt,  als  teuflisch gestempelt  hat: 
Der  Zweck  heiligt  die  Mittel.  Die 
Grausamkeit  ist  Pflicht  ge worden,  das 
Mitgefiihl  heifit  Landesverrat.  Die 
Deutschen  leiden  Hunger  und  Not. 
Die  Alliierten  geniessen  es.  Die  Belgier 
und  die  Serben  werden  unterdriickt 
und  geknechtet.  Die  Deutschen  und 
die  Osterreicher  geniefien  es. 

Die  Polen  verhungern,  die  Juden 
aind  in  ein  grenzenloses  Elendgesunken. 

Die  Kampfenden  sind  auBer  stande, 
das  Ungliick  zu  beheben. 

Alle  Kriegfiihrenden  sind  stolz  auf 
die  Tapferkeit  und  das  heldenmiitige 
Aushalten  ihrer  Leute.  Beide  Parteien 
behaupten,  daB  bei  den  Gegnern  die 
niedrigsten  Leidenschaften  losgelassen 
seien,  und  beide  haben  leider  recht. 

Die  Zentralmachte  erklarent  daB  sie 
den  Frieden  wollen.  Man  sieht  aber 
nicht,  daB  sie  bereit  sind,  irgend  etwas 
zu  opfern,  um  ihn  zu  erreichen. 

Die  Alliierten  wollen  keinen  Frieden 
bevor  nicht  der  „endgiiltige  Sieg"  ge- 
wonnen, das  heifit:  ehe  sie  nicht  das 
erreicht  haben,  was  sie  in  bald  zwei 
Jahren  vergebens  anstreben,  und  dem 
sie,  wie  es  scheint,  immer  noch  nicht 
naher  gekommen  sind. 

7 Vol.  m/2 


Wasauchgeschehen.welcheSchlacht 
auch  gewonnen  oder  verloren  wird, 
was  fur  wert voile  Schiffe  auch  ver- 
senkt,  was  fur  Luftschiffe  auch  herun- 
tergeschossen  werden,  wieviele  von 
den  Mannern  der  kampfenden  Machte 
auch  getotet  oder  verwundet  oder 
gefangen  genommen  werden,  das  eine 
ist  gewiB:  alles  wird  mit  Waffenstill- 
stand  und  Verhandlung  enden. 

Warum  denn  nicht  jetzt  mit  den  Ver- 
handlungen  beginnen  ? Es  sieht  nicht 
danach  aus,  als  ware  durch  weiteres 
Ermorden  etwas  zu  gewinnen.  Der 
Frieden  ist  die  Sybille,  deren  Bucher, 
das  heifit  deren  Schatze  erkauft  werden 
miissen,  die  aber  weniger  und  teurer 
mit  jedem  Tag  werden.  Wir  wissen 
es : wir  sollen  die  Zermalmung  abwar- 
ten.  Aber  es  wird  nichts  aus  der  Zer- 


malmung werden,  blofi  aus 
Massenmorden . Keine  von  den  zwei 
kampfenden  Parteien  lafit  sich  zermal- 
men.  Und  wenn  man  sagt,  dass  man 
nicht  Deutschland,  sondern  nur  seinen 
Militarismus  vernichten  will,  dann  ist 
es,  als  mochte  man  das  Stachelschwein 
nicht  beschadigen,  sondern  ihm  blofi 
seine  Stacheln  ausreiBen.  Beide  Par- 
teien wollen  aushalten  bis  zum  bitteren 
Ende.  Jeder  Tag  wird  bitterer,  als  der 
vergangene  war.  Was  durch  Frie- 
densverhandlungen  gewonnen  werden 
kdnnte,  das  geht  bei  Verlangerung  des 
Krieges  unzahlige  Male  verloren.  Es  ist, 
als  ware  keine  andere  Ordnung  menscb- 
licher  Streitigkeiten  und  menschlicher 
Wettkampfe  moglich,  als  durch  Minen 


dem 


und  Granaten.  Wie  wird  die  Zukunft 
urteilen?  Dafi  es  in  unsern  Tagen  in 
ganz  Europa  keinen  einzigen  Staats- 
mann  gegeben  hat.  Mit  einem  groBen 
Staatsmanne  auf  jeder  Seite  ware  der 


92 


Glosscn 


Krieg  nie  ausgebrochen . Mit  einem 
groficn  Staatsmanne  auf  einer  der 
Seiten  hatte  dcr  Krieg  kein  Jahr  ge- 
dauert.  So  nahmen  die  Gener&le  den 
Staatsmannern  die  Macht  ab. 

Die  Zukunft  wird  sagen:  jene  Zeit 
war  eine,  wo  man  das  Zeitalter  der 
Religionskriege  als  barbarisch  betrach- 
tete,  und  wo  man  nicht  verstand,  dafi 
die  Nationalitatskriege  schlimmer  sind. 
Jene  Zeit  war  eine,  die  die  Kabinetts- 
kriege  fiir  veraltet  hielt  und  nicht  ver- 
stand, daB  die  Handelskriege  noch 
roher  sind.  Die  Geschichte  der  Reli- 
gionskriege war  eine  furchtbare  Farce, 
die  Geschichte  des  Weltkrieges  war 
eine  einfaltige  Tragddie. 

Der  Krieg  sollte  am  liebsten  ohne 
allzu  harte  Demutigung  fiir  jede  der 
kampfenden  Parteien  endigen.  Sonst 
wird  der  Gedemiitigte  bloB  liber  den 
nachsten  Krieg  briiten.  Und  man  muB 
sich  dessen  erinnern,  daB  die  Demiiti- 
gung,  die  dem  Feinde  zugefiigt  wird, 
kein  verlorenes  Menschenleben  ersetzt. 
Jedes  Menschenleben  ist  ein  Wert. 
Aber  die  Menschen  sind  ja  nicht  gleich. 
Der  Trost  ist  nicht  groB,  daB  wir  tau- 
send  Mann  verloren,  der  Feind  aber 
zehntausend. 

Niemand  weiB,  ob  unter  den  Tau- 
send  nicht  Der  war,  der  die  Ehre  seines 
Landes  und  der  Wohltater  der  ganzen 
Menschheit  geworden  ware. 

Ein  Shakespeare  oder  ein  Newton, 
ein  Kant  oder  ein  Goethe,  ein  Moliire 
oder  ein  Pasteur,  ein  Kopemikus,  ein 
Rubens,  ein  Tolstoi  kann  unter  den 
hunderttausend  von  gefallenen  zwan- 
zigjahrigen  Englandern,  Deutschen, 
Franzosen,  Polen,  Belgiern,  Russen 
gewesen  sein. 

Was  bedeutet  das  Verriicken  eines 


Grenzpfahles,  der  Gewinn  einer  Pro- 
vinz  gegen  den  Verlust  einer  solchen 
Personlichkeit  1 Der  Gewinn  ist  ein 
vorlaufiger,  der  Verlust  unersetzlich. 

Der  Gewinn  ist  der  eines  einzelnen 
Staates,  der  Verlust  der  des  Menschen- 
geschlechtes. 

Jeder  sieht,  wie  das  Vermogen  der 
Menschheit  wahrend  des  Krieges 
verschwindet,  bis  zuletzt  keiner  die 
Kriegskosten  bezahlen  kann. 

Aber  der  Verlust  von  menschlichen 
Werten,  die  schlimmste  Art  von  Ver- 
armung,  wird  nicht  mitgerechnet. 

Was  wir  erleben,  ist,  daB  die  weifie 
Rasse  die  Vorstellung  ihrer  Oberlegen- 
heit  in  der  Vorstellung  der  schwarzen, 
braunen  und  gelben  Menschen  hSchst- 
selbst  vernichtet.  Sie  hat  ihre  Hilfe 
gebraucht,  sie  fiir  ihr  Schlachten  von 
WeiBen  gelobt.  Wie  konnte  es  anders 
sein,  als  daB  dies  sich  rachte? 

Die  Presse  der  Kriegfiihrenden 
betrachtet  als  ihre  Aufgabe,  die  Ver- 
bitterung  zu  vertiefen  und  damit  die 
Begeisterung  zu  erhohen.  Sie  sollte 
bedenken,  daB  der  verodende  HaB, 
den  sie  also  hervorruft,  den  Krieg  Iange 
uberlebcn  wird.  geQrg 


Gfaube  und  &foffnung. 

I. 

AN  DIE  EWIGE  ANTIGONE  * 

An  alle  Frauen  richte  ich  diese 
Worte,  nicht  allein  an  die  Englande- 
rinnen  und  an  die  Suffragettes.  Wenn 
es  mir  logisch  erscheint,  dafi  die  Frau 

* Auf  die  Bitte  der  ,, International  Women 
Suffrage-Alliance44  schrieb  Romain  Roliand  die- 
aen  Aufruf,  den  9fannafi  ‘Ultytrsen  mit  Er- 
machtigung  des  Verfauers  Qbersetzt  hat. 


Glossen 


93 


die  Gleichheit  der  Rechte  mit  dem 
Manne  fordert,  so  glaube  ich  nicht 
genug  an  die  Vorziige  des  ailgemeinen 
Stimmrechtes,  soweit  et  die  Manner 
angeht,  um  mehr  daran  zu  glauben, 
soweit  es  die  Frauen  betrifft. 

Die  starkste  und  die  einzig  wirk- 
same  Handlung,  die  mir  in  unser  aller 
Macht  zu  sein  scheint,  Mannern  wie 
Frauen,  ist  die  rein  individuelle  Hand- 
lung  von  Mensch  zu  Mensch,  von 
Seele  zu  Seele,  die  Tat  durch  das  Wort, 
durch  das  Beispiel,  durch  das  ganze 

Leben. 

Dieses  Tun,  Frauen  Europas,  iibt 
ihr  nicht  geniigend  aus.  Ihr  sucht  heute 
die  Plage  zu  bannen,  die  die  Welt  ver- 
heert,  den  Krieg  zu  bekampfen.  Das 
ist  gewifi  gut,  aber  es  ist  zu  spat.  Ihr 
hattet  diesen  Krieg  in  den  Herzen  der 
Manner  bekampfen  sollen,  ja  bekamp- 
fen  kdnnen,  bevor  er  ausbrach. 

Ihr  kennt  nicht  genug  eure  Macht 
iiber  uns.  Ihr  Mutter,  Schwestern, 
Kameradinnen,Freundinnen,Geliebte, 
von  euch  hangt  es  ab,  wenn  ihr  nur 
wollt,  die  Seele  des  Mannes  zu  formen. 
In  euren  Handen  ist  er  ein  Kind.  An 
der  Seite  der  Frau,  die  er  achtet  und 
die  er  liebt,  ist  der  Mann  immer  ein 
Kind.  Warum  Ieitet  ihr  ihn  nicht? 

Ich  wage  mich  eines  person  lichen 
Beispiels  zu  bedienen.  Was  ich  Gutes 
oder  nicht  gerade  Schlechtes  in  mir 
habe,  verdanke  ich  einigen  unter  euch. 
DaB  ich  in  diesem  Sturm  meinen  uner- 
sc hutted ichen  Glauben  an  die  mensch- 
liche  Verbriiderung  habe  bewahren 
kdnnen,  meine  Liebe  zur  Liebe  und 
meine  Verachtung  fur  den  Ha6,  ist  das 
Verdienst  von  euch  Frauen.  Um  nur 
zwei  von  euch  zu  nennen  — meiner 
Mutter,  einer  Christin,  die  mir  seit 


meiner  Kindheit  den  Sinn  fiir  das 
Ewige  gab  — und  der  groBen  Euro- 
paerin  Malwida  von  Meysenburg,  jener 
reinen  Idealistin,  die  mir  in  ihrer  Ab- 
geklartheit  des  Alters  die  Freundin  in 
meinen  Jiinglingstagen  wurde.  Wenn 
eine  Frau  die  Seele  eines  Mannes  er- 
losen  kann,  warum  erldset  ihr  sie  nicht 
alle?  Zweifellos  weil  zu  wenige  von 
euch  sich  selbst  erlost  haben.  Damit 
fanget  also  an!  Das  Dringendste  ist  nicht 
der  Sieg  der  politischen  Rechte  (wohl 
verkenne  ich  nicht  deren  praktische 
Bedeutung).  Das  Notwendigste  ist  der 
Sieg  iiber  euch  selbst.  Horet  auf,  der 
Schatten  des  Mannes  zu  sein;  horet 
auf,  die  Gefolgschaft  seiner  Sucht  nach 
Diinkel  und  Zerstorung  zu  bilden. 
Habt  den  klaren  Blick  fiir  die  briider- 
liche  Pflicht  des  Mitgefiihls  und  der 
gegenseitigen  Hilfe,  der  Vereinigung 
aller  Wesen,  denen  das  hochste  Gesetz 
eigen  ist,  die  darin  iibereinstimmen, 
sich  vorzuschreiben:  Den  Christen  die 
Stimme  Christi;  den  freien  Geistern 
die  freie  Vernunft! 

Doch  wie  viele  von  euch  in  Europa 
sind  heute  in  denselben  Strudel  hinein- 
gezogen,  der  die  Gemiiter  der  Manner 
mit  sich  gerissen  hat.  Anstatt  sie  auf- 
zuhellen,  steigert  ihr  durch  eure  Er- 
regung  den  ailgemeinen  Aufruhr. 

Schafft  zuerst  den  Frieden  in  euch 
selbst!  ReiBt  den  Geist  des  verblen- 
deten  Kampfes  aus  euren  Herzen ! 
Mischt  euch  nicht  in  das  Ringen!  Ihr 
beseitigt  nicht  den  Krieg,  wenn  ihr 
Krieg  mit  dem  Krieg  fiihrt.  Bewahret 
zuerst  eure  Seele  vor  dem  Krieg,  indem 
ihr  die  Zufcunft,  die  in  eac6  raHt, 
vor  der  Feuersbrunst  rettet.  Auf  jedes 
Wort  des  Hasses  unter  den  Kimpfen- 
den  antwortet  mit  einer  Tat  der  Barm- 


94 


Glossen 


herzigkeit  und  dcr  Liebe  fiiralle  Opfer. 
Seid,  schon  allein  durch  cure  Gegen- 
wart,  dcr  stumme  Widerspruch,  dcr 
aus  der  Verirrung  der  Leiden  schaften 
entspringt.  Seid  der  Zeuge,  dessen 
klarer  und  mitleidiger  Blick  uns  iiber 
unsere  Unvemunft  erroten  lafitl  Seid 
der  lebendige  Friedc  inmitten  des 
Krieges  — die  ewige  Antigone,  die  sich 
dem  Hasse  verschlieBt,  und  als  sie 
leiden  sieht,  nicht  mehr  zwischen  ihren 
feindlichen  Brudern  zu  unterscheiden 
weifi. 

II. 

FREIHEIT.* 

Dieser  Krieg  hat  uns  gezeigt,  wie 
zerbrechlich  die  Schatze  unserer  Zivili- 
sation  sind.  Von  alien  unsern  Giitern 
hat  sich  das  am  wenigsten  widerstands- 
fahig  erwiesen,  worauf  wir  am  meisten 
stolz  waren : die  Freiheit.  Jahrhunderte 
an  Opfern,  geduldigen  Anstrengungen, 
Leiden,  Heldentum  und  hartnackigem 
Glauben  hatten  sie  allmahlich  erobert; 
wir  atmeten  ihren  goldenen  Hauch ; sie 
zu  geniessen  war  uns  so  natiirlich,  wie 
wir  im  groBen  Luftstrom  atmen,  der 
iiber  die  Erde  weht  und  jede  Brust  er- 
quickt . . Ein  paar  Tage  haben  geniigt, 
uns  dieses  Lebenskleinod  wieder  zu 
nehmen ; in  ein  paar  Stunden  hatte  sich 
auf  der  ganzen  Erde  ein  erstickendes 
Netz  iiber  die  zittemden  Fliigel  der 
Freiheit  gebreitet.  Die  Volker  haben 
es  gekniipft.  Mehr  noch:  mit  ihrer 
vollen  Zustimmung.  Und  wir  haben  die 
alte  Wahrheit  neu  gelemt:  „Nichts 
bleibt  ein  Besitz.  Alles  mufi,  jeden  Tag 
von  neuem,  erobert  werden  oder  geht 
verloren“  . . . 

* Geschrieben  fiir  die  er«te  Miinummer 
des  „Avanti'\ 


O verratene  Freiheit,  entfalte  deine 
verwundeten  Fliigel  neu  in  unsern 
treuen  Herzen.  Eines  Tages  werden  sie 
wieder  ihren  glanzvollen  Aufschwung 
nehmen.  Dann  wirst  du  von  neuem 
das  Idol  der  Menge  sein.  Dann  werden 
sich  deiner  riihmen,diedich  jetzt  unter- 
driicken.  Aber  niemals  schienst  du  mir 
schoner,  als  in  diesenTagen  desElends, 
wo  ich  dich  arm,  nackt  und  zerschlagen 
sehe.  Deine  Hande  sind  leer ; du  kannst 
denen,  die  dich  lieben,  nichts  geben  als 
die  Gefahr  und  das  Lacheln  deiner 
stolzen  Augen.  Aber  alle  Giiter  der 
Welt  wiegen  dieses  Geschenk  nicht  auf. 
Die  Kammerdiener  der  offentlichen 
Meinung,  die  Hoflinge  des  Erfolges 
werden  uns  das  nicht  ausreden. 

Und  wir  wollen  dir  folgen,  geschan- 
deter  Christus,  mit  erhobener  Stirn: 
denn  wir  wissen,  daB  du  auferstehen 
wirst  aus  dem  Grabe. 

domain  \ Tlottand . 


Giniges  vom  'Probfem  der ‘Form. 

Der  Mensch  ist  hineingesetzt  in  das 
zeitlose  Geschehen  der  Welt,  dasohne 
Oben  und  ohne  Unten,  ohne  Anfang, 
Mitte  und  Ende  an  ihm  vorbeitobt. 
Ehemals,  in  dem  Tierstadium,  war  er 
selbst  ein  willenloser  Mitlaufer  ohne 
Bewufitsein.  Aber  allmahlich  stellte 
sich  dieses  ein,  und  es  ergab  sich  ein 
Abstand  zwischen  ihm  und  der  Welt. 
Er  sah  sie.  Aber  wie  konnte  an  dem 
ununterbrochenen  Fliefien  sein  Auge 
etwas  erkennen?  Wie  sollte  er  etwas 
von  ihr  aufnehmen  konnen,  wenn  sein 
Blick  nicht  hier  und  dort  Halt  finden 
konnte?  Wie  konnte  er  selbst  sich 


Glosscn 


95 


dagegen  wehren,  wieder  hineingezogen 
zu  werden  in  das  boden-  und  decken- 
osc  Chaos?  Der  Mensch  mufite  das 
,auBer  und  urn  sich"  einteiien.  Er 
muBtc  das  Grcnzenlose  formen.  Des- 
halb  ist  Form  im  letzten  Sinn  stets 
cin  „Anhalten“  des  Geschehens.  Und 
von  dieser  Notwcndigkeit  aus  und 
durch  sie  wird  wohl  der  Geisi  des 
Menschen  seinen  Aufschwung  genom- 
men  haben. 

Das  Tier  ist  heute  selbst  noch  Welt. 
Es  muB,  wahrend  der  Mensch  will. 
Im  „Wollen“  liegt  das  Wissen  umsich 
selbst,  zu  dem  vom  Wissen  um  die 
Welt  kein  zu  weiter  Schritt  war.  Der 
Hund  weiB  nur  um  die  Welt  und 
braucht  sich  deshalb  keinen  Stand- 
punkt  zu  ihr  zu  erwerben. 

Der  primitivste  Ausdruck  der  Form 
ist  die  Wiederholung.  Der  Mensch 
teilt  das  eigene  Leben  im  groBen  Gan- 
zen  durch  sie.  Die  Essens-,  Schlafens- 
und  Arbeitszeiten,  geben  dem  tag- 
lichen,  Ferien,  Feste,  Jahreszeiten.dem 
Gesamtleben  die  Stationen  durch  ihre 
regel  massige  Wiederkehr.  Der  Geist 
hat  diese  genau  so  notig  wie  der  Kor- 
per.  Es  ist  anzunehmen,  daB  die 
meisten  Menschen  ihren  Halt  in  affem 
verlieren  wiirden,  wenn  sie  an  einem 
Tag  morgens  um  2 friihstiicken,  am 
nachsten  nachmittags  um  6 und  den 
dritten  mittags  um  1 2.  Sie  wiirden 
allmahlich  iiber  ihr  ganzes  Handeln 
die  Obersicht  verlieren,  welche  die 
Wiederholung  — durch  Teilen  in 
Abschnitte  — ihnen  gab.  Sie  wiirden 
in  der  Luft  schweben,  und  der  feste 
Standpunkt  ihres  Ichs  zu  ihren  Taten 
und  zur  Welt  wird  ihnen  entgleiten, 
Kaum  ein  Menschlicher  wird  die 
Anarchie  ertragen. 


In  den  Gfandiungtn  des  Menschen 
gerinnt  sein  Sein  zu  einer  festen  orm . 
Die  Taten  sind  Symbole  fur  sein 
Wesen.  Und  der  Mensch  ist  einge- 
richtet,  daB  sein  Inneres  mit  seinen 
AuBerungen  iibereinstimme.  Denn  in 
der  Form  liegt  eingeschlossen,  daB  er 
sich  an  ihr  halte.  Dies  kann  man  am 
iiberraschendsten  dort  erkennen,  wo 
Menschen  den  Sinn  einer  aufgerich- 
teten  allgemeinen  Form,  etwa  der 
Sittlichkeitsgesetze,  langst  verletzten 
und  nun  sich  als  an  das  Letzte  angst- 
lich  an  das  iibrig  gebliebene  leere 
Gebaude  klammern.  Diese  werden 
meist  aus  Worten  bestehen,  welche  ja 
die  zuschnellst  geronnenen  Formen 
des  Wesens  bilden.  Je  ziigelloser  eine 
Gesellschaft  ist,  desto  hoher  stehen 
die  Formalitaten  im  Wert.  Diese 
stiitzende  Eigenschaft  der  Form  lafit 
es  als  erklarlich  erscheinen,  dass  man 
allmahlich  das  eigene  Selbst  verliert, 
wenn  ein  Sein  durch  zwingende  Griinde 
andauernd  mit  dem  Handeln  nicht 
iibereinstimmt.  Die  Arbeit,  die  man 
tut,  die  Menschen,  mit  denen  man 
zusammen  kommt,  die  Grundsatze, 
nach  denen  man  lebt,  sind  objektive 
AuBerungen,  die  unter  widrigen  auBe- 
ren  Lebensumstanden  nicht  demlnne- 
ren  eines  Wesens  zu  entsprechen 
brauchen.  Vollkommen  nach  seiner 
Beschaffenheit  wird  sich  kein  Mensch 
sein  auBeres  Leben  gestalten  konnen. 
Aber  man  unterschatzt  gemeinhin  die 
haufigen  MiBverhaltniBe  zwischen  Sein 
und  Ausdruck.  Denn  es  bleibt  nicht 
dabei,  daB  der  betreffende  Mensch 
darunter  gewohnlich  leid^t,  — es  bc- 
einfluBt  ihn  auch.  Das  Handeln  wirkt 
auf  die  Menschen  zuriick.  Dies  kann 
psychologisch  leicht  begriindet  werden 


96 


Glossen 


Als  objektiver  Tatbestand  druclct  sich 
die  eigene  Handlung  im  Menschen  ab. 
Er  nimmt  sie  auf,  wie  die  von  Frem- 
den.  Durch  andauemde  Wiederholung 
hinterlaBt  sie  immer  tiefere  Furchen. 
Die  Hemmungen,  die  der  eigene  Or- 
ganismus  dem  Eindringen  von  Unge- 
massem  entgegenstellt,  werden  pro- 
portionell  schwacher.  Der  standi ge 
Eindruck  zieht  die  Seele  immer  mehr 
zu  sich.  „Die  Macht  der  Gewohnheit" 
hat  gewirkt.  Es  ist  also  nicht  gleich- 
giiltig,  wie  man  handelt.  Es  wird  oft 
gesagt : ich  bin  in  Wirldichkeit  nicht  so, 
das  ist  die  Hauptsache.  GewiB,  aber 
wenn  einer  nicht  sehr  stark  dagegen 
arbeitet,  wird  sein  Wesen  hiniiberge- 
zogen.  Der  Mensch  hat  die  Oberein- 
stimmungmit  seiner  Lebensform  notig. 
Die  unterstiitzt  ihn  durch  ihr  fest  um- 
rissenes  Sosein.  Denn  der  Mensch 
selbst  ist  eben  auch  ein  Teil  jener  un- 
befehligten,  chaotisch  flieBenden  Welt. 
Er  Hdli  sich  an  seinen  Handlungen. 

Ich  greife  unter  den  unzahligen  Bei- 
spielen  eines  heraus,  welches  zeigt,  wie 
der  Mensch  auf  die  Wiederholungen 
angewiesen  ist.  Der  Verkehr,  den  der 
einzelne  hat.  Menschen,  die  immer  mit 
neuen  Menschen  zusammenkommen, 
werden  im  Charakter  flatterhaft  und 
unbestandig  werden  (vorausgesetzt, 
daB  nicht  schon  solche  Veranlagung 
sie  zu  dem  unruhigen  Leben  trieb. 
Die  Menschen,  mit  denen  man  zusam- 
menkommt,  sind  auch  Eindriicke.  Mit 
der  Wiederkehr  desselben  Eindruckes 
ist  dem  Leben  ein  deutlicher  Ein- 
schnitt  und  somit  Ruhe  gegeben. 
Das  „immer  anders44  des  personlichen 
Lebens  treibt  den  Menschen  in  die 
Nihe  der  haltlosen  Welt,  in  der  kein 
Augenblick  dem  nachsten  gleicht. 


Die Einzel handlungen,  ehemals  per- 
sftnliche  Formen,  versteifen  sich  in  der 
Gesellschaft  zu  allgemein  giiltigen 
Formeln,  zuGesetzen,  Dogmen,  Zere- 
monien.  Dafi  diese  sich  allmahlich 
unter  der  Zeiten  Anderung  zu  weit  vom 
Einzelnen  entfernen  und  durch  „Na- 
turalismus"  wieder  herangeholt,  d.  h. 
umgeschaffen  werden,  ist  bekanntlich 
das  ewige  Spiel  der  Kulturgeschichte. 
Heute  arbeitet  das  Individualitatsgefiihl 
in  hervorragendem  MaBe  gegen  alle 
Formeln,  die  doch  fur  jeden  gel  ten 
sollen.  Das  moderne  Empfinden  will 
sich  seine  Gesetze  individuellgestalten. 
Es  braucht  fiir  jeden  Fall  eine  neue 
Form.  DaB  hierdurch  fiir  die  Schwa- 
cheren  die  Haltlosigkeit,  fiir  welche 
unsere  untergrabene  Zeit  gesorgt  hat, 
noch  vermehrt  wird,  ist  klar.  Das  Sub- 
jektive  kann  von  schwachen  oder  un- 
ehrlichen  Charakteren  beliebig  gedehnt 
werden.  Prinzipiell  ist  die  jedesmal 
neu  erlebte  individuelle  Lebensform 
das  Ideal.  Doch  besitzen  nur  wenige 
Menschen  die  Produkti  vitat,  jede  Hand- 
lung  mit  eigenem  Blute  zu  durchpul- 
sen.  Fiir  diese  Relativitat  wird  also  die 
Gesamtheit  niemals  reif  werden. 

Das  Problem  der  Form  zeigt  sich, 
wie  viele  andere,  im  VergroBerungs- 
spiegeldesKiinstlerischen.Denn  Kunst 
ist  neben  anderem  Steigerung,  Inten- 
sity des  Lebens.  Der  erste  AnstoB  zur 
Kunstausiibung  war  irgendein  AuBe- 
rungstrieb,  ein  Bediirfnis,  innere  Ener- 
gien  los  zu  werden.  Die  Form,  die 
hierflir  gefunden  werden  muBte,  war 
im  Anfangsstadium  der  kiinstlerischen 
Kultur  wie  in  den  Lebensformen  die 
Wiederholung.  Das  erkennt  man  am 
besten  in  der  Musik,  die  als  alteste 
Kunst  gilt.  Wilde  Volker  pflegen  noch 


Glossen 


97 


heute  eine  Musik,  die  aus  einer  An- 
einanderreihung  von  Tonen  besteht, 
welche  bestandig  wiederholt  werden. 
Der  musikalische  Rhythmus  herrscht 
noch  vollig,  der  doch  nichts  anderes 
ist  als  Einteilung  des  ungeheuren  Welt- 
durcheinander  auf  dem  menschlichen 
Wege  der  Zeit  in  Laute.  So  wird  auch 
die  erste  Musik  gewesen  sein.  Ihre 
Komplizierung  wird  das  Variations- 
bestreben  in  den  ffllitieln  veranlasst 
haben.  Anstatt  der  Wiederholungen 
wurden  Anlehnungen  gesetzt,  innere 
Ahnlichkeiten,  die  vorangegangenen 
Kombinationen  entsprachen.  Und 
dann  tritt  auf  einer  hohern  Stufe  zum 
bloBen  Formbestreben  das  Zwedcbe • 
streben.  Alles  ordnet  sich  einer  be- 
stimmten  Ausdrucksabsicht  unter.  Das 
Werk  erhalt  einen  „Sinn“.  Dieserwirkt 
auf  Grund  derTatsache,  dafi  der  Kom- 
ponist  die  Tone  an  der  Welt  erlebt  hat, 
auf  das  J2>eben  zuriick.  Es  ist  sinn- 
voll  geworden.  Kraft  der  hoheren  syn- 
thetischen  Zusammensetzung  des 
Kiinstlers  vermag  nun  die  Musik  jenes 
erlosende  Gefiihl  auf  die  Zuhorer  aus- 
zuliben:  daB  die  Welt  in  ihren  Seelen 
einen  Sinn  erhielt. 

Auch  die  Komposition  in  der  Ma- 
lerei  ist  eine  Rhythmisierung  der  Welt 
mittels  Farbe  und  Flache.  Sinnliche 
oder  sinngemaBe  Anlehnung  aneinan- 
der,komplizierteWiederholung.  In  der 
Dichtung  ist  dies  noch  am  klarsten  in 
ihrer  musiknahesten  und  unmittelbar- 
sten  Art  zu  erkennen:  in  der  Lyrik. 
Der  Reim  ist  ja  noch  offenkundige 
Wiederholung,  und  die  naturalist  ischen 
Bestrebungen,  ihn  zu  durchbrechen, 
waren  ein  Teil  des  Kampfes  der  Indi- 
vidualitat  gegen  die  For  men.  Heute  ist 
wieder  ein  Hang  zur  festen  Form  in 


der  Lyrik  wie  in  alien  Kiinsten  be- 
merkbar.  Die  Sehnsucht  der  allzu  be- 
wegten  Zeit  ist  Ruhe. 

Es  werden  nun  auch  Ursache  und 
Grenzen  der  naturalistischen  Ziele  vor 
30  Jahren  kenntlich.  Die  Menschen 
jener  Zeit  fiihlten  Stolz  wegen  aller 
ihrer  naturwissenschaftlichen  und  tech- 
nischen  Errungenschaften,  liebten  (im 
ganzen)  die  Erde  und  waren  ihr  nah. 
Diese  Erdennahe,  die  sich  im  Benutzen 
der  Formen  der  Natur  in  der  Kunst 
auBert,  konnten  sie  jedoch  nicht  allzu- 
lange  ertragen.  Die  inneren  Konse- 
quenzen  der  wissenschaftlichen  Fort- 
schritte  und  des  neuartigen  Wirt- 
schaftslebens  machten  sich  in  der 
geistigen  Untergrabenheit  und  infolge- 
dessen  Haltlosigkeit  fiihlbar,  und  die 
Kunstform  wird  wieder  moglichst  erd- 
fern  und  festgefiigt. 

Alfred  Gemm . 


*Das  ‘Paradies  in  erzxoeiflang . 

Ferdinand  Hardekopf  gab  heraus: 
„Gesestfic6e‘'  ( I m Verlag  der  ,$ktion“ 
[Franz  Pfemfert],  Berlin  - Wilmers- 
dorf , 191 6^.  Hardekopfs  Buch  ist  das 
schlachtenfemste  dieser  zwei  Jahre. 
Jeder  seiner  Satze  handelt  von  den 
biirgerlichen  Katastrophen  des  einzel- 
nen  und  von  seinen  Rettungen.  Das 
gab  es  noch  nicht  in  der  deutschen 
Literatur;  sie  war  mit  der  Form  be- 
schaftigt,  weil  sie  zu  wenig  zu  verlieren 
hatte.  Verzweiflung  ist  erst  da,  wo 
einer  zu  verlieren  hat;  Ausfliichte  wer- 
den erst  anerkannt,wo  noch  zuretten  ist. 

Irgendwo  in  der  Weit  kann  Harde- 
kopf Briider  finden,  Empdrer  in  alten 


Glossen 


Literaturtraditioneft,  die  ihrer  eigenen 
Bemhigtheit  mit  dem  Sprung  in  den 
Abgrund  drohten:  Walter  Pater,  der 
fast  Baudelairische  Selbstmordlust  in 
die  dlinne,  spiegelnde  Oberflachenhaut 
de*  ungewohnlichsten  Curialstil-Eng- 
lisch  leitete;  den  Franzosen  Lautri- 
amont,  der  mit  fanatischer  Offenheit 
und  dichterisch  geatzter  Theologen- 
sonde  sich  scbmachvoller  Absichten 
bezichtigt;  und  den  nahesten  Laforgue, 
der  die  eigenen  Ideen  zwingt,  ihn 
hohnend  zu  zerquetschen.  Dieses  Ge- 
schlecht  ist  stets  bereit,  sich  selbst 
unrecht  zu  geben,  um  aus  noch  grofierer 
Verzweiflung  die  Ruckschwingung  zur 
Erde  auch  grofier  zu  machen.  (Es  sind 
aber  keine  Aufriihrer.  Denn  Insurgen- 
ten  haben  eine  geradezu  unfaBbare 
Naivitat  darin,  sich  selbst  recht  zu 
geben,  auch  wenn  sie  schon  iangst 
in  Ehren  und  Ministerien  eingeriickt 
sind.)  Von  den  Kindern  dieses  Ge~ 
schlechts  kann  die  Literatur  Unend- 
liches  gewinnen ; aber  die  Welt  selbst, 
die  Erde,  durch  Anderung  wenig,  und 
nur  auf  sehr  indirektem  Wege.  (Umso 
falscher  Iibrigens  jene  Argumentation, 
die  behauptet,  der  indirekte  Weg  sei 
der  einzige!)  Fragt  man  sie,  die  stets 
riicksichtslos  offen  gegen  sich  sind,  so 
wollen  sie  nichts  anderes  als : Literatur 
machen.  Sie  wollen  den  Weg  berei- 
chern,  den  man  zu  den  Hausem  der 
Ideen  zuriicklegen  muB.  An  der  Wahr- 
heit  des  Weges  ist  ihnen  alles  gelegen, 
an  der  Wahrheit  der  Ideen  nichts. 

Hardekopfs  „Lesestucke“  bereichern 
die  deutsche  Literatur.  Mit  einem  Ruck 
springen  Auge,  Mund,  Hand  der  deut- 
schen  Sprache  auf  ein  hohes  Niveau. 
Von  der  Hohe  des  Niveaus  werden  wir 
durch  nichts  abgelenkt:  keine  geheime 


Absicht  soil  mit  Stilhiilfe  geschmuggelt 
werden;  ein  Ziel,  zu  dem  Schreibkunst 
fortrisse,  ist  nichtgesetzt ; keine  ethische 
Angelegenheit  auBerhalb  der  gedruck- 
ten  Seite  wird  der  Verwirklichung  zu- 
getrieben ; nicht  einmal  eine  Amoral. 
Mit  Offenheit  ist  nichts  anderes  ange- 
strebt,  als  das  Niveau  selbst. 

AuBerordentlich  ist  die  Klarheit 
solcher  Menschen.  So  ist  derTitel  von 
Hardekopfs  Buch  wortlich  zu  nehmen. 
Die  Gedichte,  Essays,  Novellen  des 
Bandes  sollen  zum  Lesen  da  sein,  allein 
fiir  die  Beseligung  des  Aufnahmepro- 
zesses  zwischen  Leserauge  und  Leser- 
gliick.  Der  Leser  mache  das  Buch 
zu  — er  ist  entlassen.  Handeln  danach 
soil  er  nicht.  Mit  einer  Sicherheit,  die 
unter  Deutschen  ungewohnlich  ist,  be- 
grenzt  Hardekopf  diese  Welt  des  Lesers 
zu  einem  wahrhaften  Welt 
,,Ich  presse  zu  Linien  die  lastigen 
Bache 

Und  denk*  die  ent-olten  in  ebenen 
Plan; 

Ich  hasse  den  Raum,  ich  vergottre  die 
Flache, 

Die  Flache  ist  heilig,  der  Raum  ist 
profan. 

Ich  werde  mich  listig  der  Plastik  ent- 
winden 

Und  laB  euch  geblaht  im  gedunsenen 
Raum. 

Ich  denke  die  Iieblichsten  Schatten  zu 
finden 

Im  gefalligen  Teppich,  im  flachigen 
Traum.“ 

Sofort  merkbar:  diese  Vorsatze  sind 
nicht  Armut,  sondem  Leidenschaft. 
Selbst  wer  den  HaB  nicht  glaubt,glaubt 
die  Vergotterung;  und  die  Selbstbe- 
zichtigung  der  List  gibt  iiber  alles  Auf- 


Glossen 


schluB,  liber  Kampf,  Katastrophen, 
Entscheidungen,  liber  die  namenlose 
Verzweiflung  bis  zur  Selbstschmahung, 
und  die  resignierte  Freude  auf  einen 
Ausweg. 

Flucht,  Ausweg,  Rettung  sind : Auch 
die  Welt  nicht  mehr  zu  lesen  mit  einer 
Oberideenwelt,  sondem  nur  noch  sich 
zu  kiimmern  um  den  Weg  zwischen 
emem  unbestreitbaren  Faktum  und 
dem  Menschen,  der  diesem  Faktum 
gegeniibersteht.  Nur  noch  nach  ihren 
Funktionen  die  Welt  anzusehen.  Ober- 
haupt  nur  noch  eine  Funktionswelt  zu 
kennen. 

Funktionswelt;  man  horcheauf ! Wir 
wissen  heute  in  alien  Landern  so 
ungeheuer  viel  davon,  wer  die  Men- 
schen dirigiert,  daB  es  kostlich  ist,  end- 
lich  einmal  wieder  zu  erfahren,  wie 
sie  funktionieren.  Durch  Hardekopfs 
Fahigkeit  zur  abgekiirzten  Wiedergabe 
der  Funktionen,  fiihlt  man  Menschen- 
wesen  wieder  in  ihre  Wiirde  und  ihren 
urspriinglichen  Wert  als  Mensch  ein- 
gesetzt.  Hardekopf  erdenkt  das  Para- 
dies:  Eine  reine  Funktionswelt,  in  der 
jede  Bewegung  kristallinisch  durch- 
schimmcrnd  fur  ein  wahrhaftes  Sein 
eintritt.  — O Verzweiflung!  — 

Die  Scharfe,  das  Aufregende  in  der 
Zusammenfassung  der  menschlichen 
Funktionen  bleibt  stets  auf  derselben 
Hohe  der  unbedingten  Aufrichtigkeit. 
Grenzen  gibt  es  nicht,  und  ein  sachli- 
cher  Unterschied  durch  die  Form  des 
Lesestiickes  besteht  nicht.  Es  ist  gleich, 
ob  Hardekopf  Gedichte,  Aufsatze,  No- 
vellen,  Dramatik  schreibt;  mehr  in  Be- 
tracht,  als  die  Differenz  des  Lyrischen, 
Monologischen , Erzahlenden,  Zwie- 
gesprochenen,  kommt  das  Gemein- 
same  in  alien  diesen:  die  Feststellung ; 


die  Absolutheit,  Indiskutabilitat  der 
Feststellung.  Wo  Hardekopf  feststellen 
kann,  ist  ein  Thema  fiir  seine  Kata- 
strophenmusik  da.  Wer  mochte,  bei- 
spielsweise,  heute  noch  imstande  sein, 
ungelangweilt  jene  plumpe  Vari£t6- 
verklarung  mitanzusehen,  die  eine  Zeit 
lang  sehnsiichtige  Schriftsteller  aus 
allzu  niedriger,  grober  und  gemeiner 
Nietzscheinterpretation  konstruierten  1 
Hardekopf  unternimmt,  trotzdem  vom 
Variate  zu  sprechen,  verklart  nicht, 
sondem  stellt  fest,  teilt  Chansonetten- 
Akrobaten  - Zuschauer-  Gattungsf unk  - 
tionen  aus,  so  wie  er  die  Funktion  des 
Zigarettenrauchens  feststellen  wiirde. 
Und  liber  seinen  Vari£t£kapiteln  konnte 
als  Motto  das  Wort  einer  Fee  aus  dem 
Marchenstiick  „Schlangenweib“  des 
hdhnisch  unbekiimmerten  Gozzi  ste- 
hen:  „0  Himmel,  eh*  das  Publikum 
ungeduldig  wird,  mogen  lieber  die  bei- 
den  Hauptpersonen  zugrunde  gehenl“ 
Aber  man  tausche  sich  nicht  dariiber, 
was  denn  die  Feststellungen  eines  sol- 
chen  Schriftstellers  sind : es  sind  weder 
Beschreibungen  noch  Psychologie.  Jede 
dieser  aufgezeichneten  Funktionen  ist 
das  aufierste  Ende,  das  herausragende 
Spruchband  eines  ganzen  Biindels  von 
Symptomen.  Jede  menschliche  Funk- 
tion, die  Hardekopf  not  iert,  ist  nichts  an- 
deres  als  geradezu  das  Stenogramm  eines 
Menschenschicksals.  Es  gibt  unglaub- 
liche  Enthiillungen.  In  der  Erzahlung 
,,Manon“  entschleiert  der  Leser  einfach 
das  Geheimnis  der  Konventionalitat. 
Manon  ist  ein  junges  Madchen,  nichts 
anderes  als  ein  harmloses  junges  Mad- 
chen, die  mit  riihrendem  Eifer  sich  in 
erotische  Abenteuer  einlaBt,  aus  Kon- 
ventionalitat. Sie  ist  gar  nicht  bei  der 
Sache,  nur  beim  Abenteuer  (weil  man 


100 


Glossen 


offenbar  so  etwas  tut).  Und  der  Mann, 
der  ihr  Geliebter  scin  will,  wird  unfehl- 
bar  hingerisscn  durch  ihre  scheinbarc 
Erfahrung  in  Liebesintrigen  (die  ganz 
aus  {Conventional  itat  besteht),  und  stets 
vollig  entwaffnet  durch  die  wirkliche, 
ungeheure  Einfalt  des  jungen  Madchens, 
die  er  nicht  sieht,  nicht  kennt,  nicht 
erwartet — ausG>nvenu.  Davonerfahrt 
man  als  von  einem  Leserereignis.  Wo 
Leiden,  Erregungen,  MiBverstandnisse 
der  Personen  auftauchen,  sind  sie  nur 
in  ihren  Funktionen  mitgeteilt,  und 
dadurch  fur  den  Leser  zu  der  Aufre- 
gung  und  Spannung  geworden,  die 
sonst  hochstens  ein  Detektivroman 
aufbringt. 

Aber  wozu  ist  der  Leser  da?  Um 
unterhalten  zu  werden?  Nicht  das  ist 
Absicht.  Woher  die  „Lesestiicke“  und 
woher  die  Hingabe  an  den  einzigen 
Weg  zwischen  Schreiber  und  Leser? 
Hier  ist  kein  Spiel.  Hier  ist  Verzweif- 
lung.  Teleologie  taucht  auf;  ein  wildes, 
schluchzendes  Durchdrungensein  von 
Unausweichlichkeit  der  Erbsiinde.  Un- 
vermeidlich  wird  die  Welt  als  Gegebe- 
nes  hingenommen,  und  das  Erhabenste, 
das  ein  Mensch  erreichen  kann,  ist, 
aus  den  Ereignissen  Abstraktionen  zu 
gewinnen.  Vielleicht  sind  diese  Denker 
die  einzigen,  die  den  Begriff  Siinde 
wirklich  kennen.  Hardekopf  sagt  einmal 
bissig: 

„Nie  gelingt  ein  Dasein  richtig; 

Nur  der  Dicht-Extrakt  bleibt  wichtig.44 

Er  kennt  die  gottliche  Richtigkeit. 
Aber  sein  SchluB  ist  nicht  (wie  ich 
personlich  ihn  ziehen  miiBte):  wenn 
das  Dasein  nicht  richtig  gelingt,  miissen 
wir  — anhand  des  Dichtextraktes  — es 
richtig  macfxen ! Diese  Konsequenz 
wtirde  er,  beispielsweise  mir,  als  mdg- 


liche  Funktion  aner kennen,  doch  sich 
selbst  wiirde  er  sie  nicht  gestatten.  Aus 
einer  unausschopfbaren  Resignation, 
die  ihm  schon  iiber  die  Verzwciflung 
hinaus  zu  der  Schopferkraft  einer  Pas- 
sion geriet. 

Man  danke  ihm  fur  diese  Offenheit 
hier  (welcher  Schriftsteller  versteckt 
nicht  sonst  den  Gedanken!): 

,,Da$  Leben:  eine  blague  aus 
Schleim  und  Eiter. 

Das  Buch  besteht  und  hilft 

euch  weiter.44 

Nur  ist  es  nicht  wahr,  daB  uns  heute 
wirklich  das  Buch  weiterhilftl  Hilft 
uns  nicht  heute  mehr  als  gutgemeinte 
Ratschlage  aus  der  Vergangenheit:  daB 
noch  riicksichtslose  Offenheit  mdglich 
ist  ? 

Volker  mit  einer  langen  Literatur- 
gewohnheit  sehen  bei  einem  Schrift- 
steller nicht  auf  Einzelheiten,  sondern 
auf  dieTotalsumme  seiner  Arbeit,  aufs 
Oeuvre,  auf  die  lebendige  Druckseite, 
die  von  Buch  zu  Buch,  quer  durch  die 
gelben  Riicken  der  Volumina  sich  ver- 
vielfaltigt,  auf  die  Legende,  die  ein 
Schriftsteller  aus  seinen  Werken  von 
sich  selbst  schafft. 

Das  tun  die  Deutschen  (mit  geringer 
Literaturerfahrung)  nicht.  Sie  sehen 
aufs  Stuck.  Wenn  ein  deutscher  Autor 
dreiBig  unvergleichliche  Bande  ge- 
schrieben  hat  und  darnach  in  irgend 
einem  Druckwinkel  der  Zeitschriften 
ein  kleines,  schlechtes  Gedicht  produ- 
ziert,  so  ist  er  geliefert. 

Geht  es  nun  schon  bei  den  Deut- 
schen urns  wertvolle  Einzelstiick,  so 
mogen  sie  wenigstens  im  Fall  Harde- 
kopf ein  positives  Ergebnis  aus  ihrer 
Neigung  zur  Einzelkritik  gewinnen! 
Das  Buch  „Lesestiicke44  ist  nur  ldein, 


Glossen 


101 


es  ist  von  Zeile  zu  Zeile  voll- 
kommen.  Man  miiBte  von  jeder  Seite 
sagen,  daB  sie  auf  dem  Hang  liber 
einem  Abgrund  geschrieben  sei;  mit 
der  auBersten  Hingabe  an  Vergangenes ; 
mit  dem  unwiderru  flic  hen  wilden  Aus- 
druck  des  Fertigseins. 

Denn  wodieVerzweiflungdes  Autors 
die  Dinge  dieser  Welt  zu  ihrer  letzten 
Vergeistigung  zusammenschlagen  laBt, 
entsteht  die  Augenlust  des  Lesers. 

£udwig  *Jtubiner, 


Gin  gates  *Buc6. 

Ich  weiB  nicht  f wie  sich  andere  zu 
dem  in  Ton  und  Haltung  vorbildlichen 
Buch  gestellt  haben,  das  Hans  Vorst 
unter  dem  Titel  „Im  Kriege  durch 
Frankreich  und  England'4  bei  S.  Fischer 
erscheinen  lieB.  Mich  hat  keines  aus 
der  Kriegszeit  in  ahnliche  Aufregung 
verse  tzt. 

Ich  muBte  es  oft  hinlegen,  auBer 
stande,  weiter  zu  lesen,  so  iiberwal- 
tigend  ist  das  Heimweh,  das  es  aus- 
lost. 

Stadte,  Reisewege,  vertraut  und 
plotzlich  ungangbar,  umwehen  uns  mit 
ihrer  Atmosphere;  und  an  Bilder  und 
Erinnerungen,  die  wir  taglich  neu  ge- 
waltsam  in  uns  verdrangen,  wird  hier 
grausam  gerlihrt. 

Unabsichtlich.  Denn  hier  wirkt  alles 
unabsichtlich  und  ganz  durch  sich 
selbst.  Einfach  weil  dieser  Deutsche, 
der  kein  deutscher  Staatsangehoriger 
ist,  so  daB  er  Frankreich  und  England 
befahren  konnte,  ohne  Feindseligkeit 
das  Verfeindete  schaut,  ihm  mit  Ver- 


standnis  und  mit  einem  fiihlenden 
Herzen  entgegentritt.  Einfach  deshalb. 

Es  gereicht  dem  Berliner  Tageblatt 
zur  Ehre,  die  Berichte  Hans  Vorsts 
veroffentlicht  zu  haben.  Manner  wie 
er  gereichen  den  Deutschen  zur  Ehre. 

fflnnetie  9Cotb . 


ZfQeine  G5o(cumente. 

DIE  AHNEN. 

Zuerst,  um  mit  den  Grundlagen  zu 
beginnen,  die  Ahnen. 

lfNun,  die  Ergebnisse  unserer  Vo r~ 
geschichtsforschung  beweisen,  auf  wie 
hoher  Stufe  unsere  Ahnen  gestanden 
und  welch  reichen  Schatz  sie  gegen  das 
romische  Wesen  hergegeben  haben. 
Dies  aber  setzte  ihnen  zu  ihrem  Scha- 
den  das  entgegen,  was  ihnen  selbst  in 
ihren  Hundertschaften  und  ihren  lok- 
keren  Volkerschaftsbundnissen  gefehlt 
hatte:  den  durchgebildeten  Staats- 
gedanken,  gegen  den  sie  nicht  aufzu- 
kommen  vermochten. 

Unter  der  karolingischen  Renais- 
sance trat  dazu  das  schwere  Opfer  des 
eigenen  Glaubens  an  die  Weltreligion 
des  Christentums.  Und  doch,  wenn 
auch  diesen  Vorvatern  von  Kaiser 
Karl  die  Freiheit  ihrer  heiligen  Haine 
und  ihres  aus  Naturanschauung  heraus 
geborenen  und  in  der  Tiefe  seiner 
Symbolik  mit  der  Natur  selbst  in 
reinstem  Einklange  stehenden  Gestirn- 
dienstes  geraubt  ward:  die  Sehnsucht 
nach  dem  alten  Heldentrotze  konnte 
der  Sachsenschlachter  nicht  im  Blute 
der  viertausendfiinfhundert  zu  Verden 
Enthaupteten  ersticken!  Sie  ist  der 


Glossen 


Gral  geblieben,  dutch  dessen  Reinheit 
das  Chnstentum  der  germamschen 
Welt  sich  vor  dem  aller  ubrigen  Volker 
einschlieBlich  des  englischen  unter- 
scheidet ; insbesondere  lebt  in  den 
Heiligen  des  deutschen  Katholizismus 
die  alte  Heldenverehrung  und  die 
ganze  Innigkeit  und  Zartheit  des  ger- 
manischen  Jungfrauendienstes  fort. 

Die  Staatsauffassung  war  selbst 
untei  Heinrich  dem  Vogler,  dem 
Deutschen  Konige,  noch  durchaus 
die  Erbauffassung  des  Gebietsstaates 
geblieben,  von  gemeinschaftlichem 
VolksbewuBtsein  zeigt  sie  keine  Spur. 
Erst  in  den  Kreuzziigen,  aus  der  Er- 
kenntnis  gemcinsamer  Gegensatze  zu 
den  sprach-  und  wesensfremdenKreuz- 
fahrern  heraus  entwickelte  sich  das 
Verstandnis  dafiir,  daB  das  bis  dahin 
im  Gegensatze  zum  kirchlichen  Latein 
gering  geschatzte  Dietsche,  d.  h.  das 
Volkische,  um  alle  Deutschbliitigen 
ein  gemeinsames  Band  schlinge.  In 
Walther  von  der  Vogelweide  hat  die 
,,tiutsche  zucht,  die  vor  gat  in  allem" 
dann  ihren  edelsten  Verherrhcher,  der 
vielgeschmahte  preuBische  ,,Milita- 
rismus*4  seinen  ersten  Verkiinder  ge- 
funden.“ 

So  Fritz  Bley  in  der  Literarischen 
Beilage  der  (Deufsc6en  ages%eHung , 

KANT,  SCHILLER  UND  DIE 
DEUTSCHEN  KATHOLIKEN. 

Es  bleibt  zu  erfahren,  wie  die  Enkel 
das  Werk  der  Ahnen  fortgesetzt  haben. 
Sie  sind  das  Volk  Kants  und  Schillers. 
Aber  da  stellen  sich  gleich  gewisse 
Schwierigkeiten  ein.  Gehoren  die 
deutschen  Katholiken  auch  zu  diesem 


Volk,  gehoren  sie  dazu  oder  nicht? 
Der  Zentrumsabgeordnete  Pieper, 
papstlicher  Hauspralat  und  General- 
direktor  fiir  das  katholische  Deutsch- 
land, veroffentlicht  in  den  Katho- 
lischen  Monatsbrief en , die  in  neutralen 
Landern  die  deutschfeindliche  Propa- 
ganda, besonders  auf  kirchlichem  Ge- 
biet,  bekampfen  sollen,  einen  Aufsatz 
iiber  die  Mobilmachung  der  sittlichen 
Krafte  wahrenddes  Kriegcs  in  Deutsch- 
land. Und  sagt: 

,,Kein  Volk  hat  mehr  wie  das 
deutsche  in  seinen  groBen  Dichtern 
und  Denkern,  ich  nenne  nur  ScfiiUer 
und  {Kant , das  Gebot  der  sittlichen 
‘Pftichterfuffung  verherrlicht  und  sei- 
nem  BewuBtsein  eingepragt.  Auf  die • 
sem  Boden  des  deutschen  Pflichtbe- 
wufitseins  konnte  auch  das  katholische, 
kirchliche  und  private  refigidse  Beben 
so  wurzefcrdftig  werden  und  solche 
Fruchtbarkeit  im  gesamten  offent- 
lichen  Leben  wahrend  der  langen 
Friedenszeit  entfalten.  Von  diesem 
BewuBtsein  der  sittlichen  Pflicht  vor 
Gott  und  dem  Vaterlande  ist  auch 
jetzt  daheim,  im  Riicken  unserer 
tapferen  Truppen,  die  Kriegsarbeit  des 
deutschen  Volkes  getragen,  von  der  ich 
in  der  Kriegsarbeit  des  Volksvereins 
nur  einen  Ausschnitt  gab;  denn  die 
ubrigen  katholischen  Organisationen, 
der  Charitasverband,  die  Arbeiter-, 
Jugend-  und  sonstigen  Vereine  sind 
auf  ihrem  Sondergebiete  im  gieichen 
Geiste  und  mit  ahnlicher  Arbeits- 
methode  tatig.“ 

Also:  Ja,  die  deutschen  Katholiken 
gehoren  zum  Volk  Kants  und  Schillers. 

Aber  nein,  sie  haben  mit  Kant  und 
Schiller  nichts  gemein,  sie  wollen  und 
konnen  mit  ihnen  nichts  gemein  haben. 


Glossen 


103 


Dies  versichern  die  Trierer  *Petrus* 
bfditer,  die  dem  papstlichen  Hauspra- 
laten  nichts  geringeres,  als  eine  unge- 
biihrliche  „9Cantre£fame“  vorwerfen : 

,,Mit  Schmerzen,**  tont  es  aus  den 
Petrusblattem  zuriick,  „mit  Schmerzen 
haben  wir  diese  Ausfiihrungen,  auf 
deren  Boden  ein  ..Zusammengehen 
der  Anhanger  aller  Konfessionen  und 
Parteien"  — wo  von  in  den  „Katho- 
lischen  Monatsbriefen"  ebenfalls  die 
Rede  ist  — erfolgen  soil,  gelesen  und 
uns  dabei  in  Gedanken  gefragt,  was 
wohl  der  Katholik  im  neutralen  Lande 
dazu  sagen  werde,  wenn  er  die  quasi 
offizielle  AuCerung  der  Anschauung 
des  Generaldirektors  einer  Organi- 
sation von  acht-  bis  neunhundert- 
tausend  deutschen  Katholiken  liest  und 
zwei  Namen  als  ZKaupivertreier  einer 
‘Pbifosopfije  gefeiert  findet,  die  der 
tKatholik  absofut  ablefinen  mufi,  wie 
es  gerade  Pius  X.  neu  eingescharft 
hat.  Und  es  ist  ein  verfidngnisvoffer 
CJrrtum,vimn  geglaubt  wird,  in  Schiller 
und  Kant  das  fruchtbare  Erdreich  fin- 
erne  wurzelkraftige  Entwicklung  des 
katholisch-kirchlichen  und  privaten 
religiosen  Lebens  gefunden  zu  haben, 
in  Schiller  und  Kant  den  Ausdruck  der 
katholischen  Lehre  vom  Gebot  der 
sittlichen  Pflichterfiillung  zu  wissen.“ 

Die  Frage  bleibt  of  fen. 

HEIDENMISSION. 

Inzwischen  widmet  sich  Max  Scheler 
im  fflochland  dem  Studium  iiber 
„Soziologische  Neuorientierung  und 
die  Aufgabe  der  deutschen  Katholiken 
nach  dem  Krieg/‘  Die  Arbeit  ist 
interessant.  Schade,  daB  Scheler  im- 


mer  schlechter  schreibt.  Er  scheint 
keineswegs,  nach  dem  Erfolg  seiner 
gesammelten  Kriegslesefruchte,  die  er 
zu  dem  dickleibigen,  aber  in  zu- 
sammengenahten  Fetzen  schlottemden 
..Genius  des  Krieges“  verarbeitete, 
iiber  sich  selbst  erschrocken  auf 
halbem  Weg  Halt  machen  oder  gar 
umkehren  zu  wollen,  wie  ich  lange 
glaubte  und  besorgten  Freunden  er- 
zahlte.  (Wozu  ich  einigermaBen  be- 
rechtigt  war.)  Vielmehr  erfahren  wir 
durch  die  ZKdfniscfie  *Voffc8*eitcmg, 
dafi  der  ..beriihmte  Philosoph  Max 
Scheler“  sich  bekehrt  habe;  auch 
„werde  von  manchen  anderen,  die 
noch  folgen  sollen,  bereits  gesprochen  .* # 
In  dem  komischen  Heldenlied  vom 
lippe-detmoldischen  Soldat,  der  ganz 
allein  Krieg  fiihren  muss  gegen  ein 
feindliches  Heer  und  naturlich,  eins, 
zwei,  totgeschossen  wird,  heiBt  es: 
..Seine  Seele  flieht  zu  Gott,  wo  die 
Kanonen  stehen.“  Diese  Artilleristen- 
phantasie  ist  lustig  genug.  Jedoch, 
man  sieht,  wir  haben  Zeitgenosscn, 
die  Ernst  damit  machen. 


EIN  DEUTSCHER. 

Am  14.  Juni  veroffentlichte  das 
Berliner  Tageblatt  in  seiner  Morgen- 
ausgabe  eine  Zuschrift  des  @r.  *Fr. 

cerster , Professors  an  der  Univer- 
sitat  Miinchen,  die  verdient,  als  eines 
der  erhebendsten  Zeitdokumente  auf- 
bewahrt  zu  werden.  Die  in  jedei 
Hinsicht  auBergewohnliche  Erklarung 
lautet : 

..Nach  den  alarmierenden  Notizen, 
die  in  diesen  Tagen  iiber  meinen 
Universitatskonflikt  erschienen  sind. 


104 


Glossen 


und  nach  dem  scharfen  Proteste  der 
Fakuitat  gegen  meine  Stellungnahme, 
darf  ich  den  Lesern  wohl  folgende 
ruhige  Darlegung  des  ganzen  Falles 
geben: 

Ich  habe  im  januarhefte  der  Friedens- 

warte  1916  ein  Referat  iiber  die  ,,mit- 
teleuropaische*  4 Staats-  undGeschichts- 
philosophic  von  Konstantin  Frantz  ver- 
offentlicht,  die  bekanntlich  von  Richard 
Wagner  ala  „wahrhaft  deutsche"  po- 
litische  Philosophic  gefeiert  worden 
ist.  Wer  Frantz*  t, Deutsche  Welt- 
politik44  (Chemnitz  1882)  durchliest, 
der  wird  erstaunt  sein  liber  den  in- 
timen  Zusammenhang  all  dieser  Ge- 
danken  mit  brennenden  aktuellen  Fra- 
gen,  und  wird  es  durchaus  begreiflich 
finden,  daB  ich  diese  Gesichtspunkte 
gerade  jetzt  in  die  Diskussion  getragen 
habe.  Wir  haben  ja  doch  nicht  blofi 
Krieg  zu  fiihren,  sondern  auch  neue, 
riesige  politische  Probleme  durchzu- 
denken  — ware  das  nicht  der  Fall,  so 
wiirde  ein  Buch  wie  Naumanns  „Mit- 
leleuropa*4  nicht  ein  so  aufierordent- 
tiches  Interesse  gefunden  haben,  auch 
wui  den  nicht  neuerdings  die  All- 
deutschen  Blatter  den  Vorschlag  propa- 
gieren,  Polen  an  das  Deutsche  Reich 
anzugliedem.  Fur  aolche  iibernatio- 
nalen  Foderativentwicklungen  hoch- 
komplizierter  Art  haben  wir  in  unseier 
nationalpolitischen  Tradition  gar  keine 
Ankniipf ungen  — wir  bediirfen  dazu 
einer  ganz  griindlichen  Neuorientie- 
rung  des  politischen  Denkens.  Oder 
will  man  in  einer  Zeit,  in  der  wir  alle 
auf  alien  Gebieten  so  duichgreifend 
umlernen  miissen,  eine  nationalpoli- 
tiache  Orthodoxie  proklamieren,  auf 
die  dann  die  Profesaoren  einen  Anti- 
Modernisteneid  zu  achworen  haben? 


Man  lasse  doch  das  Ausland  ruhig 
achwatzen,  was  es  will  — wir  sollten 
unsere  furchtbar  ernsten  Angelegen- 
heiten  unbeirrt  mit  jenem  alten  griind- 
lichen  und  kritischen  Geist  durch- 
denken,  auf  den  wir  mit  Recht  stolz 
sein  diirfen.  Sind  wir  nicht  wahrlich 
stark  genug,  um  uns  solche  innere 
tire; fieri  in  der  diskussion  erlauben 
zu  konnen  ? Konstantin  *1 ranif  ist  der 
eigentliche  dkifosopk  des  mHteteu.ro* 
pdiscken  Gedankens  und  muB  darum, 
auch  wenn  man  manches  ablehnen 
wird,  gerade  heute  ernster  als  je  ange- 
hort  werden  — treten  doch  die  Pro- 
bleme des  neuen  Europa  mit  jedem 
Tage  gebieterischer  vor  unsere  Ge- 
danken  und  vor  unsere  Staatsmanner ! 

Mit  ihrer  offentlichen  Erklarung 
hat  die  Miinchener  philosophische 
Fakuitat  zweifellos  einen  schweren 
MiBgriff  begangen.  In  einer  Zeit,  in 
der  von  alien  Seiten  der  „Abbau  der 
politischen  Zensui**  gefordert  und  nicht 
nur  von  den  obersten  Reichsbehorden, 
sondern  auch  vom  obersten  General- 
stabschef  als  wiinschenswert  hinge- 
stellt  wird  — in  einer  solchen  Zeit 
hatte  eine  wissenschaftliche  Korpo- 
ration  wohl  darauf  verzichten  diirfen, 
die  kritische  Revision  unserer  neueren 
politischen  Entwicklung  als  Gefahr- 
dung  des  Vaterlandes  zu  stempeln. 
Unser  Staatswesen  steht  doch  keines- 
wegs  auf  so  wackligen  FiiBen,  daB 
sofort  das  amtliche  Eingreifen  der 
Fakuitat  notig  wiirde,  wenn  das  Bestre- 
ben  nach  grundlicher  Neuorientierung 
des  volkerpolitischen  Denkens  einen 
mit  der  Pflege  politischer  Padagogik 
und  Ethik  betrauten  Kollegen  zu 
radikalem  Zweifel  an  gewissen  poli- 
tiach-historischen  Dogmen  fiihrt.  In 


Glossen 


105 


so  erschiitternden  und  verantwortungs- 
vollen  Zciten  bleibe  den  Universitaten 
und  ihren  obersten  Behorden  jede 
Angstlichkeit  fern,  man  gebe  die  ganze 
Kraft  des  unbestochenen  und  vor- 
urteilslosen  Denkens  frei  — so  wie  die 
alten  Seefahrer  inmitten  der  Wasser- 
wiiste  eine  Taube  in  hohere  Atmospha- 
ren  steigen  liefien,  damit  sie  endlich 
festes  Land  erspahe. 

In  der  offentlichen  Erklarung  der 
Miinchener  Fakultat  findet  sich  ein 
Satz,  bei  der  der  Kenner  des  freiheit- 
lichen  Geistes  der  deutschen  Univer- 
sitatsgesetze  sich  an  den  Kopf  faBt: 
,,Die  Mitglieder  der  Fakultat  werden 
jedem  Versuche,  sie  (diese  Meinungen) 
unter  der  Autoritat  des  Lehramts  in 
der  akademischen  Jugend  zu  verbrei- 
ten,  mit  vollster  Entschiedenheit  ent- 
gegentreten.“  Wohin  zielt  dieses? 
Seit  wann  hat  in  Deutschland  die 
Fakultat  irgendwelche  Disziplinar- 
oder  sonstige  Gewalt  iiber  die  Lehr- 
ausiibung  eines  ordentlichen  Pro- 
fessors? Oder  will  man  diejenigen 
Studierenden,  die  der  Sympathie  mit 
meinen  Ansichten  verdachtig  sind, 
irgendwie  die  Macht  der  Majoritat 
spiiren  lassen? 

Wenn  schon  die  Riicksicht  auf  den 
Eindruck  im  Auslande  so  mafigebend 
sein  soli,  so  hatte  man  wahrlich  besser 
getan,  durch  eine  solche  Aktion  nicht 
der  gewiB  unwahren  Behauptung  des 
,, Temps**  einen  Schein  von  Berechti- 
gung  zu  geben,  da6  die  deutschen 
Q/nrversrtdfen  zurzert  „geistig  vdttig 
tmrformrerf*  seien. 

Die  Miinchener  Neuesten  Nach- 
richten  verkiinden  bei  dieser  Gelegen- 
heit:  „Derartige  schiefe  und  unhisto- 
rische  Auffassungen  . . . konnen  durch 


die  akademische  Freiheit  nicht  mehr 
gedeckt  werden,  weil  sie,  namentlich 
wahrend  des  Krieges  (also  nicht  blo6 
in  der  Kriegszeit ! !),  das  Ansehen  des 
Vaterlandes  im  Inland  und  Ausland 
gefahrden.“  Ob  die  Anreger  der  gegen 
mich  gerichteten  akademischen  Aktion 
nicht  einen  Schrecken  vcr  dieser  Inter- 
pretation der  Lehrfreiheit  bekommen, 
die  doch  genau  so  dehnbar  ist  wie  der 
Begriff  des  ,,groben  Unfugs“  oder  der 
,,Verachtlichmachung  staatlicher  Ein- 
richtungen*4  ? Und  mit  solchen  Aus- 
legungen  der  Lehrfreiheit  will  man  die 
Behauptungen  des  Auslandes  von  der 
Knechtung  der  deutschen  Seele  durch 
die  Staatsgedanken  widerlegen? 

Es  ist  gewiB  zu  verstehen,  wenn  so 
ausgezeichnete  und  von  den  reinsten 
Absichten  geleitete  Gelehrte,  wie  sie 
gerade  die  Miinchener  philosophische 
Fakultat  beherbergt,  durch  meinen 
scharfen  VorstoB  gegen  gewisse  heilig 
gehaltene  Oberzeugungen  in  Starke 
Erregungen  und  Repressivaffekte  ge- 
kommen  sind.  Aber  gab  es  denn  gar 
keine  Hemmungsinstanz  gegen  eine 
Aktion,  deren  ganzlich  unakademischer 
Charakter  den  Beteiligten  wohl  all- 
mahlich  selbst  argerlich  zum  BewuBt- 
sein  kommen  wird? 

Man  macht  mir  die  Veroffentlichung 
meines  Aufsatzes  in  der  Schweiz  zum 
Vorwurf.  Dabei  wird  iibersehen,  daB 
die  Friedenswarte  zwar  in  Zurich 
erscheint,  die  groBte  Zahl  ihrer  Abon- 
nenten  aber  in  Deutschland  und 
Osterreich  hat.  (Gerade  mit  Erschei- 
nen  der  betreffenden  Januar-Nummer 
hat  dann  die  allgemeine  Beschlag- 
nahme  eingesetzt.)  Mein  Aufsatz  — 
der  ilbrigens  auch  in  einer  nord- 
deutschen  Tageszeitung  abgedruckt 


Vv*r 


wurde  — ware  z.  B.  als  Beitrag  der 
,,Siiddeutschen  Monatshefte“  weit 
me  hr  im  ganzen  $ usfand  be  lean  nt 
geworden,  als  es  durch  den  Abdruck  in 
der  Friedenswarte  geschehen  ist . 

Das  ,,Erscheinen  jenseits  der  Reichs- 
gienzen**  hat  also  fur  die  Verbreitung 
ernes  Artikels  im  Auslande  keine  ent- 
scheidende  Bedeutung. 

Die  ganze  Hetze  hat  ihren  Ausgangs- 
punkt  in  der  Berliner  Zentrale  des 
evan gefisdien  ‘Bandes,  die  unablassig 
am  Burgfrieden  riittelt  und  der  es 
schon  lange  auf  die  Nerven  fiel,  daB 
ich  eine  gerechte  Wiirdigung  des 
Kulturbesitzes  unserer  katholischen 
Mitbiirger  als  ein  Gebot  wirklich  na- 
tionaler  Gesinnung  bezeichnet  hatte  — 
genau  so,  wie  ich  das  gleiche  auch  von 
der  Gegenseite  verlangt  habe.  In  jener 
Zentrale  ist  ein  Flugblatt  hergestellt 
worden,  in  dem  mit  anerkennens- 
werter  Geschicklichkeit  der  wahre 
Sinn  meiner  Aufsatze  durch  Heraus- 
reiBen  einzelner  Satze  und  Wendungen 
geradezu  entstellt  worden  ist.  Diese 
Nummer  der  * Deutsch-evangelischen 
Korrespondenz  wurde  in  alle  Welt 
versandt ; eines  Morgens  war  halb 
Miinchen  im  Besitz  dieses  Hetzblattes, 
das  mich  dem  Generalkommando  zur 
Behiitung  empfahl ; man  mufi  wohl 
annehmen,  daB  ein  besonderer  deutsch- 
evangelischer  Flieger  nachts  den  gan- 
zen Vorrat  iiber  der  schlummemden 
Stadt  entleert  hatte.  Dieses  Flugblatt 
erregte  nicht  nur  die  Kollegen,  sondern 
es  drangen  auch  einige  Demonstranten 
in  meinen  etwa  100  Kopfe  zahlenden 
Horsaal,  dessen  Horer  sich  jedoch  wie 
ein  Mann  durch  mtnutenlanges  Klat- 
schen  und  Trampeln  gegen  die  Ein- 
dringlinge  erhoben,  die  dann  abzogen. 


Dieser  Sachverhalt  ist  durch  von 
Miinchen  an  die  deutsche  Presse 
abgesandte  Berichte  derart  auf  den 
Kopf  gestellt  und  durch  abenteuerliche 
Erfindungen  ausgeschmiickt  worden, 
daB  ich  auf  diesem  Wege  an  die  Gifuk 
der  deutschen  Freese  appelliere,  sic 
moge  von  dieser  meiner  Richtigstellung 
und  Rechtfertigung  Notiz  nehmen  — 
im  Unteriassungsfalie  miiBte  ich  den 
betreffenden  Retlaktionen  sagen:  „Ihr 
habt  kein  Recht,  euch  iiber  die  Liigen- 
presse  des  Auslandes  zu  entriistenf* 
Prinzipiell  sei  noch  folgendes  be- 
merkt:  Els  scheint  weiten  Kreisen  des 
deutschen  Volkes,  und  ganz  besonders 
vielen  Vertretern  des  Gelehrtentums, 
noch  nicht  zum  BewuBtsem  gekommen 
zu  sein,  daB  die  groBe  Parole  fiir  den 
wahren  Patrioten  heute  lautet:  „Um- 
lemen!“,  und  daB  die  gegen wartige 
Weltnot  in  eine  Phase  getreten  ist,  wo 
alles  andere  am  Platze  ist,  als  dngst - 
defies  und  reiibares  fftnfclammem  an 
lie b geworden  e Q/berdefervn gen . Die 
Cberlieferungen  after  Nationen  sind 
mit  Blut  und  Schuld  schwer  befleckt, 
und  der  gegenwartige  Weltkrieg  ist  die 
,,Summa4*  des  langmiitigen  Wclt- 
gerichts  iiber  das  furchtbare  Treiben 
der  bisherigen  europaischen  „Historie  . 
Darum  hinweg  mit  allem  unfreicn 
Gotzendienst  gegeniiber  der  politi- 
schen  Vergangenheit  — strecket  tuck 
muiig  „nac6  vomeri* , wenn  ikr  Gu* 
ropa  aus  diesem  fur  chi  bar enBfut bade 
erreffen  wo  fit/  Wir  haben  jetzt  nicht 
me  hr  bloB  Krieg  zu  fiihren,  dieses 
Gebot  ist  nicht  das  einzige  Gebot  der 
Stunde,  dem  alle  Seelen  sich  unter- 
werfen  miissen  — nein,  wir  hinter  der 
Front,  wir  haben  jetzt  die  heilige 
Pflicht,  alles  zu  tun,  daB  die  fftimo* 


Glossen 


107 


durch 


sphare  geschaffen  werde,  in  der  allein 
die  Entspannung  der  Leidenschaften 
kommen  und  die  Stimme  der  Ver- 
nunft  sich  Gehor  verschaffen  kann. 
Dieses  geschieht  gewiB  nicht 
Rufen  nach  Frieden  urn  jeden  Preis. 
Davon  ist  auch  das  deutsche  Volk  mit 
Recht  himmelweit  entfernt.  Worauf  es 
ankommt,  das  ist  zunachst  nur  eine 
neue  onart : In  alien  Landern  miissen 
sich  immer  lauter  Manner  vernehmbar 
machen,  die  es  offen  aussprechen,  daB 
ein  Ausweg  aus  dieser  Holle  von  Wut 
und  Starrsinn  gar  nicht  moglich  ist, 
wenn  wir  uns  nicht  alle  entschlossen 
von  dem  alten  Geist  des  Volkerver- 
kehrs  abwenden,  unseren  Anteil  an  des- 
sen  Siinden  offen  und  ehrlich  beken- 
nen  und  zunachst  einmal  in  innerster 
Seele  ein  neues  Guropa  lieben  und  aus- 
denken  lernen.  Nur  durch  diese  innere 


Q/mhehr  und  die  dement  sprechende 
1 Vonart , nicht  aber  durch  ein  blofies 
allgemeines  Friedensangebot,  komme 
es  von  hiiben  oder  von  driiben,  konnen 
die  ruhigen  Elemente  in  alien  Landern 
an  das  Werk  gerufen  werden.  Deutsch- 
lands  groBe  Cberlieferungen  ver- 
pflichten  uns,  in  dieser  Richtung  die 
Hegemonie  zu  ergreifen.  Ohne  all- 
seitigen  ,^%bbat/‘  m der  *Vd{/cerver* 
Beifung  und  in  der  eitlen  und  gottfosen 
(Jefbstgerechiigfceit  wird  kein  Friede 
kommen,  sondern  die  Volker  werden 
sich  bis  zum  Verbluten  zerfleischen,  so 
wie  es  ein  Japaner  gesagt  hat : „Lasset 
uns  ruhig  abwarten,  bis  Europa  sein 
Harakiri  vollzogen  haben  wird/*  Soil- 
ten  aber  zwei  Jahrtausende  europa- 
ischer  Gesittung  wirklich  nicht  ver- 
hindern  konnen,  daB  wir  Europaer 
samt  und  sonders  mit  bidden,  hilflosen 
Gesichtern  in  den  Abgrund  fahren, 


wobei  noch  jeder  einzelne  einen  Lob- 
gesang  auf  seine  herrliche  Vergangen- 
heit  und  seine  schneeweifie  Unschuld 
anstimmt? 

In  einer  leitenden  englischen  Zeit- 
schrift  (Hibbert  Journal)  wurde  neu- 
lich  eine  deutsche  Broschiire  bespro- 
chen,  die  sich  gegen  die  Volkerver- 
hetzung  wendet.  Der  Rezensent  (Prof. 
L.  Dickinson-Cambridge)  schrieb : 
„Man  sieht,  es  ist  keine  Nation  von 
Barbaren,  in  der  solche  Stimmen 
laut  werden/*  Nun  also!  Lasset  uns 
mitten  im  Tumult  der  Verhetzung  das 
Unsere  tun,  damit  endlich  die  euro * 
pdische  oJiimme  auf  alien  Seiten 
triumphiere  und  die  Zeit  komme,  wo 
„die  Rachegottinnen  fern  abdonnemd 
die  Tore  der  Holle  hinter  sich  zu- 
schlagen!**  — 

In  der  Deutschen  Tageszeitung  wur- 
de in  einer,  offenbar  von  einem 
Miinchner  Kollegen  des  Professors 
Forster  herriihrenden,  aber  anonymen 
Zuschrift  dazu  bemerkt,  daB  Lehr- 
freiheit  nicht  gleichbedeutend  sei  mit 
$1 arrenfreiheit . . , 

„REALPOLITIKER.“ 

I. 

Aus  einem  Leitartikel  der  Gvenmg 
eJiandard  an  ci}.  £james  Gazette  vom 

31. Mai: 

„Es  ist  kein  Zufall,  wenn  in  alien 
Landern  — England  eingeschlossen  — 
Friedensgeriichte  umlaufen.  Die  trei- 
bende  Kraft  ist  Deutschland,  welches 
durch  eine  eigens  fur  diesen  Zweck 
geschaffene  Organisation  unter  Neu- 
tralen  und  Kriegfiihrenden  drei  Ge- 
danken  zu  verbreiten  sucht,  namiich: 


8 VoL  m/2 


108 


Gloss  en 


1 . dafi  die  Verbandsmachte  unmog- 
lich  gewinnen  konnen ; 

2.  dafi  ein  baldiger  Friedensschlufi 
fur  sie  und  die  europaischeZivili- 
sation  die  einzig  mogliche  Ret- 
tung  ist ; 

3.  dafi  ein  als  siegreich  anerkanntes 
Deutschland  mit  sich  reden  lassen 
wird. 

Inzwischen  setzen  die  Deutschen  und 
ihre  Verbiindeten  auf  mehreren  Fron- 
ten  ihre  wiitenden  Angriffe  fort. 
Sollten  diese  von  Erfolg  gekront  sein, 
so  wiirde  damit  die  Schaffung  einer 
dem  Frieden  giinstigen  Stimmung 
aufierordentlich  gefordert  werden.  Man 
konnte  dann  auch  den  Appell  an  das 
Gefilhl  fallen  lassen  und  die  alien 
empfindsamen  Seelen  eigene  erbarm- 
liche  Feigheit  fur  seine  Zwecke  aus- 
nutzen.  Anderseits  fande  man  im 
Falle  eines  Fehlschlages  einen  gut 
vorbereiteten  Boden  vor,  um  Un- 
einigkeit  zwischen  die  Verbandsmachte 
zu  saen  und  Neutrale  zu  bestechen. 

Es  gibt  unter  uns  zwei  Sorten  von 
Menschen,  welche  wissentlich  oder  in 
aller  Harmlosigkeit  der  deutschen 
Propaganda  zum  Opfer  fallen.  Die 
einen  sind  Warren  oder  ihnen  ver- 
wandte  Gefdfilsmensclien  ; die  anderen 
kosmopotHische  {Handler  und  Geld* 
menscfien,  welche  wieder  Geld  ver- 
dienen  wollen  und  ihr  Geld  zu  hohen 
Zinsen  ausleihen  mochten.  Der  Ein- 
flufi  der  letzten  Klasse  ist  ein,  wenn 
auch  grofier,  so  doch  begrenzter.  Um 
so  tiefergehend  ist  aber  leider  der  Ein- 
flufi  der  Gefiihlsmenschen,  und  zwar 
nicht  so  sehr  durch  das,  was  sie  im 
Parlament  und  durch  die  Presse  ver- 
breiten,  als  durch  das  Unheil,  das  sie 
durch  Briefe,  Gerede  an  ihren  Arbeits- 


statten  und  dergleichen  anrichten  und 
wodurch  wohl  die  auf  einen  ungliickli- 
chen  Frieden  gerichteten  Bestrebungen 
ihren  unheilvollen  Ausdruck  finden. 

Dafi  diese  Propaganda  im  Lande 
geduldet  wird,  ist  unverstandlich.  Die 
Erfahrungen,  die  wir  mit  den  irischen 
Sinn  Feiners  gemacht  haben,  sollten 
uns  mifitrauisch  gegen  unsere  eigenen 
Sinn  Feiners  machen,  deren  Waffen 
dadurch,  dafi  es  die  Waffen  von  Feig- 
lingen  sind,  nicht  weniger  todlich 
werden.  In  keinem  Lande  der  Welt 
wiirde  einer  Gesellschaft  wie  der 
,, Bruderschaft  der  Wehrpflichtgegner" 
oder  der  ,,Vereinigung  fur  demokra- 
tische  Kontrolle**  von  der  Regierung 
erlaubt  werden,  ihre  zerstorende  Tatig- 
keit  auszuiiben. 

Wir  fordern  von  der  Regierung  eine 
scharfe  Stellungnahme  diesen  Bestre- 
bungen gegenliber,  und  von  den  Mit- 
gliedern  des  Parlaments  und  den  nicht 
im  Kriegsdienst  tatigen  Behorden  ver- 
langen  wir,  dafi  sie  das  ihrige  zur  Auf- 
klarungdes  Volkes  tun  und  die  deutsche 
Mar  von  einem  hoffnungslosen  Remis 
richtigstellen. 

Wir  befinden  uns  am  Vorabend  der 
grofien  Anstrengung  der  Verbiindeten, 
die,  wie  wir  hoffen,  mit  Erfolg  gekront 
sein  wird.  Darum  ist  vor  dem  End- 
siege  a lies  Wried en  sg  erede  ein  Verrai 
am  tVaterlande,  der  als  solcher  ge- 
brandmarkt  werden  muB,  in  welcher 
Verkleidung  er  sich  auch  zeigen  moge.“ 


Hauptartikel  des  Grafen  Reventlow 
in  der  Deutschen  Tageszeitung,  am 
14.  Juni,  Morgenblatt,  iiberschrieben : 
Von  moralischen  Schuldkontos.  (Die 


Glossen 


109 


kursiv  gedruckten  Stellen  sind  in  der 
Deutschen  Tageszeitung  gesperrt.) 

,,In  der  Kolnischen  Zeitung  be- 
schaftigt  sich,  wie  heute  morgen  im 
telegraphischen  Auszuge  mitgeteilt 
wurde,  der  Leiter  des  Wiener  Frem- 
denblattes  mit  RuBlands  Schuldkonto. 
Kurz  vorher  war  in  der  Deutschen 
Tageszeitung  in  einer  Skizzierung  der 
drei  Tage,  welche  dem  Befehle  zur 
deutschen  Mobilmachung  vorausge- 
gangen  sind,  ebenfalls  die  Rede  von 
den  russischen  Vorbereitungen  und  von 
der  Mobilmachungsorder.  Sodankens- 
wert  uns  der  neue  osterreichische 
Beitrag  auch  scheint,  so  vermogen  wir 
die  Bemerkung  doch  nicht  zu  unter- 
driicken,  daB  es  zu  einer  irrefiihrenden 
und  in  ihren  Wirkungen  nachteiligen 
Verschiebung  und  Verdunkelung  wich- 
tiger  Gesichtspunkte  fiihren  muB, 
wenn  jetzt  nach  zweijahriger  Kriegs- 
fiihrung  immer  wieder  die  .Schuld- 
frage‘  in  den  Vordergrund  gestellt 
wird.  Wie  die  Lage  und  eine  Fulle 
unanfechtbarer  Angaben  erweisen,  und 
zwar  ein  fiir  alle  Male,  liegt  die  soge- 
nannte  Schuldfrage  fest.  Ihre  Er- 
orterung  hatte  im  Anfange  des  Krieges 
eine  gewisse  Berechtigung,  weil  immer- 
hin  die  Moglichkeit  bestand,  neutrale 
Machte  aufzuklaren  und  dadurch  einen 
EinfluB  auf  ihre  Stellungnahme  zu 
gewinnen.  Wie  gesagt,  die  Moglich- 
keit bestand,  aber  tatsachlich  sind 
die  deutschen  Erwartungen  durch- 
weg  getauscht  worden,  denn  gerade 
bei  denjenigen  Machten,  an  deren 
Aufklarung  es  der  deutschen  Regierung 
besonders  lag,  hat  die  Luge  unserer 
Feinde  auf  der  ganzen  Linie  und 
dauernd  gesiegt.  Das  Sprichwort  von 
den  kurzen  Beinen  der  Luge  ist  Lugen 


gestraft  worden ; ein  Beweis  iibrigens 
auch  dafiir,  daB  diese  Volker  und  ihre 
Regierenden  an  der  Wahrheit  kein 
Interesse  hatten,  sondern  diejenige 
Version  annahmen,  welche  in  der 
Linie  ihrer  Neigung  und  Politik  lag. 
Mittlerweile  sind  viele  Monate  ins 
Land  gegangen  und  es  ist  schon  lange 
nicht  mehr  einzusehen,  was  fiir  einen 
positiven  Zweck  noch  die  Beteue- 
rungen  und  Beweise  der  Unschuld 
Deutschlands  am  Kriege  haben  sollten. 
Wer  es  glauben  und  wissen  wollte, 
der  glaubt  und  weifi  es  langst,  wahrend 
die  iibrigen  sich  in  ihrer  gegenteiligen 
Meinung  durch  Schwiire  und  Belege 
nicht  irremachen  lassen.  Auf  der 
anderen  Seite  aber  steht  die  unseres 
Erachtens  nicht  unbedenfcliche  Wir- 
kung,  daB  innerhalb  der  deutschen 
Bevolkerung  durch  fortwahrende  Wie- 
derholung  der  Unschuldsbeteuerungen 
unbewuBt  die  Oberzeugung  grofi 
werde,  damit  werde  irgend  etwas 
^Wir (cliches  g exconn  en  oder  rrgendein 
fur  die  Zuhunft  drohendes  *21  bei  be* 
seitigt . Ein  sole  her  Irrglaube  ware 
schon  deshalb  schadlich,  weil  er  die 
Aufmerksamkeit  und  das  in  *Deutsch- 
land  [eider  so  sparliche  realpolitische 
Onteresse  ablenfcen  und  schwachen 
wurde , um  eines  moralischen  Whan* 
toms  xvillen . Friedensschliisse  und  die 
Friedensbedingungen  sind  noch  nie- 
mals  deshalb  andere  geworden,  weil  das 
eine  Volk  das  andere  und  das  andere 
das  eine  mit  Schuld-  und  Unschuld- 
beweisen  iiberhaufte.  Wohl  aber  ist  es 
von  groBter  Wirkung  auf  den  Verlauf 
der  Kriege  gewesen,  welches  von 
kriegfiihrenden  Volkem  seinem  Gegner 
oder  seinen  Gegnern  gegeniiber  den 
Wert  des  Momentes  der  Zeit,  m ^hin 


110 


Gloss  en 


der  Schnelligkeit  des  Handelns  schon 
in  den  ersten  Anfangen  erkannte  und 
verwirklichte.  Man  denke  nur  an  die 
Kriege  Friedrichs  des  Grofien.  Der 
Siebenjahrige  Krieg  war  ein  Verteidi- 
gungskrieg  im  hochsten  Sinne  des 
Begriffes  fiir  Friedrich,  und  er  begriff, 
dafi  er,  um  ihm  gewachsen  zu  sein, 
zuvorkommen  miisse.  Deswegen  blieb 
es  doch  ein  Verteidigungskrieg.  Els 
liefien  sich  aus  den  letzten  zwei  Jahr- 
tausenden  zahlreiche  Beispiele  hierfiir 
anfiihren,  fiir  die  Bedeutung  ent- 
schlossener  Zeitausnutzung  und  ebenso 
entschlossener  Ausnutzung  aller  Waf- 
fen  im  Kriege.  Die  russische  Politik 
ging  im  Einklange  mit  der  militarischen 
Leitung  von  jenem  Gesichtspunkte 
aus.  Schon  lange  vor  dem  Befehl  zur 
Mobilisierung  wurde  im  ganzen  rus- 
sischen  Reiche  mobil  gemacht,  ja  man 
kann  die  Probemobilmachungen  wah- 
rend  der  Balkankriege  schon  als  Vor- 
spiel  der  Mobilmachung  von  1914  in 
gewissem  Sinne  ansehen . Hatte  der  Zar 
aber  den  formellen  Mobilmachungs- 
befehl  einige  Tage  spater  gegeben,  als 
er  es  getan  hat,  oder  ware  der  deutsche 
Mobilmachungsbefehl  drei  Tage  friiher 
erfolgt,  so  wtirde  doch  fRufi lands 
(Jchufdkonto*  genau  das  gleiche  ge* 
wesen  sein,  ndmlich  ein  in  kemer 
‘Weise  provozierter  fflngrrff  auf  die 
\ TJlitteimdchte . ‘Und  ‘Deutschland 

wdre  auch  bei  friiher  erfolgter  <IJlo* 
bifisierung  genau  in  demselben  Dlafie 
der  Jlngegrrffene  a ewe  sen. 

Selbstverstandlicn  liegt  es  uns  fern, 
derartigen  Forschungen,  wie  sie  der 
Leiter  des  Wiener  Fremdenblattes 
anstellt,  einen  gewissen  Reiz  abzu- 
sprechen  ; im  Gegenteil,  dieser  Reiz  ist 
entschieden  vorhanden.  Aus  den  ange- 


deuteten  Griinden  aber  erscheint  es 
uns  poGtisch  bedenklich,  gerade  ange- 
sichts  der  deutschen  Neigung  zu  all- 
gemeinen  moralischen  Betrachtungen 
und  dazu  die  Politik  mit  ihren  Motiven 
und  treibenden  Kraften  und  Entwick- 
lungen  unter  den  moralischen  Gesichts- 
punkt  zu  stellen.  EJne  solche  Betrach- 
tungsweise  wird  durch  alle  Erfahrung 
ad  absurdum  gefiihrt.  Ganz  unbe- 
greiflich  vollends  ist  die  gelegentlich 
laut  gewordene  Betrachtung,  dafi 
Deutschlands  Handlungsweise  und  Art 
des  Vorgehens  vor  und  in  diesem 
Kriege  besonders  fiir  eine  spatere 
Qeschichte  wichtig  sei  und  deshalb 
unter  diese  Riicksicht  beeinflufit  wer- 
den  miisse.  Wie  kein  einzelner  Mensch, 
so  kann  und  darf  noch  viel  weniger  ein 
Volk  etwas  tun  oderlassen,/>j  der  0f off" 
nung,  dafi  dann  spdter  dieses  oder 
jenes  von  ihm  geschrieben  werde ; am 
allerwenigsten  aber  vor  und  in  emem 
IKriege,  der  dber  (Jem  oder  ‘Tlichtsem 
entscheidet . Die  Qeschichte  ist  etwas 
vollkommen  oTekunddres  und  dazu  da, 
um  die  ‘Vergangen  he  it  zu  v erst  e hen. 
Die  Konsequenz  aus  der  obigen  Auf- 
fassung  wiirde  sein,  dafi  der  einzelne 
und  ein  Volk  fiir  die  Garantie  einer 
anerkennenden  Grabschrift  sich  derart 
moralisch  benehmen,  dafi  unmoralische 
Gegner  sie  urns  Leben  brachten.  — 
Fiir  ein  Volk  — der  einzelne  kann 
unter  Umstanden  mit  sich  machen  was 
er  will  — heifit  es:  sein  Geben  und 
seme  Zukunft  sichem,  und  den  kom- 
menden  Generationen  iiberlassen,  was 
sie  an  Geschichte  zu  schreiben  fiir 
richtig  halten.  Was  ferner  die  Ge- 
schichtschreibung  anderer  Volker  von 
unserm  Volke  spater  sagen  sollte:  wir 
wdfiten  nichts,  was  dem  deutschen 


\ i 

V 


Glossen 


111 


Votfce  gfeichg&ftiaer  sem  kdnnte, 
wenn  es  nan  stark  genug  ist“ 

mvergeltungs- 

MASSNAHMEN.” 

Die  Vlorddeutsdie  &([gememe  Zei* 
txmg  schreibt  unter  der  Oberschrift 
‘Deutsche  and  franzdsische  $ustiz : 
Zwei  in  Deutschland  lcriegsgefangene 
Offiziere,  Leutnant  Defcass 6 und 
Leutnant  iHerve , wurden  vor  kurzem 
wegen  Gehorsamsverweigerung  kriegs- 
gerichtlich  zu  1 und  I1/*  Jahren  Fe- 
stungsgefangnis  verurteilt.  Sie  hatten 
sich  geweigert,  dem  Befehl,  zum 
Appell  anzutreten,  Folge  zu  leisten, 
indem  sie  Krankheit  vorschiitzten. 
Dem  deutschen  Vorgesetzten,  der  sie 
zum  Appell  abholen  sollte,  leisteten  sie 
tatlichen  Widerstand,  Leutnant  Herv£ 
liefi  sich  aufierdem  zu  Schimpfworten 
hinreifien.  Das  Urteil  wurde  durch 
das  Kriegsgericht  gesprochen  und  nach 
eingelegter  Berufung  durch  das  Ober- 
kriegsgericht  bestatigt.  Trotzdem  es 
sich  hier  also  urn  ein  rechtsgultiges 
gerichtliches  Urteil  handelte,  liefi  die 
franzosische  Regierung,  ohne  daB  sie 
den  Versuch  machte,  die  Rechtskraft 
des  Urteils  zu  priifen  oder  irgendwie 
anzufechten,  als  VergeltungsmaBregel 
zwei  kriegsgefangene  deutsche  Offi- 
ziere  in  Festungshaft  iiberfiihren.  Die 
deutsche  Regierung  ist  durch  diese 
franzosische  WillkiirmaGregel  zu  einer 
GegenmaBnahme  gezwungen  worden. 
Fur  jeden  der  bet’den  deutschen  Offi- 
ziere  wurden  d're/franzosische  Offiziere 
in  ein  deutsches  Festungsgefangnis 
iibergefiihrt,  in  dem  sie  so  lange  ver- 
bleiben  werden,  bis  die  beiden  deut- 


schen Offiziere  ins  Offiziergefangenen- 
lager  zurilckgekehrt  sind. 

Gleichzeitig  hat  die  deutsche  Regie- 
rung  ein  nicht  zu  rechtfertigendes  Ur- 
teil, das  gegen  den  in  Frankreich  kriegs- 
gefangenen  Leutnant  der  Reserve 
Erler  ergangen  ist,  mit  Vergeltungs- 
mafiregeln  beantwortet. 

Leutnant  Erler  ziindete  beim  Vor- 
marsch  auf  Paris  auf  Befehl  seines 
Vorgesetzten  ein  Haus  an,  aus  dem 
Zivilisten  (Freischarler)  auf  deutsche 
Soldaten  geschossen  hatten.  Fur  diese 
vollig  gerechtfertigte  Mafiregel  trug 
nach  militarischen  Gesetzen  nicht  er  die 
Verantwortung,  sondern  ausschliefi- 
lich  der  Vorgesetzte,  der  den  Befehl 
erteilt  hatte. 

In  seinem  Tagebuche  erwahnte 
Leutnant  Erler  die  Anziindung  des 
Hauses.  Er  fiel  kurz  darauf  schwer- 
verwundet  in  franzosische  Gefangen- 
schaft.  Der  Vermerk  im  Tagebuch 
fiihrte  zu  einem  Gerichtsverfahren 
wegen  Brandstiftung,  das  mit  der  Ver- 
urteilung  Erlers  zur  Degradation  und 
20  Jahren  Zuchthaus  endete.  Trotzdem 
die  deutsche  Regierung  ein  umfassen- 
des  Entlastungsmaterial  fiir  Erler,  das 
seine  Schuldlosigkeit  auBer  Zweifel 
stellte,  nach  Frankreich  sandte,  lehnte 
die  franzosische  Regierung  die  Wieder- 
aufnahme  des  Verfahrens  ab,  weil  das 
Entlastungsmaterial  keine  neuen  Tat- 
sachen  enthielte. 

Leutnant  Erler  befindet  sich  im 
Militarzuchthaus  zu  Avignon  und 
wird  als  gemeiner  Strafling  behandelt. 
Er  liegt  in  demselben  Schlafsaal  mit 
den  anderen  Zuchthauslern  und  hat 
taglich  zehn  Stunden  lang  Matten  und 
Korbe  zu  flechten.  Geistige  Be- 
schaftigung  ist  ihm  nicht  gestattet. 


>AA< 


'A*A*A*A* 


112 


Glossen 


Die  deutsche  Heeresverwaltung  hat 
daf&r  zedn  franzdsische  Offiziere  in 
Militarstrafanstalten  iibergefiihrt,  in 
denen  sie  unter  gleicher  Behandlung, 
wie  sie  dem  Leutnant  der  Reserve  Erler 
zuteil  wird,  verbleiben,  bis  dieser 
Offizier  in  ein  Offiziersgefangenenlager 
verbracht  ist. 

Da  Deutschland  etwa  die  dreifache 
Anzahl  an  leriegsgefangenen  franzd- 
sischen  Offizieren  hat  wie  umgekehrt 
Frankreich,  kann  man  hier  etwaigen 
weiteren  franzdsischen  Repressalien 
ruhigen  Blutes  entgegensehen. 


MENSCHENSTIMME. 

In  der  *Victojre,  wo  Gustave  Herve 
den  Ausdruck  menschlicher  Gefuhle 
fur  die  Zeit  nach  dem  Gelingen  der 
grossen  Offensive  vertagt  hat,  erhebt 
sich  trotzdem  die  Stimme  des  Paul 
Hyacinthe  Loyson: 

„Nein,  nicht  fiir  einen  einzigen 
Augenblick  geben  wir  zu  — wir  haben 
nicht  das  Recht,  es  zuzugeben  — wir 


weisen  es  ab  wie  ein  Verbrechen  gegen 
den  Geist  — mit  dem  ganzen  Zorn 
unseres  Gewissens,  das  notigenfalls 
starker  ist  als  unsere  Vemunft,  ver- 
werfen  wir  jene  Prophezeiung  von  den 
,,hollischen  Kriegen",  die  in  Ewig- 
keit,  inmitten  eines  morderischen  Uni- 
versums,  durch  die  halluzinierten  Jahr- 
hunderte  sich  walzen  sollten.  Eher  das 
Nichts,  als  diese  Verruchtheit ! Eher 
mit  unseren  eigenen  Handen  unsere 
kleinen  Kinder  in  ihren  Wiegen  er- 
drosseln,  als  sie  fiir  die  Orgie  von 
Mordern  groBziehen! 

Nein,  wir  werden  die  Blasphemie 
nicht  erlauben,  dafi  der  Krieg  ein  Ideal 
sei... 

Nein,  wir  sprechen  den  Krieg  nicht 
frei,  weil  er  soviel  Heldenhaftes  her- 
vorbringt,  denn  er  bringt  noch  mehr 
Verbrechen  hervor,  und  wer  diese 
Dinge  ein  einziges  Mai  gesehen  hat, 
behalt  fiir  sein  Leben  beschmutzte 
Augen  und  errotet  vor  Scham,  wenn 
er  sie  zum  Himmel  hebt. 

Aber  muB  man  es  noch  laut  hinaus 
schreien,  damit  die  Steine  selbst  es 
hdren?" 


Verantwortlich  <Rene  Sc6rdcefe. 

Fur  Oitcr.-Ungarn:  Hugo  Wien  I,  Bauemmarkt  3.  — Im  Vcriag  von  *Rasc6er  A Ore. 

Ziirich  i und  Leipzig,  Talstrasse  15.  — Druck  von  ftenteti  Biimpliz  (Bern). 


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Arthur  Segall  ♦ Seeks  HolzschntUe  115 


116 


Arthur  Segall  ♦ Seeks  Holzschniite 


Arthur  Segall  ♦ Seeks  Holzschnitte 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


119 


£55 feinricfi  <T7(cmn: 

MADAME  LEGROS 

DRAMA  IN  DREI  AKTEN 


PERSONEN; 


Madame  Legros 

Die  K&nigin  Marie  Antoinette 

Die  Comtesae  d*  Ore  hat 

Die  alte  Marquise  de  Sarcll 

Eine  Verwandte  des  Ehepaares  Legros 

Madame  Touche 

Fanchon 

Madame  Crozet 

Legros 

Der  junge  Chevalier  d'Angelot 


Der  Abbi  de  Zorane 
Der  Baron  de  Clainrauz 
Vignon 

Ein  Akademiker 
Ein  Offizier 
Ein  TOrhiiter 

Nachbarn  und  Nachbarinnen  des 
Ehepaares  Legros 

Volk 

Soldaten 


Paris  1789 


ERSTER  AKT. 

Die  grSBere  Hal  ft e der  Buhne  wird  von  dem  Laden  des  Ehepaares  Legros 
eingenommen.  Er  ist  nach  der  Seite  offen  und  hat  Auslagen  von  WeiBwaren, 
auch  auf  der  engen  Gasse,  die  zwischen  hohen  alten  Hausem  (das  schonste 
ist  der  Gasthof  zum  f,Wei6en  Pferd")  nach  dem  Hintergrund  verliuft,  Dort 
Sffnet  sich  der  Platz  der  Bastille,  einer  ihrer  Turme  bildet  den  AbschluB. 
Man  sieht  nur  sein  unteres  Stockwerk. 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


ERSTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Die  Verwandte. 

Verwandte:  Das  Haubchen  ist  hiibsch.  Der  Herr  Graf 
von  Coutras  hat  richtig  gewahlt:  es  wird  dem  Fraulein  Palmyre 
gut  stehen.  Finden  Sie  nicht,  Madame  Legros? 

Madame  Legros  (an  der  Kasse,  schreibend) : Der  Herr  Graf 
hat  gewahlt,  was  ihm  passend  schien. 

Verwandte:  0 nein,  sondern  ich  selbst  habe  es  ausgesucht 
und  es  dem  Herrn  Grafen  aufgenotigt.  Der  Herr  Graf  wiirde 
dieses  andere  hier  genommen  haben,  aber  es  ist  nicht  schon 
genug  fiir  Fraulein  Palmyre.  Ich  bin  ihre  gute  Freundin. 

Madame  Legros:  Ich  denke, du  bist  bei  uns  im Dienst und 
wirst  schon  darum  einem  Kunden  die  bessere  Ware  empfehlen. 

Verwandte:  Nun  ja  . . . Ich  konnte  das  Haubchen  gleich 
h intragen. 

Madame  Legros:  Du  weiBt,  dafi  ich  noch  die  Schleifen 
daranzunahen  habe. 

Verwandte:  Das  kann  auch  ich  tun. 

Madame  Legros:  Bildest  du  dir  ein,  man  wurde  den 
Unterschied  nicht  sehen? 

Verwandte:  Ich  habe  doch  auch  schon  Geschmack  erlernt, 
seit  ich  in  Paris  bin.  Ich  bin  keine  Bauerin.  Herr  Legros  ist 
mein  Vetter,  er  wird  mir  erlauben,  was  ich  will. 

Madame  Legros:  Die  Schachtel  mit  den  Strumpfen  ist 
nicht  fortgeraumt,  und  ein  so  teures  Jabot  treibt  sich  am  Boden 
umher;  das  Fraulein  aber  hat  keinen  andem  Gedanken,  als  zu 
einem  Ballettmadchen  zu  laufen  und  wieder  den  ganzen  Abend 
hmter  den  Kulissen  nach  galanten  Herren  auszuschauen. 

Verwandte:  Ich  brauche  nicht  erst  auszuschauen.  Sie, 
Madame  Legros,  gonnen  niemandem  ein  Vergnugen.  Sie  denken 
nur  an  sich. 

Madame  Legros:  Ich  denke  an  das  Interesse  des  Herm 
Legros.  Dafur  bin  ich  seine  Frau. 

* 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


I2t 


ZWEITE  SZENE. 

DieVorigen.  Legros. 

Legros:  Guten  Tag. 

Madame  Legros:  Guten  Tag,  lieber  Mann.  Wie  geht  es  in 
der  Werkstatte?  Bist  du  zufrieden  mit  deinem  neuen  Gesellen? 

Legros:  Er  ist  ein  tiichtiger  Mensch.  Aber  darum  handelt 
es  sich  jetzt  nicht. 

Madame  Legros:  Ichsehediran,daGdu  Arger gebabt hast. 

Legros:  Meister  Ambroise  war  da  wegen  der  Bezahlung 
der  Wolle. 

Madame  Legros:  Es  ist  noch  nicht  der  Zahltag. 

Legros:  Meister  Ambroise  brauchte  das  Geld.  Seine  Frau 
ist  schon  Iange  krank.  Er  hat  Schwierigkeiten. 

Madame  Legros:  Du  hast  es  ihm  gegeben? 

Legros:  Freilich  haben  auch  wir  es  schwer  — wie  alle  Welt 
jetzt.  Aber  ich  sagte  mir,  man  muB  einander  helfen. 

Madame  Legros:  Was  du  tust,  ist  recht,  lieber  Mann. 

Legros:  Obwohl:  — wer  wird  eines  Tages  uns  helfen? 

Madame  Legros:  0!  dahin  wird  es  nicht  kommen.  Und 
wenn  du  heute  Geld  ausgegeben  hast,  so  haben  wir  hier  es 
wieder  eingenommen.  Der  Herr  Graf  von  Coutras  hat  unser 
schonstes  Spitzenhaubchen  gekauft,  das  fur  vierhundert  Pfund. 

Verwandte:  Ich  habe  es  ihm  aufgeschwatzt ! 

Legros:  Vielleicht  hast  du  es  ihm  aufgeschwatzt.  Madame 
Legros  aber  hat  es  angefertigt.  Das  ist  noch  mehr  wert. 

Madame  Legros:  Aber  Lob  verdient  doch  nur  sie:  ich 
nicht,  denn  du  bist  ja  mein  Mann. 

Legros:  Das  ist  wahr. 

Madame  Legros:  Nun  haben  wir  bald  kerne  Spitzen  mehr. 
Wann  werden  endlich  die  aus  Alenfon  kommen? 

Legros  (befangen):  Das  frage  auch  ich  mich.  Kann  sein,  daft 
sie  schon  da  sind  und  beim  Stadtzoll  iiegen.  Dabei  fallt  mir 
ein,  dafi  dein  Vetter,  der  Zollbeamte,  uns  lange  nicht  besucht 
hat  . . . Was  tust  du  da  ? 


122 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros:  Ich muBan  das  Haubchen  des  Frauleins 
Palmyre  noch  die  Schleifen  nahen. 

Legros:  Tue  das  spater.  Jetzt  solltest  du  zu  deinem  Vetter 
auf  das  Zollamt  gehen  und  ihn  fur  Sonntag  zum  Mittagessen 
laden. 

Madame  Legros:  Gleich  jetzt? 

Legros:  Ich  schulde  ihm  die  Hoflichkeit. 

Madame  Legros:  Kann  nicht  Lisette  gehen? 

Legros:  Das  ware  nicht  hofiich  genug. 

Madame  Legros:  Ich  tue,  was  du  befiehlst,  lieber  Mann. 

(Sic  macht  tich  zum  Ausgehen  fertig.) 

Legros:  Und  sage  deinem  Vetter,  daB  wir  eine  fette  Gant 
haben  werden!  . . Und  sei  zuriick  zum  Essen! 

Madame  Legros:  Niemand  soli  es  dir  bereiten,  ais  nur 
ich.  Es  ist  weit,  aber  ich  werde  eilen.  (Ab.) 

« 

DRITTE  SZENE. 

Legros.  Die  Verwandte. 

Legros:  Bring  mir  die  Leiter  her!  . . Nun?  Ich  glaubegar, 
man  weint  ? 

Verwandte:  Els  ware  nicht  zu  verwundern.  Ich  habe  das 
teuerste  Haubchen  verkauft,  — und  wie  werde  ich  belohnt? 
Ich  darf  nicht  einmal  meine  Freundin  besuchen. 

L e g r o s (trostend) : Madame  Legros  ist  sonst  nicht  hart.  Warum 
verbietet  sie  dir  ein  harmloses  Vergniigen  ? 

Verwandte:  Und  sie  verbietet  es  mir  in  Ihrem  Namen! 

Legros:  Sie  glaubt  wohl  recht  zu  tun. 

Verwandte:  Aber  wollen  denn  auch  Sie,  Herr  Legros,  ein 
Madchen  nur  langweilige  Pflichten  lehren? 

Legros:  Was  soil  ich  dich  sonst  lehren? 

Verwandte : Wenn  Sie  es  nicht  wissen  . . . Ich  hatte  gewiinscht, 
daB  em  ernsthafter  Mann  sich  meiner  annimmt.  Aber  auch  bei 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


123 


meiner  Freundin  kann  ich  manches  lemen.  £s  ist  Fraulein 
Palmy  re  vom  Opemballett. 

Legros:  Das  ist  eine  Freundschaft,  die  ich  nicht  billige. 

Verwandte:  Warum  denn  nicht  ? F raulein  Palmyre  ist  aus  un- 
serem  Dorf . Sie  mag  mich  leiden,  ich  kann  Zofe  bei  ihr  werden. 

Legros:  Zofe  bei  einem  Madchen  ohne  Herkunft? 

Verwandte:  Der  Herr  Graf  von  Coutras  schiitzt  sie.  Schon 
jetzt  ist  sie  reich. 

Legros:  Und  auch  du  mochtest  es  wohl  auf  diesem  Wege 
werden.  Man  kennt  das.  Man  wird  achtgeben  miissen  auf  dich. 
Madame  Legros  hatte  recht,  als  sie  dich  nicht  fortliefi. 

Verwandte:  Statt  dessen  ist  sie  aelbst  fort:  zu  dem  Zoll- 
beamten,  ihrem  Vetter. 

Legros:  Was  soil  das!  Hiite  dich! 

Verwandte:  0!  Wie  Sie  jetzt  bdse  sind.  Noch  soeben 
waren  Sie  so  lieb  mit  mir,  dafi  Madame  Legros  es  nicht  hatte 
sehen  diirfen . 

Legros:  Ich  weiB,  was  ich  Madame  Legros  schulde:  einer 
Frau,  so  treu  und  unschuldig. 

Verwandte:  Weniger  unschuldig  als  Sie. 

Legros:  Und  von  einer  Gradheit,  an  der  du  dir  ein  Beispiel 
nehmen  solltest. 

Verwandte:  Aus  Gradheit  tut  sie  wohl,  als  wiifite  sie  gar 
nicht,  warum  sie  auf  das  Zollamt  geht. 

Legros:  Sie  geht,  weil  ich  es  ihr  befehle.  Du  aber  bring 
mir  die  Leiter  her. 

Verwandte:  Einen  Augenblick.  Madame  Legros  versteht 
so  gut  wie  wir  beide,  dafi  sie  die  Spitzen  von  Alen^on  zollfrei 
in  die  Stadt  schaffen  soil,  ihrem  Vetter  wird  sie  dafiir  eine  fette 
Gans  anbieten;  und  wer  weifi,  ob  nicht  noch  etwas. 

Legros:  Was  sagst  du  da?  Ich  werfe  dich  hinaus! 

Verwandte:  Dann  gehe  ich  geradeswegs  zu  F raulein  Palmyre. 

Legros:  Ah!  Dort  lemst  du  solche  Dinge.  Madame  Legros 
denkt  an  Arges  so  wenig  wie  ich  selbst.  Ihr  Vetter  sieht  sie 
gern ; er  ist  ihr  Pate,  und  wer  beim  Zoll  keinen  Freund  hat, 
zahlt,  bis  er  ruiniert  ist. 


9 Voi.  in/2 


124 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Verwandte:  Ich  hake  es  nicht  bose  gemeint.  Aber  giauben 
Sie  mir,  Herr  Legros,  die  Frauen  sind  einander  wert.  (Nahe  bei 
ihm :)  Kein  Mann  braucht  sich  ihretwegen  Bedenken  zu  machen. 

Le g ros : Spitzbiibinnen  wie du,  gibt  es  gleichwohl  nicht  viele. 

Verwandte:  Fort,  Madame  Legros  kommt. 

* 

VIERTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Madame  Legros. 

Madame  Legros  kehrt  zuriick,  nachdem  sie,  Nachbarn  bcgriiOend, 
die  Gasse  entlang  bis  unter  den  Turin  gegangen  ist  und  dort  etwas  vom 
Boden  gehoben  hat.  Sie  halt  ein  Papier,  liest,  sieht  sich  gngstiich  um, 
scheint  nicht  zu  begreifen.  Sie  tritt  achtlos  auf  die  Schwelle,  ist  entsetzt, 
da  die  andem  sie  sehen,  und  versteckt  das  Papier. 


Legros:  Man  hat  wohl  Geheimnisse? 

Madame  Legros:  Ich  kann  nichts  dafiir.  Plotzlich  hielt 
ich  es  in  der  Hand.  Ach  . . . 

Legros  (entreifit  ihr  das  Papier). 

Verwa  ndte  (neugierig  herbei). 

Madame  Legros  (verbirgt  ihr  Gesicht). 

Legros:  Was  ist  das?  Wer  hat  es  dir  gegeben? 

Madame  Legros:  Es  fiel  vom  Turm. 

Legros:  Von  welchem  Turm? 

Madame  Legros:  Von  der  Bastille. 

Legros:  Vorhin  sagtest  du,  jemand  habe  es  dir  zugesteckt. 

Madame  Legros:  Es  ist  so  ungeheuerlich,  dass  ich  mich 
mitschuldig  fiihlte,  als  ich  es  las. 

Legros:  Du? 

Madame  Legros:  Alle  Menschen  sind  mitschuldig. 

Legros:  Ein  Narr  hat  es  geschrieben.  Und  du  verlierst 
deine  Zeit  daran. 

M adame  Legros:  Ein  Narr?  Ein  Mensch,  der  seit  drei- 
undvierzig  Jahren  unschuldig  im  Turm  sitzt. 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


125 


Legros:  Ein  Spafivogel.  Vielleicht  Argeres.  Es  gibt  Leute, 
die  Unzufriedenheit  mit  dem  Konig  und  seiner  Regierung  saen 
mochten.  So  einer  hat  den  Wisch  in  die  Luft  geworfen. 

Madame  Legros:  Ich  sah  ihn  herabflattern . Ich  erhob 
den  Blick:  auf  dem  Turm,  ganz  droben  auf  der  Plattform, 
war  ein  Mensch,  der  winkte.  Eine  Sekunde  — und  bevor  ich 
recht  gesehen  hatte,  rifi  ein  Soldat  ihn  zuriick. 

Verwandte  (liest  stotternd  den  Brief):  0 Voriibergehender ! 
Wer  du  auch  seiest,  ein  Unschuldiger  ruft  dich  an.  Unter  der 
vorigen  Herrschaft,  zur  Zeit  Seiner  Majestat  unseres  gnadigsten 
Konigs  Ludwig,  ward  ich  in  die  Bastille  geworfen,  wegen  eines 
unzarten  Versuches,  die  Aufmerksamkeit  der  Frau  Marquise 
von  Pompadour  auf  mich  zu  lenken,  und  seit  dreiundvierzig 
Jahren  hat  man  mich  hier  vergessen.  Nicht  einmal  meine 
Wachter  wissen  mehr,  wer  ich  bin.  O Freund,  dem  der  Wind 
oder  Gottes  Atem  dieses  Blatt  vor  die  FiiBe  weht,  sag  du  es 
den  Menschen!  Sag  ihnen,  was  keiner  mehr  weifi,  so  viele  ge- 
boren  werden  und  sterben:  ich  heifie  Latude  und  bin  ein  Un- 
schuldiger, der  leidet ! (Ergriffenes  Schweigen.) 

Madame  Legros  (hat  sich  abgewandt,  seufzt  schwer). 

Verwandte:  Das  ist  grauenvoll  . . . Und  so  wunderbar, 
als  ob  es  der  Herr  Pfarrer  erzahlt  hatte. 

Legros  (peinlich  beriihrt):  Es  ist  ein  armer  Mensch.  Aber  mit 
solchen  Dingen  befafit  man  sich  nicht.  Es  ware  unklug.  Wir 
werden  zu  niemandem  da  von  reden. 

Madame  Legros:  Es  ist  wahr:  wie  soli  man  es  den  Leuten 
sagen.  Niemand  wird  uns  glauben.  Man  wird  uns  eine  ab- 
scheuliche  Erfindung  zuschreiben  und  uns  fur  schlecht  ansehen. 

Legros:  Man  wird  uns  vor  allem  fur  dumm  ansehen. 

Madame  Legros:  Was  also  tun. 

Legros:  Bei  Gott!  Es  fur  uns  behalten! 

Madame  Legros:  Wie? 

Verwandte:  Ich  sage  es  alien!  Wird  man  neugierig  sem! 
Ich  gehe  in  die  Bastille  und  frage  den  Soldaten  Colas,  den  ich 
kenne,  ob  er  von  solchem  Gefangenen  weifi. 


126  Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


Legros:  Du  wirst  deine  Zunge  hiiten,  oder  du  lernst  mich 
kennen. 

Mad  ame  Legros:  Was  heifit  das? 

Legros:  Els  heifit,  dafi  du  den  Wisch  da  verbrennen  wirst. 
Und  ohne  Federlesen!  Wir  sind  anstandige  Leute,  mit  den 
Angelegenheiten  von  Staatsverbrechern  haben  wir  nichtszutun. 

Madame  Legros:  Aber  es  ist  ein  Unschuldiger ! 

Legros:  Das  sagt  er.  Der  selige  Konig  wird  gewuBt  haben, 
warum  er  lhn  in  den  Turm  gesetzt  hat. 

Madame  Legros : Der  Konig  ist  tot.  Das  alles  ist  so  lange 
her.  Wo  sind  die,  denen  Latude  geschadet  hat,  wenn  er  denn 
jemandem  geschadet  hat . . . Ach!  was  soil  das.  Ihr  habt  gehort, 
was  er  sagt,  dieser  Mensch.  Ihr  habt  die  Wahrheit  gehort  wie 
ich.  Ihr  habt  keine  anderen  Ohren  als  ich.  Alle  Menschen  ver- 

stehen  das. 

Legros:  Da  du  Ohren  hast,  so hore gefalligst.  Ich  bin  dein 
Mann,  und  ich  befehle  dir,  den  Mund  zu  halten. 

Madame  Legros  (beugt  sich):  Du  bist  mein  Mann  . . . 
Aber  du  bist  gut.  Willst  du  mich  etwa  priifen  ? Als  wir  kiirzlich 
verheiratet  waren  und  du  mich  noch  nicht  kanntest,  da  unter- 
lieBest  du  emst  mit  Absicht,  den  Verkauf  einer  Haube  ms  Buch 
einzuschreiben,  und  gingst  fort,  um  zu  sehen,  ob  ich  das  Geld 
nehmen  wiirde.  Aber  hast  du  es  denn  heute  noch  notig,  dich 
zu  iiberzeugen,  daB  ich  ehrlich  bin?  (Sie  schmiegt  sich  an  ihn.) 

Legros:  Du  bist  eine  brave  Frau.  Du  hast  immer  fiir  den 
Nutzen  deines  Mannes  gearbeitet.  Daher  weifit  du  auch  ganz 
gut,  wie  wir  jetzt  uns  verhalten  miissen. 

Madame  Legros  (schmeichelnd):  Ehrlich  bleiben,  wie  ich  es 
damals  geblieben  bin.  Nicht  mitschuldig  werden  am  Unrecht, 
das  geschieht.  Was  sage  ich : schuldiger  als  alle,  die  nicht  dar> 
um  wissen.  (Oberredend:)  Man  wird  dich  riihmen,  lieber  Mann. 
Man  wird  dich  hoch  ehren.  Denn  jeder  ehrliche  Mann  hatte 
es  auch  getan. 

Legros:  Man  konnte  wirklich  glauben,  daB  den  Frauen 
der  Verstand  nie  fertig  wachst.  Wenn  du  einem  Voriiberge- 
henden  sagst,  daB  er  falsches  Geld  gemacht  hat : meinst  du,  er 


* 


Heinrich  Mann 


Madame  Legros 


wird  dir  um  den  Hals  fallen  und  dir  danken  ? Wir  aber  sollen 
nun  denen,  die  die  Macht  haben  uns  selbst  einzusperren,  mit 
der  Behauptung  kommen,  sie  hielten  einen  falschen  Gefange- 
nen  fest.  Wer  dich  hort,  halt  uns  fur  toll. 

Madame  Legros  (beschwdrend):  Mann ! Es  handelt  sich  um 
einen  Menschen! 

Legros:  Ganz  abgesehen  da  von,  daB  niemand  mehr  sich 
in  unseren  Laden  getrauen  wird,  aus  Furcht  vor  der  Bastille, 
der  wir  uns  so  leichtfertig  aussetzen.  LaBt  man  uns  auch  un- 
geschoren,  so  sind  wir  dennoch  ruiniert. 

Madame  Legros:  Und  wenn  wir  schweigen,  wird  das 
Brot,  das  wir  essen,  ein  unehrliches  Brot  sein. 

Legros:  Hiite  dich,  Frau!  Ich  bin  ein  Burger  von  Paris. 
Ich  esse  mein  Brot  in  Ehren. 

Madame  Legros:  Du  hast  es  immer  getan.  Kiinftig  aber 
wirst  du  es  nicht  mehr  tun.  Sieh  dort  hinten  den  Turm: 
ein  Mensch  sitzt  darin,  der  schuldlos  leidet  — seit  so  langer 
Zeit  schon,  daB  niemand  mehr  sich  daran  erinnert.  Dort  ist 
der  Platz  mit  den  vielen  Menschen ! Die  Eltem  all  dieser  sind 
auch  schon  iiber  den  Platz  geeilt,  und  auch  damals  schon  lag 
jener  eine  an  seiner  Kette.  Wenn  nun  ihre  Kinder  grofi  sein 
und  dort  lustwandeln  werden : wie  ? Soli  er  dann  noch  immer 
liegen  und  leiden?  Wahrt  das  Unrecht  in  der  Welt  ewig? 
Jetzt  verstehe  ich,  was  man  meint,  wenn  man  den  Kleinen  von 
der  Erbsiinde  spricht. 

Legros  (seufzt):  Els  ist  wahr,  die  Welt  ist  bose,  und  wird  es 
wohl  immer  bleiben.  Den  Machtigen  geht  es  gut,  denn  sie 
denken  nicht  daran,  wie  wir  andem  bedriickt  sind.  Du  muBt 
die  Spitzen  von  Alen?on  akzisefrei  durchs  Tor  bringen  oder 
wir  wiirden  den  Laden  sperren  mussen.  Unsereiner  hat  genug 
zu  tun,  daB  er  nur  durchkommt  zwischen  all  den  bedrohlichen 
Mach  ten.  Was  dem  Nachbam  geschieht,  darf  uns  nicht  kiim- 
mem.  Wir  mussen  die  Augen  schlieBen,  sonst  kommt  es  auch 
an  uns. 

Madame  Legros:  Und  wenn  es  kame!  Denkst  du  denn, 
ich  kann  mir  es  wohl  sein  lassen,  wenn  gleich  nebenan  jemand 


1 28  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 

um  Hilfe  schreit?  Hier  in  der  schattigen  Gasse  geborgen,  auf 
Kunden  warten ; die  Leute  abwehren,  die  unser  Geld  wollen ; 
essen,  schwatzen  und  endlich  die  T iir  schlieBen,  um  mit  meinem 
Mann  schlafen  zu  gehen  ? Am  £nde  meiner  guten,  behaglichen 
Gasse  aber  klirren  Ketten,  und  jemand  schleppt  sich,  ein  Skelett 
und  ewig  weinend,  durch  feuchte  Keller.  Du  willst  mich  glauben 
machen,  es  sei  nichts  ? Ich  hore  es  doch : er  schreit ! (Sic  Halt 

aich  die  Ohren  zu.) 

Legros  (gibt  der  Verwandten  ein  Zeichen,  die  Tiir  zu  schlieBen). 

Madame  Legros:  Auch  durch  die  Tiir  hore  ich  es. 

Legros:  Du  selbst  schreist,  die  Leute  werden  aufmerksam. 

Madame  Legros:  Sie  sollen  kommen!  Sie  sollen  horen! 
Ich  kann  nicht  die  einzige  sein,  die  so  viel  weiB! 

Legros:  Nochmals,  ich  bin  dein  Mann,  ich  kenne  die  Welt 
besser.  Ein  Kind  brauchst  du,  und  du  wirst  an  die  Geschichten 
der  andern  nicht  mehr  denken. 

Madame  Legros  (stiller):  Ein  Kind.  Ich  hatte  eins.  Es  ist 
gestorben,  bevor  ich  es  gebar. 

Legros:  Du  sollst  wieder  eins  haben. 

Madame  Legros  (aufleuchtend):  Ja!  Es  kann  wieder  eins 
kommen.  Siehst  du,  daB  nicht  alles  so  schlimm  ist,  wie  du 
sagst?  Auch  der  Turm  dort  kann  sich  offnen  und  der  Mensch, 
der  drinnen  begraben  ist,  wieder  leben. 

Legros:  Da  von  will  ich  nichts  horen. 

Madame  Legros:  Dann  bist  du  verstockt : du  Armer  ganz 
allein.  Die  Menschen  aber  wollen  das  Gute,  o,  das  weiB  ich. 
Ich  brauche  sie  nur  zu  rufen,  zu  ihnen  zu  sprechen,  und  gleich, 
noch  in  dieser  Stunde,  werden  sie  mit  mir  gehen  und  den  Un- 
schuldigen  herausfordern. 

Legros:  Sie  hat  den  Verstand  verloren! 

Madame  Legros:  Verzeih!  Ich  habe  dir  immer  gehorcht, 
ohne  zu  fragen.  Jetzt  gehorche  ich  dir  nicht  mehr.  (StdBtdie 
Tur  auf:)  Liebe  Nachbam!  Herr  Vignon!  Madame  Touche! 
Legros:  Um  Gott! 

Die  Ve  rwandte:  Das  ist  spaBhaft! 

# 


4 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


129 


fOnfte  szene. 

Die  Vorigen.  Vignon.  Madame  Touche.  Fanchon.  Nachbarn 

und  Nachbarinnen. 

Madame  Legros:  Ein  Unrecht  ist  geschehen.  Ihr  sollt  es 
wissen. 

Vignon:  Sie  wiinschen,  Madame  Legros? 

Madame  Legros:  In  der  Bastille  sitzt  ein  Unschuldiger. 
Ein  Nachbar:  Nur  einer? 

Madame  Touche:  Was  hat  er  getan? 

Madame  Legros:  Niemand  weifi  es  mehr,  solange  ist  es 
her.  Er  hat  mir  geschrieben;  wir  miissen  ihm  helfen. 

Ein  junger  Mann:  Ich  hole  meine  Axt. 

Zwei  Altere:  Komm,  Nachbar!  Man  darf  das  nicht  horen. 

(Sie  entfemen  «ich.) 

Madame  Legros:  Gute  Herren,  Sie  sind  Christen. 
Vignon:  Ich  habe  Philosophic,  Madame. 
MadameLegros:  Herr  Vignon,  Sie  wissen,  als  jener  Rauber 
Sie  anfiel  dort  an  der  Ecke : Sie  stieBen  Hilferufe  aus,  und  die 
ganze  Gasse  sturzte  herbei,  Sie  zu  retten. 

Vignon:  Es  ist  wahr,  aber  der  Konig  ist  kein  Rauber. 

Ein  Nachbar:  Der  Konig  setzt  oft  aus  grofier  Gute  die 
Schlingel  in  den  Turm,  damit  die  Famiiie  von  ihnen  befreit  ist. 

Eine  Frau:  Der  Herr  von  Talmont  hatte  nichts  verbrochen, 
und  dennoch  muBte  er  hinein. 

Eine  andere:  Er  hatte  dir  den  Hof  gemacht.  SeinemHerrn 
Vater  gefiel  das  nicht. 

Ein  anderer  Nachbar:  Wenn  Sie  nicht  mehr  hiibsch 
sind,  Madame,  wird  Ihr  junger  Herr  wieder  heraus  diirfen  . . . 
Madame  Legros,  so  wird  es  auch  mit  dem  sein,  der  die  Un- 
vorsichtigkeit  begangen  hat,  Ihnen  zu  schreiben. 

Madame  Touche:  Els  ist  ihr  Liebhaber,  wozu  regt  sie 
sich  sonst  auf. 

Die  Frauen  (Uchen). 

Verwandte:  Horen  Sie  das,  Herr  Legros? 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros:  Sie  irren  sich,  mein  Herr!  Siealleirren 
sich!  Die  Frau  Marquise  von  Pompadour  war  es,  die  ihn  ge- 
fangen  setzen  liefi;  und  da  sie  gestorben  ist,  bat  man  ihn 
vergessen. 

Vignon:  Die  Marquise  von  Pompadour?  Man  sollte  alles 
vergessen,  was  sie  getan  hat. 

Madame  Legros:  Man  muB  es  doch  gutmachen!  Nach 
dreiundvierzig  Jahren ! 

Fanchon  (in  Trauerkleidung):  Mein  Vater  starb  mit  dreiund- 
vierzig Jahren. 

MadameLegros:  Und  als  er  geboren  ward : sieh,  Fanchon, 
da  verschwand  ein  Mensch  namens  Latude  — und  blieb  ver- 
schwunden.  Das  erste  Mai  heute  spricht  wieder  jemand  seinen 
Namen  aus.  Dein  Vater  ging  43  Jahre  umher.  Denke  daran, 
wie  oft  er  lachte,  und  wie  oft  er  dich  kiifite.  Jedesmal  hat  ein 
anderer  dort  unten  im  Turm  gestohnt.  Sehen  nun  alle  diese 
Jahre  nicht  anders  aus? 

Fanchon  (schluchzt). 

(Betretenet  Schwcigen.) 


Vignon:  Wenn  man  jederzeit  daran  denken  wollte,  wie  es 
den  andern  geht,  es  gabe  kein  Vergniigen  mehr. 

EineFrau:  Es  muB  doch  Vergniigen  geben. 

Madame  Touche:  Mein  Mann  ist  von  einem  Dachziegel 
erschlagen  worden,  obwohl  er  nichts  verbrochen  hatte. 

Eine  Alte:  Wer  weiB.  Gott  tut  nichts  umsonst. 

Madame  Touche:  Was  sagt  sie?  Will  die  alte  Kupplerin 
meinen  Mann  beleidigen?  (Sie  dringt  auf  die  Alte  ein.) 

Die  Manner  (trennen  die  beiden). 

Der  junge  Mann,  der  die  Axt  holen  wollte  (zu  der 
Ahen):GroBmutter,  hier  sind  schlechte  Leute,  komm  fort! 

Madame  Legros:  Warum  tut  ihr  einander  Unrecht.  Wir 
sind  schon  so  schuldig.  Wir  haben  ein  so  groBes  Unrecht  zuge- 
lassen.  Kommt  doch  mit!  Ihr  seht  ja,  man  muB  es  gutmachen. 

Vignon:  Madame  Legros,  es  sei  mir  erlaubt,  Ihnen  in 
nachbarlicher  Freundschart  zu  sagen:  Sie  fangen  an,  uns  zu 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


131 


langweilen.  Sie,  eine  anstandige,  ruhige  Biirgersfrau,  hetzen 
hier  die  Leute  aufeinander,  und  warum?  Wegen  irgendeines 
Lumpen,  der  sein  Leben  lang  nicht  aus  dem  Loch  herausge- 
kommen  ist. 

Ein  Nachbar:  Was  hat  Madame  Legros?  Wir  kennen  sie 
doch.  Sie  ist  die  ernsthafteste  Geschaftsfrau  des  Viertels. 

Eine  Frau:  Ich sage,  dahinter  steckt  eine  Liebesgeschichte, 
das  andere  sind  Erfindungen. 

Frauen:  Seht  Legros!  Der  dicke  Legros!  Er  steht  dabei 
und  laBt  sie  sich  aus  der  Stirn  wachsen ! 

Verwandte:  Sind  Sie  ein  Mann,  Herr  Legros?  Ich  werde 

Ihnen  auch  nicht  mehr  schon  tun. 

Legros  (macht  sich  gewaltsam  Platz) : Madame  Legros  t Hast  du 
mir  jetzt  Schande  genug  gemacht?  Augenblicklich  komm  ins 
Haus! 

Fan  chon:  Er  tut  ihr  weh! 

Frauen:  Sehen  Sie  nicht,  Herr  Legros,  dafi  Ihre  Frau  krank 
ist?  Eine  so  brave  Frau. 

Legros  (halt  Madame  Legros,  die  schwankt) : Tatsachlich,  sie  muB 

noch  krank  sein.  Es  ist  das  Kind,  das  tot  zur  Welt  kam.  Ver- 
zeihen  Sie,  meine  Herren! 


SECHSTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Volk.  Spater  Soldaten,  ein  Offizier. 

Madame  Legros  (macht  sich  los):  La6  mich,  Legros!  Sieh 
was  dies  fur  Menschen  sind!  Sie  wissen  nun,  da6  es  einen 
Unschuldigen  gibt,  der  leidet,  und  wollen  dennoch  weiterleben 
wie  bisher : ihren  Kram  verkaufen  und  Wein  trinken.  Ich  ver- 
achte  euch!  Die  Welt  diirfte  untergehen,  wenn  nur  eure  Gasse 
stehen  bleibt!  Aber  man  soli  sie  euch  zu  schanden  treten. 
Herbei,  Leute,  herbei! 

Volk  (ist  vom  Platz  her  in  die  Gasse  gedrungen). 

Die  Nachbarn  (werden  auseinandergedrangt,  sie  fliichten  sich  in 
die  Hauser  und  sperren  die  Tore). 


132  Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


Madame  Legros  (unter  dem  Voile):  Helft  mir,  ich  bitte  euch! 

Stimmen:  Was  gibt  es?  Wer  schreit  da! 

Madame  Legros:  Ihr  wi8t  nicht,  es  geschehen  ungeheure 
Dinge.  Eure  Kinder  werden  euch  nicht  mehr  lieben,  wenn  sie 
davon  erfahren. 

Stimmen:  Was  will  die  Frau?  Sie  soil  auf  den  Prellstein 
steigen,  damit  man  sie  hort! 

M adame  Legros  (getchoben,  ersteigt  driiben  am  Hause  den  Stein): 

Leute  vom  Volk!  Aus  dem  Turm  der  Bastille  ist  ein  Brief 

gefallen,  von  einem  Menschen,  der  unschuldig  gefangen  sitzt. 
Ihr  sollt  ihn  befreien! 

St  immen:  Los!  Das  ist  mal  ein  Spa6! . . Du  hast  wohl 
Lust,  Miitterchen,  dich  hangen  zu  lassen?  . . Wo  ist  der  Brief? 
Lies  ihn  vor! 

Madame  Legros:  Ich  weifi  nicht  mehr  wo  er  ist.  Aber 
seht  ihr  es  nicht  in  meinen  Augen,  die  ihn  gelesen  haben,  wie 
schrecklich  er  war?  Da:  meine  armen  Hande,  sie  haben  ihn 
gehalten  und  noch  zittern  sie! 

Stimmen:  Es  ist  wahr,  sie  ist  ganz  aufgeregt  . . Man  sagt, 
dafi  in  der  Bastille  die  groBten  Schandtaten  geschehen.  Man 
sollte  einmal  nach  dem  Rechten  sehen. 

Ande  re  Stimmen:  Wirsindarme  Leute,  Madame.  Wenn 
Ihnen  Unrecht  geschehen  ist,  suchen  Sie  sich  einen  Machtigen, 
der  Sie  beschutzt! 

Eine  dumpfe  Stimme:  Ich  war  dabei,  als  damals  ein 
wenig  Larm  gemacht  wurde,  weil  alle  hungerten.  Ich  habe  von 
einem  Soldaten  Blei  in  den  Arm  bekommen,  aber  kein  Brot. 

Madame  Legros:  Einige  Tage  hattet  ihr  nichts  zu  essen 
und  begeht  schon  Gewalttaten.  Dort  im  Turm  aber  sitzt  ein 
Mensch,  der  nicht  nur  hungert.  Ihn  friert  im  Dunkeln,  und 
langer,  als  die  meisten  von  euch  auf  der  Welt  sind,  hat  er  die 
menschliche  Sprache  nicht  mehr  gehort.  Welche  Gewalttaten 
sind  grofi  genug,  um  das  zu  rachen! 

Stimmen:  Sie  hat  recht:  es  gibt  Verbrechen,  die  das  Volk 
nicht  erfahrt.  Die  Herren  dort  oben  begehen  nichts  als  Ver- 
brechen! Es  sind  Mdrder! 


* 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


133 


Eine  Frau:  Meiner  Tochter  haben  die  Hascher  das  Haar 
abgeschnitten  und  sie  nach  Amerika  geschickt. 

Eine  andere  (hoKniscH):  So  eine  ist  deine  Tochter?  Nun 
treibt  sie  eben  ihr  Gewerbe  bei  den  Wilden ! 

Ein  IndlVlduum  (das  von  der  Auslage der Legros etwas wegstiehlt) : 

Und  wer  ist  das  Weibsbild,  das  sich  da  auf  dem  Prellstein  zur 
Schau  stellt?  Schneidet  ihr  die  Haare  ab! 

Legros  (von  derMenge  im  Laden  eingeschlossen,  stiirzt  vor):  Schlin- 

gel,  du  hast  mich  bestohlen,  und  sie  ist  meine  Frau! 

Das  Individuum  (macht  sich  davon). 

Stimmen:  Sie  ist  seine  Frau!  Was  will  sie  dann? 
Legros:  Siehst  du  es,  Madame  Legros,  wofiir  man  dich 

halt! 

Madame  Legros:  Und  wenn  ich  es  ware,  eine  Dime: 
die  Schande  ware  geringer  als  jetzt ! Mag  fur  eine  Dime  jemand 


selbst  sterben. 


aber  schliefit  sie  denn  einen  schuldlosen 


Menschen  lebend  ins  Grab  ein?  Das  tue  ich,  das  tust  du 


und  du 


ihr  alle  tut  es ! Befreit  ihn ! 


oder  ihr  seid  seine 


Grabwachter  und  seine  Hyanen.  Ehrloser  seid  ihr,  als  die,  die 
am  Galgen  hangen!  Eine  stinkende  Pest  seid  ihr! 

Stimmen:  Das  ist  zu  arg!  Sie  beschimpft  das  Volk,  dies 
Weibsbild!  Reifit  sie  herunter!  Schneidet  ihr  die  Haare  ab! 
Herunter  mit  ihr! 

Madame  Legros  (hilt  aich  an  einem  eiaemen  Ring  in  der  Mauer): 
Zerrt  an  mir,  ich  stehe  fest!  Ich  habe  Kraft  fur  euch  alle! 
Ihr  werdet  sehen,  wie  ich  den  Turm  des  Unschuldigen  offne! 
Dann  wird  die  Welt  schon  sein!  Jetzt  ist  sie  verdiistert  von 
dem  Turm,  Seht  ihr  etwa  den  Himmel?  Konnt  ihr  jemals 
lachen?  Ich  muB  den  Turm  aufbrechen,  damit  ihr  wieder 
Iachen  konnt.  Ich  tue  es  fur  euch,  weil  ich  euch  liebe.  Sagte 
ich  euch  das  noch  nicht? 

Eine  Frau:  Sie  ist  schon!  Und  sie  spricht  wie  ein  Engel! 

Ein  Mann:  Was  wird  dann  viel  anders  sein?  Wir  werden 
immer  leiden. 

Madame  Legros:  Er  wird  euch  so  gliicklich  machen,  der 
Unschuldige!  Er  wird  euch  belohnen!  Glaubt  ihr  denn,  daB 


134 


Heinrich  Mann  » Madame  Legros 


er  nicht  reich  ist  ? Und  schon  ? Ein  Unschuldiger  ist  so  schon ! 
Du  wirst  ihn  lieben,  du  da.  (Beugt  sicH  zu  einer  Frau  nieder:)  IcK 
sehe  dich  schon  ihn  herzen,  mit  deinen  frechen  Lippen.  Nicht 
du! 

Legros:  Sie  hat  den  Verstand  verloren!  Sie  sehen  es  doch, 
meine  Herren! 

Stimmen:  Ist  denn  Geld  in  dem  Turm?  Wenn  sie  weifi, 
wie  man  ihn  aufmacht  . . . Sie  hat  recht,  wir  wollen  die  Ge- 
fangenen  befreien!  Freiheit  fur  alle! 

Eine  gellende  Stimme:  Die  Soldaten! 

Madame  Legros  (schreit):  Die  Hascher!  Lafit  sie  nicht 
herein!  Sie  haben  auch  ihn  in  den  Turm  geworfen.  Verjagt  sie! 

(Handgemenge  im  Hintergrund.) 

Madame  Legros:  Verjagt  sie! Tot et  sie!  (Sie  springt  hinunter 
in  das  Gedrange:)  Macht  Platz,  wir  marschieren  gegen  die  Ba- 
stille! Der  Unschuldige  wird  befreit!  Mogen  alle  sterben,  die 
Soldaten,  die  frechen  Reiter  dort  auf  dem  Platz,  die  herzlosen 
Damen  in  ihren  Sanften,  die  Morder! 

Die  Men ge:  Nieder  die  Morder!  Zur  Bastille! 

Madame  Legros:  Der  Turm  wird  Blut  speien!  Das  Blut 

des  Unschuldigen  soil  alle  ersaufen ! (Sie  ringt  mit  einem  Soldaten.) 

(Die  Soldaten  sind  vorgedrungen,  das  Volk  weicht  und  fliichtet.) 

Der  Soldat:  Dies  ist  die  Megare.  Keine  Furcht,  Herr 
Leutnant,  ich  halte  sie. 

Der  Offizier:  Gib  acht,  es  scheint,  sie  wird  ohnmachtig. 
Nehmt  die  Gefangenen  zwischen  euch,  und  los,  zur  Wache! 

Die  V erwandte  der  Legros  (kommt  aus  einem  Versteck 
hervor):  Herr  Legros,  da  haben  Sie  es,  was  Madame  Legros 
anrichtet.  Ich  habe  schon  gelacht. 

Legros:  Herr  Offizier,  ich  bitte  Sie  um  Verzeihung.  Die 
arme  Kranke  hier  ist  meine  Frau. 

Der  Offiz  ier:  Dann  kommen  auch  Sie  mit  zur  Wache! 

Legros:  Ich  bin  ein  geachteter  Burger,  mein  Herr,  der 
Besitzer  des  Ladens  zur  Eiche  des  Konigs  Rene. 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


135 


Der  Offizier:  Ein  geachteter  Burger,  (lessen  Frau  die 
Menge  zu  Gewalttaten  aufreizt?  Das  mochte  ich  sehen. 

Vignon  (aus  dem  Gasthof  gegeniiber):  Ich  bezeuge  es,  Herr 
Leutnant.  Sie  kennen  mein  Haus,  es  ist  der  Gasthof  zum 
weifien  Pferd.  Madame  Legros  war  immer  erne  der  ernsthaf- 
testen  Geschaftsfrauen  des  Viertels.  So  sehr  man  entriistet  sein 
muB,  das  Geschehene  ist  unbegreiflich. 

Frauen  (aus  den  Hausern):  Unsere  Nachbarin  auf  der  Wache! 
Es  ware  eine  Schande  fiir  uns  alle. 

Legros:  Wenn  sie  doch  krank  ist,  mein  Herr!  Ich  sage 
Ihnen,  daB  sie  ein  totes  Kind  hatte,  es  sind  kaum  vierzehnTage. 
Ihr  ist  eine  Schwache  im  Kopf  zuriickgeblieben. 

Fan  chon:  Haben  Sie  Mitleid  mit  ihr,  mein  Herr! 

Der  Offizier:  Und  die  andern  Gefangenen?  Ich  kann 
nicht  die  eine  begiinstigen. 

* 

SIEBENTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Chevalier. 

Chevalier:  Herr  Leutnant,  ich  habedie  Ehre,  mich  Ihnen 
vorzustellen . Ich  bin  der  Chevalier  d’Angelot. 

Der  Offizier:  Die  Ehre  ist  bei  mir,  mein  Herr.  Ich  heiBe 
Ramon. 

Die  Frauen:  Ein  Herr  vom  Hof! 

Vignon:  Man  hat  von  ihm  gehort.  Er  ist  ein  Freund  der 

Konigin. 

Chevalier:  Die  Frau  Grafin  d’Orchat  und  einige  Herren 
haben  dort  hinten  vom  Platz  her  den  Auftritt  mit  angesehen, 
den  diese  Person  veranlaBt  hat.  Die  Frau  Grafin  ist  lebhaft 
interessiert.  Auch  der  Herr  Marquis  von  Launay  war  mit  uns. 
Sie  kennen  ihn,  Herr  Ramon? 

Der  Offizier:  Ich  habe  die  Ehre,  den  Herm  Gouverneur 
der  Bastille  zu  kennen.  Alle  diese  Herrschaften  und  auch  Ihre 
Person,  Herr  Chevalier,  sind  mir  bekannt. 


136 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


Chevalier:  Dann  werden  Sie  nicht  zogern,  meinem  Er- 
suchen  zu  willfahren  und  die  Frau  sogleich  in  Freiheitzusetzen. 
Es  liegen  Staatsgriinde  vor,  die  sich  ihrer  Verhaftung  wider- 
setzen. 

Der  Offizier:  Ich  gehorche,  mein  Herr.  (Zu  den  Soldaten:) 
Formiert  euch ! Marsch : (Ab.) 

(Die  Gasse  leert  sicb.) 

Legros:  Wie  soil  ich  Ihnen  danken,  mein  Herr! 

Chevalier:  Indem  Sie  mir  erlauben,  meine  Freunde  in 
Ihr  Haus  zu  fiihren.  Die  Frau  Grafin  d'Orchat  hat  den  Wunsch, 
Ihre  Frau  kennen  zu  lemen. 

Legros:  Zuviel  Ehre!  Madame  Legros,  bedanke  dich  bei 
dem  Herrn. 

Ch  evalier  (fiihrt  Madame  Legros  bei  der  Hand  in  den  Laden; 
halblaut):  Mufi  ich  Ihnen  sagen,  daB  es  vor  allem  mein  eigener 
Wunsch  war,  Sie  zu  sehen,  Madame? 

Madame  Legros  (erwacht  aus  ihrer  Ermattung):  Das  Volk 
hat  mich  nicht  verstanden,  und  es  ist  schwach.  Nun  leidet  der 
Unschuldige  noch  immer. 

Legros:  Der  Unschuldige!  Ist  sie  nicht  ein  kleines  Kind, 
das  nach  einem  verbotenen  Spielzeug  jammert  ? . . . Verzeihen 
Sie,  mein  Herr,  ich  sehe  Kunden  eintreten. 

Chevalier:  Man  muB  zugeben,  Madame,  dafi  Ihr  Gatte 
Sie  noch  weniger  versteht  als  das  Volk.  Und  es  ist  doch  nicht 
schwer. 

Madame  Legros:  Nicht  wahr,  mein  Herr? 

Chevalier:  Es  geniigt,  Sie  anzusehen.  Die  Revolte  steht 
Ihnen  gut  zu  Gesicht,  Madame  Legros. 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


137 


ACHTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Comtesse.  Abbe. 

Abbe  (vor  der  Schwelle  des  Ladens):  Mut,  Madame. 

Comtesse:  Der  Plan  war  doch  kiihn,  in  die  Hohle  des  Un- 
geheuers  einzudringen.  Aber  alles  ist  besser  als  die  Langeweile. 

Legros:  Die  Herrschaften  wollen  sich  meine  bescheidenen 
Dienste  gefallen  lassen? 

Comtesse:  Danke,  mein  Herr.  Sie  sind  der  Gatte  der 
Frau,  die  so  interessant  scheint? 

Legros:  Ich  bin  der  Strumpfwirker  Legros,  der  Dame  zu 
dienen . 

Abbe:  Die  Frau  Grafin  erlaubt  Ihnen,  ihr  einen  Stuhl  an- 
zubieten. 

Legros  (nimmt  der  Verwandten  den  Stuhl  aus  der  Hand):  Stelle 

das  Essen  zum  Feuer! 

Verwandte  (ab). 

Abbe  (zu  Madame  Legros):  Die  Frau  Grafin  und  wir  haben 
dem  interessanten  Schauspiel  beigewohnt,  Madame. 

Legros:  Ich  spreche  der  Frau  Grafin  und  den  Herren  mein 
Bedauern  aus. 

Abbe:  Bnngen  Sie  vielmehr  Ihren  Dank  dar.  Die  Frau 
Grafin  hat  sich  unterhalten. 

Comtesse:  Mehr  als  das:  ich  war  hingerissen,  entziickt. 
Endlich  habe  ich  eine  Re  volte  gesehen. 

Madame  Legros:  Dann  werden  Sie  den  Unschuldigen 
zu  befreien  helfen,  Madame!  Ich  wuBte  es! 

Comtesse  (weicht  zuriick):  Wie  Sie  darauf  losgehen! 

Abbe  (zu  Madame  Legros):  MaBigen  Sie  sich,  Madame.  Sie 
haben  gesehen,  wohin  Gewaltsamkeiten  fiihren. 

MadameLegros:  Els handelt sich um einen  Unschuldigen! 

Chevalier:  Das  sagen  Sie. 

Comtesse:  Unschuldig  oder  nicht,  seine  Geschichte  ist 
spannend. 

Madame  Legros:  Niemand  kennt  sie  mehr,  seit  dreiund- 
vierzig  Jahren! 


I sTi 


L.J  \ M 


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V 


138 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Comtesse:  Bitte ! Ich  weifi  sie  von  Herrn  de  Launay  selbst. 

Chevalier:  Der  Herr  Gouverneur,  der  gerade  mit  uns 
war,  hat  sich  beeilt,  uns  von  den  Schicksalen  des  Gefangenen 
Latude  zu  unterrichten,  — der  iibrigens  dafiir  sorgt,  dafi  man 
ihn  nicht  vergifit.  Denn  er  hat  zahlreiche  Fluchtversuche  ge- 
macht.  Freilich  ist  er  jedesmal  wieder  ergriffen  worden. 

Madame  Legros:  Warum  so  viel  Grausamkeit  ? Was  hat 
er  getan? 

Legros:  Keine  indiskreten  Fragen,  Madame  Legros! 

Chevalier:  Eines  Morgens,  als  er  sehr  jung  war  — 

Abbe:  So  jung  wie  Sie,  Chevalier,  und  ohne  sich  so  hoher 
Gunst  zu  erfreuen. 

Chevalier:  Noch  auch  die  Bedenken  zu  hegen,  die  I hr 
Kleid  verleiht,  Herr  Abbe. 

Abbe:  Mein  Kleid!  Wissen  Sie  wohl,  daB  ich  mein  Brevier 
von  meinem  Lakaien  lesen  lasse? 

Chevalier:  Der  junge  Latude  also  fand  einst  auf  seinem 
Kopfkissen  den  liebenswiirdigen  Gedanken,  der  Frau  Marquise 
von  Pompadour  eine  Hollenmaschine  zu  schicken. 

Abbe:  Eine  kleine,  billige  Hollenmaschine. 

Comtesse:  Mir  ware  sie  noch  immer  zu  groB  gewesen. 

Abbe:  Reize,  wie  die  Ihren,  Madame,  wird  auch  der  ver- 
derbteste  Bosewicht  nicht  zerstoren  wollen. 

Chevalier:  Latude  wiirde  Sie  zum  mindesten  selbst  ge- 
warnt  haben  vor  seinem  Geschenk.  Der  Frau  von  Pompadour 
schrieb  er  einen  Brief,  der  sie  auf  die  Gefahr  aufmerksam  machte, 
und  stellte  sich  ihr  dann  personlich  vor,  um  seine  Belohnung 
in  Empfang  zu  nehmen.  Sein  Ziel  war  ein  Posten  in  ihrer  Nahe. 
Er  war  verliebt.  Aber  die  Marquise  hatte  Zeit  gehabt,  die  Hand- 
schrift  des  Briefes  mit  der  Aufschrift  des  Paketes  zu  vergleichen. 
Es  schien  ihr  bedenklich,  einen  so  unternehmenden  jungen 
Mann  als  Sekretar  anzustellen:  sie  schickte  ihn  in  die  Bastille. 

Comtesse:  Eine  Hollenmaschine  aus  Liebe:  ich  weifi  nicht, 
ob  ich  widerstanden  hatte! 

Mad  ame  Legros:  Sie  hatten  nicht  gestraft,  Madame,  weil 
man  liebte! 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


139 


Abbe  (seufzt):  Wer  sagt  Ihnen  das. 

Madame  Legros:  Sie  hatten  nicht  eine  Jugend  abgebro- 
chen!  Hatten  nicht  in  einem  Augenblicke  des  Zornes  verfiigt 
iiber  ein  ganzes  Leben! 

Comtesse:  Ich  bin  nicht  grausam.  Sie  riihren  mich,  Ma- 
dame. (Zu  den  Herren:)  Zu  denken,  daB  ich  Furcht  hatte.  Sie  hat 
nichts  Schreckliches,  sie  ist  sogar  wohlerzogen. 

Abbe:  In  den  Zeiten  des  Aberglaubens  wiirde  man  gleich- 
wohl  einen  Teufel  aus  ihr  vertrieben  haben. 

Madame  Legros:  Es  ist  wider  die  Natur  und  als  ob  Gott 
gestorben  ware! 

Chevalier  (mit  Ironie):  Wir  alle,  Madame,  sind  wider  die 
Natur. 

Abbe:  Und  als  ob  Gott  gestorben  ware. 

Chevalier  (wievorher):  Sie  vergessen,  Madame,  daB  wir  in 
einer  alten  Ordnung  leben,  mit  Rechten,  Vorrechten  und  mit 
Op  fern. 

Abbe:  Sie  vergiBt  alles. 

Madame  Legros:  Ich  denke  an  den  Unschuldigen,  und 

alle  sollen  an  ihn  denken! 

Legros:  Madame  Legros,  du  fallst  den  Herren  lastig.  Danke 
ihnen  fur  ihre  giitigen  Aufklarungen. 

Abbe:  Herr  Legros,  Sie  haben  eine  merkwiirdige  Frau. 

Chevalier  (wievorher):  Wenn  wir  auf  einer  noch  jungfrau- 
hchen  Erde  am  ersten  Tage  die  Augen  aufschliigen,  dann  viel- 
leicht  wiirden  wir  die  Dinge  so  sehen,  wie  Madame  Legros  sie  sieht . 

Comtesse  (seufzt):  Es  ware  reizend  . . . Meine  Herren,  es  ist 
ein  Gliick,  daB  wir  gekommen  sind : ich  werde  mich  nie  mehr 
langweilen.  Wir  haben  einen  Fund  gemacht.  Wir  haben  ein 
schones  Beispiel  von  Tugend  gefunden.  Chevalier,  Sie  miissen 
die  Konigin  davon  verstandigen. 

Abbe:  Da  Sie  sich  iiber  die  Tugend  mit  der  Konigin  stets 
verstandigen. 

Comtesse:  Madame  Legros,  ich  verstehe  Sie,  denn  ich  bin 
empfindsam  wie  Sie.  Sagen  Sie mir  alles!  Sie  kennen  denHerrn 

Latude ! 


10  Vol.  m/2 


140 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros:  Nein,  Madame. 

Comtesse:  Er  schreibt  Ihnen.  Sie  haben  den  Leuten  ge- 
sagt,  er  sei  reich,  er  sei  schon.  Sie  wollten  nicht,  dafi  eine  andre 
ihn  liebt.  Haben  Sie  ihn  denn  im  Kerker  besucht? 

Madame  Legros:  Icb  habe  erst  heute  von  ihm  erfahren. 
Hatte  ich  sonst  bis  heute  leben  konnen? 

Comtesse:  Wo  ist  sein  Brief? 

Madame  Legros:  Erist  mir  im  Gedrange  abhanden  ge- 
kommen. 

Comtesse:  Das  ist  es,  was  ich  mir  sagte.  (Zu  den  Herren:) 
Herr  Latude  hat  dieser  Kleinen  niemals  geschrieben.  Sie  ist 
empfindsam,  wie  ich.  Sie  hat  seinen  traurigen  Zustand  im  Geiste 
geschaut.  Sie  war  mit  ihrer  transzendenten  Person  bei  ihm  im 
Kerker.  Wie  sie  interessant  ist! 

Madame  Legros:  Ich  verstehe  Sie  nicht,  Madame,  Sie 
sind  gelehrter  als  ich. 

Comtesse:  Ich  mochte  Ihnen  helfen.  Sie  gefallen  mir. 
Ich  begreife  die  Verirrungen,  die  aus  Empfindsamkeit  geschehen. 

Madame  Legros:  Bedenken  Sie,  Madame,  ein  so  langes 
Leben  des  Jammers ! Die  furchtbare  Tiefe  der  feuchten  Wande, 
aus  denen  er  nach  einem  menschlichen  Herzen  geschmachtet  hat ! 

Comtesse:  Sie  sind  dies  Herz! 

Chevalier:  Auch  mich  bezaubert  es.  DieReize  der  Schuld 
sind  grofi,  ich  gestehe  es.  (Nahe  zu  Madame  Legros :)  Aber  sie  waren 
nicht  mehr  vorhanden,  begegneten  wir  nicht  zuweilen  der  Un- 
schuld. 

Abbe:  Ihre  Galanterie,  Chevalier,  kommt  zu  spat.  Von 
diesem  Herzen  hat  die  Tugend  Besitz  ergriffen. 

Comtesse:  Sie  miissen  zu  mir  kommen,  Madame  Legros. 
Sie  miissen  einer  empfindsamen  Gesellschaft  Ihre  Angelegen- 
heit  vortragen ! Versprechen  Sie  mir,  dafi  Sie  kommen ! 

Madame  Legros  (eingeachuchtert):  Ich  fuhle  mich  nicht 
wiirdig,  Madame.  Es  ware  eine  Aufgabe,  die  mir  Furcht  macht. 

Comtesse:  Ich  bxirge  Ihnen  fur  ein  Ihrer  wiirdiges  Pu- 
blikum  und  fiir  einen  Empfang,  der  Ihren  Verdiensten  ent- 
spricht. 


A 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Ml 


Madame  Legros:  Was  efwarten  Sie  von  mir,  Madame? 
DaB  ich  wiederhole,  was  Sie  schon  wissen  ? Sie  sagen,  daB  Sie 
das  Gute  wollen.  Sie  sind  reich  und  machtig;  die  Herren  sind 
es  auch.  Wenn  Sie  die  Last  von  mir  nehmen  und  den  Un- 
schuldigen  befreien  wollen : ich  wiinsche  mir  nur,  in  die  Stille 
zuriickzukehren . 

Abbe:  Im  Gegenteil!  Sie  miissen  sich  zeigen,  oder  man 
wird  aufhoren,  sich  fur  Sie  zu  interessieren. 

Comtesse:  Sie  miissen  die  Sitten  der  schonen  Welt  er- 
lernen.  Nichts  erreicht  man  ohne  Kunst  und  Galanterie.  Herr 
Legros,  predigen  Sie  Ihrer  Frau  Vernunft! 

Legros:  Die  Frau  Grafin  ist  sehr  gnadig  gegen  dich,  Ma- 
dame Legros. 

Madame  Legros:  Ich  war  bereit,  ins  Gefangnis  zu  gehen 
fiir  den  Unschuldigen.  Ja,  ich  ware  fiir  ihn  gestorben.  Dies  aber : 
wenn  er  es  wiiBte,  erwiirde  denken,  ichverhohne  ihn.  Ich  kann 
nicht,  Madame. 

Comtesse  (fiiHrt  das  Lorgnon  an  die  Augen) : Man  sehe  mir  diese 
kleine  Wilde  an  . . . Wird  sie  wenigstens  geruhen,  mir  zu  ver- 
sprechen,  daB  sie  keiner  anderen  Einladung  folgen  will,  bevor 
sie  bei  mir  war? 

Legros : Verzeihen,  Frau  Grafin,  wir  sind  einfache  Leute  . . . 
Aber  da  Sie  Madame  Legros  in  Ihrem  Hause  zu  sehen  wiin- 
schen,  will  ich  Sie  bitten,  daB  Sie  zuerst  versuchen,  was  das 
unsere  Ihnen  bieten  kann. 

Comtesse:  Ich  bin  nicht  so  stolz  wie  Madame  Legros. 

Legros:  So  werde  ich  es  wagen,  Ihnen  einen  Gascogner- 
wein  vorzusetzen,  der  mir  von  einem  Vetter  dort  unten  kommt. 
Einen  Bauemwein ; — denn  die  Bauern,  Madame,  sind  unsere 
Vettern,  sogar  die  dort  unten. 

Comtesse  (zu  den  Herren) : Diese  Einladung  ist  bezaubernd 
naiv. 

Chevalier:  Ich  weiB  nicht,  ob  sie  so  naiv  gemeint  ist,  wie 
sie  klingt. 

Comtesse:  Wir  werden  ein  Biirgerheim  sehen,  meine 
Herren.  Langst  habe  ich  solch  eine  Idylle  ertraumt. 


1 42  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 

Legros:  Wenn  die  Herrschaften  sich  bemuhen  wollen. 

Comtesse 

Abb6 

Madame  Legros  (folgt  langsam). 

Chevalier  (schlie&t  vor  ihr  die  Tur). 

* 

NEUNTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Chevalier. 

Chevalier:  Madame,  ich  verspreche  diskret  zu  sein,  wenn 
Sie  mir  schon  jetzt  verraten  wollen,  wann  Sie  im  Hause  der 
Frau  Grafin  d’Orchat  zu  linden  sein  werden. 

Madame  Legros:  Ich  habe  nicht  gesagt,  daB ich hingehen 
werde,  mein  Herr. 

Chevalier:  Ich  weifi:  Sie  sind  zu  klug,  sogleich zuzusagen, 
aber  Sie  sind  erst  recht  zu  klug,  nicht  hinzugehen. 

Madame  Legros:  Warum  zweifeln  Sie  an  meinenWorten  ? 

Ch  evalier:  Ich  sehe  Ihre  Handlungen:  sie  sind  nicht  wah- 
lerisch  — und  werden  es  schwerlich  sein. 

Madame  Legros:  Es  ist  wahr:  so  Ungeheures  ist  ge~ 
schehen,  dafi  man  wohl  nicht  wahlen  darf. 

Chevalier:  Sehen  Sie? 

Madame  Legros:  Andere  vermogen  mehr  als  ich.  Sie, 
mein  Herr,  vermogen  so  viel  mehr. 

Chevalier:  Siehaben  nichts  iiberhort.  Ich  soli  dieKonigin 
interessieren  fiir  Sie? 

Madame  Legros:  Fur  einen  Unschuldigen ! Mein  Herr, 
ich  flehe  Sie  an.  Sie  sind  jung,  wie  sollten  Sie  nicht  groB- 
herzig  sein. 

Ch  evalier:  Madame  Legros,  Sie  sind  nicht  gliicklich. 

Madame  Legros:  Ich  war  es  immer.  Jetzt  bin  ich  es 
nicht  mehr. 

Chevalier:  Ich  begreife,  daB  in  der  Enge  hier  der  Ehrgeiz 
einer  solchen  Frau  nicht  lange  seine  Nahrung  findet.  Und  man 
hafit,  was  unerreichbar  scheint. 


(Ab  mit  Legros.) 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros:  Wovon  sprechen  Sie?  Ein  Unschul- 

diger  darf  nicht  langer  leiden.  Es  ist  so  einfach,  da8  niemand, 
der  es  erfahrt,  daran  zweifeln  kann. 


Ch  evalier:  Els  ist  so  einfach,  meinen  Sie,  im  Namen  eines 
Unschuldigen  die  Leidenschaften  aufzuregen,  das  Volk  gegen 
seine  Herren  zu  schicken,  uns  selbst  bei  unserem  Gewissen  zu 
packen  und  wehrlos  zu  machen.  Verstehe  ich  Sie? 


Madame  Legros:  Sie  sind  zu  klug.  Sie  haben  mich  im 
Zorn  gesehen,  und  vielleicht  war  es  Verzweiflung.  Das  ist  vor- 
iiber.  Ich  hasse  niemand;  ich  liebe  nur  den  Unschuldigen. 

Chevalier:  Sie  sind  bewundernswert,  Madame  Legros.  Ich 
halte  Sie  fahig,  Ihren  Hafi  zu  verleugnen,  vor  sich  selbst  sogar, 
um  uns  durch  Mitleid  und  Tugend  beizukommen.  IhreTranen 
sollen  denBoden  lockern,  den  Ihre  Wut  nicht  sprengen  konnte. 
Sie  sind  der  geschickteste  unserer  Feinde.  Ich  ware  geneigt, 
Ihnen  zu  helfen,  Ihren  Aufstieg  zu  erleichtern,  um  Sie  eines 
Tages,  entlarvt  vor  aller  Welt,  zu  besiegen! 

Madame  Legros:  Siewiirden  nur  die Unschuld  besiegen, 

Chevalier:  Sagte  ich  besiegen?  Das  meine  ich  nicht.  Sie 
am  Werk  sehen,  Sie  heraufwachsen  sehen,  wie  die  Gefahr,  — 
die  ich  liebe,  wie  die  Leidenschaft,  — die  in  mir  selbst  ist.  So 
gefallt  es  mir.  Ich  gehe  durch  diese  Stadt,  die  nach  noch  un- 
vergossenem  Blut  riecht.  Ich  sauge  den  Dampf  der  Begierden 
ein  und  das  Gift  der  Geister.  Gerechtigkeit,  Vernunft  und 
Tugend:  ich  glaube  nicht  an  sie  und  trage  sie  dennoch,  ich, 
den  sie  niederwerfen  sollen,  im  eigenen  Herzen  I Taglich  ziingelt 
eine  Revolte  auf : ich  genieBe  den  feindlichen  Augenblick,  in 
dem  ich  atme.  Denke,  wie  ich  jung  und  verloren  in  diesen 
Augenblick  hineingeboren  bin,  worin  alles,  und  sogar  ich  selbst, 
auf  meinen  Untergang  drangt,  — und  will  in  keinem  andern 
leben.  Ich  liebe  meine  Zeit,  dies  Fest  des  Hasses.  Nie  wufite 
ich  es  so  gut,  wie  heute,  in  der  Gasse  hier,  als  eine  Frau  nach 
Blut  schrie.  War  es  nicht  meins,  wonach  sie  schrie?  Sie  soli 
es  haben ! du  List  wild  und  gefahrlich : ich  liebe  dich,  und  ich 

will  dich!  (Packt  sie  an.) 


1 44  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 

Madame  Legros  (ringt  sich  loa):  RiihrenSie  mich  nichtanf 
Wer  darf  mich  anriihren,  soiange  der  Unschuldige  im  Turm 
sitzt!  . . (Ruhiger:)  Sie  verdienen  Mitleid,  mein  Herr.  Es  istwohl 
sehr  schwer,  das  Gute  zu  glauben  und  zu  wollen,  wenn  man 
so  klug  ist  wie  Sie.  Tun  Sie  es  dennoch.  Aus  Ihrer  Sprache 
hore  ich,  daB  Ihr  Herz  sich  danach  sehnt. 

Chevalier:  Heuchlerinl 

Madame  Legros:  Sie  irren.  Ich  bin  nur  demiitig  — und 
darf  es  sein,  weil  ein  Unschuldiger  so  viel  mehr  Unrecht  er- 
leidet,  als  mir  je  geschehen  kann.  Helfen  Sie  mir! 

Chevalier:  Sie  bezwingen  sich,  denn  Sie  denken  an  die 
Konigin. 

Madame  Legros:  Sagen  Sie  es  ihr,  mein  Herr,  daB  ein 
Unschuldiger  leidet! 

Chevalier:  Und  daB  Madame  Legros  seine  Retterin  ist. 

Madame  Legros:  Nicht  meinetwegen : — sagen  Sie esum 
der  Konigin  selbst  willen.  Sie  konnen  sich  wahrhaft  freuen 
doch  nur  der  Gunst  einer  Konigin,  die  keinen  Unschuldigen 
leiden  lafit. 

Chevalier:  Esist  nicht  leicht,  Sie  zu  iiberfiihren,  Madame. 
Wenn  ich  nun  fiir  das,  was  Sie  wollen,  meinen  Preis  stellte: 
wie  ich  Sie  kenne,  wiirden  Sie  nein  sagen  und  sich  auf  mein 
Herz  berufen. 

Madame  Legros  (senktden  Kopf). 

Chevalier:  Aber  das  niitztlhnen  nichts:  den  Preis  mtissen 
Sie  zahlen,  und  eines  Tages  werden  Sie  es  tun.  Ihr  HaB  wird 
so  lange  anwachsen,  bis  Sie  mir  Ihre  Liebe  versprechen  werden. 

Madame  Legros  (sieht  ihn  an):  So  verspreche  ich  sie  Ihnen 
denn  gleich  jetzt. 

Chevalier:  Ist  das  Ernst? 

Madame  Legros:  Helfen  Sie  mir,  und  ich  gehore  Ihnen, 
— wenn  Sie  dann  noch  wollen  werden  . . . Denn  bis  dahin 
werden  Sie  erkannt  haben,  daB  ich,  auch  in  den  Armen  eines 
anderen,  nur  dem  Unschuldigen  gehoren  wiirde. 

* 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


145 


ZEHNTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Comtesse.  Abbe.  Legros.  Die  Verwandte. 

Comtesse:  Ich  habe  ein  Burgerheim  gesehen!  Die  Leute 
schlafen  in  richtigen  Betten! 

Abbe:  Die  Strohsacke  verschwindenundmitihnen,  gottlob, 
die  Religion. 

Comtesse:  Und  am  Feuer  baben  sie  einen  Kalbsbraten! 
Leute,  die  einen  Kalbsbraten  am  Feuer  haben,  wozu  machen 
die  noch  Revolten? 

Abbe:  Aus  Philosophic,  Madame : so  wie  Sie  Schafer! n spie- 
len,  obwohl  Sie  Triiffeln  essen. 

Chevalier  (zu  Madame  Legros):  Wir  aber  machen  aus  einer 
Re  volte  ein  Schaferstiindchen . 

Comtesse:  Schaferin  spielen  ist  schon  so  langweilig.  Jetzt 
soil  man  nach  Hause  und  in  das  Nichts  zuriickfallen.  Wer  noch 
eine  Revoke  mitmachen  konnte!  (Zum  Chevalier:)  Sie  haben  ihr 
zugeredet  ? 

Chevalier:  Madame  Legros  sieht  ein,  daB  der  Triumph 
der  Unschuld  einige  Zugestandnisse  wert  ist. 

Comtesse:  Ich  danke  Ihnen.  Jetzt  gehe  ich,  um  unsere 
kuriose  Entdeckung  iiberall  anzukiinden.  Alles  bei  Ihnen,  liebe 
Legros,  hat  mich  interessiert : Ihr  Unschuldiger,  Ihr  zweites 
Gesicht 

Abbe:  Ihr  Kalbsbraten. 

Comtesse:  Alles. 

Legros:  Die  Frau  Grafin  verzeihe,  daB  es  nicht  noch  mehr 
ist.  Die  Ehre  solches  Besuches  sind  wir  nicht  gewohnt. 

Comtesse:  Adieu.  (Zum  Chevalier:)  War  nun  das  sogemeint, 
wie  er  es  sagte?  (Ab.) 


Ch 

Abbe 


evalier 


(Ab). 


1 46  Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


• 0 m 0 ^:~  a 4*  ^ **  ^ ^ + «*  ^ ^ #_^  ^ 0 -T~  0 0 ^ ^ + —~  + «•  ^ + _r-  + — +* -^r  •*  ^ ~ ^ 


ELFTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Legros.  Die  Verwandte. 

Verwandte:  Wie  liebenswiirdig!  So  betragen  sich  doch 
nur  die  Herrschaften  vom  Hof! 

Legros:  Els  sind  Liebenswiirdigkeiten,  auf  die  man  gem 
noch  eine  daraufsetzte.  (Schlagt  mit  der  Faust  auf  den  Tisch.) 

Verwandte:  Man  sieht,  Herr  Legros,  daB sie  niemals  hinter 
den  Kulissen  der  Oper  waren. 

Legros:  Trag  lieber  die  Suppe  auf  den  Tisch! 

Verwandte:  Man  wird  doch  die  schone  Welt  bewundern 
diirfen.  (Ab.) 

Legros:  Was  denkst  du,  Madame  Legros? 

Madame  Legros:  Els  ist  gut,  daft  sie  da  waren;  ich  habe 
viel  gelernt. 

Legros:  Du  hast  gesehen,  daft  du  dich  nicht  weiter  be- 
miihen  darfst;  bei  denVornehmen  noch  weniger  als  beim  Volk. 

Madame  Legros:  Els  ist  wohl  wahr:  auch  sie  haben  mich 
nicht  verstanden.  Sie  haben  nicht  verstanden,  was  geschehen 
1st.  Das  Wort:  ein  Unschuldiger  leidet,  bedeutet  den  Menschen 
nur  so  viel  wie  das  Summen  einer  Fliege  oder  wie  ein  galantes 
Gesprach.  Ich  hatte  es  nicht  geglaubt. 

Legros:  Du  hattest  deinem  Mann  glauben  sollen. 

Madame  Legros:  Wir  alle  tragen  eine  so  grofte  Schuld : 
sie  aber  sinnen  nur,  welches  Vergniigen  sie  aus  ihr  gewinnen 
konnen,  ob  Eitelkeit  oder  — ein  anderes,  — das  ich  nicht 
nennen  darf. 

Legros:  Du  hast  dich  genug  gequalt:  komm  essen! 

Madame  Legros:  Dazu  hab’  ich  nicht  Zeit.  Werde  ich  je 
wieder  Zeit  haben?  Begreife  doch,  lieber  Mann:  ich  habe  nun 
erfahren  wieviel  zu  tun  und  wie  weit  der  Weg  ist.  Zu  alien 
mufi  ich  nun  gehen,  durch  die  Stadt,  so  groft  sie  ist  und  noch 
weiter,  — muB  ihnen  erklaren,  worauf  es  ankommt,  muB  ihre 
Kopfe,  alle  voll  unniitzer  Dinge,  die  ihnen  wichtig  erscheinen, 
rein  und  hell  machen  mit  meinen  Worten,  bis  sie  es  wissen, 
worauf  es  ankommt:  bis  sie  es  wissen! 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros  1 47 


L e g r o s : Sie  halt  sich  kaum  aufrecht ! Du  sprichst  von  einem 
weiten  Weg?  Nicht  drei  Schritte  kannst  du  gehen!  Ich  lasse 
dich  nicht  fort! 

Madame  Legros  (auf  der  Schwelle) : Du  wirst  mich  lassen, 
denn  du  siehst  wohl,  daB  es  mir  auferlegt  ist.  Ich  bin  nicht 
schwach.  Ich  weifi  trotz  allem,  daB  die  Menschen  sich  sehnen 
nach  dem  Unschuldigen ! Alle  haben  dasselbe  Herz,  und  ich 
brauche  nur  ihre  Laster  und  ihren  Hohn  davon  wegzuziehen 
wie  einen  Vorhang,  dann  werden  sie  ihn  erkennen,  den  Un- 
schuldigen, und  in  ihm  sich  selbst!  (Ab.) 

(Vorhang) 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


ZWEITER  AKT 

Garten  der  Comte** e d'Orchat.  Links  hohe  Bosketts.  Davor  ein  Tisch  mit 
Sesseln.  Ein  Gitter  mit  vergoldeten  Lanzen  und  Wappenschildern  schlieBt 
hi  n ten  und  rechts  den  Garten.  Im  Winkel  ein  groBes  stein  erne*  Tor.  DrauBen 
eine  Wiese,  und  Volk,  das  wahrend  des  ganzen  Aktes  durch  das  Gitter  spiht, 
die  Hande  um  die  Gitterstabe.  Ein  groBer,  goldstrotzender  Portier  ist  immer 

beschaftigt,  die  Leute  zu  verjagen. 

ERSTE  SZENE. 

Marqu  1 S e (im Rollstuhl  und  halb  verdeckt  vom Boskett).  Ein  L.  a k a 1 
(hintcr  ihr).  Comtesse  (sitzt  am  Tisch).  Abbe.  Baron  (stehen). 

Zwei  Lakaien  (servieren  Umonade). 

Comtesse  (zum  Baron):  Nur  ein  Glas  Umonade,  mein  Ueber, 
eine  Minute  Schatten,  und  ich  gebe  Ihnen  Revanche  . . . Ma- 
dame de  Sarcle,  einen  Ballspieler  wie  Herrn  de  Clairvaux  gibt 
es  nicht  wieder.  Freilich,  mit  ernsten  Dingen  darf  man  ihn 
nicht  bemiihen.  Die  Angelegenheit  dieses  Unschuldigen  laBt 
ihn  durchaus  gleichgiiltig.  Dafiir  ist  mein  kleiner  d’Angelot  zu 
brauchen.  Er  hat  mir  Eintritt  in  die  Bastille  verschafft,  zu  dem 
Unschuldigen. 

Abbe:  Madame  d’Orchat  ist  die  erste  und  einzige  Dame  in 
Paris,  die  ihn  gesehen  hat. 

Marquise:  Und  was  haben  Sie  gesehen? 

Comtesse:  Es  roch  bei  dem  Unschuldigen  wie  in  einem 
Kaninchenstall. 

M a r q u i s e : Da  Sie  zuweilen  auch  Schaferin  sind,  ist  dieser 
Geruch  Ihnen  nicht  unbekannt. 

Abbe:  Madame  d’Orchat  hat  mit bewundernswerter Bered- 
samkeit  dem  Unschuldigen  ihre  schonen  Empfindungen  gezeigt. 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros  1 49 


Baron:  Was  ein  Unschuldiger  nicht  alles  zu  sehen  be- 
kommt.  Man  mochte  ihn  beneiden  . . . Und  wie  sah  er  aus? 

Comtesse:  Fragen  Sie  nicht  danach! 

Baron:  Was  sagte  er? 

Abbe:  Sie  verstehen,  Clairvaux,  er  empfangt  nicht  alle  Tage 
Grafinnen. 

Baron:  Genug,  es  schei  nt  eine  Enttauschung  gewesen  zu  sein. 

Comtesse:  Man  mii6te  ihn  herrichten,  man  miiBte  ihn 
zahmen.  Es  ware  ein  Traum,  ihn  hier  einer  Gesellschaft  vor- 
zufiihren.  Bedenken  Sie,  ein  Unschuldiger! 

Abbe:  Es  ware  ein  Triumph. 

Comtesse:  Herr  de  Launay,  der  Gouverneur  der  Bastille, 
ist  nicht  galant.  Er  will  ihn  mir  nicht  leihen. 

Marquise:  So  unschuldig  ist  niemand,  daB  man  ihn  dafiir 
feiern  miiBte. 

Abbe:  Und  die  dreiundvierzig  Jahre  des  Leidens,  Mar- 
quise? 

M a r q u i s e : Die  gehoren  Gott.  Sie  haben  nicht  das  Recht, 
daran  zu  riihren. 

Comtesse:  Sie  sind  streng,  Madame,  — undwenn  ich  es 
sagen  darf,  Sie  verstehen  nicht  mehr  alles,  was  wir  fiihlen. 

Marquise:  Zu  meiner  Zeit  verstanden  wir,  daB  das  Leiden 
eine  Gnade  ist,  die  uns  zu  Auserwahlten  macht. 

Comtesse:  Man  soil  es  lindern!  Man  soli  es  abschaffen! 
Sie  sprechen  nach  der  alten  Mode,  Madame. 

Abbe  (leise):  Man  wiirde  nicht  glauben,  daB  auch  sie  einmal 
sich  ganz  gut  amiisiert  hat. 

Marquise:  Ich  bin  alt,  aber  das  hat  den  Vorzug,  daB  ich 
grade  so  lange  gelebt  habe  wie  der,  den  Sie  den  Unschuldigen 
nennen,  und  ihn  daher  kenne,  besser,  glauben  Sie  mir,  als  Sie, 
die  Sie  ihn  gesehen  haben. 

Abb  £ (wie  vorher):  Sie  verliert  den  Zusammenhang. 

Baron:  Wenn  wir  Ball  spielen  gingen. 

Comtesse:  Madame,  die  Herren  zwingen  mich,  weiterzu- 
spielen. 

M arquise:  Lassen  Sie  mich  ruhig  allein. 


150 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


Comtesse:  Aber  man  soli  mich  rufen,  (zu  den  Lakaien):  so- 
bald  Madame  Legros  kommt.  (Zur  Marquise:)  Das  istdieseFrauaus 
dem  Volk,  der  der  Unschuldigegeschrieben  hat.  Vielmehr,  es  1st 
eln  Zufall.  Aber  sie  geht  umher  und  spricht  von  nichts  anderem. 

Abbe:  Wer  nicht  zufrieden  1st,  ist  ihr  Mann. 

Baron:  Ich  ware  es  auch  nicht. 

Comtesse:  Sie  1st  sehr  riihrend.  Sie  spricht  Unbelcannte 
auf  der  Strafie  an,  um  Sympathien  fiir  den  Unschuldigen  an- 
zuwerben.  Sie  wartet  unermiidlich  in  Vorzimmern.  Hat  sie 
nicht  neulich  den  Wagen  des  Prinzen  von  Conti  angehalten? 

Baron : Das  tun  auch  die  Opernmadchen,  und  wahrschein- 
Iich  mit  mehr  Erfolg. 

Comtesse:  Hier  wird  sie  Erfolg  haben!  Eine  Sensation! 
Der  Chevalier  d’Angelot  wird  sie  uns  herbringen.  Den  Un- 
schuldigen kann  ich  nicht  haben.  Aber  ich  habe  Madame  Legros. 

Abbe:  Seine  Prophetin. 

Marquise:  Wir  lieBen  uns  schon  immer  Komodianten 
kommen. 

Abbe  fl  else):  Nicht  sehr  liebenswiirdig.  Aber  so  waren  die 
alten,  frommen  Zeiten. 

Comtesse:  Auf  Wiedersehen,  Madame,  Meine  Herren  . . . 

Comtesse,  Abbe,  Baron  (Hnb  ab). 

* 

ZWEITE  SZENE. 

Marquise.  Dann  Madame  Legros.  Chevalier. 

Mar  quise:  Baptiste,  lege  mir  das  Kissen  zurecht.  Schiebe 
mich  tiefer  in  das  Boskett.  Zu  meiner  Zeit  richtete  man  seinen 
Garten  nicht  so  ein,  daB  man  dem  Volk  ein  Schauspiel  bot. 

Madame  Legros:  Wir  sindangelangt?  Ich  bin  mtide.  Ich 
habe  zu  so  vielen  Menschen  gesprochen,  daB  ich  keine  Ge- 
sichter  mehr  sehe  und  meine  Stimme  kaum  hore.  (So bald  *ie  den 
Tursteher  sieht .)  Mein  Herr,  man  sagt  mir,  dies  ist  der  Garten 
der  Frau  Grafin  d’Orchat. 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros  1 5 1 

Der  Tiirsteher:  Madame  . . . Herr  Chevalier,  die  Frau 
Grafin  erscheint  sofort. 

Madame  Legros:  Ich  komme  nicht  aus  nichtigen  Griin- 
den,  mein  Herr.  Es  handelt  sich  um  ein  ungeheures  Unrecht. 

Ch  evalier:  Madame,  ich  bitte  Sie,  Sie  verlieren  Ihre  Zeit. 

Madame  Legros:  Niemals.  Jeder  Mensch  muB  es  er- 
fahren.  Denn  jeder  Mensch  ist  mitschuldig,  daB  es  geschehen 
konnte.  Ein  Unschuldiger,  mein  Herr,  der  dreiundvierzig  Jahre 
im  Kerker  verbringt! 

Der  Tiirsteher:  Ich  hore  mit  Bedauern  da  von. 

Madame  Legros:  Seine  Qual  in  all  der  Zeit  war  so  groB, 
daB  wir  uns  schamen  miissen,  mein  Herr,  gelacht  und  geatmet 
zu  haben. 

Ch  evalier  (gibt  dem  Tiirsteher  ein  Trinkgeld). 

Der  Tiirsteher:  Ich  schame  mich,  Madame. 

Madame  Legros  (aufdie  beiden  Lakaien  zu):  Und  Sie,  meine 
Herren,  Sie  werden  sich  nicht  weigern,  ein  Unrecht  gut  zu- 
machen,  das  Ihre  Kinder  Ihnen  vorwerfen  wiirden!  Es  handelt 
sich  um  etwas  Ungeheures,  das  Verbrechen  von  Generationen, 
die  Erbsiinde  . . . 

Ei  n Lakai : Madame,  das  ist  fur  die  Frau  Grafin  bestimmt. 
Ich  werde  die  Frau  Grafin  rufen.  (Ab.) 

Madame  Legros  (zu  dem  Chevalier):  Aber  Sie,  mein  Herr! 
Sie  wenigstens  konnen  es  nicht  ertragen,  daB  ein  so  schmach- 
volles  Leiden  die  Welt  entehrt.  Unter  unsern  FiiBen  hier,  wenn 
wir  uns  regen,  stohnt  ein  lebendig  Begrabener,  dem  wir  wehe 
tun.  Er  ist  immer  mit  uns,  iiberall  . . . 

Chevalier:  Madame  Legros,  ich  bin  der  Chevalier  d’An- 

gelot. 

Madame  Legros:  Ach  ja,  ich  vergaB  . . . 

Chevalier:  Sie vergaBen,  daB  auch  ich  das  alles  schonaus- 
wendig  weiB.  Seit  Wochen  hore  ich  Ihnen  zu,  wie  Sie  es  her- 
sagen,  in  den  Salons  und  auf  den  offentlichen  Platzen.  Ich 
habe  mich  schon  gefragt,  ob  Sie  es  nicht  allmahlich  glauben : 
ja,  ich  selbst  hatte  Ihnen  fast  geglaubt. 

Madame  Legros:  HorenSieauf  IhrHerz!  HelfenSiemir! 


152  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Chevalier:  Dann  sage  ich  mir,  dafi Sie  miteiner  Ausdauer, 
die  ich  bewundern  mu8,  Zwecke  verfolgen,  so  weittragend,  dafi 
ich  sie  nur  ahnen  kann. 

Madame  Legros:  Einen  Unschuldigen  zu  retten! 

Ch  evalier:  Zuletzt  binichdoch  nicht  der  Narr,  anmeinem 
ersten  Urteil  zu  zweifeln.  Sie  hassen  uns,  — und  da  Sie  sich 
iiberzeugen  mufiten,  dafi  Sie  uns  im  Sturm  nicht  iiberwaltigen 
konnen,  denken  Sie  an  uns  emporzuklettem.  Schon  sind  Sie 
bis  hierher  gelangt.  Wo  werden  Sie  enden?  Sie  waren,  wenn 
wir  einen  anderen  Monarchen  hatten,  geschaffen  fiir  eine  jener 
Matressen,  die  den  Hafi  und  die  Gier  des  Volkes  bis  in  das 
konigliche  Bett  walzen,  zusammen  mit  ihrem  hiibschen  Fleisch. 

Madame  Legros:  Sie  beschimpfen  mich  — und  sich  selbst. 

Chevalier:  Ich  gebe  Ihnen  zu,  dafi  Sie  noch  mehr  wagen 
und  daransetzen,  als  ein  Finanzmann,  der  mit  einer  Hungersnot 
spekuliert.  Bei  Ihnen  zu  Hause  geht  es  drunter  und  driiber. 
Geschaft  und  Ehe,  Sie  haben  alles  hinter  sich  gelassen. 

Madame  Legros:  Mich verliefi alles,  seit ich erkannthabe, 
was  das  Wichtigste  ist. 

Chevalier:  Und  taglich  kann  eine  der  Auf ruhr szenen , die 
Sie  veranstalten,  Sie  an  den  Galgen  bringen.  Das  ist  viel  fiir  ein 
Wesen  von  so  zarten  Reizen. 

Madame  Legros:  Ich  fiirchte  nichts  mehr! 

Chevalier:  Und  natiirlich  auch  nicht  die  Bedmgung,  unter 
der  ich  Ihr  Verbiindeter  geworden  bin. 

Madame  Legros:  Nichts. 

Chevalier:  Wenn  ich  Sie  ansehe:  diese  gefahrliche  Feindm 
mit  dem  rosigen  Schimmer  unter  den  gesenkten  Wimpern  — 
Engel  und  Henker  — : ich  weifi  nicht,  ob  ich  ihr  die  Knie  kiissen 
mochte  oder  den  Profofi  rufen ! 

Mad  ame  Legros:  Sie  werden  noch  erfahren,  dafi  dieses 
geheimnisvolle  Geschopf  nichts  war,  nichts,  als  die  Stimme 
eines  Unschuldigen. 

Chevalier:  Vielleicht  werde  ich  es  niemals  erfahren,  — und 
eben  das  wird  mein  Entziicken  gewesen  sein.  Ihr  Unschuldiger, 
bei  meinem  Gluck,  er  soil  aus  dem  Turm,  — ob  ich  damit  dem 


Heinrich  Mann  » Madame  Legros  1 53 

Himmel  einen  Gefallen  tue  oder  der  Holle.  Sie  wissen  noch 
nicht,  was  heute  geschehen  wird.  Fiir  die  Person,  die  hierher 
kommen  wird,  miissen  Sie  Ihre  ganze  Kunst  aufbieten. 

Mad  ame  Legros:  So  machtig  ist  sie? 

Chevalier:  DaB  ich  diese  Person  herbringe,  ist  so  viel,  als 
kiiBte  ich  Ihnen  die  Knie.  Aber  im  gleichen  Augenblick  habe 
ich  schon  wieder  Lust,  den  ProfoB  zu  rufen. 

Madame  Legros:  Ich  werde  Sie  verehren  wie  einen  Hei- 
ligen!  Sie  helfen  zu  einem  Werk,  mein  Herr,  das  alien  Men- 
schen  die  verlorene  Unschuld  wiedergeben  wird.  Ja,  der  Un- 
schuldige  wird  unter  uns  sein,  und  mit  ihm  der  Himmel  selbst  I 

Marquise:  Wir  liefien  uns  auch  friiher  Schauspieler  kommen. 

Chevalier  (hin  zuihr):  Madame,  verzeihen Sie,  ichbemerkte 
Sie  nicht. 

Marquise:  Es  stort  Sie  doch  nicht,  daB  ich  Ihnen  zusah? 
Ich  sah  das  so  oft. 

Chevalier,:  Schwerlich  sahen  Sie  schon  einmal  eine  Ma- 
dame Legros.  (Links  «b.) 

* 

DRITTE  SZENE. 

Madame  Legros:  Madame,  ich  bin  gekommen,  Sie  an 
einen  Unschuldigen  zu  erinnem.  Sie  haben  ihn  vergessen,  alle 
haben  ihn  vergessen,  und  doch  ist  die  Bastille  so  groB,  man 
sieht  sie  von  uberall. 

Marquise:  Friiher  bestimmten  wir,  was  gespielt  werden  sollte. 

Madame  Legros:  Madame  . . . 

Marquise:  Schweigen  Sie,  schamlose  Komodiantin!  Sie 
tragen  Ihre  Gefiihle  zur  Schau,  wie  andre  ihren  entbloBten 
Busen.  Sie  haben  IhreSeele  abgerichtet  und  konnen  dieStimme 
davon  iiberfliessen  lassen,  sobald  ein  Boskett  nicht  ganz  leer  ist, 
sondem  eine  alte  Frau  darin  sitzt.  Ein  Unschuldiger  und  drei- 
undvierzig  Jahre  einsamer  Qual : haben  Sie  es  einmal  empfun- 
den?  Um  so  schlimmer,  denn  nun  haben  Sie  es  mifibraucht, 
und  es  ist  eine  Rolle  geworden,  die  Sie  konnen. 


v,v,:: 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros  (bedeckt  das  Gesicht):  Das  ist  furchtbar. 

Ich  bin  ganz  leer,  ganz  schlecht.  Man  soil  mich  fortschaffen  . . . 
Einmal  war  ich  doch  erfiillt  und  wahr.  Es  war  ein  grofier 
Augenblick,  ich  sah  ihn,  im  offenen  Himmel,  er  sprach  mitmir, 
und  ich  teilte  es  allem  Volk  mit.  Aber  sie  verstanden  mich 
nicht.  Wie  wenige  haben  mich  seitdem  verstanden,  und  es 
sind  doch  Tausende,  die  es  wissen  miissen  . . . Aber  auch  ich 
kann  nicht  in  jeder  Stunde  fxihlen,  was  so  ungeheuer  ist;  — 
und  so  heiCt  es  denn  schwindeln  und  schwatzen.  Ich  muB 
doch  handeln,  damit  der  Unschuldige  gerettet  wird.  Und  vom 
Handeln  bin  ich  nun  wohl  schlecht  geworden. 

Marquise  (milder):  Haben  Sie  denn  bedacht,  was  das  sagen 
will,  einen  Menschen  retten  ? Der,  den  Sie  den  Unschuldigen 
nennen,  ist  alt  geworden,  ohne  daB  Sie  von  ihm  wuBten,  und 
nun  wollen  Sie  ihn  retten. 

Madame  Legros:  Aber  nun  weiB  ich,  wie  schrecklich 
sein  Leben  war,  und  daB  er  es  nicht  verdient  hat! 

Marquise:  Verdienst  ist  ein  hochmiitiges  Wort.  Sehen  Sie 
mich  an!  Sie  wissen  von  mir  nicht  mehr  als  von  jenem.  Wol- 
len Sie  sagen,  daB  ich  es  nicht  verdient  hatte,  mein  Leben  hin- 
ter  Mauern  zu  verbringen?  Es  hatte  mir  geschehen  konnen,  — 
denn  eine  von  uns  Zwillingsschwestem  muBte  ins  Kloster,  weil 
wir  nicht  reich  genug  waren  fur  unsern  groBen  Namen.  Es 
traf  nicht  mich,  es  traf  meine  Schwester,  die  besser  war  als  ich. 
Wenn  ich  jetzt  zuriickdenke,  weiB  ich  warum : Gott  wollte  sie 
belohnen  und  bewahren. 

Madame  Legros:  Haben  Sie  denn  nicht  geliebt? 

Marquise:  Lieben  Sie  Gott! 

Madame  Legros:  Gott  braucht  mich  nicht.  Wen  braucht 
er,  er  hat  den  Unschuldigen  vergessen,  wie  alle  andern  ihn  ver- 
gessen  haben.  Ich  aber  bin  da,  mein  Herz  schlagt:  es  schlagt 
so  stark,  daB  Mauern  davon  stiirzen  sollen ! 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


155 


VIERTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Comtesse.  Chevalier.  Abbe.  Baron. 

Comtesse:  Die  Herren  liefien  mich  nicht  friiher  los  vom 
Ballspiel. 

Abbe:  Der  Unschuldige  wartet  schon  so  lange. 

Comtesse:  Mit  diesen  Dingen  scherzt  man  nicht. 

Ch  evalier:  Wenigstens  nicht  in  Gegenwart  einer  Frau  aus 
dem  Volk. 

Baron:  Der  Chevalier  hat  Furcht. 

Chevalier:  Nein,  aber  Respekt  vor  der  Leidenschaft. 

Comtesse  (umarmt  und  kusst  Madame  Legros):  Liebe  Legros, 
wir  wollen  Freundinnen  sein.  Ihr  Unschuldiger  gefallt  mirzum 
Entziicken.  Ware  nur  der  Gouvemeur  galanter  — 

Madame  Legros:  Ich  verstehe  Sie  nicht,  Madame.  Es 
fallen  hier  so  viele  geistreiche  Anspielungen. 

Comtesse:  Ich  erwarte  Gaste.  Sie  werden  nett  sein,  nicht 
wahr?  Sie  werden  alien  Ihre  Geschichte  erzahlen?  . . . Lassen 
Sie,  ich  weiss,  Sie  tun  alles  aus  wahrer  Begeisterung  fiir  die 
Tdgend.  Und  auch  ich,  als  ich  nun  dem  Unschuldigen  gegen- 
iiber  stand,  ich  mufite  mir  die  Augen  bedecken. 

Abbe:  Und  die  Nase  zuhalten. 

Comtesse:  Sagen  Sie  mir,  wie  sieht  Ihr  Unschuldiger  aus? 
Sie  sahen  ihn  mit  dem  zweiten  Gesicht.  Ich,  die  ich  ihn  ein- 
fach  mit  dem  ersten  gesehen  habe,  werde  Ihnen  sagen,  ob  Sie 
Talent  haben. 

Madame  Legros:  Sie  konnen  ihn  doch  nicht  gesehen 
haben.  Der  Turm  ist  unermeBIich  dick,  und  der  Unschuldige 
wartet  nur  auf  mich. 

Comtesse:  WeiB  er  denn  von  Ihnen? 

Madame  Legros:  Ich  arbeite  seit  Wochen.  Ich  wiihle, 
erschopfe  mich,  ich  luge,  ja,  ich  treibe  ein  Spiel  . . . Ach,  was 
sage  ich!  Ich  leide,  leide.  Ich  bin  nicht  zu  ihm  gedrungen. 
Menschen  sind  da  vor,  tausend  und  abertausend  Menschen, 
die  ich  alle  gewinnen  muB,  alle  riihren  und  besiegen  muB,  bis 


11  Vol.  m/2 


156  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 

ich  zu  ihm  dringen  kann,  der  auf  mich  wartet  . . . Und  Sie, 
sagen  Sie,  haben  ihn  gesehen.  (Will  lachen.) 

Comtesse:  So  ist  es.  Sie  vergessen,  meine  kleine  Legros, 
dafi  es  Unterschiede  gibt.  Ein  Wort  an  den  Gouverneur,  — 
und  ich  ward  zu  ihm  gefiihrt.  Er  fiel  mir  zu  Fiifien,  er  kiifite 
sie  mir.  Es  war  schrecklich  und  reizend,  wie  seine  Kette  dabei 
rasselte.  Und  der  Unschuldige  schwor  mir,  dafi  er  bis  an  sein 
Lebensende  niemandenliebenund  verehren  werde,  als  nurmich. 

Madame  Legros:  Sie  liigen! 

Comtesse:  Sie  vergessen  sich. 

Madame  Legros:  Sie  liigen  und  sind  voll  Tiicke.  Sie 
haben  ihn  nicht  gesehen  und  wissen  nicht,  dafi  sein  Gesicht 
glanzt,  wie  die  Sonne.  Wenn  Sie  seine  Stimme  je  gehort  hat- 
ten,  konnten  Sie  nicht  mehr  kleinlich  und  tiickisch  sein ! Aber 
nur  ich  habe  sie  vernommen.  Nur  mich  ruft  er.  Nur  mich 
liebt  er.  Nur  ich,  verstehen  Sie,  nur  ich  habe  ein  Recht  auf  ihn ! 

Co  mtesse:  Wie  diese  naive  Eifersucht  mich  amiisiert. 

Abbe:  Man  sollte  es  nicht  zu  weit  kommen  lassen  mit 
solchen  Leuten. 

(Bewegung  im  Volk,  drauBen  am  Gitter.) 

Madame  Legros:  Eifersiichtig  sind  Sie  nicht.  Ihr  Che- 
valier stellt  mir  nach,  wie  er  mag.  Aber  das  ist  nicht  dasselbe, 
wie  wenn  Sie  mir  den  Unschuldigen  nehmen. 

Chevalier:  Allerdings.  Es  gibt  Unterschiede  zwischen 
den  beiden  Objekten. 

Madame  Legros:  Der  ist  meinl  Ich  habe  alles  fiir  ihn 
hingegeben:  Mann,  Haus,  Frieden.  Er  warmt  mich,  er  nahrt 
mich,  und  das  ganze  Leben,  ihr  sogar,  die  ihr  so  schlecht  seid, 
scheint  mir'wieder  gut,  wenn  er  mich  ansieht.  Hiiten  Sie  sich, 
zu  sagen,  dafi  Sie  bei  ihm  waren! 

Comtesse:  Estut  mir  leid  fiir  Sie,  meine  Kleine,  ich  war 
bei  ihm. 

Mad  ame  Legros:  Schmutzfetzen ! (Will  auf  sie  los.) 

Ch  e valier,  Abbe,  Baron  (d*zwischen). 


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Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


157 


Comtesse:  0,  liebe  Freunde,  was  fur  eine  Emotion!  Das 
war  nicht  einmal  vorgesehen!  Dafi  unsere  Freunde  nicht  zu- 
gegen  waren! 

Abbe:  Sie  waren  tapfer,  Madame.  Jetzt  aber  sollte  man 
die  Frau  entfemen. 

Ch  e val i e r (zur  Comtesse):  Es  liegt  etwas  vor,  ich  muB  Ihnen 
spater  etwas  mitteilen. 

Baron:  Ich,  der  ich  von  soichen  Staatssachen  nichts  ver- 
stehe,  mochte  wissen,  wie  man  weiterspielt. 

Chevalier:  Staatssachen? 

Abbe:  Das  ist  sein  Wort  fur  alles,  was  nicht  Ballspiel  ist. 

Marquise:  Sie  haben  unrecht,  Sylvaine!  Auch  ich  hatte 
unrecht.  Wir  haben  uns  keine  Schauspielerin  eingeladen.  (Zu 
Madame  Legros:)  Geben  Sie  mir  Ihre  Hand,  Kind.  Das  bebt 
und  drangt.  Solche  Haut  und  solches  Blut  hatte  meine  Schwe- 
ster  am  Tage,  als  sie  den  Schleier  nahm  . . . Sie  irren  sich, 
Kind.  Sie  lieben  nicht  einen  Menschen,  der  leidet : Sie  heben 

Gott. 

Madame  Legros:  Ich  liebe  den  Menschen! 

Marquise:  Unsere  sturmischen  Herzen,  Sylvaine,  es 
scheint,  ihr  habt  sie  nicht  geerbt;  es  scheint,  sie  sind  auf  das 
Volk  iibergegangen.  (Zu  Mndame  Legros:)  Lafi  dich  ansehen, 
meine  Schwester. 

Mad  ame  Legros  (kniet  hin). 

Comtesse:  Was  hat  sie? 

Abb£:  Sie  verliert  schon  wieder  den  Kopf. 

Marquise:  Ich  mochte  allein  sein. 

Comtesse:  Im  Hause  wiirden  Sie  spater  unsere  Gaste 
treff  en . 

Marquise:  So  lassen  Sie  mich  in  Ihre  Kapelle  fahren, 

Comtesse  (geleitet  die  Marquise). 

Chevalier,  Abbe  (gehen  hinterher). 

* 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


fOnfte  szene. 

Madame  Legros.  Baron. 

Ba  ron  (vcrlafit  leise  die  anderen,  kehrt  zu  Madame  Legros  zuriick): 

Madame. 

Madame  Legros  (schrickt  auf,  erhebt  sich):  Mem  Herr. 

Baron  (ernst):  Ich  bin  der  fanatische  Ballspieler,  ebenso 
wie  Sie  die  unermiidliche  Menschenfreundin  sind.  1st  es  Ihnen 
recht,  so  nehmen  wir  jetzt  einmal  beide  die  Maske  ab. 

Madame  Legros:  Ich  habe  keine  abzunehmen,  mein  Herr. 

Baron:  Behalten  Sie  sie  also  auf.  Es  kommt  einzig  darauf 
an,  da 6 Sie  mich  genau  verstehen.  Ich  sage  Ihnen  zuerst  etwas 
Freudiges.  Sie  werden  hier  der  Konigin  begegnen  . . . Sie 

haben  nicht  verstanden. 

Madame  Legros:  Es  freut  mich,  mein  Herr. 

Baron:  Sie  erschrecken  nicht? 

Madame  Legros:  Friiher  ware  ich  sehr  erschrocken,  mein 
Herr.  Verzeihen  Sie,  daB  eine  Konigin  mich  jetzt  nicht  mehr 
erschreckt. 

Baron:  Sie  begreifen,  welche  Vorteile  Sie  aus  diesem  Zu- 
sammentreffen  ziehen  konnen. 

Madame  Legros:  Ah!  Es  ist  der  Chevalier.  Das  war 
es,  was  er  vorhatte!  Er  ist  gut,  ich  wuBte  es.  Alle  sind  nur 
aus  Irrtum  bose. 

Baron:  Der  Chevalier  mag  Griinde  haben,  Ihnen  gefallig 
zu  sein  . . . Aber  seine  eigentliche  Absicht,  wenn  er  die  Koni- 
gin heute  hierherbringt,  liegt  doch  auf  einem  andern  Gebiet. 
Er  hat  hier  mit  der  Konigin  eine  politische  Zusammenkunft, 
die  er  anderswo  nicht  haben  konnte,  weil  wir  ihn  iiberwachen. 

Madame  Legros:  Wer  sind  Sie? 

Baron:  Der  Beauftragte  jemandes,  der  der  Konigin  miB- 
traut. 

Mad  ame  Legros:  Aber  sie  kommt  her!  Sie  will  mich 
sehen ! Sie  wird  mir  helfen ! 

Baron:  Sie  werden  wohl  nie  begreifen,  daB  die  Welt  sich 
nicht  um  Sie  und  Ihren  Unschuldigen  dreht.  Auf  diesem 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


159 


Rasen  hier  wird  nichts  anderes  gesonnen  und  getrachtet,  den- 
ken  Sie.  Es  ist  gerade  so,  als  wollte  ich  mir  einbilden,  dafi 
hier  nur  Ball  gespielt  wird. 

Madame  Legros:  Machen  Sie,  daB  es  so  ist!  Ichmache, 
dafi  alle,  in  den  Gassen,  Palasten,  Dachkammern  und  bis  in 
die  Gosse  und  bis  zum  Thron,  nur  das  eine  noch  sehen,  nur 
von  dem  einen  noch  beklommen  sind,  nur  das  eine  noch  wol- 
len  und  ersehnen!  . . Hindern  Sie  mich,  wenn  Sie  konnen! 

Baron:  Ich  habe  kein  Interesse,  Sie  zu  hindern,  wenn  Sie 
mir  in  einer  unbedeutenden  Sache  ein  wenig  entgegenkom- 
men  ...  O,  es  ist  nicht  das,  was  der  Chevalier  von  Ihnen 
verlangt  . . . Ich  wiinsche  einen  Namen  zu  wissen.  Nichts 
weiter  als  einen  Namen,  der  im  Gesprach  zwischen  der  Koni- 
gin  und  dem  Chevalier  fallen  wird. 

Madame  Legros:  Wer  sind  Sie? 

Baron:  Nur  ein  Neugieriger.  Zwischen  der  Konigin  und 
dem  Chevalier  wird  ein  Name  fallen,  der  Name  eines  oster- 
reichischen  Agenten,  den  die  Konigin  noch  nicht  kennt,  der 
in  der  Menge  der  distinguierten  Fremden  ankommen  soil,  und 
dem  sie  unauffallig  sich  zu  nahern  denkt.  Wir  wiinschen  es 
zu  verhindern ; — und  von  Ihnen,  Madame  Legros,  die  Sie 

allein  zugegen  sein  werden,  erwarten  wir  den  Namen,  um 
dessentwillen  die  Konigin  herkommt. 

Madame  Legros:  Sie  kommt  doch,  weil  es  sogar  schon 
zu  ihr  gedrungen  ist,  dafi  ein  Unschuldiger  leidet!  Mein  Herr, 
auch  Sie  werden  mir  helfen.  Sie  sind  wie  der  Chevalier  und 
die  andern.  Jeder  glaubt,  er  will  nur  seine  Begierden  stillen, 
und  zuletzt  merkt  er,  dafi  ihm  einzig  am  Herzen  liegt,  das 
grofie  Unrecht  von  sich  abzuladen. 

Baron:  Sie  verstehen,  es  einen  glauben  zu  machen.  Man 
mufi  zugeben,  dafi  Sie  kein  Mittel  verschmahen.  Sie  haben 
die  Comtesse,  die  Marquise  und  den  Chevalier,  jeden  auf 
seine  Art,  fur  Ihre  Angelegenheit  zu  interessieren  gewufit. 
Wer  Ihnen  zusieht,  ist  versucht  zu  glauben,  dafi  Sie  sich  gut, 
allzu  gut  auf  die  Laster  und  die  Chimaren  der  Menschen  ver- 
stehen . 


160 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Madame  Legros:  Ich  war  nock  nickt  so,  als  meine  groBe 
Aufgabe  begann.  Aber  ich  habe  die  Menschen  seitdem  ein 
wenig  kennen  gelernt.  Man  kann  ihre  Schlechtigkeiten  nicht 
abschaffen,  man  kann  sie  nur  liebkosen,  bis  es  Tugenden  wer- 
den.  Das  Gute  in  ihnen  schamt  sick,  man  muB  sie  zur  Ziigel- 
losigkeit  der  Gilte  verfiikren. 

Baron:  Madame  Legros,  Sie  sind  sehr  gefahrlich.  Sie  sind 
eine  Kurtisane  der  Tugend. 

Madame  Legros:  Ich  weiB  wokl,  ich  bin  unwiirdig,  daB 
so  Grofies  durck  mick  gescheke. 

Comtesse  und  Chevalier  (kommen  von  links). 

Che  V a 1 1 e r (spricht  leise,  legt  den  Finger  auf  die  Lippen). 

Comtesse  (erschrickt,  verneigt  sich  unwillkurlich). 

Baron:  Jetzt  sagt  er  es  ihr.  Sie  seken,  wir  kaben  keine 
Zeit  zu  verlieren.  Sie  werden  den  Namen  erlauscken,  Madame 
Legros,  und  ihn  mir  sagen. 


Madame  Legros:  Welchen  Namen? 


Verlangen  Sie 


dock,  bitte,  nickt,  mein  Herr,  ich  solle  dem  Chevalier  schaden. 
Er  ist  so  gut. 

Baron:  Macken  wir  es  kurz!  Man  kommt.  Ikr  Unschul- 
diger  ist  verloren,  wenn  Sie  mir  nickt  gehorchen.  Ich  bin 
uberzeugt,  dass  Sie  an  der  Konigin  alle  Ikre  Verfiikrungskunst, 
alle  Laster  der  Unschuld  erproben  werden.  Aber  es  wird  ver- 
gebens  sein.  Wir  kaben  Wege,  um  auck  die  edelsten  Wiinsche 
der  Konigin  unwirksam  zu  macken. 

Madame  Legros:  Sie  werden  es  nickt  tun,  mein  Herr! 
Sie  werden  nickt  ein  Verbrecken  verlangern!  Was  konnten  Sie 
denn  bezwecken,  das  wichtiger  ware,  als  die  Rettung  eines 
Unsckuldigen! 

Baron:  Keine  Deklamationen ! Sie  werden  mir  den  Namen 
sagen? 

Madame  Legros:  Ick  soil  verraten ! Ich  soil  den  Che- 
valier verraten,  der  mir  hilft,  mein  Werk  zu  tun  und  meiner 
grofien  Schuld  ledig  zu  werden! 

Baron:  Er  wird  es  nie  erfahren;  er  ahnt  nickt,  wer  ick 
bin.  Ick  werde  den  Namen  bekommen? 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


161 


Madame  Legros:  ich  kann  nicht  . . . Man  wird  sich 
an  ihm  rachen? 

Baron:  Ich  will  Ihnen  nicht  verhehlen,  daB  seine  Frei- 
heit  gefahrdet  ist.  Aber  dafiir  haben  Sie  den  Unschuldigen. 

Mad  ame  Legros:  Ich  kann  nicht. 

Baron:  Dann  ist  Ihre  Sache  verloren. 

Madame  Legros:  Ich  luge  schon.  Ich  spiele  schon  Ko- 
mo  lie.  Ich  habe  schon  meinen  Leib  als  Preis  versprochen.  Ich 
werde  auch  noch  verraten  ? 

Baron:  Ihr  Wort! 

Madame  Legros:  Ja. 

* 


SECHSTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Comtesse.  Chevalier.  Abbe. 

Comtesse:  Niemand  soil  es  sehen?  Sie  machen  mich 
krank  vor  Arger,  Chevalier. 

Ch  evalier:  Ich  bin  untrostlich,  aber  es  ist  der  Wille  der 
Konigin.  Sie  will  unerkannt  bleiben  und  nur  mit  Madame 
Legros  reden.  Ich  werde  zugegen  sein.  Ihre  Caste,  Madame, 
miissen  den  Garten  vermeiden. 

Baron  (zur  Comtesse):  Diese  Madame  Legros  ist  von  einer 
Weltfremdheit.  Stellen  Sie  sich  vor,  daB  sie  alien  Emstes  glaubt, 
hier  seien  nur  schlechte  und  listige  Menschen. 

Ch  evalier  (zu  Madame  Legros):  Die  Person,  die  ich  Ihnen 
ankundigte,  wird  sogleich  erscheinen.  Es  ist  eine  Fremde,  und 
dennoch  hat  sie  groBen  EinfluB. 

Madame  Legros:  Ich  bin  (stockt)  zu  allem  bereit,  um  ihn 
fiir  mich  zu  gewinnen. 

Ch  evalier:  Sie  wird  von  niemandem  hier  begriiBt  werden 
und  wird  verschwinden,  ohne  daB  man  ihr  folgen  darf.  Sie 
diirfen  niemals  versuchen,  sie  wiederzuerkennen.  Gehen  Sie 
auf  diese  Bedingung  ein  ? 

Madame  Legros:  Auf  alle. 


162 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


Ch  evalier  (gibt  leise  dem  Tiirhiiter  einc  Weisung,  zieht  sich  nach 
links  zuriick). 

Madame  Legros  (steht  allein  in  der  Mitte). 


SIEBENTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Die  Konigin.  Chevalier.  Madame  Crozet. 

Spater  Legros.  Die  Verwandte. 

Konigin  (dunkler  Seiden  mantel  mit  Kapuze,  tritt  rasch  ein). 

Madame  Crozet  (bleibt  beim  Tor  stehen). 


Com  tesse 

Abb* 

Baron 


Oinks  seitwSrts,  verdeckt  von  den  Bosketts,  machen  tiefe 
Verbeugungen,  verschwinden  lautlos). 


Konigin  (mustert  unzufrieden  Madame  Legros,  sieht  von  ihr  weg): 

Sind  Sie  da,  Chevalier? 

Chevalier  (tritt  vor,  verbeugt  sich  leicht):  Madame,  icherwarte 
Ihre  Befehle. 

Konigin:  Die  Person , in  deren  I nteresse  Sie  mir  gesprochen 
haben  ? 


Ch 


evalier:  Hier  steht  sie,  Madame. 


Konigin  (erhebt  das  Lorgnon):  Wirklich,  ich  hatte  sie  sehen 
sollen,  sie  steht  grade  in  der  Sonne.  Madame  Crozet,  hat  man 
mir  vielleicht  zeigen  wollen,  daB  diese  Person  jung  ist  ? (Sie  zieht 

ihre  Kapuze  tiefer  herunter.) 

Ch  evalier  Ocise  zu  Madame  Legros):  Schnell  treten  sie  m den 
Schatten ! 

Konigin:  Ubrigens  hat  sie  die  eingedriickte  Nase,  die  bei 
dem  gemeinen  Volk  hier  iiblich  ist.  Natiirlich,  auch  mit  solcher 
Nase  ist  man  einmal  jung.  (Zum  Chevalier,  leise:)  Sagen  Sie  mir 
zuerst  die  Hauptsache.  Sie  wissen  den  Namen? 

Chevalier  (flustert). 

Baron  (erscheint  hinter  dem  Boskett,  gibt  Madame  Legros  ein  Zeichen). 

Mad  ame  Legros  (lauscht,  erschrickt,  als  der  Chevalier  den  Namen 
nennt,  und  wirft  ihn,  urn  die  Ecke  des  Bosketts,  dem  Baron  zu). 

Baron  (ab). 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros  163 

Kdnigin  (angstlich  nacH  vom):  Man  vertreibe  docb  das  Volk 
dort  draufien.  Was  will  dieses  Volk  von  mir!  Auch  die  Person, 
die  Sie  mir  zufiihren,  Chevalier,  wird  nur  wieder  irgendeine 
Unverschamtheit  planen  . . . Sie  sind  ganz  sicher,  da6  sie 
mich  nicht  kennt? 

Chevalier:  Durchaus  sicher.  Es  ist  eine  naive  Frau,  die 
Sie,  Madame,  sehr  riihren  wird  durch  ihre  vom  Leben  noch 
unbelehrte  Tugend.  Es  ist,  als  begegne  man  einem  Geschopf 
aus  den  ersten  Zeiten.  Man  sieht,  wie  die  Menschen  urspriing- 
lich  tugendhaft  waren. 

Kdnigin:  Das  glaube  auch  ich.  Erst  eine  lange  geschicht- 
liche  Korruption  hat  sie  fahig  gemacht,  geistig  auszuschweifen 
und  unsere  Rechte  zu  leugnen.  (Zu  Madame  Legros:)  Ich  bin 
eine  Freundin  der  Tugend.  Es  heifit,  dafi  auch  Sie  sie  lieben. 
Daher  bin  ich  gekommen. 

Madame  Legros  (steHt  mit  gesenktem  Kopf,  schrickt  auf):  Ma- 
dame, ich  bin  sehr  schuldig,  ich  habe  verraten. 

Kdnigin:  Verraten? 

Che val ier:  Sie  zeiht  sich  aller  Verbrechen,  weil nach ihrer 
Meinung  ein  Unschuldiger  leidet,  woran  sie  und  wir  alle  Schuld 
haben  sollen.  Es  ist  sehr  merkwtirdig. 

Madame  Legros?  Ja,  wir  miissen  uns  mit  alien  Ver- 
brechen beladen,  bis  nicht  der  Turm  gesprengt  wird  und  die 
Unschuld  unter  uns  zuriickkehrt . . . Madame,  in  diesem  Lande 
geschieht  Furchtbares. 

Kdnigin:  In  diesem  Lande?  Warum  sagen  Sie  es  mir? 

Madame  Legros:  In  der  Welt,  so  weit  sie  ist.  Aber  die 
Bastille  steht  doch  hier.  Hier  ist  es  geschehen,  daB  ein  Un- 
schuldiger dreiundvierzig  Jahre  lang  ungehort  seine  Klagen 
ausstofit.  Solch  ein  dicker  Turm  steht  hier,  Madame! 

Kdnigin:  (zum  Chevalier):  Weiter  ist  es  nichts?  Nur  wieder 
die  gewohnten  aufriihrerischen  Beschwerden  iiber  die  soge- 
nannte  Willkiir  der  Bastille.  Lafit  sich  denn  ohne  Bastille 
regieren?  Man  verlange  doch  gleich  das  Ende  der  Welt!  . . . 
Also  dies  ist  das  Vergniigen,  das  Sie  mir  versprachen, 
Chevalier  ? 


f 


1 64  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Chevalier:  Ich  bin  in  Verzweiflung,  Madame,  dafi  Sie  es 
so  schlecht  treffen.  Die  Person  benimmt  sich  ungeschickt.  Sie 
war  sonst  amiisanter.  Moglich,  dafi  ihr  Talent  schon  nachlafit. 
Auch  hat  man  sie  hier  verstimmt,  denn  der  Frau  Grafin  d’Or- 
chat  hat  es  gefallen,  ein  vielleicht  zu  lebhaftes  Interesse  fiir 
den  Unschuldigen  zu  zeigen.  Man  begreift  es,  er  hat  die  Mode 
fiir  sich. 

Konigin:  Man  soil  nicht  sagen,  dafi  ich  die  Mode  nicht 
verstehe!  (Zu  Madame  Legros:)  Sie  heifien  also  Madame  Legros 
und  bemiihen  sich  im  Interesse  des  Gefangenen  Latude.  Ex 
scheint  ein  gefahrlicher  Mensch  zu  sein,  und  Sie  tun  da  etwas 
Verbotenes.  Aber  Ihre  Empfindsamkeitteile  ich,  wiealleandern 
sie  teilen.  Madame  Crozet,  mein  Schnupftuch ! (Sie  fuhrt  es  an 
die  Augen.)  Es  riihrt  mich  sehr,  dafi  es  Personen  gibt,  denen 
es  nicht  gut  geht,  — obwohl,  wenn  sie  ihre  Pflicht  getan 
hatten  — 

Mad  ame  Legros:  Madame,  solcher Tranen  habe  ich  nun 
allzu  viele  gesehen.  Nasse  Augen,  trocknes  Herz. 

Ch  evalier  (leise  zu  Madame  Legros):  Was  fallt  Ihnen  ein! 

Mad  ame  Legros:  Lassen  Sie  mich!  Man  hat  mich  ein- 
geladen,  urn  Leute,  die  sich  langweilen,  zum  Weinen  zu  bringen. 
Besser  weinen  als  gahnen.  Ich  habe  es  endlich  satt,  das  grofie 
Leid  unter  so  kleine  Herzen  zu  tragen.  Dieses  da  schien  mir 
anders.  Als  die  Dame  eintrat,  fiihlte  ich,  nun  trete  eine  grofie 
Hoheit  und  Giite  ein.  Neue  Hoffnung  erwachte  in  mir.  Ach, 
sie  war  triigerisch.  Gehen  Sie  nur,  Madame.  Ihnen  kann  der 
Unschuldige  nicht  helfen  und  Sie  ihm  nicht. 

Ch  evalier  (leise):  Das  ist  erstaunlich!  Sie  hat  die  Gegen- 
wart  der  Majestat  gefiihlt ! 

Konigin:  Was  finden  Sie  daran  erstaunlich  ? Das  Gegen- 
teil  ware  es.  Im  ubrigen  spricht  sie  dreist  — viel  zu  dreist. 

Ch  evalier:  So  meinte  ich  es,  Ich  bin  trostlos,  Madame, 

Ihnen  ZU  mififallen.  (Zieht  sich  zuriick.  Im  Voriibergehen  leise  zu 
Madame  Legros:)  Hiiten  Sie  sich! 

Mad  ame  Legros  (ausbrechend):  Ich  habe  mich  genug  ge- 
hiitet!  Man  soil  endlich  die  Wahrheit  horen!  Wie  sehr  habe 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


165 


ich  den  Menschen  geschmeichelt,  damit  die  Pflicht  des  Herzens 
ihnen  zum  Vergniigen  werde.  Ich  habe  Marktweibern  Gefvihle 
beigebracht  wie  Heiligen.  In  Hauser  drang  ich  ein  und  wiirzte 
den  Biirgersleuten  ihre  Verdauung  mit  schonen  Empfindungen. 
Und  Karossen  bestieg  ich,  in  denen  bunte  Damen  mich  mit- 
nahmen,  um  seufzen  zu  konnen,  da  sie  schon  ein  Affchen  mit 
hatten,  um  zu  lachen ! Wie  ich  mich  geschamt  habe,  vor  ihm, 
dem  Unschuldigen,  der  aus  seinem  Kerker  mir  nachsahl  Wie 
ich  euch  gehafit  habe:  in  euren  Paliisten  die  Konzerte,  bei 
denen  zuerst  leichtfertige  Sanger  auftraten,  und  dann  ich! 
Gehafit  — euer  Girren  und  Tandeln,  eure  Liebenswiirdigkeit 
ohne  Liebe,  euer  untatiges  Wohlwollen,  eure  Schonheit  und 
euren  Glanz,  die  nicht  wissen,  wie  arm  und  niichtern  sie  waren, 
wenn  unter  euch  der  Unschuldige,  einmal  nur  der  Unschuldige 
trate ! 

Konigin:  Ah ! Sie  geben  es  zu  . . . Sie gibt  es  zu,  Chevalier, 
dafi  sie  uns  hafit!  Das  war  es,  was  ich  voraussah.  Dieses  Volk 
ist  treulos  und  aufriihrerisch,  ich  hasse  es  auch!  Ich  habe  es 
gleich  gehafit! 

Madame  Legros:  Aber  ich  habe  Euch  verfiihrt,  habe  euch 
dahin  gebracht,  das  Gute  zu  wollen,  es  her beizuseufzen . Die 
Ketten,  die  ihr  selbst  geschmiedet  habt,  ihr  haltet  euch  nun  die 
Ohren  zu,  wenn  sie  klirren.  Ihr  selbst  drangt  euch  nun  gegen 
den  Turm,  bis  er  birst  ...  Ja : ich  habe  mich  hindurchgebohrt, 
hinaufgewiihlt  bis  zu  euch,  bis  zu  den  grofiten  Herren,  bis 
unter  den  Thron.  Ich  war  in  Versailles. 

Konigin:  Sie  waren  in  Versailles? 

Madame  Legros:  Ich  hatte  alle  Schranken  eurer  Gesell- 
schaft  iiberwunden,  alle  Mauem  eurer  Herzen.  Wie  nun  die 
Konigin  voriiberfuhr  — 

Konigin:  Sie  haben  sie  gesehen? 

Madame  Legros:  Ich  habe  nichts  von  ihr  empfangen  als 
den  Schmutzihrer  Rader,  die  sie  von  einem  nichtigen  Vergniigen 
zum  andem  trugen.  Aber  wie  sie  nun  voriiberfuhr:  ich  hatte 
so  viel  auf  mich  genommen,  so  sehr  mich  abgemattet:  — ah! 
ich  wiirde  sie  herausgerissen  und  zu  ihr  gesprochen  haben,  wie 


166 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


dreiundvierzig  Jahre  schuldlosen  Leidens  sprechen.  (Trittdrohend 

hcrvor.) 

Konigin  (schreit):  Chevalier,  (Ihr  Mantel  gleitet  herab,  tie  steht 

in  einem  sehr  bunten  Kostiim  da.) 

Ch  evalier  (springt  herzu,  packt  Madame  Legros  an). 

Madame  Legros  (sinkt  zusammen):  Aber  man  rifi  mich  zu- 
riick,  ich  fiel  hin,  eine  Ohnmacht  kam  mich  an. 

Konigin:  Sie  waren  ohnmachtig,  — und die  Konigin  lachte 
wohl?  (Sie  lacht.)  Chevalier,  geben  Sie  sie  frei.  Sie  soli  weiter- 
sprechen.  Diese  Kleine  interessiert  mich,  sie  hat  mir  Herzklopfen 

gemacht.  (Priift  Madame  Legros  durch  das  Lorgnon:)  Sie  soil  mir 
sagen,  wie  sie  zu  alledem  kam.  Was  geht  dieser  Unschuldige 
sie  an?  Woher  der  unverschamte  Eifer  fur  eine  Staatsangelegen- 
heit,  die  die  Untertanen  nicht  zu  kiimmern  hat  ? 

Legros,  die  Verwandte  (erscheinen  drauBen  am  Gitter). 

Madame  Legros  (wankend,  beriihrt  ihre  Stirn):  Was  wars? 

Ein  Brief  fiel  vom  Turm.  Ich  habe  sehr  geliebt,  Madame.  Der 
ihn  schrieb,  ist  so  schon.  Auch  sie  wiirden  ihn  lieben.  Alle, 
alle  Menschen  sind  doch  der  Liebe  fahig.  Ich  habe  mich  nicht 
in  ihnen  geirrt.  (Aufgerichtet :)  Alle  zusammen  haben  ein  Herz, 
ein  groBes,  heifies  Herz.  Meins  ist  nur  ein  Teil  davon,  — und 
doch  hat  nun  die  Liebe  zu  dem  Unschuldigen  es  so  machtig 
gemacht.  (Machtvoll :)  Liebt  ihn,  ihr  Menschen,  ihr  werdet  unbe- 
siegbar  sein! 

Konigin  (tanzelt  vor  Madame  Legros  umher):  Jetzt  langweilt  sie 
mich.  (Zum  Chevalier :)  Kann  sie  sonst  nichts?  Ich  denke  mir 
tibrigens  das  meine  iiber  ihre  Beziehungen  zu  dem  Herm  Un- 
schuldigen. (Sie  lacht  und  fliistert  mit  dem  Chevalier.) 

Legros:  Ich  mache  ein  Ende! 

Verwandte:  Das  sind  hohe  Herrschaften. 

Legros:  Und  ich  bin  ihr  Mann!  Soil  es  mich  denn  nicht 
erbarmen,  wie  diese  Leute  sie  zurichten?  Kein  gutes  Wort 
mehr  im  Hause,  und  die  Nachte  verbringt  sie  auf  einem  Stuhl. 

Verwandte:  Jener  Herr  dort  wird  Sie einfach  in  den  Turm 
setzen  lassen.  AuBerdem  gehe  ich  dann  fort  von  Ihnen.  Ich 
habe  mich  mit  Ihnen  eingelassen,  well  ich  Sie  fiir  einen  ehr- 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


167 


lichen  Mann  hielt,  der  einem  Madchen  seine  Versprechungen 
halt.  Und  nun  wollen  Sie  dieses  Weibsbild  zuriickholen . 

Legros:  Schweig!  Sie  ist  meine  Frau. 

Verwandte:  Die  Dime  aller  Herren  vom  Adel,  die  sie 
haben  wollen!  Der  Spott  und  Abscheu  des  ganzen  Stadtvier- 
tels!  Was  sagen  nun  Sie,  der  Sie  ihr  friiher  nicht  einmal  mit 
ihrem  Vetter,  dem  Zollbeamten,  etwas  Unrechtes  zutrauten. 

Legros:  Man  soil  sehen,  ob  das  noch  lange  dauert! 

Verwandte:  Und  mit  dem  ekelhaften  Unschuldigen,  der 
in  seinem  Kot  liegt,  hat  sie  eine  unnatiirliche  Liebe.  Alle 
wissen  es,  auch  Colas,  der  Soldat  in  der  Bastille  ist,  und  den 
ich  heiraten  werde,  wenn  Sie  jene  Person  zuriickholen. 

Legros:  Es  ist  zuviel ! Ich  schaffe  Ordnung ! (Will  durch  das 
Tor.) 

Der  Tiirhiiter:  Niemand  tritt  ein! 

Legros:  Mach  keine  Geschichten!  Die  da  ist  meine  Frau. 

(Er  wirft  den  Tiirhiiter  beiseite.)  (Volk  sammelt  sich  an.) 

Konigin:  Was  gibt  es?  Das  Volk! 

Chevalier  (zuLegroa):  Was  suchen  Sie  hier  ? 

Legros:  Etwas,  das  Ihnen  nicht  gehort!  Ich  will  meine 
Frau  haben!  Es  ist  mein  Recht!  (Packt  Madame  Legros  an:)  Hure! 
Schier  dich  nach  Haus! 

Chevalier  (befreit  Madame  Legros) : Ich  bitte  mir  Achtung 
aus  vor  den  anwesenden  Damen ! (Zur  Kdnigin :)  Fiirchten  Sie 
nichts,  Madame.  Es  ist  nur  ihr  Mann.  Sie  begreifen,  dafi  die 
Ehe  ein  wenig  gestort  ist. 

Konigin:  Das  ist  amiisant.  Was  wird  er  tun? 

Legros  (entbld&t  den  Kopf):  Mit  Verlaub.  Ich  war  immer  ein 
hoflicher  Mann,  man  soli  nicht  sagen,  ich  verkenne  meine 
Pflicht  gegen  die  Damen.  Diese  hier  aber  ist  meine  Frau,  und 
sie  benimmt  sich,  ich  darf  nicht  sagen,  wie.  (Zu  Madame  Legros:) 
Schamst  du  dich  gar  nicht,  Madame  Legros?  Die  Leute  reden 
von  dir,  und  auf  mich  zeigen  sie  mit  Fingem.  Ich  sage  es  dir 
im  guten,  dab  das  aufhoren  muB.  Du  vemachlassigst  das  Ge- 
schaft  und  das  Haus.  Hast  du  dich  iiber  deinen  Mann  zu  be- 
klagen?  Warum  laufst  du  mir  also  davon? 


168 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Ch  evalier  (zefgt  auf  die  Verwandte) : Sie,  Herr  Legros,  haben 
sich  getrostet.  Meinen  Gliickwunsch,  Sie  haben  Geschmack. 

Verwandte  (ist  eingetreten) : Mir  kann  niemand  etwas  Schlech- 
tes  nachsagen. 

Konigin:  Eine  hiibsche  Familie!  So  dachte  ich  mir  das 

Volk. 

Legros  : Wenn  auch  ich  gefehlt  habe,  so  geht  das  nur  uns 
an,  mich  und  Madame  Legros:  aber  nicht  die  Herrschaften, 
denn  sie  haben  meine  Frau  verriickt  gemacht,  um  ihren  Spafi 
an  ihr  zu  haben.  Es  gibt  Leute,  die  sagen,  dafi  man  einmal 
abrechnen  wird ! Ein  Burger  von  Paris  IaBt  sich  nicht  auslachen 
von  einer  lacherlichen,  aufgezaumten  Alten,  wie  die  da ! 
Chevalier  (zieht  den  Degen):  Hinaus  mit  dir! 

Legros:  Und  noch  weniger  vondem  frechen  Schlingel,  den 

Sie  sich  aushalt ! (Schlagt  ihm  den  Degen  aus  der  Hand.).  (Das  Volk 
hinter  dem  Tor  larmt,  will  den  Turhuter  f ortdrangen .) 

Madame  Crozet:  Fliichten  Sie,  Madame! 

Konigin  (tritt  vor) : Tolpel,  auf  die  Knie ! Siehst  du  nicht, 
wer  ich  bin! 

Legros  (erschrickt,  fallt  nieder):  Ich  bin  verloren! 

Stimmen  im  Volk:  Es  ist  die  Konigin!  Nieder  mit  der 
Osterreicherin ! 


Soldaten  (treiben  das  Volk  zuriick). 

Konigin:  Steh  auf,  ich  will  kein  Aufsehen! 

Legros:  Madame,  wenn  Eure  Majestat  die  Bedrangnis 
eines  armen  Mannes  kennten  . . . Meine  Frau  macht  mir  Kum- 
mer,  und  man  kann  kaum  leben.  Die  Abgaben  verteuern  die 
Waren  so  sehr,  daB  niemand  sie  kauft.  Die  Zeiten  sind  schwer. 

Konigin:  Nur  das  Volk  von  Paris  ist  gierig  und  aufriihre- 
risch.  Warum  lebt  ihr  nicht  auf  dem  Lande  ? Alle  Schafer  sind 
sorglos  und  zufrieden. 

Chevalier:  Ihre  Majestat  entlaBt  euch. 


Legros 
V erwandte 


(beugen  die  Knie.  Ab). 


Ch  evalier:  Wenn  Eure  Majestat  die  Gelegenheit  beniitzten 
und  unter  dem  Schutze  der  Soldaten  den  Platz  verlieBen? 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


169 


Konigin:  Noch  nicht.  Erst  jetzt  wird  eure  Heldin  inter- 
essant.  Die  Heldin,  von  der  ihr  alle  mir  in  den  Ohren  hegt : jetzt 
stellen  sich  hochst  pikante  Sitten  bei  ihr  heraus. 

Chevalier:  Suchen  wir  wenigstens  das  Boskett  auf. 

Madame  Crozet  (zieht  «ich  zuriick). 

Kon  igi  n : Ja,  hier  ist  es  heimlicher,  hier  soil  die  Heldin  mir  iiber 
ihren  Unschuldigen  einiges  verraten,  das  ich  ahne.  (Fliistert,  kichert.) 

Chevalier:  Madame  Legros. 

Mad  ame  Legros  (abgewandt  und  starr,  schrickt auf). 

Chevalier:  Sie  waren  abwesend?  Haben  Sie  bemerkt,  was 
vorging?  Es  war  Larm  genug. 

Madame  Legros:  Ich  bin  betroffen  iiber  die  hohe  Ehre, 
mich  in  Gegenwart  der  Konigin  von  Frankreich  zu  befinden. 
(Vemeigt  sich:)  Madame,  ein  grofies  Unrecht  ist  geschehen,  und 
Ihr  ganzes  Land  seufzt  darunter.  Sie  konnen  alle  Ihre  Unter- 
tanen  gliicklich  machen  — 

Konigin:  Ich  mochte  vorallem mich selbstamiisieren.  Ver- 
denken  Sie  mir  das? 

Ch  e v a I i e r (nicht ohne  Ironie) : Ihre  Untertanen  lieben  Sie  dafiir . 

Madame  Legros:  Madame,  ein  Unschuldiger  — 

Konigin:  Das  meine  ich  eben.  Treten  Sie  ruhig  naher, 
Kleine.  Sagen  Sie  es  mir  ganz  aufrichtig,  was  es  mit  lhm  ist. 
In  diesem  Fall  ware  ich  geneigt,  Ihnen  zu  helfen.  Sie  wissen, 
dass  ich  es  kann  . . . Nun  ? Ihrer  Konigin  diirfen  Sie  vertrauen. 

Bitte,  bitte. 

Chevalier:  Konnen  Sie  die  Konigin  bitten  horen,  Madame 
Legros  ? 

Madame  Legros:  Ich  weiB  nicht,  was  die  Konigin  will. 
Ein  Brief  fiel  vom  Turm  — 

Konigin:  Und  gab  Ihnen  ein  Stelldichein. 

Madame  Legros  (zuriickfahrend):  Sie  konnen  glauben ? Das 
sagen  die  Unwiirdigsten. 

Konigin:  Ich  bin  darauf  gekommen,  ohne  daB  jemand  es 
mir  gesagt  hat! 

Madame  Legros:  Das  sagen  die  Neidischen,  die  schmut- 
zigen  Seelen ! Die  Gosse  sagt  es ! 


170 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Konigin:  Gestehen  Sie!  Wie  sind  Sie  in  die  Bastille  ge- 
langt  ? Sie  muBten  einem  Wachter  Ihre  Gunst  schenken,  nicht 
wahr?  Oder  waren  es  mehrere?  . . Viele? 

Madame  Legros  (beugt  sich,  stohnt). 

Konigin  (reicht  ihre  Hand  riickwarts  dem  Chevalier):  Sehen  Sie? 
Es  ist,  wie  ich  annahm. 

Chevalier  (lciifit  die  Hand,  streift  mit  den  Lippen  die  Schulter  der 
Konigin):  Um  so  schlimmer  fiir  den  guten  Mann,  der  sich  vorhin 
herausnahm,  mich  zu  entwaffnen. 

Konigin:  Und  wie  war  es  bei  dem  Gefangenen  ? Sehr  grau- 
sig?  Manhort  vonseltsamen  Vergniigungen.  DieComtessed’Ar- 
gilles  hat  eine  Nacht  im  Grabgewolbe  ihres  Hauses  verbracht, 
und  man  sagt,  mit  einer  Leiche. 

Chevalier : Wir  kennen  alles  bis  zum  UberdruB,  nur  den 
Tod  nicht.  Er  allein  hat  noch  Reize. 

Madame  Legros  (richtet  sich  auf,  entschlossen) : Ich  habe  ihn 
geliebt!  Versprechen  Sie  mir  seine  Freiheit,  und  ich  sage  alles. 

Konigin  : Ich  verspreche. 

Madame  Legros:  Ich  habe  das  Wort  der  Konigin. 

Chevalier:  Sie  sind  zu  beneiden. 

Konigin:  Nun,  war  es  wie  im  Grab?  War  er  brutal? 

Madame  Legros:  Er  nahm  mich  wie  eine  Sterbende.  Ich 
fiihlte,  daB  er  mager  war  wie  der  Tod.  Ich  roch  Verwesung,  da 
wir  uns  kiifiten,  und  das  war  siiBer,  als  aller  Blumenduft  hier 
oben.  Die  Blumen  liigen,  hier  oben  ist  nur  Qual  und  Gemein- 
heit.  Ich  will  wieder  hinab  zu  ihm!  Tot  seinl  Tot  sein!  (Sie 

taumelt,  driickt  den  Kopf  in  die  Arme  und  ichluchzt.) 

Konigin  (streckt  sich,  vergeht). 

Ch  e V a 1 i e r (kuBt  sic  auf  den  Mund). 

(Pause) 

Konigin  (seufzt,  steht  auf). 

Chevalier  (zu  Madame  Legros):  Das  nenne  ich  den  Profofi 
rufen. 

Mad  ame  Legros  (richtet  sich  auf,  sieht  die  Kdnigin  an). 

Konigin  (schlagt  die  Augen  nieder). 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


171 


Chevalier  (verlegen):  Eure  Majestat  befiehlt,  dafi  IhrWagen 
vorfahre  ? 

Konigin:  Ich  gehe  schon.  (Konventionell :)  Sie  haben  recht 
getan,  Chevalier,  mir  diese  Person  vorzustellen,  sie  verdient 
Interesse.  (Zu  Madame  Legros:)  Sie  haben  mir  gefallen,  Sie  diirfen 
sich  eine  Gnade  ausbitten. 

Madame  Legros:  Eure  Majestat  haben  versprochen,  den 
Unschuldigen  aus  der  Bastille  zu  entlassen. 

Konigin:  Ach  ja,  ich  vergaB  . . . Aber  Sie  selbst,  was  wiin- 
schen  Sie  sich  ? 

Madame  Legros  (sieht  sich  um,  hebt  die  Schultern):  Hier? 

Chevalier:  Die  Konigin  will  sagen,  bei  Hofe.  Eine  Pension, 
in  Amt  fur  Ihren  Gatten. 

Konigin:  Ich  warte. 

Madame  Legros:  Ich  habe  keinen  Wunsch  mehr. 

Chevalier:  Das  ist  nicht  moglich! 

Konigin  : Sie  sind  ungezogen ! 

Chevalier:  Sie  istnoch  nicht  wieder  bei  sich.  Ich  will  nicht 
glauben,  dafi  sie  weifi,  was  sie  spricht! 

Konigin:  Dann  ware  es  Tugend?  Das  ist  sehr  riihrend. 
Madame  Crozet! 

Chevalier:  Es  ware  zu  viel.  Els  ware  peinlich,  daran  zu 
glauben . 

M adame  Crozet  (reicht  der  Ktinigin  das  Schnupftuch). 

Konigin  : Man  soli  nicht  sagen,  die  Konigin  von  Frankreich 
verstehe  die  Tugend  nicht  zu  belohnen.  Ich  befehle,  jenem  Ge- 
fangenen  ist  der  Rest  seiner  Strafe  zu  erlassen.  Er  soli  bekranzt 
und  zusammen  mit  der  Person,  die  sich  fur  ihn  so  sehr  inter- 
essiert  hat,  unserer  Akademie  vorgefiihrt  werden.  Die  Akademie 
soli  dieser  Person  den  Tugendpreis  erteilen,  so  befehlen  wir. 
(Sie  geht.  — Wendet  sich  nochmals  um.  Hastig:)  Aber  man  soli  nicht 

sagen,  wofiir ! Chevalier,  ich  verbiete  dem  Redner  der  Akademie 


zu  sagen,  wofiir!  (Ab.) 
Chevalier 
Madame  Crozet 


(ab). 


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12  Vol,  III/2 


172 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


ACHTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Comtesse.  Abb£.  Baron.  Dann  Chevalier. 


Comtess  e 

Abbe 

Baron 


(von  links,  vcrbeugen  sich  hinter  dem  Riicken  der 
Konigin). 


Comtesse:  Das  ist  unerhort.  Die  Konigin  hat  sich  langer 
als  eine  Stunde  mit  der  Frau  unterhalten.  Was  bedeutet  das? 

Chevalier  (kchrt  zuriick,  maeht  vor  Madame  Legros  eine  tiefe  Ver- 
beugung). 

A b b 6 : Wie  er  sie  behandelt ! Man  wird  sehr  vorsichtig  sein 

miissen. 

Comtesse:  Mein  Gott,  wozu  ist  sie  emannt  worden?  (Zum 
Chevalier:)  Die  Konigin  war  zufrieden? 

Chevalier:  Die  Empfindsamkeit  Ihrer  Majestat  hat  einer  so 
groBen  Tugend  nicht  widerstanden.  Die  Konigin  hat  die  Ent- 
lassung  des  Unschuldigen  befohlen. 

Comtesse:  Ich  bin  auBer  mir  vor  Riihrung.  Kann  man  der 
Dame  seine  Aufwartung  machen  ? 

Baron  (auf  Madame  Legros  zu):  Madame,  ich  hore,  daB  Sie  Ihr 
edles  Ziel  erreicht  haben,  ich  begliickwiinsche  Sie  und  empfehle 
mich  Ihrer  machtigen  Gunst. 

Madame  Legros  (sieht  ihn  entsetzt  an,  flieht  nach  vom). 


Comtesse: 

Abb6: 


Was  hat  sie  ? 


Chevalier:  Ich  verstehe  es  nicht  mehr. 

Comtesse:  Welchen  Rang  wird  sie  kiinfdg  einnehmen? 
Ch  evalier:  Keinen,  — ob  Sie  es  nun  glauben  oder  mich 
fur  einen  Intriganten  halten. 

Comtesse:  EineStunde  ganz  allein  mit  der  Konigin  und  keine 
Gnade?  Solche  Einfalt  gibt  es  nicht.  Es  muB  wohl  Tugend  sein. 

Ch  evalier  (zomig):  Ich  hoffe  es  nicht.  Das  Leben  wiirde  zu 
schwierig  sein,  wenn  es  so  schon  ware! 

Comtesse:  Aber  warum  sieht  sie  nicht  gliicklich  aus? 
Abbe:  Els  ist  der  geistige  Hochmut,  den  nichts  befriedigt. 
Mad  ame  Legros  (vom,  allein):  Es  hat  zu  viel  gekostet. 

(Vorhang) 


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Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


173 


DRITTER  AKT 


(Zimmer  hinter  dem  Laden  der  Legros,  mit  Fenster  und  Tiir  auf  eine  Seiten- 

gasse.  Seitwarts  die  Tiir  in  das  Nebenzimmer.) 

ERSTE  SZENE. 

Legros.  Die  Verwandte.  Vignon,  Madame  Touche.  Fanchon. 

Madame  Touche:  Madame  Legros ? Ich  will  Ihnen  sagen, 
Herr  Legros,  was  sie  ist.  Sogleich  wird  sie  zuriick  sein  von 
ihrem  Triumph,  dann  sage  ich  es  ihr  selbst.  Eine  Heilige  ist  sie! 
Legros:  Ich  muB  es  wohl  glauben. 

Madame  Touche:  Wenn  man  sie  gesehen  hat,  wie  sie  den 
Kuppelsaal  betrat,  wo  alle  diese  Herren  von  der  Akademie  sie 
erwarteten  — ! IchhatteZutritt.  Sie,  meine  Herren,  hatten  keinen. 
Aber  Ihr  Vetter  ist  auch  nicht  koniglicher  Lakai. 

Vignon:  Freilich  nicht.  Aber  da  ein  Herr  von  den  franzo- 
sischen  Garden  mich  mit  seiner  Freundschaft  beehrt,  habe  ich 
Madame  Legros  gesehen,  wie  sie  vor  der  Akademie  aus  dem 
Wagen  stieg.  Es  war,  als  ob  ich  sie  nicht  gekannt  hatte.  Eine 
vornehme  Dame. 

Madame  Touche:  Ich  weiB  es  besser:  eine  Heilige.  Und 
der  Tugendpreis  soli  tausend  Pfund  betragen. 

Vignon:  Auch  der  Unschuldige  war  feierlich  anzusehen. 
Er  hatte  einen  gesticlcten  Rock,  einen  Bart,  lang  und  weiB,  und 
er  war  bekranzt. 

Verwandte:  Man  sagte,  daB  er  trotzdem  nur  ein  alter 
Tunichtgut  sei. 

Legros:  Hxite  deine  Zunge! 


174 


Heinrich  Mann  * Madame  Lcgros 


Fan  chon:  Wie  Madame  Legros  gliicklich  sein  mufi!  Ich 
habe  es  ihr  immer  gewiinscht. 

Madame  Touche:  Wer  hatte  das  nicht  getan.  Wir  alle 
waren  immer  fur  Madame  Legros.  Zum  Beweis,  daB  ich  heute 
um  fiinf  Uhr  aufgestanden  bin.  Ganz  Paris  war  drauBen,  man 
sprach  nur  von  Madame  Legros. 

Vignon:  Und  in  den  vorteilhaftesten  Ausdriicken. 

Legros:  Viel  Ehre  fiir  mich. 

Madame  Touche:  Und  daB  dieTugend  Ihrer  Frau  Ihnen 
so  viel  Geld  eintragt. 

Vignon:  Es  scheint,  daB  wirklich  etwas  Grofies  geschehen 
ist  und  daB  Madame  Legros,  die  wir  alle  kannten,  es  vollbracht 
hat.  Das  ist  wunderbar,  man  versteht  nicht  immer,  wer  und 
was  um  einen  herum  ist. 

Legros:  Und  wenn  es  die  eigene  Frau  ist,  durch  die  das 
alles  geschieht,  dann  weiB  man  nicht  mehr,  was  man  denken  soil. 

Madame  Touche:  Friiher  konnte  man  manches  denken. 
Aber  jetzt  hat  sie  Erfolg  gehabt. 

Fanchon:  Sie  hat  den  Unschuldigen  befreit.  Wie  ich  sie 

lieb  habe! 

Vignon:  Freilich  horte  man  in  der  Menge  auch  gefahrliche 
Aufierungen.  Es  gabe  mehr  Unschuldige  zu  befreien : in  der 
Bastille  und  drauBen.  Dies  sei  nur  ein  Anfang. 

Madame  Touche:  Es  waren  iibelaussehende  Personen 
unterwegs.  Wer  weiB,  was  noch  geschieht.  Man  zeigte  sich  sehr 
respektlos  beim  Erscheinen  gewisser  hoher  Herren. 

Legros:  Ich  und  Madame  Legros  sind  voll  Respekt. 

Vignon:  Madame  Legros  hat  nur  das  Gute  gewollt.  Das 
hindert  nicht,  daB  mein  Freund  von  der  Garde  die  emstesten 
Besorgnisse  hegte.  Paris  war  nie  weniger  sicher. 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


ZWEITE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Volk.  Madame  Legros. 

(Eine  Volksmenge  vor  dem  Fenster.  Die  Tiir  wird  geiiffnet.) 

Madame  Legros  (tritt  langsam  ein,  in  einem  weiBen  Schleier,  das 
Cesicht  nach  oben  gerichtet,  mit  verklartem  LacKeln). 

Stimmen:  Siekommt!  Sieistda!  Eslebe Madame  Legros!.. 
Sie  hat  den  Unschuldigen  befreit.  Sie  hat  uns  alle  gerettet.  Wer 
hatte  es  fur  moglich  gehalten.  Die  Herren  und  die  Reichen 
lachten  nicht  mehr  heute  friih.  Sie  haben  einen  befreiten  Un- 
schuldigen gesehen  . . . Wir  werden  ihnen  noch  mehr  zeigen! 
Man  wird  gliicklicher  leben ! Alles  wird  biltiger  werden ! . . . 
Madame  Legros  ist  eine  Heilige.  Seht  ihr  Cesicht,  wie  es  glanztl 
In  unserer  Gasse  scheint  keine  solche  Sonne  . . . Madame  Legros 
ist  eine  aus  unserer  Gasse,  und  sie  ist  eine  Heilige.  Es  lebe  die 

Heilige ! (Vide  knien  hin.) 

V i g n o n : Madame  Legros,  wir  haben  uns  versammelt,  um 
Ihnen  unsere  Bewunderung  auszusprechen  . . . 

Ein  Mann:  Was  will  der?  Hinknien! 

Einanderer:  Friiher  haben  Sie  sie  nicht  bewundert,  son- 
dem  hinter  ihr  hergeschimpft.  Hinknien  1 

Vignon:  Wir  alle  waren  schwach. 

Madame  Touche  (knieteilig  hin):  Ich  war  die  erste,  meine 
Herren,  die  Bescheid  wufite. 

Legros  (sieht  sich  verbliiflFt  um,  bekommt  eine  fromme  Miene,  kniet  hin). 

Mad  ame  Legros  (will  vorwSrts  gehen  und  beruhrt  den  Scheitel 
der  Fanchon,  die  vor  ihr  kniet):  Wer  ist  das?  Fanchon!  Steh  doch 
auf , liebes  Kind ! (Wendet  sich :)  Und  ihr  alle  ? Warum  kniet 
ihr  ? Weil  nun  der  Unschuldige  frei  ist  ? Das  habt  ihr  selbst 
getan.  Gebt  nicht  mir  die  Ehre,  die  ich  nur  eure  unwiirdige 
Sprecherin  war,  sondem  euch  selbst.  Ihr  alle  habt  es  gewollt. 
Ihr  wollt  das  Gute.  Ihr  seid  jetzt  erlost  von  dem  groBen  Un- 
recht. 

Jemand,  der  aufsteht:  Mir  ist,  als  sei  ich  selbst  aus  der 
Bastille  entronnen. 


176 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


Ein  anderer:  Ich  habe  nichts  getrunken  heute,  aber  ich 
mochte  laut  singen. 

Eine  Frau:  Wer  heute  singen  wird,  das  ist  Legros.  Wie, 
Legros?  Eine  solche  Frau! 

Legros  (umringt):  Zweifellos.  Es  ist  viel  Ehre  fiir  mich. 

(Er  verneigt  sich  Unlatch  vor  Madame  Legros.) 

Madame  Legros  (gibt  ihm  die  Hand):  Mein  lieber  Mann  . . . 

(Verlegenes  Schweigen.) 

Die  Menge  (applaudiert). 

Vignon  (zu  Madame  Touche):  Wenn  man  mir  die  ganze  Aka- 
demie  zum  Geschenk  machte,  ich  mochte  nicht  an  Legros’ 


sein. 


Stelle 

Madame  Touche:  Sie  wollen  doch  nicht  sagen,  daB  Sie 
keine  Heilige  zur  Frau  mochten? 

Stimmen:  Herbei,  ihr  Kinder!  Kommt  sie  holen,  die 
Heilige!  Es  soli  ein  schones  Fest  werden! 

Kind  e r (in  weifien  Kleidem  durch  die  Menge,  die  ihnen  Platz  macht, 
auf  Madame  Legros  zu.  Sie  gehen  um  sie  her  und  winden  ihr  dabei  einen 
Iangen  Blumenkranz  um  die  Hiiften). 

Ein  Lehrer  (steht  dabei,  gibt  jedem  der  Kinder  das  Zeichen  zu 


Wir  danken  Ihnen,  Madame  Legros, 


sprechen). 

Das  erste  Kind: 
fiir  den  schonen  Tag. 

Daszweite  Kind:  Und  dafiir,  dass  Sie  uns  die  Tugend 
gelehrt  haben. 

Das  dritte  Kind:  Wir  wollen  es  nie  vergessen. 

Das  vierte  Kind:  Und  wenn  wirgroBsind,  Ihnen  nach- 
ahmen. 

Madame  Legros:  Ihr  lieben  Kinder!  (Ober  sie  hinweg :) 
Ich  hatte  euch  die  Tugend  gelehrt?  Das  kann  ich  nicht.  Ihr 
werdet  sie  vielleicht  einmal  erfahren  wie  ein  schreckliches  Ge- 
heimnis,  das  euch  nicht  mehr  ruhen  lasst.  Und  dann  werdet 
ihr  zweifeln  lernen,  ob  es  wirklich  die  Tugend  ist.  Aber  ihr 
miiBt  an  sie  glauben,  hort  ihr?  Wie  konnte  sonst  der  Unschul- 


dige  befreit  werden  . . . Ach ! Es  ist  schon  geschehen, 
ich  bin  so  miide. 


und 


Heinrich  Mann  • Madame  Legros 


177 


Fan  chon  (stiitzt  Madame  Legros):  Sie  sollen  nun  ausruhen, 

Madame  Legros.  Alle  haben  Sie  lieb. 

Stimmen:  Kommt  sie  nicht? 

Madame  Touche:  Man  hat  ein  Fest  fiir  Sie  veranstaltet, 
Madame  Legros.  Sie  miissen  den  Nachbam  den  Gefallen  tun, 
sonst  ist  man  unzufrieden  mit  Ihnen. 

Stimmen:  Auf  zu  Vignon ! Madame  Legros  in  unsere  Mitte ! 

Vi g non:  Tatsachlich,  Madame  Legros,  erwartet  Sie  in 
meinem  Hause  ein  bescheidenes  Mahl.  Ich  bitte  um  die  Ehre. 

Madame  Legros:  Ich  bin  erschopft,  Herr  Vignon,  ver- 
zeihen  Sie.  Es  war  zu  viel  fiir  mich,  Sie  wiirden  eine  Kranke 
im  Hause  haben. 

Madame  Touche:  Es  scheint,  wir  sind  ihr  schon  zu 
schlecht. 

Fanchon:  Qualen  Sie  sie  nicht,  meine  Herren! 

Vignon:  Meine  Herren,  wir  werden  vorausgehen.  Madame 
Legros  braucht  Ruhe,  Sie  verstehen  es.  Sie  hat  viel  fiir  uns 
alle  getan. 

Stimmen:  Man  hatte  es  sich  schoner  gedacht  ...  Ist  sie 
denn  hochmiitig?  . . Wir  sind  doch  keine  Barbaren.  Die  Hei- 
lige  hat  Ruhe  verdient.  (Man  zieht  ab:)  Es  lebe  die  Heilige! 


DRITTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Legros.  Die  Verwandte. 

Legros  (zur  Verwandten) : SchlieB  die  Tiir. 

Verwandte  (flustert):  Was  soli  man  nun  tun? 

(Pause.) 

Madame  Legros  (in  einem  Sessel,  sieht  starr  vor  sich  hin.  Hebt 
den  Kopf,  lichelt  entruckt,  sinkt  zusammen.  Erwacht  endlich):  1st  je~ 

mand  hier? 

Legros  (von  Hinten):  Nur  wir  sind  es:  ich  und  Lisette  . . . 
Die  Leute  sind  alle  zu  Vignon  gegangen  . . . (Schiichtern :)  Man 
sollte  vielleicht  auch  etwas  essen. 


178 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


Madame  Legros:  Ach  ja,  das  Essen  . . . Undder Laden! 
Die  Kunden  warten.  (Will  aufateHen.) 

Legros:  Niemand  wartet.  Schon 
mehr. 

Verwandte:  Und  zu  essen  habe  ich  auch  nichts. 
Legros:  Warum  denn  nicht!  Faules  Geschopf! 
Verwandte  (freeb):  Wenn  den  ganzen  Morgen  das  Haus 
voller  Gaffer  ist  — . Auf  einem  Jahrmarkt  arbeitet  man  nicht. 
Legros:  Marsch!  In  die  Kiiche! 

Verwandte:  Geben  Sie  mir  Geld,  sonst  gibt  es  nichts  zu 
essen . 

Legros:  Du  hast  schon  wieder  das  Wirtschaftsgeld  fur 
deinen  Putz  ausgegeben.  Wartel  (Schlagt  nach  ihr.) 

Verwandte:  Einen  Augenblick!  Ich  bin  nicht  Madame 
Legros.  Jetzt  haben  Sie  Madame  Legros  zuriick.  Ich  trete 
alles  an  sie  ab,  auch  die  Schlage. 

Legros:  Hinaus  mit  dir! 

Verwandte:  Unterhalten  Sie  sich  gut  mit  der  Heiligen! 

(Seitwart*  ab.) 

Madame  Legros:  Warum  willst  du  ihr  das  Geld  fur  das 
Essen  nicht  geben? 

Legros  (zogert;  «wBt  hervor):  Weil  keins  da  ist. 

Madame  Legros:  Keins  da? 

Legros:  Wenn  nichts  mehr  eingeht,  ist  es  eines  Tages  zu 
Ende.  Und  in  einem  Haus  ohne  Hausfrau  geht  das  schnell. 

Madame  Legros  (betroffen,  «teht  auf):  Ich  habe  nichts  ge- 
sehn,  wie  lang  schon  nicht  mehr.  Die  Spitzen  von  Alenin? 
Legros:  Sie  sind  verschleudert. 

Madame  Legros:  Dein  Geselle  kommt  nicht  zum  Essen? 
Legros:  Ich  habe  ihn  fortgeschickt.  Es  gab  keine  Arbeit 
mehr. 

Madame  Legros:  So  sind  wir  denn  verarmt,  lieber  Mann  ? 
Legros:  Du  nicht,  Madame  Legros,  du  gewiB  nicht.  Nur 
ich.  Du  hast  gut  verdient  in  dieser  Zeit.  (Steilt  einen  Beutel  auf 

den  Tisch.) 

Madame  Legros:  Was  ist  das? 


langst  wartet  niemand 


Heinrich  Mann  « Madame  Legros 


179 


Legros:  Dein  Tugendpreis. 

Madame  Legros  (schlagt  die  Augen  nieder) : Nimm  doch  das  Geld  I 

Legros:  Das  Geld  der  andem  hab  ich  noch  niegenommen. 

Madame  Legros:  Was  mein  ist,  ist  auch  dein. 

Legros:  Sonst  wohl,  aber  nicht  diesmal. 

Madame  Legros:  Du  bist  mein  Herr  und  Gebieter. 

Legros:  Hierbei  war  nicht  ich  es,  sondern  der  Unschul- 
dige.  Mit  ihm  teile  das  Geld. 

Madame  Legros:  Ich  wollte  ihm  alles  geben,  aber  seine 
Verwandten  haben  es  abgelehnt. 

Legros:  Auf  einmal  hat  er  Verwandte? 

Madame  Legros:  Seit  kurzem  haben  sich  reiche  Leute 
gefunden,  Adelige  sogar,  die  sagen,  er  sei  ihr  Verwandter. 

Legros  (lschtauf):  Man  soil  nicht  behaupten,  da8  es  ihm 
schlecht  geht. 

Madame  Legros:  Es  ging  ihm  solange  schlecht! 

Legros:  Dafiir  wird  er  jetzt  ernahrt  und  gehatschelt.  Jeder 

kann  das  von  sich  nicht  sagen. 

Madame  Legros:  Ich  habe  ihn  reich  gemacht  und  dich 
arm.  Du  wirfst  es  mir  vor  und  hast  recht.  Verzeih  mir! 

Legros:  Einer  Heiligen  habe  ich  nichts  zu  verzeihen. 

Madame  Legros:  Ich  habe  getan,  was  mir  auferlegt  war! 

Legros:  Alle  nihmen  dich  dafiir.  Ich  war  im  Unrecht,  als 
ich  dich  zuriickhielt. 

Madame  Legros:  Aber  nun  ist  es  getan.  Ich  muB  den- 
ken,  daB  es  getan  und  ganz  voriiber  ist. 

Legros:  Ich  glaube  nicht.  Von  dem,  was  du  getan  hast, 
bleibt  doch  wohl  etwas  iibrig.  Sie  werden  wohl  noch  Rechte 
haben  an  dich,  dort  drauBen. 

Madame  Legros:  Ich  bin  zu  dir  zuriickgekehrt. 

Legros:  Du  warst  zu  weit  fort.  Was  du  getan  hast,  ist  zu 
auBerordentlich . Nach  solcher  Tat  wird  man  nicht  wieder  die 
Frau  des  Strumpfwirkers  Legros. 

Madame  Legros:  Ich  bin  es  doch! 

Legros:  Ich  muB  dich  verehren,  sagen  die  Leute,  und  ich 
verehre  dich  auch. 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


180 

Madame  Legros:  Sei  mein  Mann  wie  friiher! 

Legros:  Ich  habe  vor  dir  gekniet. 

Madame  Legros:  So  soli  nun  ich  mich  hinknien?  (Sie 
versucht  es.)  Sieh,  ich  bin  so  schwach.  Nun  scheint  mir,  was 
ich  getan  habe,  ganz  umsonst.  Ich  wollte,  du  hattest  wieder 
deine  laute  Stimme,  wenn  du  zu  mir  sprichst,  und  fafitest  mich 
hart  an.  Verzeih  mir,  lieber  Mann,  verzeih,  dafi  ich  einen 
Unschuldigen  aus  dem  Turm  befreit  habe. 

Legros  (wendet  sich  zur  Tiir). 

Madame  Legros:  Du  willst  nicht?  Du  Iiebst  mich  wohl 
nicht  mehr.  Ach ! Im  Grunde  war  es  dir  wohl  ganz  recht,  dafi 
ich  soviel  vom  Hause  fort  war  ? Mein  Platz  ist  wohl  besetzt  ? 

Legros:  Soli  ich  mir  von  einer  Heiligen  die  Suppe  kochen 
lassen  ? Striimpfe  verkaufen  ist  kein  Geschaft  fiir  eine  Heilige. 

(In  das  Nebenzimmer  ab.) 

Madame  Legros  (vor  der  geschlossenen Tur):  Hiite  dich, 

Legros,  dafi  ich  nicht  wirklich  fortgehe! 

Sc 

VIERTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Die  Verwandte. 

Verwandte:  Wenn  Sie  essen  wollen,  Madame  Legros, 
konnen  Sie  in  die  Kiiche  kommen.  Aber  es  gibt  nur  Kartoffeln. 

Madame  Legros:  So?  Ich  kann  in  die  Kiiche  kommen? 
Und  kann  ich  mich  auch  in  mein  Bett  legen,  — wenn  ich  nicht 
finde,  dafi  man  es  mir  inzwischen  beschmutzt  hat? 

Verwandte:  Ich  bin  nicht  schmutziger  als  Sie. 

Madame  Legros:  Ein  Ungeziefer  bist  du ! Hast  dich  ein- 
geschlichen  und  willst  mich  fortbeifien ! Aus  dem  Hause  mit 
dir!  — 

Verwandte:  Fortschicken  kann  mich  nur  Herr  Legros, 
und  der  wird  sich  hxiten,  denn  er  braucht  mich. 

Mad  ame  Legros:  Wozu?  Wage,  es  zu  sagen! 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


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Verwandte:  Und  wenn  ich  es  sage?  Zu  allem,  wozu  eine 
Frau  im  Hause  dient.  Sie  hatten  Herm  Legros  verlassen,  da 

habe  ich  mich  seiner  angenommen. 

Madame  Legros:  Hast  du  ihn  auch  geliebt? 
Verwandte:  Was  macht  Ihnen  das? 

Madame  Legros:  Denn  ich  — ich  habe  ihn  geliebt! 
Verwandte:  Bis  Sie  sich  in  den  Unschuldigen  verliebten. 
Madame  Legros:  Viper!  (Stunt  auf  die  Verwandte  Io«.) 
Verwandte  (flikhtet  Kinter  den  Tisch) : Es  ist  doch  wahr! 
Dafiir  sind  Sie  ja  eine  Heilige  geworden.  Und  ich,  die  ich  mich 
des  Herm  Legros  annahm,  soli  beschimpft  werden? 

Madame  Legros:  Ich  dreh  dir  den  Hals  um! 
Verwandte:  Eine  schdne  Heilige!  Das  erzahl’  ich  Herm 
Legros.  Wenn  er  Sie  nur  schon  los  ware,  hat  er  gesagt.  (Seit- 

wirts  ab.) 


FONFTE  szene. 

Madame  Legros.  Chevalier.  Dann  Volk. 

Madame  Legros  (sinkt  gegen  die  Wand):  Wenn  er  mich  nur 
schon  los  ware!  Wohin  mit  mir  . . . Eine  schone  Heilige.  Ist 
durch  so  viel  Schande  gegangen . Kein  Mittel  war  ihr  zu  schlecht. 
Nicht  einmal  — o Gott  — das  Versprechen  ihres  Leibes  . . . 

(Das  Geaicht  des  Chevalier  erscheint  am  Fenster.)  Es  ist  nicht  aus, 

Legros  spricht  wahr.  Jemand  dort  drauBen  hat  Rechte  an  mich. 
(fcichtet  sich  auf :)  Was  furchte  ich.  Wen  hab'  ich  denn  noch  . . . 
Er  soil  kommen! 

Chevalier  (steht  in  der  Tor): 

Madame  Legros  (schreit  auf,  streckt  die  Hinde  vor): 

Chevalier:  Nicht  erschrecken,  bitte!  Ich  weiB  wohl,  dafi 
ich  nicht  in  dieses  Fest  hineinpasse.  Doch  konnte  ich  es  mir 
nicht  versagen,  Ihren  Triumph  mit  anzusehen:  den  Triumph 
einer  Heiligen.  Man  erlebt  das  nicht  alle  Tage.  (Sieht  sich  um:) 
Aber  ich  glaubte,  hier  wtirden  mehr  Leute  sein. 


(82  Heinrich  Man*  * Madame  Legros 

Madame  Legros:  Siesehen,  manhatmichalleingelasssen. 
Das  Fest  ist  nicht  fur  mich.  Die  andem  feiem  ohne  mich. 

Chevalier:  Ihnen  aber  schulden  sie  es.daB  sie  feiem diirfen. 

Madame  Legros:  Der  Unschuidige  ist  frei,  so  ist  fur  mich 
nun  alles  aus. 

Chevalier  : Das  klingt,  als  bereuten  Sie. 

Madame  Legros  (stark):  0 neinl 

Chevalier:  Sie  haben  einen  Erfolg  erlebt,  den  niemand 
fiir  moglich  hielt.  Was  Sie  fur  ihre  Zulcunft  und  die  der  Ihren 
an  Vorteil  daraus  ziehen  konnten,  haben  Sie  verschmaht  — 
(leicht  ironisch):  und  ich  bewundere  Sie  dafiir.  Jedenfalls  aber 
haben  Sie  die  angenehmsten  Emotionen  genossen,  und  ganz 
Paris  spricht  von  Ihnen.  Sie  sind  beriihmt,  man  hat  sich  vor 
Ihnen  beugen  miissen.  (Er  verbeugt  sich.) 

Madame  Legros  (wendet  den  Kopf  weg). 

Chevalier (unsicher):  Sie  wollen  das  nicht  horen ? Sie erwar- 
ten  von  mir  andere  Worte  ? . . Ja,  ich  bin  gekommen,  um  Ihnen 
etwas  anderes  zu  sagen. 

Mad  a me  Legros  (zuckt  zusammen). 

Chevalier:  Der  MiBverstandnisse  hat  es  zwischen  uns 
genug  gegeben.  Sie  haben  mich  genug  verachtet.  Sie  horen  mir 
zu  mit  der  Miene  eines  Opfers. 

Madame  Legros  (l&chelt  schmerzlich). 

Ch  evalier:  Ich  kann  das  nicht  langer  ansehn.  Ihre  Ver- 
achtung  liegt  zu  hart  auf  mir.  Ich  mufi  Ihnen  sagen  — . Es  ist 
so  schwer.  Horen  Sie  denn ! Sie  sind,  Madame  Legros,  das  erste 
menschliche  Wesen,  vor  dem  ich  in  Beschamung  stehe.  In  den 
andem,  so  jung  ich  bin,  habe  ich  mich  nie  getauscht,  wenn  ich 
sie  verachtete.  Ich  habe  geliebt  und  dabei  verachtet.  Ich  habe 
sogar  getotet  und  dabei  verachtet  . . . Ich  war  stolz,  ohne  Illu- 
sionen  zu  sein.  Und  aus  Stolz  bin  ich  an  Ihnen,  Madame  Legros, 
zum  Liigner  geworden!  Denn  im  Grande  meines  Herzens 
habe  ich  langst  gewuBt,  wer  Sie  seien : schon  als  Sie  noch,  von 
alien  unerkannt,  in  den  Gassen  irrten  und  Mitgefiihl  suchten. 
Aber  ich  wagte  nicht  zu  glauben.  Das  Laster  der  Erkenntnis 
in  mir  straubte  sich  gegen  Sie.  Ich  hatte  Sie  gem  entlarvt,  um 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros  1 83 


mich  zu  beruhigen,  um  nicht  gestehen  zu  miissen,  dafi  es  etwas 
gabe,  das  alle  nur  erheuchelten , das  ich  so  sehr  ersehnte  und 
doch  nur  mit  Hohn  nennen  mochte,  die  Tugend,  — und  um 
diese  ungeheure  Zartlichkeit  zu  ersticken ! (Sturzt  vor  tie  hin,  Iegt 
die  Stxm  in  ihre  Hand.) 

Madame  Legros  (uber  ihn  gebeugt):  Sie,  in  diesem  Augen- 
blick,  haben  mehr  Tugend  als  ich. 

Ch  evalier:  Ich  glaubte  Sie  einst  im  HaB  zu  lieben,  als 
Feindin,  die  man  unterwirft  und  schandet.  Und  Sie  waren 
vielmehr  die,  die  mich  erhob  und  mich  wider  meinen  Willen 
mit  den  Menschen  befreundete . Soil  ich  das  Geheimste  sagen  ? 
Ich  wiinschte  mir,  Ihnen  zu  folgen,  mit  Ihnen  unterzugehen  in 
alien  den  Unbekannten,  denen  Sie  einen  Unschuldigen  befreit 
und  die  Unschuld  zuriickgegeben  haben  . . . Sie  diirfen  lacheln. 
Ich  mache  schon  selbst  den  Vorbehalt,  daB  mich  das  alles  nicht 
angekommen  ware,  wenn  Sie  nicht  schon  waren  und  wenn  ich 
Sie  nicht  liebte. 

Madame  Legros:  Solche  Liebe  habe  ich  erfahren.  Sie 
ergriff  mich,  als  vom  T urm  der  Brief  fiel. 

Chevalier:  Sei  meine  Schwarmerei  nun  kindisch  oder 
erhaben,  ich  will  mich  nicht  schamen.  Nehmen  Sie  mich  hin. 

Madame  Legros:  Kind!  Was  soil  ich  mit  Ihnen  noch 
beginnen.  Ich  habe  vollendet,  was  zu  tun  war. 

Ch  evalier  (stehtauf,  sucht  sich  zu  beruhigen):  Ja:  hinter  Ihnen 
Iiegt  als  getanes  Werk,  wovon  ich  nur  traume.  Was  geht  es  Sie 
an,  daB  einer  durch  Sie  erschiittert  und  auBer  sich  gebracht 
wird.  Sie  haben  Ihr  Werk  vollendet  und  sind  nun  heim- 
gekehrt . 

Madame  Legros:  Das  ist  das  Schwerste:  heimzukehren. 

Chevalier:  Das  ist  das  Unsagliche.  Sie  stehen  hier,  und 
diese  Hande  hangen  herab,  als  sei  nichts  geschehen.  Sie  haben 
uns  alle  verstanden  und  gerichtet,  Sie  haben  sich  zum  Opfer 
angeboten  fiir  uns  alle,  und  haben  fur  uns  triumphiert.  Und 
wenn  nun  einer,  den  Sie  bezwangen,  in  dieses  Zimmer  tritt, 
findet  er  darin  die  Frau,  die  vormals  hier  war.  Was  bleibt  da- 
nach  zu  erleben.  Ich  gehe. 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


184 

Madame  Legros:  Nicht  dieselbe  Frau.  Auch  Sie  miissen 
horen.  Ich  bin  nicht  so  stark,  wie  Sie  sagen.  Was  ich  tat,  hat 
mich  wohl  schwacher  gemacht.  Vorhin  dachte  ich  mich  fort, 
mit  einem,  der  mich  nehmen  will,  nur  fort  und  unter  einen 
Willen.  Ich  bin  so  miide. 

Ch  evalier:  Ihre  Miidigkeit  ist  heilig. 

Madame  Legros:  Auch  will  ich  nicht,  dafi  Sie  mir  dan  ken. 
Denn  ich  habe  Sie  verraten. 

Chevalier:  Sie  — mich  ? (Lacht  auf:)  Das  ware  das  letzte, 
was  ich  zu  lemen  hatte.  (Besinnt  «ich :)  Ich  will  nicht  wissen, 
wann  und  wie.  Beichten  Sie  einem  Wiirdigeren ! Schonen  Sie 
mich!  Mein  Glaube  an  das  Cute  soli  ein  Leben  lang  sich  auf 
diese  eine  Stunde  berufen.  Ich  weiB,  er  wird  es  schwer  haben. 
Auch  Sie  wird  das  Leben  zu  anderem  entfiihren,  als  es  die 
Rettung  eines  Unschuldigen  war. 

Volk  (zieht  in  der  Guie  herbei,  mit  Getrommel  und  gellenden  Pfiffen* 

Dann  Rufe):  Madame  Legros!  Zur  Bastille! 

Chevalier:  Els  kommt  schon,  Sie  zu  holen.  Aber  nicht 
jene,  die  Sie  in  Not  und  Zweifeln  sehen  werden : nur  ich  habe 
Sie  gekannt.  in  meiner  hochsten  Stunde.  Leben  Sie  wohl, 

Madame  Legros ! (Er  will  hinaut.  Manner  mit  Picken  und  Axten  ver- 
treten  ihm  die  Tfir.) 

Ein  Mann:  Da  ist  Madame  Legros ! Sie  sollen  mit  uns 
kommen,  Sie  sind  die  Freundin  des  Volkes ! 

Ein  anderer:Sie  haben  einen  Unschuldigen  befreit. 

Alle:  Ehre  der  Freundin  des  Volkes! 

Der  erste:  Aber  es  sind  noch  andere  Unschuldige  in  der 
Bastille. 

Der  zweite  : Und  draufien.  Kommen  Sie  mit  uns,  an  un- 
serer  Spitze! 

Rufe:  Zur  Bastille! 

Madame  Legros:  Meine  Herren,  haben  Sie  Nachsicht, 
was  soli  ich  tun? 

Der  erste:  Uns  fiihren! 

Madame  Legros:  Ich  weifi  nicht,  wohin.  Ich  habe getan, 
was  zu  tun  war.  Der  Unschuldige  ist  frei. 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


185 


Der  zweite:  Jetzt  ist  es  an  uns.  Wenn  Sie  dabei  sind, 
Madame  Legros,  werden  wir  siegen. 

Madame  Legros:  Uber  wen?  Der  Unschuldige  ist  frei. 
Der  erste:  Begreifen  Sie  doch,  dafi  es  mehr  zu  tun  gibt. 
Wir  alle  leiden. 

Madame  Legros:  Ich  habees  getan.  Der  Unschuldige  ist 
frei. 

Der  erste:  Sie  will  nicht! 

Der  zweite:  Sie  verratuns! 

Rufe:  Zur  Bastille  1 Schleppt  sie  mit! 

Madame  Legros  (wird  umringt  und  angefaBt):  Verschont 
mich,  liebe  Herren! 

Chevalier:  Fort  da!  (Zieht  den  Degen.) 

Rufe:  Ein  Adeliger!  An  die  Lateme  mit  ihm ! Hiindin!  Du 
verratst  uns  mit  den  Adeligen ! 

Chevalier:  Packt  euch! 

Ein  Mann:  Pack  dich  selbst ! (Sticht  nach  ihm.) 

Andere  (stechen  nach  ihm):  Macht  ihn  tot! 

Chevalier  (tinkt  auf  der  Schwelle  zutammen). 

Madame  Legros  (ichreit):  Morder!  Ihr  seidMorder! 
Rufe:  Sie  auch!  Totet  sie  auch! 

Madame  Legros  (breitet  die  Arme  aua):  Wagt  es! 
Gemurmel:  Sie  hatdenUnschuldigenbefreit.  Wasmachen 

wir  da.  (Man  weicht  zuriick.) 

Madame  Legros:  Was  ihr  da  macht?  Ein  menschliches 
Herz  habt  ihr  durchbohrt  in  dem  Augenblick,  da  es  am  hochsten 
schlug,  hoher  als  eures,  hoher  als  meins  . . . Ach  ! wozu  schlug 
es,  wozu  befreite  ich  den  Unschuldigen ! (Sie  kniet  bei  der  Leiche 

hin.) 

DieMenge  (zieht  ab):  Zur  Bastille! 

(Es  dunkelt.) 


186 


Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


SECHSTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Legros. 

Legros:  Deine  Freunde  waren  wieder  da.  Siesind  ein  we- 
nig  zu  larmend,  mufi  man  sagen  . . . Um  Gottes  Willen,  was 
Iiegt  da? 

Madame  Legros:  Hilf  mir,  Legros!  1st  er  tot?  Das  ist 

furchtbar ! 

Legros:  Ich  glaube,  es  ist  aus.  Ein  Toter  auf  unserer 
Schwelle!  Man  wird  mich  fragen,  wie  er  dahin  kommt,  — und 
wenn  ich  es  nicht  sagen  kann  — . (Greift  sich  um  den  Hals.)  Das 
kommt  davon,  Madame  Legros.  So  enden  deine  Geschafte. 
Mich  und  dich  bringen  sie  an  den  Galgen. 

Madame  Legros:  Ich  weifi  nicht  mehr,  wie  das  alles 
kommt.  Habe  Mitleid  mit  mir,  lieber  Mann ! 

Legros : Nunsiehstdu  wohl,  dafi  dein  Mann  fur  alles  sorgen 

mufi.  (Horcht,  sturzt  nach  links,  ruft  durch  einen  Tiirspalt:)  Schierdich 

in  die  Kiiche!  Dafi  du  dich  nicht  riihrst!  (Kehrt  zuriick:)  Die 
Gasse  ist  leer.  Ich  trage  den  da  vor  die  Tiir  des  Wundarztes, 
klopfe  an  und  mache  mich  um  die  Ecke.  Was  geht  das  alles  uns 
an.  Wasche  die  Schwelle!  Und  schweige!  Schweig  still!  (Er 

schlieBt  die  Tur.  Ab  mit  der  Leiche  des  Chevalier.) 

* 

SIEBENTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Ein  Akademiker. 

Madame  Legros  (lauft  durch  das  Zimmer,  halt  sich  den  Kopf  und 
stohnt.  Sie  sieht  sich  scheu  nach  der  Schwelle  um.  Es  klopft.  Sie  schrickt 

zusammen.  Als  es  nochmals  klopft):  Herein! 

Akademiker:  Es  wird  Nacht,  Madame,  ich  sehe  nicht 
deutlich,  ob  ich  die  grofie  Ehre  habe,  vor  Madame  Legros  zu 
stehen. 

Madame  Legros:  Ich  bin  die  Frau  des  Strumpfwirkers 
Legros,  mein  Herr. 


Heinrich  Mann  ♦ Madame  Legros 


187 


Akademiker:  So  sind  Sie  die  Heldin,  die  wir  heute  in  der 
Akademie  kronen  durften.  Vielmehr,  Ihre  Anwesenheit  bei  uns 
war  unsere  Kronung,  die  Kronung  unseres  Werkes.  Madame, 
erlauben  Sie,  dafi  ich  in  Ehrfurcht  diese  Hande  beriihre,  die 
den  Kerker  der  Vemunft  geoffnet  Haben. 

Mad  ame  Legros  (zieht  die  Hand  zuriick). 

Akademiker:  Mein  Besuch  scheint  Ihnen  unwillkommen. 
Ich  verstehe,  dafi  grofie  Taten  viel  Uberdrufi  hinterlassen  an 
den  Menschen,  denen  sie  doch  galten. 

Madame  Legros:  Ich  bin  krank,  mein  Herr,  verzeihen 
Sie  mir. 

Akademiker:  Ihre  Hand  ist  zu  heifi.  Aber  auch  Ihre 
Miene,  Madame,  sieht  verstort  aus  und  Iafit  nichts  mehr  von 
der  erhabenen  Freude  merken,  mit  der  Sie  heute  den  Ruhmes- 
worten  unseres  Redners  zuhorten.  Ich  gestehe,  dafi  ich  die  Be- 
freierin  des  Gefangenen  Latude  nicht  wiedererkannt  haben  wiirde. 

Madame  Legros:  Wundert  Sie  das,  mein  Herr?  Fur  die 
Frau  des  Strumpfwirkers  Legros  war  das  alles  zu  viel : die  lange 
Arbeit  der  Seele,  der  Kampf  gegen  alle,  und  dann  die  Ver- 
brechen. 

Akad  emiker:  Die  Verbrechen? 

Madame  Legros:  Glauben  Sie  denn,  dafi  Hande,  die  erne 
Bastille  aufmachen,  rein  bleiben  konnen? 

Akad  emiker:  Mein  Kind,  Sie  fiebem.  Die  Vemunft  sagt 
uns,  dafi  wir  durch  das  Gute  siegen  werden,  und  dafi  das  Ziel 
das  Gluck  aller  ist. 

Madame  Legros  (lauft  umher):  Und  meine  Angst  und  mein 
Herzklopfen  sagen  mir,  dafi  ich  nun  eine  Verbrecherin  bin. 
Ein  Mensch,  horen  Sie,  ein  Mensch,  der  mir  glaubte,  war  es : 
und  eben  ihn  verriet  ich  und  liefi  ihn  sterben!  Habe  ich  nicht 
alle  verraten?  Bin  ich  nicht  schuldig,  dafi  alle  sterben? 

Akademiker:  Der  Unschuldige  lebt,  und  er  ist  frei! 

Mad  ame  Legros  (bleibt  stehen,  atmet  auf):  Ja,  er  ist  frei. 

Akademiker:  Und  wenn  er  nochmals  zu  befreien  ware? 

Madame  Legros:  Ich  nicht!  Ich  tue  es  nicht  mehr!  (Sie 
sinkt  hin,  schluchzt :)  Ich  bin  nun  verbraucht  und  verdorben. 


13  Vol.  m/2 


1 88  Heinrich  Mann  * Madame  Legros 

Akademiker:  Armes  Geschopf,  das  eine  Heldin  war!  So 
werden  andere  nach  dir  zur  Tat  machen,  was  die  Vemunft 
beschlieBt . 

(Entfernte*  Trommein.  Rufe:  Zur  Bastille  I) 

Madame  Legros:  Ich  will  nicht  horen. 

Akademiker:  Das  ist  der  Gesang,  Madame  Legros,  den 
Sie  angestimmt  haben.  Ich  ehre  Sie,  aber  ich  gehe  nun  weiter. 
(Er  offnet  die  Tiir,  er  gleitet  aus:)  Was  ist  das? 

Madame  Legros:  Auf  solcher  Schwelle,  mein  Herr,  fir- 
ben  sich  die  Sohlen.  Sie  ist  schliipfrig.  Hiiten  Sie  sichl 

Akademiker:  Wir  steigen  hiniiber  und  gehen  weiter. (Ab.) 

* 

ACHTE  SZENE. 

Madame  Legros.  Legros. 

Legros  (tritt  durch  die  noch  offene  Tiir  ein). 

Madame  Legros  (l*uft  ihm  entgegen) : Rette  mich ! 

Legros:  Was  gibt  es?  Wer  war  da? 

Madame  Legros:  Ein  Feind!  Ich  weiB  nicht  . . . Sie 
lassen  mir  keine  Ruhe. 

Legros : Das  darfst  du  sagen.  Aber  jetzt  ist  dein  Mann  da. 
Wir  wollen  einmal  sehen,  ob  die  Leute  hier  noch  lange  ein- und 
ausgehen  werden  wie  bei  sich  zu  Hause.  Mach  Licht,  ich 
SchlieBe  die  Laden.  (Er  geht  auf  die  StraBe  hinaus,  legt  die  Fenater- 

liden  vor.) 

Madame  Legros  (ziindet  die  Kerzen  an) : Komm  schnell 

zuriick!  Ich  angstige  mich.  DrauBen  geht  jetzt  so  viel  vor. 

Legros:  Auch  noch  die  Tiir.  Nun  werden  sie  uns  in  Ruhe 
lassen.  (Fliistert:)  Ich  glaube  wohl,  daB  niemand  mich  gesehen 
hat.  Der  Tote  sitzt  vor  der  Tiir  des  Wundarztes.  Es  war  ein 
wenig  gefahrlich,  ihn  bis  dorthin  zu  tragen.  Aber  ich  habc 
ihn  aus  menschlicher  Achtung  nicht  in  die  Gosse  werfen 
wollen. 

Mad  ame  Legros  (weint  laut). 


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L.J  l M 


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Heinrich  Mann  * M adame  Legros 


189 

Legros:  Du  horst  das  nicht  gem.  Ich  sage  es  auch  nur, 
damit  du  weifit,  daB  wir  wenig  zu  fiirchten  haben,  — und  man 
kann  sagen : nichts.  Denn  heute  abend  sind  in  Paris  noch  einige 
andere  vomehme  Herren  ums  Leben  gekommen.  Wer  will  da 
den  unsem  herausfinden. 

Madame  Legros:  Du  sprichst,  als  seien  wir  selbst  die 
Morder ! Ich  bin  nicht  schuldig  an  diesem  Blut ! Ich  nicht ! 

Legros:  Nein,  du  nicht.  Und  auch  sonst  laBt  sich  nicht 
sagen,  daB  einer  schuldig  ist,  aufier  den  Herren  selbst. 

Madame  Legros:  Er  war  der  Beste  von  alien! 

Legros:  Danach  fragt  man  jetzt  nicht  mehr.  Man  sagt 
sich  in  Paris,  daB  ein  Unschuldiger  dreiundvierzig  Jahre  in  der 
Bastille  verbracht  hat,  und  daB  es  daher  gleich  ist,  ob  die,  die 
sterben,  schuldig  sind  oder  unschuldig.  Man  sagt,  die  Bastille 
miisse  fallen.  Heute  oder  morgen  soli  es  Ernst  werden.  Und 
das  Zeichen  zu  alledem,  sagt  man,  hat  Madame  Legros  ge- 
geben. 

Madame  Legros:  Es  ist  nicht  wahr!  Ich  war  bei  dir, 
lieber  Mann,  du  kannst  es  bezeugen.  Den  ganzen  Tag  bin  ich 
nicht  mehr  ausgegangen. 

Legros:  Aber  die  vorigen  Tage?  Da  warst  du  wenig  da- 
heim,  Madame  Legros. 

Madame  Legros:  Verzeih  mir!  Verzeih  doch  endlich! 
Es  war  wie  ein  hartes  Geschick,  das  mich  befiel.  Ich  muBte 
folgen.  Ich  habe  dich  nicht  gem  gekrankt,  lieber  Mann. 

Legros:  Weifit  du  denn,  Madame  Legros,  ob  du  mich 

eigentlich  gekrankt  hast?  Wenn  hier  Unrecht  geschehen  ist, 
so  habe  wohl  auch  ich  das  meine  begangen  und  brauche  deine 
Verzeihung,  wie  du  meine. 

Madame  Legros:  Schick  sie  fort,  Legros. 

Legros:  Hier  hab’  ich  schon  den  Platz  in  der  Post  fiir 
morgen  friih.  Ehe  der  Tag  graut,  setze  ich  selbst  sie  hinein 
und  gute  Reise!  In  ihrem  Dorf  mag  sie  immerhin  ausplaudem, 
was  sie  heute  doch  vielleicht  gesehen  hat. 

Madame  Legros:  Du  bist  gut!  Du  liebst  mich  noch 
immer  ? 


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Heinrich  Mann  * Madame  Legros 


190 

Legros:  Das merlcst  du  wohl  ...  Es  ist  nicht  recht,  wenn 
die  Frau  dem  Mann  tiber  den  Kopf  wachst. 

Madame  Legros:  Du  bist  stark  I Nur  dir  will  ich  gehor- 

chen  und  dienen. 

Legros : Aber  was  du  getan  hast : wenn  es  mir  auch  Kopf- 
zerbrechen  gemacht  Hat,  so  verstehe  ich  doch,  dafi  es  etwas 
Cutes  war. 

Madame  Legros:  War  es  etwas  Cutes? 

Legros:  Ich  bin  ein  Burger  von  Paris  und  weifi  so  gut  wie 
einer,  dafi  wir  nach  Vemunft  und  Tugend  handeln  sollen.  Nur 
denkt  man  immer,  ein  Fremder  und  Weitentfemter  mag  damit 
anfangen.  Und  mm  war  es  meine  eigene  Frau.  Dahinein  habe 
ich  mich  nicht  leichter  gefunden,  als  jeder  andere  getan  hatte. 

Madame  Legros:  Nun  ist  es  wieder,  wie  es  immer  war. 
Du  bist  mein  Mann  und  Herr. 

Legros:  Es  ist  so,  und  ist  auch  wieder  nicht  so.  Denn 
dazwischen  liegt,  was  du  getan  hast,  und  das  werde  ich  nicht 
vergessen.  Die  andem,  daran  zweifle  nur  nicht,  werden  es 
vergessen.  Vielleicht  auch  werden  sie  es  dir  vorwerfen  und  uns 
verfolgen.  Man  weifi  nicht,  was  fur  Zeiten  kommen. 

Madame  Legros:  Dann  habe  ich  dich  und  du  mich! 

Legros:  Ich  werde  dich  ehren,  liebe  Frau,  auch  wenn  ich 
dir  befehle. 

(Umarmung) 

Legros:  So  viel  habe  ich  dir  seit  unserem  Hochzeitstage 
nicht  mehr  gesagt. 

Madame  Legros:  Jetzt  will  ich  an  die  Arbeit  gehen. 

Legros:  In  der  Nacht? 

Madame  Legros:  Hier  auf  der  Kommode,  die  sehr  ver- 
staubt  ist,  liegt  noch  immer  das  Haubchen  des  Frauleins  Pal- 
myre.  Endlich  befestige  ich  daran  die  Schleifen. 

Legros:  Dies  war  ein  schwerer  Tag.  Sie  haben  dich  zuerst 
gekront  und  gefeiert.  Dann  kam  wohl  noch  Schwereres. 

Madame  Legros:  Und  nun  befestige  ich  die  Schleifen. 

(Vorhang) 


Theodor  Ddubler  ♦ Matisse 


19! 


Feodor  flaubfer: 

MATISSE 

Tjas  „Morceau  de  peinture"  ist  verschwunden,  der  Farbfleck 
^ hat  seine  Bestimmtheit  eingenommen.  Die  Grofie  jedes 
Farbflecks  und  seine  nervische  Intensitat,  der  ausdriickliche 
Abstand  der  einzelnen  Farbflecke  voneinander,  im  Sinne  einer 
malerischen  Tonskala,  beherrschen  die  Bildflache,  bestehen 
sogar  auf  einem  ihnen  genau  angepafiten  Rahmen:  die  den 
Farbflecken  innewohnende  Kraft  gibt  somit  das  Format  des 
Bildes  zwingend  an.  Folglich,  Rhythmus  aus  der  Farbe  heraus. 
Unbedingtheit  der  Farbe.  Eigenrhythmik  in  jedem  Gemalde. 
Hochste  Form  aus  selbstverstandlichster  Freiheit.  Jedes  Werk 
seine  Urspriinglichkeit  und  eine  einzigmogliche  Tatsache. 
Dichtung  aus  dem  Wortkem  heraus,  Zeichnung  als  Behauptung 
der  Farbe.  Zum  erstenmal  kein  Dualismus : endlich  ein  Malen, 
das  Malerei  gebiert,  der  Farbfleck,  der  sich  selbst  einzeichnet. 
Klassik  und  Eigenheit  in  ihrer  Unzertrennlichkeit.  Die  letzte 
Revolution  und  doch  langst  keine  mehr.  Revolution,  die  Re- 
volutionaren  niemals  einging,  und  auf  die  blo6  ein  Klassiker 
kommen  konnte.  Somit:  Matisse,  der  unbedingte  Einfall,  was 
Malerei  ist. 

Seine  Farbflecken  sind  wie  Satze,  die  aus  trefflichsten  Haupt- 
wortem  bestehen.  Jeder  Satz  fiir  sich.  Punkt.  Der  nachste 
Satz  wieder  fiir  sich.  Nochmals.  Also  ein  dritter.  Ein  vierter, 
fiinfter,  und  so  weiter.  Endlich  wird  das  Auszusprechende 
erschopft.  Jeder  Satz  beruht  auf  sich.  Der  Zusammengang 
der  Inhaltlichkeiten  ist  aber  vollkommen  vorhanden.  Ein  ganz 
modemer  Stil.  Arabeske,  die  niemals  dekorativ  ist.  Akademie 
aus  Pedanterielosigkeit. 


192 


Theodor  Divider  * Matisse 


Die  Bilder  von  Matisse  mufi  man  beherzigen ; sein  wissen- 
schaftliches  Vorgehen  ist  so  liebevoll  eindringlich  mit  seinem 
Gegenstand  beschaftigt,  so  unbekiimmert  um  alle  andem  Mog- 
lichkeiten,  Gegenstande  zu  schaffen,  dafi  er  Lyrik  schopfen 
muB.  Auf  Schritt  und  Tritt.  Matisse  analysiert,  wenn  fiir  ihn 
die  Gesamtheit  schon  vorhanden  ist.  Sie  halt  ihn  unweigerlich 
fest:  er  zerlegt  bloB  behutsam  aus  Griinden  klaren  BewuBt- 
werdens.  Jedes  Anders  hat  sein  eigenstes  Aussichheraus  und 
wirkliches  Vorhandensein  : Stil  ist  Vollkommenheit.  Und  zwar 
eigene  Vollkommenheit  aus  jedem  Ding  fiir  sich  entkemt.  Stil 
ist  der  Versuch  unbedingt,  Ding  an  sich,  zu  werden.  Matisse 
hat  die  Farbe  bis  zur  letzten  Unabhangigkeit  gebracht. 

Verdeutlichen  wir  nochmals  die  Sprache  von  Matisse.  Wir 
betonen  wieder : Farbe  und  Zeichnung  erganzen  einander  nicht, 
sondem  der  Eindringlichkeit  des  Auftretens  eines  Farbenerleb- 
msses  entspricht  sein  Anspruch  an  Raum.  Man  konnte  auch 
sagen : Selbstbehau  ptung  unter  uns  innerlichster  dynamischer 
Vorgange.  Man  mochte  wohl  sagen : allerknappste  Mitteilung 
eines  metaphysischen  Vorgangs  durch  die  Farbe.  Stolz  der 
Farbe  mit  tiefster  Bescheidenheit  bei  auBerlicher  Bezeich- 
nung. 

Hochster  Triumph  des  Aquarells.  Jeder  Farbfleck  muB  Raum 
haben,  um  sich  auszudriicken  Die  Farbflecken  diirfen  einander 
nicht  storen,  daher  die  Notwendigkeit,  daB  WeiB  dazwischen 
bleibe.  Jedem  FarbbeschluB  werde  seine  Atemberechtigung. 
Dieses  freie  WeiB  verbiirgt  aber  Leichtigkeit,  wie  gesagt,  Atem- 
barkeit  fiir  die  Gesamtheit  der  Farbflecken,  Freiheit  in  den 
Bewegtheiten  der  einzelnen  Tonwerte.  Dieses  WeiB  kommt  oft 
auch  bei  Olgemalden  des  Meisters  vor,  besonders  im  Stilleben 
oder  in  Bildem  mit  besonders  betonter  Rhythmik.  Hier  hat 
Moll  in  Berlin  Matisse  besonders  scharf  verstanden.  Der  Farben- 
dynamik  bei  Matisse  entspricht  eine  Realitat.  Seine  Bilder  ver- 
bleiben  in  einem  Da,  hier  unter  uns.  Jeder  Farbfleck  wird 
eigennervig  mit  nervoser  Kraft  hingesetzt.  Er  schwarmt  sich 
nicht  gespenstig  und  hyperbelhaft  aus  wie  Kandinsky,  und  den- 
noch  ist  er  unbedingt : Flammengeburt. 


Theodor  Ddubler  » Matisse 


193 


In  seinen  Kompositionen  schweift  Matisse  aus  der  Niichtem- 
heit  des  Gegebnen  aUerdings  in  ein  Mitarabeskenbehaften  ab. 
Durch  unsre  Generation  geht  ein  eigenster,  allerinnerster  Be- 
fehl : fort  vom  Alltag,  weg  vom  Naturalismus  I Zum  mindesten 
sagt  unsre  Stimme:  sieh  das  Wunder  auf  Schritt  und  Tritt. 
Hore  die  Sterne  in  deines  Nachsten  Wesen,  verabenteuerlicbe 
jedes  Geschenk,  das  dir  eine  giitige  Hand  reicht.  Farbe  ist  aus 
dem  Unterirdischen  zum  Tagen  berufen  worden. 

Das  hebraische,  das  mohammedaniscbe  Gebot,  keine  Gleich- 
nisse  auszubilden,  kein  Menschenantlitz  aufzustellen,  gebar  ab- 
strakte  Geistesart:  darum  geschah  es:  abstrakte  Arabesken- 
kunst  wurzelte  sich  in  den  Volkem  Asiens  fest,  liebliche  Trieb- 
haftigkeiten  seeligten  in  die  Welt  unerforschter  Geometrien 
empor.  Europas  Bilderstiirmerei  vertilgte  das  Gebaren  in 
Plastik,  und  das  ereignete  sich  zugunsten  der  Musik.  Wir 
Jiingem  wollen  kein  Nachbilden  mehr,  aus  unsrer  Nachthaftig- 
keit  sollen  wir  abermals  Phantasiegeschopfe,  zauberhaft,  oder 
wenigstens,  durch  Geschautsein  frei  und  leicht  geworden,  em- 
portauchen  lassen,  damit  sie,  von  der  Ewigkeit  umhaucht  und 
berauschend,  unter  Menschen  in  ihrer  Naturgezwungenheit 
treten  konnen.  Matisse  ist  einer  der  Sieghaften  unter  den 
Geistiggewiesenen,  aber  er  bleibt  beim  Ubererbten:  seine 
Menschen  sind  keine  Tapetendryaden,  sondem  freie  Seelen, 
die  Tapeten  entwerfen  und  ihrer  Gemiitsart  anpassen.  Die 
Friichte  seiner  Stilleben  sind  keine  Manna,  keine  Schnuppen 
aus  der  Astralwelt,  kein  unvergangliches  Obst  einer  Marchen- 
insel,  sondern  die  Veranlassung,  daB  ein  Kiinstlerauge  aus  ihrer 
Pracht  eine  junge  Farbenlehre  hervorbluten,  z uriickdammern, 
bei  uns  atmen  sieht.  Matisse’  Blumen  fallen  nicht  aus  unsicht- 
baren  Gespensterhanden  herbeigegeistert,  oder  wie  bei  Odilon 
Redon,  dem  sehenden  Kiinstler,  in  den  SchoB ; nein,  sie  saugen 
sich  in  schonen  Vasen  voll  von  Wasser,  um  durch  ihre  unheim- 
liche  Pfaulichkeit  in  schoner  Frauen  Haarturbanen  oder  vor  lila- 
griinen,  silberbesprenkelten  Spiegeln  ins  Staunen  zu  versetzen. 

Von  Matisse  stammen  die  beiden  modemsten  Bezeichnungen 
kiinstlerischen  auf  ein  Ziel  Gerichtetseins : Kubismus  und  Ex- 


194 


Theodor  Divider  * Matisse 


pressionismus.  Der  eigentliche  Expressionist  aus  der  Farbe 
heraus  ist  Matisse  selber.  Also  der  letzte  Modemste.  Dabei 
reicht  seine  Ahnenreihe  zuriick  in  die  weitesten  Femen.  Die 
hellenistischen  Fresken  in  den  Grabern  Etruriens,  namlich  die 
Unterwelt  der  „sette  camini“  bei  Orvieto,  die  Wandmalereien 
der  Nekropole  von  Clusium  und  besonders  das  ganze  Toten- 
gebiet  von  Cometo  Tarquinia  entstammen  im  Malerischen 
einem  verwandten  Geiste.  Denn  auch  da  gait  es  vor  allem  zu 
malen.  Die  feinsten  Gestaltungen  blieben  deshalb  ohne  UmriB, 
obne  Wissen  von  Zeichnung,  von  der  Farbe  her  selbstbestim- 
merisch  rhythmisiert  wie  beim  Nervenmenschen  Matisse.  Wo 
sie  grober  wurden,  bekamen  sie  Konturen,  ahnlich  wie  bei 
Gauguin.  Pompeji  gehort  einer  spatem,  schon  vielfach  sehr 
anders  gewordenen  Epoche  an.  Dort  handelt  es  sich  nicht 
mehr  um  eigentlich  unsichtbare,  fur  sich  und  die  Geister  be- 
stimmte  Nachtgewolbe,  die  man  ausmalte,  sondem  im  Gegen- 
teil  um  ein  Dekoratives  bei  vollem  Sonnengang.  Pompejianisch- 
rote  Flachen  sollten  belebt,  illustriert,  selten  auch  beseelt  werden ; 
schwarze  Raume  wurden  fur  die  Tagesherrlichkeit  hergestellt: 
der  dekorative  Zweck  forderte  Puttenschmuck,  Pflanzenfreudig- 
keit,  nicht  mehr  Heiligkeit  der  Farbe.  So  wars  auch  im  Palast 
des  Nero  in  Rom.  Die  Grotesken  sind  sehr  feinempfundenes 
Kunstspiel.  Die  Reste  des  allerzartesten  Wandberankens  aus 
Menschenhand  fand  man  in  der  Villa  Negroni  und  findet  man 
noch  heute  spurhaft  im  KaiserschloB  auf  dem  Palatin.  Deko- 
rativ  wurden  daher  auch  die  herrlichen  Loggien  Raffaels  und 
von  Giovanni  d’Udine  im  Vatikan. 

Weltbrandkarawanen  aus  absoluter  Farbe  setzte  das  Mittel- 
alter  in  die  Fenster  seiner  Kathedralen . Zumal  in  den  ganz 
alten  Glasmalereien,  wie  im  Dom  zu  Augsburg,  in  Chartres, 
in  Pisa.  Grade  an  der  Dunkelheit  der  Farben  lag  ihr  Geweiht- 
sein ; spater  bei  den  taghellen  Fackelziigen  half  das  Irdische, 
namlich  das  Sonnenlicht,  zu  viel  mit:  es  steigerte  sich  daher 
zu  machtig  das  Beleuchtetwerden  zu  ungunsten  eines  seelischen 
Erleuchtetseins,  wo  doch  das  von  auBen  hereinnickende  Tages- 
hell  bloB  ein  Rechnen  mit  den  diesseitigen  Notwendigkeiten 


Theodor  Ddubler  * Matisse 


195 


bedeu ten  konnte.  Jedenfalls  ist  der  Farbfleck  ein  aus  der  Gotik- 
geboren- werden . Im  Mittelalter  pragte  ihn  glaubige  BewuBtheit 
aus,  heute  zittert  er  unter  der  nervosen  Hand  Matisse’  sternig 
auf.  Bei  Tizian,  zumal  beim  Alten,  fiihlen  wir  oft  im  Olbild 
das  Auf  gluten  der  absoluten  Farbe.  Der  Goldregen  bei  seinen 
Danaen,  mehr  noch  auf  dem  Neapler,  als  auf  dem  Wiener  Bild, 
verheifit  bereits  viel  mehr  vom  Eignen-Leuchten-ErfaBtsein  als 
von  sogenannter  Farbenglut,  in  einem  auBerlichen  Sinn.  Auch 
Tizians  oft  geriigtes  Verzeichnen  geht  eigentlich  aus  einem 
gewagtern  Raumausspruch  seines  Farbenerlebens  hervor,  das 
sich  um  korrektes,  aber  unmalerisches  Zeichnen  nicht  kiimmern 
konnte.  Eine  Ahnung  vom  Farbfleck  sprengte  die  herkomm- 
liche  Ricbtigkeit  der  Umrisse.  Spat,  in  seinem  Nachtstiick  in 
Miinchen,  in  der  Geiselung  Christi  ist  der  Farbfleckbringer 
Tizian  tatsachlich  da.  Kann  man  da  iiberhaupt  noch  von 
Zeichnung  reden? 

Matisse  kam  sehr  friih  auf  Sonnenwegen  zu  seinen  Farb- 
fleckergebnissen . 

Hier  sei  Beccafumi,  Sienas  spater  Kolorist,  nicht  iibergangen. 
Viel  Modernes  ist  in  seinen  wenigen  besten  Bildem  enthalten. 
Von  allem  sah  er  die  Welt  pflanzenhaft ; im  Sinn  grosser  Palm- 
blatter  gruppierte  er  Menschen  und  Wolken  zueinander.  Der 
Wedel  gab  ihm  iiberhaupt  seine  Stildeutung  ein.  Spontan  wieg- 
sam,  noch  selbstandiger  als  bei  Greco,  genau  tastbar  verteilt, 
bluteten  seine  Farbentatsachen  auf.  In  den  Gesamtheiten  har- 
monisierte  er  zwar  Farbe  und  Vorgang,  aber  alle  Farbe  hatte 
auch  eine  Willkiir  inne ; war  oft  eine  Plotzlichkeit,  keine  Ein- 
ordnung  wie  bei  Matisse : aber  grade  durch  diese  Plotzlichkeit 
war  in  ihr  etwas  wie  Vorahnung  der  absoluten  Farbe.  Ein  gross- 
artiges  Farbenabenteuer  wurde  damals  in  der  toskanischen  Hiigel- 
stadt  angefeuert.  Ein  wundervolles,  farbengetragnes  Empor- 
dunkeln  der  mystischen  Seele  Toskanas:  dazu  ein  taumelndes 
Irrlichtern  von  Farbenzerlegbarkeiten,  wie  dann  viel  spater 
durch  Delacroix. 

Matisse  bleibt  einfach,  fast  sachlich.  Rhythmus  und  Farbe 
stiitzen  einander  voll  von  Selbstverstandlichkeit.  Lose  Tanz- 


196 


Theodor  Doublet  * Matisse 


gewinde  von  Menschen  oder  Blumenkranzen  werden  leicht  hin- 
gemalt,  beinahe  behaucht.  Festere  Laubgefiige,  Waldlichtungen 
mit  erdbeerrosa  Boden  sind  stolz  auf  ihre  Baumumgebung  mit 
satterem  Farbenausdruck.  Oft  bereichem  das  kraftige  Bildnis 
einer  gemalten  Person  zartersonnene  Stilleben  vor  Spiegeln  um 
Geranktapeten,  auf  zartlich  iibersamteten  Tischen.  Dieser 
Wechsel  von  Rhythmen  bringt  Reichtum ; eine  vollgewollte  Har- 
monie  verwogt  das  Sanftmelodische  der  Einzelgefiige.  Aber 
immer  erganzen  sich  Rhythmus  und  farbiger  Ausdruck,  nur 
haufig  zwiefach,  ja  vielfach  auf  dem  gleichen  Gemalde. 

Den  Reichtum  durch  eine  Art  plastischer  Fuge  brachte  der- 
einst  Paolo  Veronese.  Perlmutterhaft  schillert  der  Himmel  iiber 
sein  Italien  zwischen  zwei  Meeren.  Traumhaft  blauaugelt  sein 
Graugriin  hinauf  zu  einer  wahrhaftenNachmittagssonne.Traurig 
blaugraut  es  durch  seine  froh  begeisternden  Himmelseinblicke. 
Windhauche  verlieben  sich,  lilasanfter  noch  als  bei  Giorgione, 
in  blauverwunderte  Gebiischvertraulichkeiten.  Lilagriines  Ge- 
wolk  wittert,  vielleicht  halb  wetterleuchtend,  das  Nahe  eines 
Meeres.  Das  ist  das  Perlmutternde  in  der  Natur. 

Beim  Raub  der  Europa  wirds  am  anschaulichsten,  wie  sich 
Veronese  mit  einer  Farbensymphonie  triumphatorisch  seiner 
eignen  Komposition  entgegenstellt.  Von  dem  in  den  Fleisch- 
farben  niisternden  Maul  des  Stieres  geht  er  farbenverschwen- 
derisch  aus,  um  sein  Europaertum  liberall  goldig,  blond  oder 
briinett,  im  Bild  hervorblitzen,  heraustaumeln  zu  lassen. 

Tiepolo  verstand  ihn,  griff  nach  dem  Motiv  des  Raubes  der 
Europa  und  turmte  einen  Aufbau  aus  Farben  seinen  Kom- 
positionen  der  vier  Weltteile  im  Wiirzburger  Schlofi  entgegen. 

Auch  hier  sind  die  hauchenden  Fleischteile  des  Stieres  aus- 
schlaggebend.  In  ihren  Farben,  den  europaischen,  dammern 
gelbrote  Uberraschungen  aus  Brokat  und  Wolkenbombast. 
Fleischfarbne  Kleider,  Tiere,  halbblasses  Europalicht  flimmert 
aus  alien  Ecken  und  Schlitzen,  die  zufallig  von  der  Komposition 
getragen  werden,  sie  aber  eigentlich  unterbrechen,  auseinander- 
splittern.  Europas  Wesen,  ihr  nacktes  Mitgerissenwerden,  be- 
stemt  herrisch  die  Riesenflache,  indem  es  sie  aber  gleichzeitig 


Theodor  Ddubler  * Matisse 


197 


fleischrosa,  trunkenviolett  hervorsprenkelnd  zersetzt,  zerge- 
wittert . Sie  selbst,  das  Weib,  wie  es  in  die  Komposition  ein- 
gesetzt  ist,  konnte  beinahe  iibersehen  werden. 

Amerika  bei  Tiepolo  in  Wurzburg : keine  wilden  Tanze  am 
Potomac,  keine  Affenumziige  mit  Papageifederfachern  in  den 
Antillen,  sondem  Europaer,  rostrot  im  Halbschatten,  tragen 
braunrote  Ballen  Ware,  Karawanen  von  Rottunken  heriiber 
ins  einstige  Land  der  Rothaute.  Sie  ziinden  sich  selbst  hier, 
iiberm  grofien  Wasser,  ein  rotes  Herdfeuer  an.  Dem  Farben- 
aufmarsch  in  Rot  setzt  sich  ein  vorwegkomponiertes  Formen- 
land  entgegen.  Es  wird  aber  vom  Rot  erobert. 

Afrika  bleibt  noch  lange  die  Welt  der  Schatten  und  ihrer 
wunderbaren  lila  Blauheiten.  Das  Schattenland  bei  voller 
Prachtsonne ! 

Ernst  Barlach  machte  mich  darauf  aufmerksam,  dafi  Schmet- 
terlinge  die  Bringer  einer  Farbenfuge  sind.  Die  bunte  Bespren- 
kelung  dieser  Tiere  unterstiitzt  keineswegs  immer  die  Zeichnung 
ihrer  Fliigel.  Sie  bebunten  sich  oft  aus  blofier  Farbentollheit. 
Dadurch  werden  aber  die  Schmetterlinge  unsichtbarer ; ihre 
Zeichnung  fallt  im  Kunterbunt  der  Natur  weniger  auf.  Die 
Farbe  schiitzt  ihren  Hervorzauberer.  Sie  wird  absolut  in  der 
Natur ; vielleicht  auch  bei  Vogeln,  zumal  bei  den  brasilianischen 
mitSonnenfleckenkehlen.  Das  Volk  wuBte  das,  denn  es  hat  einen 
Schmetterling  Pfauenauge  getauft.  Also  Farbe  wurde  zum 
Auge. 

Matisse  mufi  Schmetterlinge  lieben.  Er  liebt  so  sehr  Kinder. 
Er  soil  sogar  ein  Tochterchen  haben,  liber  deren  AuBerungen 
er  oft  vor  seinen  Werken  erstaunt  ist.  Seine  Kunst  ist  ja  aus 
Aufrichtigkeit,  aus  Bekenntnis  zur  Farbe  geboren.  Dabei  ist  er 
der  gewissenhaftesteTheoretiker:  Matisse  verlangt  aber  grund- 
satzlich  bloB  Kunst,  das  heiBt : wer  sich  allein  auf  das  Kiinst- 
lerische  in  sich  verlaBt,  wird  immer  voll  von  Naivitat  bleiben. 

In  Miinchen  lebte  bis  vor  kurzem  ein  Kiinstlerkind : der 
Knabe  Andrej.  Er  war  immer  der  Schmetterling  unter  den 
Gespielen;  das  echteste  Kind  und  zugleich  Kiinstler.  Schon 
mit  vier  Jahren  schuf  er  aus  der  Farbe,  ohne  irgendwie  illu- 


Theodor  Ddubler  * Matisse 


198 


strieren  zu  wollen,  ganz  zauberhafte  Gemaldchen.  Man  sagt 
sich  vor  seinem  lieben  (Euvre : aus  demj  ungen  konnte  ein  Matisse 
werden!  An  Matisse,  (lessen  Werk  er  nicht  kennt,  erinnern 
namlich  seine  Bilder  am  allermeisten.  Das  kann  auch  als  be- 
stimmter  Beweis  dafiir  gelten,  da8  Matisse  heute  die  natiir- 
lichste  Kunst  gibt. 

Beim  Beurteilen  jeder  Malerei  sagt  der  kleine  Andrej  immer 
treffsicher,  ob  in  einem  Bild  die  Farbe  aus  sich  heraus  ausge- 
rundet  ins  Bild  hinein  eingerundet  sei. 

Matisse  hat  bereits  seine  groBe  Wirkung  getan:  der  friiher 
erwahnte  Moll  in  Berlin  und  Purrmann  sind  seiner  Richtung 
wichtigste  Vertreter. 

Da  man  durch  ihn  aufs  eigentlichste  Malen  gekommen  ist, 
muB  sein  EinfluB  in  Zukunft  immer  machtiger  in  Erscheinung 
treten. 


Glossen 


199 


GLOSSEN 


Gpitog 

zu  den  cBriefen  an  einen  C oten . 

Es  gibt  Leute,  welche  die  Worte: 
„Ich  bin  nicht  gekommen  den  Frieden 
zu  bringen,  sondern  das  Schwert44  mit 
besonderer  Vorliebe  herausgreifen,  an- 
dere  wieder,  welche  meinen,  Christus 
konne  sich  unmoglich  so  geaufiert 
haben.  Ich  zweifle  keinen  Augenblick, 
daB  er  so  sprach,  sowenig  ich  glaube, 
dafi  er  dabei  an  unsere  heutigen  Stick- 
gase,  Flatterminen  und  Sprengbomben 
dachte.  Aber  ich  weifi  eine  Schlacht, 
zu  der  ich  noch  als  ein  Schatten  jubelnd 
hinstiirmen  wiirde,  tagte  er  endlich,  der 
groBe  Europaische  Bruch  mit  unseren 
Trollen,  unseren  Ab-  und  Unterarten 
und  demTroB  der  Seelenlosen,  deren 
Triumph  das  heutige  Chaos  besiegelt. 
Denn  eines  Tages  werden  wir  es  vor 
uns  herjagen,  das  Heer  der  boswilligen 
Toren  wie  der  Unterwortenen,  nicht 
linger  gewillt,  ihre  Obermacht  zu  er- 
tragen.  Von  langer  Hand  ist  der  Rache 
vorzuarbeiten,  von  jetzt  ab  schon  und 
inmitten  der  unerhorten  Niederlage 
noch,  welche  die  Kinder  des  Lichts  von 
den  Sohnen  der  Finsternis  erdulden. 
Ist  das,  was  sich  heute  ereignet,  etwas 
anderes  als  das  erweiterte  Bild  des- 
jenigen  Krieges,  der  unablassig  auf  der 
Erde  wiitet,  das  Gluck  der  Familien 


untergrabt  und  die  Hauser  niederreiBt? 
Haben  die  Knechtischen  jemals  auf- 
gehort,  den  Besonnenen  zu  verfolgen  ? 
Ist  je  ein  Waffenstillstand  zwischen 
ihnen  gewesen  ? LieBen  sie  je  ab,  den 
Edlen  zu  bedrangen,  auf  daB  er  stixrze 
oder  sein  Wir  ken  wieder  vereitelt  werde  ? 
Kein  Gesetz,  nichts  auf  Erden  storte 
sie  je,  das  goldene  Saitenspiel  seines 
Herzens  zu  zerschlagen.  Wir  wissen 
genug.  Wer  brennenden  Auges  in  diese 
Welt  hineinsah,  dem  ist  dieser  Krieg 
kein  Ratsel,  noch  die  Worte  Desjenigen, 
dessen  Kommen  der  Engelsruf  ver- 
kiindete:  ,,Friede  den  Menschen,  die 
guten  Willens  sind,44  und  der  doch 
gesagt  hat:  ,,Ich  bin  nicht  gekommen, 
den  Frieden  zu  bringen,  sondern  das 
Schwert.44  Die  weit  verstreuten  Wen* 
sc6en  sind  heute  iiberall  die  Unter- 
legenen,  die  ihre  Einigung  noch  nicht 
festlegten,  um  als  das  auserwahlte 
Volk  — furchtbar  genug  — den  FuB 
auf  den  Nacken  der  Schlechten,  der 
Unentwickelten,  der  Unterarten  zu 
setzen,  nicht  mehr  willens,  mit  ihnen, 
die  nichts  so  sehr  scheuen  wie  ihre 
Namen,  die  Herrschaft  iiber  diesen 
Planeten  zuteilen.  Durchalle  Nationen, 
alle  ihre  Schichten  hindurch  ist  der 
„Genius“  dieses  Krieges,  seinem  Cha- 
rakter  entsprechend,  der  Wiirgengel 
der  Besten  gewesen,  der  besten  Sohne 
iiberall,  und  der  ungeborenen  Sohne 


200 


Glossen 


dieser  Sohne.  Fragt  einen  Arbeitgeber, 
wo  immer  I hr  wollt : seine  besten  Leute 
sind  es,  die  er  beklagt.  Rache  fur  sie, 
fur  alle  Prediger  in  der  Wiiste,  fiir  alle 
jene  Staats  manner  auch,  die  — hier 
und  driiben  — mit  reinen  H&nden  in 
diesen  Krieg  gerissen  wurden,  Rache 
fiir  sie  und  ihren  Gram.  Ohre  Er- 
hebung  und  i6r  ZusammenschluB  ist 
die  groBe  Notwendigkeit.  Man  sage 
mir  nicht,  dafi  es  unmoglich  sei.  Ein 
Ruf  dringt  schon  durch  das  Getose. 
Wie  mit  Feuerzungen  ist  schon  die  Luft 
von  den  Stimmen  der  Dichter  erfiillt. 


Inmitten  welcher  Drangsal,  welcher 
Todesnot,  aus  ihren  Graben,  ihren 
Grabem  ach ! haben  sie  nach  der  Herr- 
schaft  des  guten  Menschen  gerufen. 
„Sein  ist  die  Kraft,  das  Regiment  der 

Sterne.44 

Und  es  gilt  nicht  von  Utopien  zu  reden. 
€s  gibi  Heme  QJiopien.  Er  ware  denn 
nur  ein  Utopist  gewesen,  der  nicht  ge- 
kommen  ist,  den  Frieden  zu  bringen, 
sondern  das  Schwert,  und  der  gesagt 
hat:  „Selig  sind  die  Sanftmiitigen,  denn 
sie  werden  das  Erdreich  besitzen.44 

flnnetie  3Cofb* 


‘Besefzt 

Wie  oft,  wenn  ich  mit  dem  alter- 
tiimlichen,  schwerfallig  und  doch  leicht 
dahintrampelnden  Pferde  - Omnibus 
durch  die  Berliner  StraBen  und  durch 
das  Berliner  Leben  fuhr  ,was  mich  immer 
wiedervon  neuem  belebte  undergotzte, 
horte  ich,  vom  altlichen,  gutmiitigen 
Schaffner  auf  bescheidene  und  drollige 
Art  ausgesprochen,  dieses  kleine,  un- 
bedeutende,  aber  im  gegebenen  Mo- 
ment doch  auch  wieder  ziemlich  wich- 
tige  Wort,  das  iibrigens  auch  noch,  der 
Ordnung  und  Genauigkeit  halber,  auf 
einer  Tafel  geschrieben  stand,  die  sicht- 
bar  oder  unsichtbar  gemacht  werden 
konnte.  Hing  die  Inschrift 

~BESETZT 

nett  und  artig  herunter,  so  wuBten  die 
Leute,  daB  einstweilen  niemand  mehr 
einsteigen  und  hinaufklettern  durfte, 
weil  die  Gondel  oder  das  auf  Radern 
rollende  Lustgemach  bereits  beinahe 
bis  zum  Ersticken  voll  war,  ein  bedau- 
erlicher  Tatbestand,  den  die  mahnende 


Tafel  ja  deutlich  genug  ankiindigte: 
„Haltl  Wer  die  auch  immer  sein  mo- 
gen ; bis  hierher  und  nicht  weiter!44 
Mitunter  gab  es  aber  trotz  der  ableh- 
nenden  und  abweisenden  Tafel  starken 
Publikumsandrang,  stiirmisches  Ver- 
langen,  einzusteigen  und  mitzufahren. 
Dann  sagte  etwa  der  diensttuende 
Kammerherr  mit  hoflicher  Stimme : 
„Besetzt,  meine  Herrschaften44,  oder 
er  sagte:  „Bitte  nicht  drangen.  Es  hat 
keinen  Zweck‘\  oder  es  fiel  ihm  viel- 
leicht  ein,  zu  sagen:  ,,Mit  demgrofiten 
Vergniigen,  meine  Damen  und  Herren, 
mochte  ich  Sie  auffordern,  einzusteigen 
und  Platz  zu  nehmen,  aber  es  ist  meine 
rauhe  Pflicht,  Sie  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  daB  der  Wagen  bis  in  die 
kleinste  Ecke  hinein  dicht  mit  Fahr- 
gasten  besetzt  ist.  Entschuldigen  Sie 
sehr,  daB  ich  gezwungen  bin,  Ihnen 
den  EinlaB  und  Durchbruch  zu  ver- 
weigem.44  Wahrend  auf  der  einen  Seite 
gestiirmt  und  angegriffen  und  auf  der 
andem  Seite  abgewunken  und  abge- 
wiesen  wurde,  fuhr  das  Boot  mitten 
durch  all  den  GroBstadtverkehr,  der 


Glossen 


201 


fast  einem  Meere  glich,  immer  ruhig 
und  munter  welter.  Schon  will  wieder 
ein  hastiger  Ungestiimer  aufspringen, 
doch  schon  tont  dem  Kecken  wieder 
das  ruhige  „Besetzt4‘  in  die  Ohren, 
worauf  er  den  FuB  vom  Wagentritt 
wieder  sorgfaltig  zuruckziehen  muB. 

Einmal,  als  sich  der  Omnibus  in 
voller,  schoner  Fahrt  befand,  alles  glatt 
und  fein  dahinging,  niemand  auch  nur 
von  feme  an  einen  Oberfall  oder  an 
einen  Gewaltstreich  dachte,  drang  einer 
hinein,  der  offenbar  von  Haus  aus  ge- 
wohnt  war,  durch  dick  und  diinn  zu 
gehen  und  alles  zusammenzuhauen, 
was  sich  ihm  in  den  Weg  stellen  mochte. 

„Besetzt,  mein  Herr/*  bemerkte  der 
Beamte, 

„Dummer,  bidder  Quatsch/*  ver- 
setzte  der  Monsieur  Draufganger.  Das 
war  ganz  gewifi  einer,  der  es  fur  klug 
hielt,  riicksichtslose  Machtpolitik  zu 
treiben.  „Verzeihen  Sie,  haben  Sie 
nicht  gehort,  was  ich  sagte?*4  fragte 
der  gute  Fahrmann.  Es  ergoB  sich  aber 
auf  sein  armes  Haupt  ein  wahrer  Platz- 
regen  von  Schimpfwdrtem.  Der  An- 
prall  und  die  Oberschwemmung  des 
Unangenehmen  und  Unvorhergesehe- 

tffeut  und  morgen < 

,,Kein  Sturz  zu  Boden  soli  uns  rQckwarts 
biegen, 

Uns  Flatternde,  uns  Wurdige  zu  fliegen." 

&(frtd  ‘Wolftnstein. 

Nichts  kann  klarer  sein,  als  die  Ten- 
denz  der  jungen  deutschen  Kunst. 

Sie  ist  ganz  geistig,  ganz  menschlich, 
in  Leid  und  Emporung.  Der  Januskopf 
dieses  Krieges  strahltin  ihrenWerken — 
wie  Jahrtausend,  h&chste  Anspannung 
der  Kraft : gerade  Stirn,  gerade  Augen, 


nen  waren  so  gewaltig,  dafi  der  gute 
Mann  nachgeben  muBte.  Er  klagte  je- 
doch  und  sagte  folgendes: 

„Das  ist  nun  aber  doch  nicht  recht, 
und  es  ist  ein  Gluck,  dafi  nicht  allc 
Leute  so  sind,  wie  dieser  Herr,  der 
mich  beschimpft,  wo  ich  ihm  doch 
nur  „besetzt*‘  gesagt  habe.  Es  war  doch 
meine  Pflicht,  ihm  das  zu  sagen,  aber 
gewisse  Leute  wollen  alles  zerstampfen 
und  zerdriicken,  wenn  sie  sich  einmal 
irgend  etwas  in  den  Kopf  gesetzt  haben. 
Ich  sage  ja  nicht  zu  meinem  Vergnu- 
gen  „besetzt“,  oder  um  die  Menschen 
zu  argem,  oder  als  wenn  ich  eine 
Schadenfreude  hatte.  Jeder  tut  seinen 
Dienst  und  erfiillt  seine  tagliche  Pflicht, 
und  die  meinige  besteht  nun  einmal 
darin,  daB  ich  „besetzt“  s age,  wenn 
sich  das  so  verhalt.  Da  ist  es  doch  un- 
gerecht,  wenn  man  sich  dariiber  em- 
port.  Es  ist  iiberhaupt  lacherlich,  wie 
schnell  manche  Leute  zomig  werden 
konnen.  Ei  nun  I ich  halte  mich  an  die 
Verniinftigen,  und  diese  sind  gottlob 
und  Dank  noch  nicht  ausgestorben." 

So  sprach  der  Schaffner,  indes  der 
Omnibus  gemiitlich  weiterhumpelte. 

^Robert  Walter . 

tiefstes  Erbarmen : geneigtesAntlitz,  reif 
dem  Ziele  zugewandt,  das  sich  den  in- 
einander  verbissenen  Menschen  unseres 
Erdteils  und  ihrem  wutgeschiittelten 
Elend  langsam  iiber  ein  Meer  von  Blut 
und  Tranen  nahert.  Ahnen  sie  nicht 
schon  die  mystische  Verwandlung  der 
tddlichen  Umarmung  in  den  Bruder- 
kuB  ? Doch.  Alle.die  in  der  Holle  waren, 
die  das  Schicksal  — Name  fiir  unsere 
dunkelsten  Triebe  — zwischen  zwei 
Zeiten  gesenkt  hat  wie  einen  Kessel, 


Glossen 


worm  die  entsetzliche  Metzelsuppe 
brodelt.  Wer  konnte  dieses  Marchen 
des  Grofien  Greuels  erdenken?  Nur 
eine  hollische  Leuchteder  Wissenschaft, 
Psychologe,  Ingenieur  und  Chemiker, 
Industrieller.derTausendevonQuadrat- 
kilometernzumSchachbrett  unter  seiner 
goldenen  Brille  zusammenruckt.  Hydra 
so  weit  wie  groBte  Ebenen,  hoher  als 
die  Gletscher,  der  Teufel  selbst,  der  in 
die  MASCHINE  fuhr,  das  tollschone 
Werk  aufbauenden  Menschengeistes, 
unsern  edelstenStolz,  derStarken  breit- 
atmende  Kraft  und  die  Zuversicht  der 
ScKwachen.  Sie  muBteihnreizen.natiir'- 
lich.  Es  gibt  nichts  Eitleres,  als  den 
Teufel.  Und  dann:  sie  drohte  ihn  zu 
zermalmen!  Da  kam  er  ihr  mit  einem 
Staatsstreich  zuvor.  Er  warf  sich  in  sie, 
er  nahm  ihre  Gestalt  an  und  feierteden 
rasenden  Triumph.  Etliche  scheinen  zu 
glauben,  daB  man  ihn  mit  Weihwasser 
vertreiben  konnte.  Vielleicht  gelang 
solches  mit  denTeufeln  der  guten  alten 
Zeit.  Dieses  Ungetiim,  dem  die  Men- 
schenreste  nur  wie  ein  leichter  rosa 
Schaum  an  den  vollkommenen  ReiB- 
und  Hackzahnen  kleben,  muB  man  zer- 
schlagen. 

Nichts  kann  klarer  sein,  als  die  Tendenz 
der  j ungen  deutschen  Kunst. 

Sie  kampft  gegen  den  Teufel. 

♦ 

Und  also  nicht  mit  lieblicher  Musik. 

Wer  hatte  gedacht^  dafi  aus  Werfels 
Knabenflote  einmalTubatone  brachen  ? 
Friiher  — nicht  wahr?  das  erkennt  Ihr 
jetzt  auch  — hatte  die  Prager  Weis'  doch 
immer  etwas  von  jenem:  t Menschen, 
Menschen  san  wir  alle" . . Vorbei  1 Fern 
sind  sanfte  Kinderwasche,  Eckensteher 
voll  indischer  Philosophic,  nachdenk- 


liche  Fiirstinnen  und  andere  Nahterin- 
nen  im  RosenhagI  Manner,  Manner 
walzen  sich  in  namenlosem  Weh.  Zwi- 
schen  Irrsinn  und  Tod  baumt  sich  das 
starkste  Herz.  Aufsteigt  ein  unterirdi- 
scher  Gesang: 

„Totet  euch  mit  Dampfen  und  mit 
Messern, 

Schleudert  Schrecken,  hohe  Heimats- 
worte, 

Werft  dahin  um  Erde  euer  Leben! 
Die  Geliebte  ist  euch  nicht  gegeben." 

In  Ehrensteins  bitterbose  Rankiine 
stiirzt  der  Jammer  der  Zeit,  und  die 
vordem  noch  recht  handliche  Wermut- 
schale  des  Wiener  Tempelritters  wachst 
ins  Monumentale:  „Der  Mensch 

schreit.4* 

„Verehrungswurdig  schoner  Mond, 
dies  trage  ich  dir  vor: 
unter  den  Tapfersten,  unter  den 
Stiirmenden 

wirft  sich  die  Mine  zerschmettemd 
empor. 

Kannst  du  nicht  helf en  ? 

Ober  zerfleischte  Armeen  der  Ungestalt 
hoher  streckt  sich  der  trauerlose  Wald, 
mogen  die  Heere  einander  verheeren. 
Wald  schiittelt  sich,  mochte  verbrennen, 
Ohne  Dammerschein  verschwarzt  sich 
die  Jahrhundertnacht. 

0 ihr  vertempelten  Kirchen,  feme  des 
Himmels  ungeborenem  Ostrot 
: der  Menschwerdung  des  Menschen, 
wann  bliiht  es  blau 
liber  Blutwolken  dahin?44 

In  einem  gewaltigen  Rezitativ,  dessen 
klasssische  Wendungen  — ein  Kenn- 
zeichen  von  Ehrensteins  Lyrik  — einen 


Glossen 


203 


seltsam  erschiitternden  Kontrast  mit 
ciner  fauchenden  und  bockenden  In- 
tellektualitSt  bilden,  spricht  der  Kriegs- 
gott: 

„Heiter  riesclt  ein  Wasser, 
abendlich  blutet  das  Feld, 
aber  aufreckend  das  wildbewachsene 
Tierhaupt, 
den  Menschen  feind, 
zerschmettere  ich,  Ares, 
zerkrachend  schwaches  Kinn  und  Nase, 
Kirchtiirme  abdrehend  vor  Wut, 
euere  Erde. 


Unabwendbar  eueren  Kinderhanden 
riihrt  euere  Massen  der  Tod. 

Blut  gebt  ihr  fur  Kot, 

Reichtum  fur  Not, 
schon  speien  die  Wolfe 
nach  meinen  Festen, 
euer  Aas  muB  sie  Gbermasten. 

Bleibt  noch  ein  Rest 
nach  Ruhr  und  Pest? 

Aufheult  in  mir  die  Lust, 
euch  ganzlich  zu  beenden!44 

Was  einen  bei  Ehrenstein  schon 
immer  riihrend  packte,  das  plotzliche 
Einbiegen  des  herrischenVersmassesins 
Melodische,  ja  Liedhafte,  die  plotzliche 
Aufldsung  des  gedanklichen  Krampfes, 
erreicht  in  seinem  Kriegsbuch  die 
hochste  Wirkung. 

„0  Wiederkunft  und  Einerlei, 

Schnee  der  grauen  Seele.4* 

„Am  verziickten  Abendhimmel 
Aphroditens  Sterne  sich  zu  Tode 
schlafen.44 

Bechet,  das  radauende  Eichhdrn- 
chen,  das  in  wahnwitziger  Eile  Gedichte 
abtrat  und  dabei  den  Reim  knackte, 


daB  es  ein  Vergniigen  war,  ihm  zuzu- 
sehen,  erschien  plotzlich  viel  merk- 
wiirdiger,  als  selbst  das  ungewohn^ 
lichste  Eichhornchen  zu  sein  pflegt. 
Die  Gedichtbande : „An  Europa44  und 
>9Verbruderung44  sind  Gipfelpunkte 
politischer  Dichtung.  Trotz  Hoher 
Schule  . . . Ich  ertrug  es  nie,  jemand 
Hohe  Schule  reiten  zu  sehn.  1st  es 
denn  nicht  auch  emporend,  ein  Lebe« 
wesen  zu  zwingen,  seine  eigene  Kari- 
katur  zu  exhibieren  und  gar,  sie  ihm, 
ohne  daB  es  die  Schandlichkeit  des 
Scherzes  erkennt,  auf  dem  Wege  der 
Dressur  beizubringen?  Becher  reitet 
Hohe  Schule  auf  der  deutschen  Sprache. 
Ein  Exkurs  in  vergleichender  Liters- 
turgeschichte  wiirde  zeigen,  wie  das 
groBte  Sprachgenie  der  Franzosen, 
Rimbaud,  niemals,  auch  nicht  in  seinen 
gewagtesten  stilistischen  Unterneh- 
mungen,  gegen  die  Grammatik  einer 
Sprache  verstoBt,  die  doch  im  Ruf 
beispielloser  Beschranktheit  steht ; wo- 
hin gegen  Becher,  um  die  Erfiillung 
seiner  kunstlerischen  Absichten  zu  er- 
trotzen,  der  deutschen  Sprache  die 
Gelenke  ausreifit,  sie  durcheinander- 
wirbelt,  und,  wie  ein  Jongleur  mit 
Tellem,  in  der  Luft  Figuren  bilden 
laBt.  Alle  diese  Sprachteile  scheinen 
in  die  absoluten  Befugnisse  ihres  Eigen- 
gewichts  eingesetzt,  kraft  deren  sie  sich 
nach  eigener  Wahl  in  einer  andem 
Sphare  mit  ihresgleichen  zusammen- 
finden.  Becher  spricht  in  Deutsch  ein 
ungefahres  Latein,  Griechisch  und 
Franzdsisch:  gleichzeitig.  Els  geht 
drunter  und  driiber  — und  ist  doch 
aus  einem  GuB.  Dies  Drunter  und 
Driiber,  das  Gemisch,  das  ein  eifern- 
der  Uebhabcr  eine  europaische  Syn- 
these  nennen  konnte,  ist  original.  Das 


14  Vol.  m/2 


204 


Glossen 


Kauderwelschdieser  verziickten  Gram- 
matikeignet  Becher  und  sonst  niemand. 
Es  ist  die  Sprache  eines  Engels,  der 
durch  Mauern  und  Wande  zieht, 
zischenden  Herzens.  Hart  und  Weich, 
NaK  und  Fern  rinnen  zusammen.  Von 
der  deutschen  Sprache  bleibt  nur  eine 
Erinnerung,  nur  soviel  wie  notig  ist, 
um  zum  Sinn  der  hoheren  Tonlage 
durchzufinden.  Wer  sich  die  Miihe 
gibt,  besitzt  bald  den  Schliissel.  Aber 
bei  diesem  Spiel  besteht  immer  die 
Gefahr  einer  fast  gleichzeitig  eintre- 
tenden  Entzauberung.  Ichwiirde  Becher 
mit  einem  Ertrinkenden  vergleichen, 
in  dessen  Him,  wahrend  er  mit  Han- 
den  und  FiiBen  um  sich  schlagt,  unter 
dem  Druck  des  Blutes  die  weifie  Ver- 
ziickung,  die  unendlich  lichte  Klarheit 
sich  verbreitet,  und  ich  ware  iiber  seine 
Zukunft  ziemlich  hoffnungslos,  gelan- 
gen  ihm  nicht  auch  und  noch  immer 
Gebilde,  die  mit  irdischem  Klang  ver- 
weilen,  ohne  Krampf  und  von  keinem 
Rausch  noch  so  sii8  vergiftet. 

„DerKnabewartetaufdieMutterbliite, 
Die  unter  bauschenden  Gewandern 
thront. 

Da  kommt  sie  strahlend  weich:  die 
Mutterbllite, 

Von  keinem  Mann,  von  ihm  nur  fern, 
bewohnt." 

„Ein  wenig  Mond  mit  Firmament  ge- 
mischt, 

StoBe  vonNacht  undTraume  Intervallen. 
DaB  seine  Augen  auf  die  Stadte  fallen, 
Glasem  und  trunken.  Kiihl  ihr  WeiBes 
lischt.“ 

„Sie  streift  ihn  kaum.  Doch  deinen 
dunkeln  Garten 


ole 


Warder  zum  Brautigam  wie  unbemerkt- 
Nun  tanzt  und  wiehert  er  mit  lichten 
Pferden, 

Besingt  den  Mondtag  als  sein  schon- 
stes  Werk. 

Voll  dunkler  Knospen  stehn  in  Brand 
die  Haare  . . . “ 

Fast  jedes  Gedicht  enthalt  solche 
Zeilen,  solche  Strophen.  „An  den 
Frieden4*  ist  heutige  Musik,  Musik 
noch  im  unmelodischen  Ausruf  der 
letzten  Zeile  (wenn  auch  nicht  eins 
der  starksten  Gedichte): 

„0  siiBester  Traum,  der  streicht  wie 
Sommer  lind! 

Doch  bald  muBt  du  wohl  mehr  sein 
als  ein  Ahnen. 

Da  bliiht  er  auf  wie  kleinster  Duft 
von  Wind. 

Ein  Engel  durch  der  Leichen  Schlucht 
sich  bahnend. 

Dein  Tag  — : er  wolbtl  Die  Stadt 
birst  vor  Gelaut. 

Der  Sonne  FluB  erbraust  in  jeder 
StraBe. 

Gemauer  hoch  sprieBt  goldner  Strahl- 
Efeu. 

Fanfarenmunder  Halleluja  blasen. 

Das  Blutgefild  verbaut  zu  weichem 
Beet, 

Zu  Wald  und  See  mit  Stem  und  Wolk 

darein. 

Millionen  Toter  schwarze  Fahne  weht 
Breit  auf  vom  Grund.  Zerpeitschte 
Liifte  schrein. 

Wird  sich  ein  Blitz  zum  Mord  im 
Abend  ziickenl? 

Nein.  Menschen  wallen  Heilige  im 
Chor. 


Glossen 


205 


Auf  Promenaden  mogt  iHr  Frauen 
pfiticken . 

Ein  Bund  von  Freunden  tritt  im  Plata 
hervor. 

Ihr  — : laBt  un»  gern  vom  ewigen 
Frieden  redeni 

Ja,  wissend  sehr,  daB  er  Gestalt  gewinnt 

Noch  siiBester  Traum  nur.  Unsre 
Hande  jSten 

Das  Unkraut  aus,  das  jenen  Weg  be- 
spinnt. 

Erton  o Wort,  dasgleich  zur  Tat  gerinnt  I 

Das  Wort  muB  wirken  I Also  laBt  uns 
reden  11 M 

* 


filbert  Gbrenstem:  „Der  Mensch 
schreit44 ; Johannes  *R.  ‘Beefier:  „An 
Europe*  4 und „ Verbriiderung/'Alle  drei 
bei  Kurt  Wolff  in  Leipzig,  davon  „Ver- 
briiderung44  in  der  Sammlung  ,,Der 
jiingste  Tag.44  — 

Bei  Georg  Muller  in  Miinchen  ein 
neuer  Gedichtband  (CfieodorcD&ubterz; 
„Hymne  an  Italien44,  ein  groBe,  schons 
'edrucktes  Buch  voll  stolzer  Verse,  die 
auch  dem  Krieg,  ohne  die  geringste 
Resignation,  die  Stirne  bieten.  — 

9teinri<£  ‘IJlann  hat  in  Prag  seinen 
Essai  iiber  Zola  vorgelesen,  der  im 
Novemberheft  der  WeiBen  Blatter  ent- 
halten  war.  Die  „Aktion*4  vom  8.  Juli 
veroffentlicht  die  einleitenden  Worte, 
die  Heinrich  Mann  dabei  sprach,  sowie 
eine  kurze  Vorbemerkung: 

,,Die  folgenden  einleitenden  Worte 
wurden  in  Prag  gesprochen  vor  Deut- 
schen und  Tschechen,  die,  sonst  selten 
in  einemSaal  vereinigt,  mirgemeinsam 


Man  sehe  die  letzten  Werke  der 
jungen  deutschen  Kunst,  man  durch- 
bl&ttere  die  Zeitschriften,  in  denen 
ihre  zwanzig  besten  Vertrcter  schrei- 
ben  und  zeichnen,  und  man  wird  be- 
statigt  finden,  was  ein  Franzose,  der 
sich  um  Deutschland  leidenschaftlich 
kiimmert,  kiirzlich  voll  Erstaunen  be- 
merkte:  „Sie  haben  vor  dem  iibrigen 
Europa  einen  Vorsprung  gewonnen, 
den  in  naher  Zeit  alle  Zungen  preisen 
werden  ,44 

Der  Anfang  ist  gut. 

Allen  Narren  zum  Trotz  wird  mit 
dem  Frieden  der  europaische  Morgen 
dimmern.  Wir  werden  uns  seines 
Lichtes  nicht  zu  schamen  brauchen. 

‘R.  S. 

dieEhreerwiesen  hatten.  DieTschechen 
sind  ein  wertvolles,  weil  freiheitliches 
Element  in  dem  Umkreis  der  Volker, 
die  an  dem  deutschen  Gedanken  Anteil 
haben  und  kiinftig  die  menschliche 
Grundlage  unserer  Arbeit  sein  sollen. 
Sie  suchen  jetzt,  aus  Einsicht  und  tak- 
tischer  Klugheit,  eine  Lebensmoghch- 
keit  mit  den  Deutschen.  Und  mir  war 
es  erwiinscht,  nach  Kraften  verbindend 
zu  wirken  in  einem  Augenblick,  wo 
Sprechen  und  Schreiben  fast  immer  nur 
geschieht  um  zu  trennen. 

Meine  Damen,  meine  Herrenl  Sie 
wissen,  daB  Emile  Zola  ein  sehr  grofies 
Werk  geschaffen  hat,  es  sind  20  Bande. 
Jeder  von  Ihnen  kennt  einiges  und  hat 
eine  Vorstellung  von  der  ungewohn- 
lichen  Masse  geformten  Stoffes,  be- 
waltigter  Arbeit,  die  das  Ganze  darstellt . 
Sie  wissen  auch,  der  Stoff  ist  das  franzd- 
si  sc  he  zweite  Kaiserreich,  seine  mensch- 
liche Geschichte,  derBau  und  Betrieb 
seines  inneren  Lebens,  d.  h.  also,  Ge- 


206 


dossen 


sell  $c  ha  ft,  Familie,  Wirtschaft,  Arbeit, 
der  Proletarier,  die  Besitzenden,  die 
Fiihrer,  die  Frauen,  alles  was  ein  Ge- 
schlecht  und  ein  Reich  ausmacht.  Durch 
diesen  Stoff  nun  bekommt  die  groBe, 
vom  Verfasser  derRomane  Les  Rougon- 
Macquart  geleistete  Arbeit  sofort  einen 
ganz  bestimmten  Sinn.  Das  zweite 
Kaiserreich  namlich  hat  schlimm  ge- 
endet,  mit  einer  Niederlage,  einem  Zu- 
sammenbruch,  einer  Katastrophe  von 
seltener  Vollstandigkeit.  Da  aber  die 
Reiche  doch  nicht  zufallig  zusammen- 
brechen,  muBte  dieses  viel  gesiindigt 
haben,  es  mufite  mit  viel  Unrecht  be* 
laden  sein  und  mit  viel  Luge.  So  ergab 
sich  fiir  Zola  die  Notwendigkeit,  nicht 
nur  eine  hervorragende  Arbeitskraft  zu 
betatigen,  sondem  auch  eine  ungemeine 
Wahrheitsliebe.  Seine  Arbeit  schuf  nicht 
nur  Werke,  sie  erhartete  Wahrheiten. 
Die  Wahrheit  wurde  die  Seele  seiner 
Arbeit.  Dies  ist  der  Sinn  des  Namens 
Naturalismus,  den  nicht  eben  Zola 
selbst  seinem  Werk  beilegte,  aber  den 
erauch  nicht  ablehnte,  trotz  dem  Ihnen 
bekannten  Beigeschmack  des  Wortes. 
Naturalismus,  nicht  wahr,  der  Begriff 
umfaBt  auch  das  Peinlicheder  Wahrheit, 
er  bedeutet  alles  in  allem  etwas  Un- 
zartes,  darwinistisch  Rauhes,  Unver- 
bliimtes,  das  nicht  jedem  ohne  weiteres 
zugemutet  werden  darf.  Und  dabei 
hatte  das  franzosische  zweite  Kaiser- 
reich, das  Zola  darstellte,  doch  so  lie- 
benswiirdige  Seiten,  einen  glanzvollen 
Hof,  eine  reiche  und  hochgebildete 
Gesellschaft,  ruhmvolle  Kriege,  grofi- 
artige  Weltausstellungen,  Kunst,  Geist, 
Grazie  so  viel  man  will,  und  alles  dies 
in  einer  gewissen  leichten  Luft,  die 
seither  aus  Europa  wie  verschwunden 
scheint  ...  Ja:  aber  es  ward  gelogen, 


es  ward  so  viel  gelogen,  wie  bis  dahin 
vielleicht  noch  nie.  Unter  dem  Glanz 
ward  Elend  weggelogen,  unter  der 
Macht  Verfall,  unter  Kunst,  Geist, 
Grazie  die  gemeinste  GenuBgier.  Die 
franzosische  Revolution  war  langst  ge- 
wesen,  die  Forderung  der  Demokratie 
lag  langst  bereit  in  alien  Herzen,  — 
dies  Reich  aber  war  ein  Militar-  und 
Klassenstaat,  in  dem  der  Volkswille 
nur  gefalscht  zur  Geltung  kam.  Das 
Reich  bestand  also  eigentlich  entgegen 
dem  besseren  Wissen  der  Zeit,  entgegen 
ihrem  Gewissen.  Und  nicht  anders  war 
es  mit  dem  Reichtum  der  Wenigen  und 
der  Armut  der  Vielen,  die  ohne  den 
vom  besseren  Wissen  verlangten  Aus- 
gleich  blieben,  nicht  anders  auch  mit 
den  Kriegen.  Denn  die  Kriege  des 
franzosischen  zweiten  Kaiserreiches  — 
wir  kdnnen  uns  dies  heute  kaum  vor- 
stellen  — waren  Kriege  der  Machthabcr 
und  des  Kapitals,  zu  denen  man  das 
Volk  nur  vermittelst  faustdicker  Liigen 
iiberreden  konnte.  Wo  aber  die  Dinge 
so  liegen,  dort  sah  ein  Geist  wie  Zola  alle 
Bedingungen  des  Zusammenbruches. 
1 870  wenigstens  war  er  wirklich  erfolgt. 
Kunftig  hiefi  es  wahr  sein  — da  ja  das 
Liigen  nur  Ungliick  gebracht  hatte.  Es 
hieB  den  Staat  so  einrichten,  dafi  er 
dem  Gewissen  entsprach,  ihn  in  t)ber- 
einstimmung  bringen  mit  dem  Stande 
der  Wissenschaft  vomMenschen.  Alles 
muBte  abzielen  auf  das  Gluck  mdg- 
lichst  vieler  Menschen,  und  keineswegs 
auf  ihre  Beschwindelung  und  Ausbeu- 
tung.  Man  muBte  gerecht  sein.  Man 
muBte  wahr  sein.  Nur  so  liefl  sich 
leben  . . . Sie  sehen,  jemand,  der  ur- 
spriinglich  nichts  gewollt  hatte  als 
Romane  schreiben  und  eine  soeben 
abgelaufene  Epoche  schildern,  war  ge- 


Glossen 


207 


rade  durch  seine  Arbeit  dahin  gelangt, 
da6  er  Moralist  ward  und  Erzieher. 
Erzieher  zur  Wahrheit,  also  zur  Ver- 
geistigung.  Erzieher  zur  Giite,  also  zur 
Vermenschlichung. 

Als  Zola  sein  groBes  Werk  dann 
fertig  hatte,  war  er  innerlich  so  sehr 
erhoht  durch  seine  zwanzigjahrige  Ar- 
beit im  Dienst  des  Geistes,  daB  er  un- 
willkiirlich  glaubte,  auch  die  andern, 
auch  die  Welt  um  ihn  her  miifite 
inzwischen  sich  veredelt  haben.  Er 
glaubte,  Wahrheit  und  Gerechtigkeit 
miifiten,  wahrend  er  fiir  sie  schrieb,  in 
der  Wirklichkeit  an  Boden  gewonnen 
haben.  So  war  er  doppelt  bestiirzt, 
doppelt  erbittert,  als  er  sich  plotzlich 
gegenliber  einer  ungeheuren  Ungerech- 
tigkeit  und  einer  maBIosen  Luge  sah. 
Dies  war  die  Dreyfus-Angelegenheit, 
deren  Geschichte  ich  Ihnen  jetzt  ver- 
lesen  will.  Zola  steht  darin  ganz  vorn, 
denn  durch  seinen  langen  literarischen 
Kampf  fiir  die  Wahrheit  war  er  be- 
sonders  gut  vorbereitet,  ihr  auch  im 
wirklichen  Leben  zum  Sieg  zu  helfen, 
wenigstens  dies  eine  Mai.  Und  es  war 
wichtig,  daB  es  ihm  wenigstens  diesmal 
gelang,  denn  er  hat  damit  gegeben, 
was  er  geben  wollte,  ein  groBes  Bei- 
spiel.  M — 

Die  „% eae  Ouaendf*  (Verlag  der 
Neuen  Jugend,  Berlin-Charlottenburg, 
MommsenstraBe  1 1)erscheint  wieder. 
Wieland  Herzfelde  leitet  die  kleine  aus- 
gezeichnete  Monatsschrift.  Programm: 
„Nach  eineinhalbj&hriger  Unterbre- 
chung  verSffentlichen  wir  das  siebente 
Heft  der  , , Neuen  Jugend*  * mit  der 
Erklarung,  daB  der  Inhalt  der  friiher 
erschienenen  Nummern  unsem  jetzigen 
Absichten  nicht  entspricht.  Wir  iiber- 


nehmen  lediglich  den  Titel  der  „Neuen 
Jugend4*  und  die  darin  enthalteneTen- 
denz:  die  Arbeit  junger  Dichter,  In- 
tellektueller,  Zeichner  und  Musiker  zu 
veroffentlichen.  Wir  wollen  eintreten 
fur  alle,  die  in  der  Offentlichkeit  auf 
Opposition  und  Verstandnislosigkeit 
stoBen,  vor  allem  aber  fiir  die  Jiing- 
sten,  die  noch  keinen  Platz  in  der 
heutigen  Literatur  gefunden  haben. 
Da  wir  auf  kulturhistorische,  philo- 
sophische  und  politische  Beitrage  den- 
selben  Wert  legen  wie  auf  kiinstleri- 
sche,  bedeutet  die  f,Neue  Jugend*4  die 
Fortfiihrung  der  Ideen,  die  einerseits 
der  „Neuen  Kunst44  und  der  zweiten 
Zeitschrift  des  ehemaligen  Verlags 
Bachmair,  andrerseits  dem  „Forum4\ 
dem  „Aufbruch44  und  dem  „Anfang44 
zugrunde  lagen. 

Unsern  friiheren  Standpunkt,  ein 
rein  literarisches  Blatt  der  Jiingsten  zu 
sein,  verwerfen  wir:  es  ist  an  derZeit, 
dafi  alle  Geistigen  vereint  dem  aufier- 
sten  Feinde  entgegentreten  I Zunachst 
wird  Kiinstlerisches  im  Inhalt  unserer 
Zeitschrift  allerdings  uberwiegen : Wir 
leben  im  Zeitalter  der  Bekanntma- 
chungen  . . . 

Alle  freiheitlich  Gesinnten  (Exprcs- 
sionisten,  die  Anhangcr  der  Jugend- 
bewegung  . . .)  sollen  in  der  „Neuen 
Jugend44  zu  Wortekommen.  DieGren- 
zen  unserer  Publikation  werden  nur 
bestimmt  durch  die  Tendenz,  die  Zen- 
sur,  den  Umfang  des  Heftes  . . .44  — 

¥.*9.  Douve , dessen  von  der  Nou- 
velle  Revue  Fran^aise  herausgegebene 
Gedichte  „Vous  etes  des  Hommes44 
Ludwig  Rubiner  hier  besprach,  ver- 
dffentlicht  im  Verlag  der  Zeitschrift 
„Demain44  (Genf,  28,  Rue  du  Marche) 


208 


Glossen 


eine  Rapsodie : „Poeme  contre  le  grand 
crime14.  Die  vier  Teile  der  DicKtung 
sind  iiberschrieben : An  einen  toten 
Soldaten,  An  Belgien,  Gesang  auf  das 
Spital,  Tolstoi.  Aus  dem  SchluBgesang 
seien  einige  Strophen  iibersetzt: 

„Schon  spinnt  der  gleiche  Gedanke 
durch  alle  Lander; 

Der  Gedanke  halt  sich  in  der  Schwebe 
und  wartet  in  Leidenschaft,  Mit- 
leid  und  Zorn; 

In  England,  Deutschland,  Frankreich, 
RuBland,  Italien,  in  der  Schweiz 
und  in  Amerika 
Wartet  der  Gedanke. 

In  Serbien,  Belgien,  Holland  und  Nor- 
wegen,  in  Armenien,  in  Indien, 
In  Afrika,  im  Tiefsten  des  iippigen 
Asiens, 

Auf  dem  Boden  der  gealterten  Rassen, 
auf  dem  Boden  der  kindhaften 
Rassen 

Wartet  der  Gedanke. 

Heute,  selbst  heute. 

Wo  ein  Erdteil  stirbt  (das  Reich  der 
Kanone  ist  nur  eine  Erscheinung 
des  Todeskampfes) 

Heute  wie  immer,  iiberallhin  ins  Un- 
endliche  erheben  sich  Menschen; 
Im  Feindesland  wie  in  dem  meinen 
sind  Menschen,  die  denken  und 
fiihlen  wie  ich, 

Sie  weigern,  wie  ich  weigere,  sie  haben 
ihr  Leben  gegeben,  wie  ich  mein 
Leben  gebe, 

Sie  werfen  sich  ins  Handgemenge, 
r einen  Herzens  und  mit  sauberen 
Han  den. 


Schon  stehen  diese  Zeichen, 

Diese  gliihenden  Zeichen  der  Reife  in 
der  Tiefe  der  Nacht  und  der 
schluchzenden  Vslker! 

Die  Parteien  der  Arbeit,  die  Parteien 
des  Menschen  linden  sich  wieder 
Um  die  zusammengesteliten  Waffen 
ihres  Herzens; 

Die  Parteien  des  freien  Glauben  s,  die  der 
Demokratie  und  des  Glucks  ver- 
einigen  ihre  Waffen  des  Herzens. 
Mut  — du  verschwindend  Ideiner 
Hauf  e ! 

Mut  und  Opferbereitschaft  — Ihr 
Wackeren, 

Verfolgte  in  alien  Landern,  Ihr,  die 
der  Polizist  ins  Gefangnis  fiihrt. 

Das  einzige  Mitleid  ist  Lichtes  genug 
— und  wir  konnen  marschieren 
auf  diesem  weitoffenen  Weg.14 — 

Henri  Guilbeaux,  der  Herausgeber 
von  „Demain44,  teilt  im  zweiten  Juli- 
heft  seiner  Zeitschrift  mit,  das s Waiif 
fHyacmtHe  Goqson , dessen  Ekel- 
schrei  in  der  Julinummcr  der  WeiBen 
Blatter  wiedergegeben  war,  beim  Nach- 
richtendienst  des  Auswartigen  Amtes 
in  Paris  angestellt  ist;  er  besorgt  die 
franzosische  Propaganda  im  Ausland. 
Das  ist  sein  gutes  Recht.  Aber  ich  er- 
fahre  gleichzeitig,  daB  Loyson  Romain 
Rolland  in  unwiirdiger  Weise  ge- 
schmaht  hat,  und  das  scheint  mir,  zu- 
mal  jetzt  und  in  seinem  Mund,  eine 
unverzeihliche  Nicdrigkeit. 


Daniel  Henry  ♦ Der  Kubismus 


209 


(Daniel  Dfenry : 

DER  KUBISMUS 

IjIE  Malerei,  ihres  Jahrhunderte  lang  gepflegten  Zweckes 
beraubt  durch  die  Photographic,  sah  sich  gezwungen,  neue 
Ziele  aufzuspiiren. 

Zwei  Versuche  lassen  sich  unterscheiden.  Der  eine  endet  mit 
dem  vorzeitigen  Tode  seines  Urhebers,  der  andere  aber  ist  die 
Wurzel  der  gesamten  modernen  Malerei. 

Den  ersten  unternahm  der  hochbegabte  Georges  Seurat. 
Sein  Streben  liefie  sich  kurz  so  formulieren : um  einen  voll- 
standigeren  Ausdruck  der  Form  zu  erreichen,  als  die  illusio- 
nistische  Darstellungsweise  ihn  kannte,  sucht  er  die  Tiefenrela- 
tionen  in  Flachenrelationen  umzusetzen  und  sie  so  darzustellen. 
Ein  solches  Trachten  steht  dem  der  agyptischen  Malerei  sehr 
nahe,  der  ja  Ahnliches  gelungen  ist.  Auch  Seurats  Wollen  war 
in  semen  drei  oder  vier  Hauptwerken  erfolgreich,  doch  war 
der  Ausdruck  des  Kunstwillens  der  Zeit  noch  nicht  gefunden, 
und  er  schuf  keine  Schule. 

Den  zweiten  erfolgreichen  Versuch  unternahm  Paul  Cezanne. 
Auch  er  sah,  wie  Seurat,  den  neuen  Zweck  der  Malerei  in  einem 
scharferen  Ausdruck  der  Tiefendimension,  aber  anstatt  zu  ver- 
suchen,  sie  durch  Umsetzung  in  Flachenrelationen  auszudriicken, 
betonte  er  im  Gegenteil  das  Dreidimensionale  durch  moglich- 
stes  Ausarbeiten  der  Formen. 

Es  handelt  sich  bei  beiden  um  Abkehr  vom  Illusiomsmus, 
um  das  Ringen,  von  den  Gegenstanden  mittels  der  Malerei  mehr 
auszusagen,  als  die  Photographic  geben  konnte.  Andrerseits 
ist  fur  beide  der  Aufbau  des  Gemaldes  ein  wichtiges  Moment. 


210 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


So  ist  diesen  beiden  Malern  schon  gemeinsam  und  deutlich 
sichtbar  bei  beiden:  der  zwiefache  Charakter  der  modernen 
Malerei,  die  ihren  Zweck  im  getreueren  Erforschen  und  Darstellen 
der  Formen  und  Farben  der  Dinge  gefunden  hat,  als  die  illusio- 
nistische  Kunst  es  vermochte,  sowie  im  strengen  Aufbau  des 
Kunstwerks.  Doch  nicht  das  Einzelding  malt  sie,  sondern,  wenn 
ich  so  sagen  darf,  die  platonische  „Idee“  des  Dings.  Nicht  das 
Individuelle  will  sie  ausdriicken,  sondern  das  alien  gleichartigen 
Dingen  Gemeinsame,  wie  das  auch  die  abstrakten  Kunst- 
aufierungen  der  Vergangenheit  wollten.  Doch  ist  sie  noch  tiefer 
dringend  in  ihren  Untersuchungen  als  diese,  noch  freier  in 
ihrem  Ausdruck,  da  sie  keinem  andern  Zwecke  dient,  sondern 
Selbstzweck  ist. 

Von  Cezanne  ausgehend  finden  wir  Andre  Derain,  der  diese 
Ziele  anstrebt,  indem  er,  wie  Cezanne,  zugleich  eine  noch  ver- 
haltnismafiig  naturahnliche  Erscheinung  bewahren  mochte.  Er 
kommt  so  zu  Ergebnissen,  die  innerlich  und  aufierlich  Ahnlich- 
keit  mit  einer  andem  Ubergangsperiode  zeigen,  mit  dem  Trecento, 
wenn  auch  im  umgekehrten  Sinne.  Ein  tiefedler,  grofier  Kiinstler. 

Auch  Henri  Matisse  ware  noch  zu  nennen,  in  dessen  feiner, 
aber  schwankend-unsicherer  Kunst  sich  Bestandteile  von  Cezanne 
vorfinden,  neben  solchen  von  jiingeren  Kiinstlern,  zu  einem 
Ganzen  verschmolzen,  dessenTendenzeher  an  Seurat  erinnert. 

I. 

DIE  ANFANGE  DES  KUBISMUS. 

Zuvorderst  waren  ein  paar  Worte  iiber  diesen  Namen  zu 
sagen,  dessen  Entstehung  schon  des  ofteren  erzahlt  worden  ist, 
nie  jedoch  ganz  richtig. 

Ein  Schimpfwort  seiner  Gegner  ist  es,  das  — wie  bekanntlich 
auch  dem  Impressionismus  — dem  Kubismus  zum  Namen 
dient.  Zum  Salon  d’Automne  hatte  Georges  Braque  fiinf  Gemalde 
gesandt,  Landschaften  vom  Estaque.  Mit  der  solchen  Korper- 
schaften  eigenen  Feinfiihligkeit  lehnte  die  Jury  zwei  von  ihnen 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus  21  I 

ab,  worauf  Braque  alle  fiinf  Bilder  zuriickzog,  die  somit  hier 
nicht  ausgestellt  wurden.  Mit  der  ganzen  iibrigen  Serie  ge- 
langten  sie  dann  vor  die  Offentlichkeit  als  Einzelausstellung  in 
der  Galerie  Kahnweiler,  einen  Monat  spater. 

Matisse,  der  Mitglied  der  Jury  war  und  daher  die  Bilder 
gesehen  hatte,  erzahlte  seinen  Bekannten,  Braque  habe  „des 
tableaux  avec  des  petits  cubes**  gesandt,  und  zeichnete  zur  Be- 
schreibung  auf  ein  Stuck  Papier  zwei  aufsteigende,  oben  sich 
beriihrende  Linien  und  zwischen  diesen  einige  ^ierecke.  So 
nahmen  sich  Braques  Bilder  aus,  behauptete  er. 

Unter  seinen  Zuhorem  befand  sich  auch  der  Kunstkritiker  des 
„Gil  Bias**,  Louis  Vauxcelles.  Aus  dem  Wortchen  „cube“,  das 
ihm  aufgefallen  war,  pragte  dieser  das  sinnlose  Wort  „cubisme“, 
das  er  erstmals  in  seinem  Aufsatze  iiber  den  Salon  des  Inde- 
pendents anwandte,  auf  zwei  andere  Bilder  von  Braque,  ein 
Stilleben  und  eine  Landschaft.  Sonderbarerweise  fiigte  er  an- 
fangs  dem  Namen  noch  das  Beiwort  „p^ruvien“  bei : „Le  cu- 
bisme  peruvien,  les  cubistes  peruviens,**  was  die  Benennung 
noch  unsinniger  machte.  Diese  Zutat  verschwand  bald,  aber 
der  Name  „Kubismus“  blieb  und  ging  in  den  Sprachgebrauch 
iiber,  da  die  so  bezeichneten  Maler  Braque  und  Picasso  sich 
wenig  darum  scherten,  ob  man  sie  so  oder  anders  hiefi. 

Diese  beiden  Kiinstler  sind  die  ersten  und  groBten  „Ku- 
bisten**.  Im  Werdegange  der  neuen  Kunst,  in  ihrer  Entwick- 
lung  sind  beider  Verdienste  eng  verschlungen,  oft  kaum  zu 
unterscheiden.  Aus  freund-briiderlichenGesprachen  gingmanch 
ein  Fortschritt  der  neuen  Ausdrucksweise  hervor,  den  bald  der 
eine,  bald  der  andere  zuerst  in  seinen  Werken  anwandte.  Ge- 
wiB,  Braques  Kunst  ist  weiblicher  als  Picassos  genial-starkes 
Werk,  neben  der  strahlenden  Sonne  ist  er  der  milde  Mond, 
neben  dem  herben  Spanier  der  anmutige  Franzose. 

Wahrend  Braque  dazumal  noch  den  Ausdruck  durch  die 
Farbe  anstrebte,  mit  Derain,  Matisse  und  vielen  andern,  hatte 
Picasso  im  Jahre  1906  noch  einmal  versucht,  fiir  seinen  Form- 
willen  einen  zureichenden  Ausdruck  auf  naturahnlichen  Wegen 
zu  finden.  Er  schuf  groBe,  mit  illusionistischen  Mitteln  rund- 


212 


Daniel  Henry  * Der  Knbismus 


modellierte,  klassisch  anmutende  Akte.  Seine  pompejanische 
Periode  nannten  es  seine  Freunde.  Aber  sein  Wollen  blieb  un- 
befriedigt.* 

Gegen  Ende  1 906  werden  die  Formen  harter,  kantiger.  Sie 
entfernen  sich  von  der  Natur.  Statt  der  zarten  Rosa,  Hellgelb 
und  Hellgriin  senken  sich  bleischwere  Farben  auf  gewichtige 
Formen. 

Anfangs  1 907  beginnt  er  ein  seltsames,  groBes  Gemalde  mit 
Frauen,  Vorhangen  und  Friichten.  Gliederpuppenhaft  starr 
stehen  die  Akte,  mit  grofien,  stillen  Augen.  Streng  rund  model- 
liert  sind  die  steifen  Leiber.  Im  Vordergrunde,  fremd  dem  Stile 
des  Restes,  eine  kauernde  Figur  und  eine  Friichteschale.  Das 
sind  die  Anfange  des  nun  folgenden  verzweifelten,  himmel- 
stiirmenden  Unternehmens.  Alle  Probleme  mochte  er  auf  ein- 
mal  losen. 

Welche  Probleme  dies  waren,  will  ich  kurz  zu  zeigen  suchen. 
Seinen  Zweck  muBte  er  finden  in  der  Darstellung  der  AuBen- 
welt,  auf  eindringlichere  Weise  als  die  Photographic  einerseits, 
in  strengem  Aufbau  des  Gemaldes  andrerseits.  Aber  hierin 
liegt  ein  Gegensatz.  Der  Aufbau  des  Gemaldes,  das  heifit  die 
Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen  der  AuBenwelt  in  der 
Einheit  des  Kunstwerks,  bedmgt  einen  Formenrhythmus,  der 
mit  der  eng  an  die  AuBenwelt  anschlieBenden  Darstellung  dieser 
AuBenwelt  in  Widerstreit  geraten  kann,  oder  besser : mufi.  Ebenso 
verhindert  das  Streben  nach  Farbenharmonie  im  Bilde  die  Wie- 
dergabe  der  wahren  Farben  der  dargestellten  Dinge. 

Die  naturahstische  Kunst  hatte,  als  Auswegaus  dieser  Schwie- 
rigkeit,  den  Aufbau  des  Gemaldes  vernachlassigt  zugunsten 
der  Naturahnlichkeit  in  den  Formen,  und  den  Bildern  mehr 
durch  Farbenharmonie  den  innern  Zusammenhang  gegeben, 
was  sie  notigte,  die  Lokalfarben  der  Gesamtharmonie  des  Ge- 
maldes zu  opfern.  Die  abstrakte  Kunst  dagegen  hatte  die 
Naturformen  im  Bilde  dem  Formenrhythmus  unterworfen  und 

* Wenn  ich  hier,  und  von  nun  an  ofter,  von  Picassos  oder  Braques  ,,Wollen'\  „Ge- 
danken"  spreche,  so  sei  wohlvcrstanden,  daC  ich  in  Worte  zu  klciden  suche,  was  bei 
dicsen  Kiinstlcrn  nur  innercr  Drang  war  und  hochst  seiten  nur  in  ihren  Gcsprachen  Aus- 
iruck  fand  in  diirren  technischen  Worten. 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


213 


so  Freiheit  gewonnen  zur  Anbringung  von  Lokalfarben.  Die 
Vorlaufer  des  Kubismus,  wie  Cezanne  und  Matisse,  hatten  ihrer- 
seits  in  beiden  Problemen  die  Natur  iiber  Bord  geworfen,  urn 
nur  des  Kunstwerks  urinnerstem  Einheitswillen  zu  gehorchen. 
Die  Folge  davon  war  bei  ihnen  — wie  fur  die  Form  schon  bei 
jedem  abstrakten  Stile  — die  Reformation,  Oder,  wie  es  Kunst- 
blinde  und  Kunstkurzsichtige  heifien:  die  Verzeichnung.  Wie 
erklart  sich  dieser  Vorgang? 

Es  entsteht  hier,  sogleich  beim  Anblick  des  Bildes,  ein  Wider- 
streit  des  Netzhautbildes  mit  den  von  ihm  hervorgerufenen 
Erinnerungsbildern.  Die  Reize  des  Netzhautbildes  rufen  Asso- 
ziationen  hervor,  Erinnerungsbilder  eben,  die  sich  aber  nun  mit 
dem  Netzhautbilde  nicht  decken.  Nach  einiger  Zeit  kann  wohl 
der  Einklang  sich  bilden,  die  nicht  sich  fiigenden  Erinnerungs- 
bilder konnen  unter  die  Schwelle  des  BewuBtseins  gedriickt 
werden : die  Deformation  wird  dann  nicht  mehr  als  solche  ge- 
sehen.  Els  gibt  jedoch  auch  manche  Gemalde,  wie  z.  B.  einige 
Werke  von  Matisse,  wo  diese  Verdrangung  eigentlich  nie  voll- 
standig  stattfindet,  wo  stets  ein  qualendes  Gefiihl  iibrig  bleibt. 
Urn  es  ganz  einfach  zu  sagen : die  dargestellten  Frauen  z.  B. 
bleiben  fiir  den  Beschauer  Mifigestalten,  mag  er  sich  noch  so 
klar  sein  iiber  die  konstruktive  Berechtigung,  ja  Notwendigkeit 
der  Deformation. 

Die  Aufgabe  des  Kubismus  stellte  sich  also  dar  als  eine 
Malerei,  die,  unter  Vermeidung  dieser  Ubelstande,  von  der 
Dinge  Form  und  Farbe  ein  moglichst  eingehendes  Bild  liefere 
und  doch  diese  Mannigfaltigkeit  in  des  Kunstwerks  Einheit  zu- 
sammenfasse.  Was  diese  Aufgabe  noch  erschweren  mufite,  ist 
die  Verunmoglichung  der  konsequenten  Anbringung  der  Lokal- 
farben durch  die  Formengebung  mittelst  Helldunkels.  Da  noch 
keine  Kunst  eine  andere  Formengebung  gefunden  hatteals  eben 
diese  lllusionistische  durch  Licht  und  Schatten  — die  Umsetzung 
derTiefenrelationen  bei  den  Agyptern  ist  nur  ein  Ausweg,  keine 
Losung  — , so  bheb  hier  alles  zu  tun. 

Tollkiihn  greift  Picasso  all  diese  Schwierigkeiten  auf  emmal 
an.  Harteckige  Gebilde  setzt  er  auf  die  Leinwand,  Kopfe  und 


214  Daniel  Henry  ♦ Der  Kubismus 


Akte  zumeist,  in  buntesten  Farben,  gelb,  rot,  blau,  schwarz. 
Die  Farben  sind  fadenfdrmig  aufgetragen,  um  so  als  Richtungs- 
linien  zu  dienen  und  mit  der  Zeichnung  gemeinsam  die  pla- 
stische  Wirkung  hervorzurufen.  Doch  er  konnte  nicht  gelingen, 
der  verwegene  Versuch.  Nicht  als  ob  nicht  auch  diese  Werke 
Picassos  „schon“  seien:  auch  ihnen  wohnt  innedas  geheimnis- 
volle  Ding  an  sich,  wie  alien  Werken  des  Kiinstlers,  dem  die 
Macht  ward,  Schonheit  zu  schaffen.  Aber  das  verfolgte  Ziel  ge- 
winnen  sie  nicht.  Auf  langem,  miihevollem  Wege  erst  ward  es 
erreicht. 

Jedoch,  dies  Mifigliicken  mindert  nicht  Picassos  unsterb- 
liches  Verdienst.  Allein,  von  alien  getadelt  oder  verspottet,  unter- 
nahm  er  das  Wagnis.  Sagte  doch  Derain  damals,  eine  solche 
Malerei  sei  eine  Sackgasse,  an  deren  Ende  der  Selbstmord  stehe. 
Erhangt  werde  man  Picasso  finden  eines  schonen  Tags  hinter 
seinem  grofien  Gemalde.  Und  Braque,  der  Picasso  nocht  nicht 
kannte,  in  sein  Atelier  gefiihrt  durch  Guillaume  Apollinaire, 
erklarte  ihm  offen,  so  zu  malen,  komme  ihm  vor,  als  ob  man 
Petroleum  saufe. 

Dem  mifilungenen  Anlauf  zur  unmoglichen  Losung  aller 
Probleme  zugleich  folgt  eine  kurze  Periode  der  Ermattung. 
Der  fliigellahme  Geist  wendet  sich  rein  formalen  Aufgaben  zu. 
Eine  Reihe  von  Gemalden  entsteht,  in  denen  allein  der  Aufbau 
der  farbigen  Formen  den  Maler  beschaftigt  zu  haben  scheint. 
Vielleicht  spielte  auch  der  Gedanke  mit,  noch  einen  letzten 
Versuch  einer  flachigen  Kunst  zu  machen  in  einer  an  die 
Agypter  erinnernden  Art. 

Im  Friihjahr  1 908  schon  finden  wir  Picasso  von  neuem  fin 
der  Arbeit,  um  nunmehr  die  Aufgaben,  die  er  sich  stellte,  einzeln 
zu  losen,  vom  Einfachsten  ausgehend.  Als  dasWichtigste  erscheint 
ihm  die  Betonung  des  Dreidimensionalen,  die  Anschaulich- 
machung  der  Formen.  Damit  beginnt  er  und  malt  Figuren,  die 
Kongoskulpturen  ahneln,  und  Stilleben  in  den  allersimpelsten 
Formen.  Er  wendet  eine  Perspektive  an,  die  wir  schon  in  Cezannes 
Stilleben  finden,  wo  der  Beschauer,  wie  in  der  gewohnlichen 
europaischen  Perspektive,  gewissermafien  vor  dem  dargestellten 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


215 


Gegenstande  steht,  aber  hdher,  als  dieser.  Diese  Perspektive* 
ermoglicht  eine  vollstandigere  Darstellung  der  Dinge,  deren 
Form  sie  von  vorn  und  von  oben  zugleich  zeigen  kann,  wenn 
sie  sich  nur  leicht  von  der  Naturahnlichkeit  entfernt. 

Das  Farbproblem  ist  ganz  beiseite  gelassen.  Die  Bilder  sind 
fast  monochrom,  ziegelrot,  rotbraun,  manchmal  mit  grauem 
oder  graugriinem  Grunde.  Die  Rundung  der  Formen  ist  mit 
Helldunkel  erzielt. 

Wahrend  so  Picasso  diese  Bilder  in  Paris  schuf  und  im  fol- 
genden  Sommer  eine  Serie  von  Landschaften  gleichen  Geistes 
in  La  Ville  des  Bois  (bei  Creil,  Oise),  malte  Braque  am  andern 
Ende  von  Frankreich,  in  L’Estaque  (bei  Marseille),  die  schon 
genannte  Serie  von  Landschaften.  Keine  Verbindung  herrschte 
zwischen  beiden,  das  Unternehmen  war  ein  ganz  neues,  ohne 

Beziehung  zu  Picassos  Arbeiten  von  1 907.  Wenn  nicht  schon 
durch  die  ganze  Geschichte  der  bildenden  Kiinste  der  Beweis 
geliefert  ware,  dafi  die  Erscheinung  des  Kunstwerks  in  den 
Maschen  des  Satzes  vom  Grunde  gefesselt  liegt,  so  ware  dieser 
Beweis  hier  zu  finden.  Die  angestrengteste  Geistesarbeit  zweier 
Kiinstler,  die  weit  voneinander  entfernt  arbeiten  und  ohne  Ver- 
bindung, tritt  in  die  Erscheinung  in  Werken,  die  sich  auBer- 
ordentlich  ahneln.  Der  gleiche  Vorgang  wiederholt  sich  spater 
noch  oft,  ist  aber  von  dieser  Zeit  an  weniger  auffallend,  weil 
die  im  Winter  dieses  Jahres  begmnende  Freundschaft  der  beiden 
Maler  sich  durch  steten  mindestens  brieflichen  Gedankenaus- 
tausch  zwischen  ihnen  auBerte. 

Mit  den  Gegenstanden  einfachster  Art  muBte  begonnen 
werden,  im  Stilleben  mit  Tellern,  symmetrischen  GefaBen,  mit 
Friichten  und  dergl.,  in  der  Landschaft  mit  viereckigen  Hausern. 
Fur  diese  Formen  muBte  zuerst  ein  plastischer  Ausdruck  ge- 
funden  werden. 

Und  hier  beriihren  wir  die  mittelbare  Wichtigkeit  des  Willens 
beim  bildenden  Kiinstler,  etwas  darzustellen.  Die  Kubisten, 
in  lhrem  Streben,  die  Form,  von  den  einfachsten  Objekten  aus- 

* Bekanntiich  hat  die  japanische  Kunst  cine  ahnliche  Perspektive,  deren  sie  sich  aber 
nur  auf  illusionistische  Weise  und  zu  illusionistischen  Zwecken  bedient. 


216 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


gehend,  moglichst  eindringlich  auszudriicken,  haben  uns  gelehrt, 
die  Formschonheit  der  einfachsten  Gegenstande  wahrzunehmen, 
an  denen  wir  vorher  achtlos  voriibergingen.  Das  namlich  ist 
der  mittelbare  Wert  der  Darsteliung  in  den  bildenden  Kiinsten: 
die  vom  Kiinstler  geschaffene  ,,schone“  Wiedergabe  des  Dinges 
wird  ebenfalls  den  Erinnerungsbildern  einverleibt  und  stellt 
sich  als  Assoziation  ein  beim  Anblick  des  Gegenstands,  Schonheit 
verleihend  dem,  was  zuvor  unser  ..praktisches  Sehen“  gleich- 
giiltig  liefi*.  So  bleibt  die  Schonheit  nicht  eingeschlossen  im 
Werke,  in  das  sie  der  Kiinstler  niederlegte,  sondern  pflanzt  sich 
fort,  mit  ihrem  Abglanze  die  Sinnenwelt  vergoldend. 

,,Natur  und  Kunst“,  schreibt  Holderlin,**  ,,sind  im  reinen 
Leben  nur  harmonisch  entgegengesetzt,  die  Kunst  ist  die  Bliite, 
die  Vollendung  der  Natur,  Natur  wird  erst  gottlich  durch  die 
Verbindung  mit  der  verschiedenartigen,  aber  harmonischen 
Kunst  . . 


II. 

DER  AUFSTIEG. 

Im  Winter  1908  setzt  die  gemeinsam-parallele  Geistesarbeit 
der  beiden  Freunde  ein.  Die  Gegenstande  der  Stilleben  wer- 
den  formenreicher,  die  Akte  gehen  mehr  ins  einzelne  ein.  Die 
neue  Kunst  kann  sich  an  kompliziertereObjektewagen.  Braque 
ist  der  erste,  der  Musikinstrumente  malt,  die  von  nun  an  eine 
so  grofie  Rolle  in  den  kubistischen  Stilleben  spielen.  Friichte- 
schalen,  Flaschen,  Glaser  sind  andere  Motive. 

Die  Farbe  tritt  weiter  nur  als  Hilfsmittel  der  Formengebung 
auf  und  halt  sich  in  harmonischen  Zweiklangen,  Ockergelb  und 
Grau,  Grim  und  Grau.  Die  mit  den  obengenannten  Methoden 
dargestellte  und  moglichst  eindringlich  gestaltete  Form  der 
Dinge  erfahrt  Deformationen  im  Rhythmus  des  Gemaldes,  bei 
Akten  wie  bei  Landschaften  und  Stilleben. 

* Den  gleichen  Dienat  verdanken  wir  dem  Impressionismui  fiir  die  Welt  der  Farb- 
und  Lichtspiele  der  AtmospHare. 

**  ,,Grund  zum  Empedokles.44 


Daniel  Henry  ♦ Der  Kubismus 


217 


Wahrend  des  Jahres  1 909,  dessen  Sommer  Picasso  in  Horta 
(bei  Tolosa,  Spanien)  verbringt,  Braque  in  La  Roche-Guyon 
(an  der  Seine,  bei  Mantes),  wird  die  neue  Formenspracbe  wei- 
terausgebaut  ohne  wesentliche  Veranderungen. 

Im  Friihjahr  1910  versuchte  Picasso  mebrere  Male,  den  so 
gestalteten  Formen  Farbe  zu  geben  (d.  h.  die  Farbe  nicht  nur 
als  Mittel  zur  Formung  zu  verwenden,  sondern  als  Selbst- 
zweck).  Jedesmal  ist  er  wieder  genotigt,  sie  zu  bedecken.  Die 
einzige  Ausnahme  bildet  ein  kleiner  Akt  aus  dieser  Zeit  (viel- 
leicht  18/23  cm  groB),  auf  dem  ein  Tuch  ein  leuchtendes  Rot 
zeigt.  Eme  — wie  wir  spater  seben  werden  — sehr  wicbtige 
Realisierung  Braques  fallt  in  diese  Zeit.  Es  gliickt  ihm,  auf 
einem  Gemalde  an  der  im  Hintergrunde  gemalten  Wand  emen 
vollkommen  naturtauschend  gemalten  Nagel  anzubringen,  mit 
seinem  Schatten  auf  der  Wand.  Auch  die  — schon  bei  Cezanne 
erscheinende  — stete  Anbringung  einer  abscbliefienden  Wand 
bei  Akten  und  Stilleben  ist  von  Bedeutung. 

Im  Sommer,  den  er  wieder  im  Estaque  verbringt,  kann  Braque 
einenSchritt  weitergehen  auf  dem  Wege  der  Einfiihrung  ,,realer“ 
Einzelbeiten  in  die  Einheit  des  Kunstwerks,  ohne  diese  zu  zer- 
storen.  In  einem  Guitarrespieler  dieser  Epoche  finden  sich  zum 
ersten  Male  Buchstaben.  Hier  soli  noch  gesagt  werden,  daB, 
auBer  den  spater  erorterten  Griinden  fiir  deren  Einfiihrung, 
hier  wieder  die  Entdeckung  einer  neuen  Welt  von  Schonheit 
vorlag,  die  in  den  Maueranschlagen,  Firmenschildern  u.  s.  w. 
unbeachtet  scblief,  obwobl  sie  heute  in  unsern  Gesichtsein- 
driicken  eine  groBe  Rolle  spielen. 

DerwichtigereVorgangaber,  der  entscheidende  Schritt  iiber- 
baupt,  der  den  Kubismus  loslost  von  der  bisherigen  ,,Spracbe“ 
der  Malerei,  vollzieht  sich  in  Cadaques  (in  Spanien,  am  Mit- 
telmeer,  nahe  der  franzosischen  Grenze),  wo  Picasso  seinen 
Sommer  verbringt.  Wenig  befriedigt  kehrt  er  zurlick,  nach 
Wochen  qualvollen  Ringens,  mit  unvollendeten  Werken.  Aber 
der  groBe  Schritt  ist  getan.  Picasso  hat  die  gescfifossene  Torm 
dur<£bro<£en.  Ein  neues  Werkzeug  wird  geschmiedet  fiir  den 
neuen  Zweck. 


218 


Daniel  Henry  • Der  Kubismus 

Durch  Jahredes  Suchens  war  bewiesen,  daB  die  geschlossene 

Form  einen  den  Wiinschen  der  beiden  Kiinstler  vollig  genii- 
genden  Ausdruck  nicht  zuliefi,  fur  die  Tiefen dimension,  daB 
Einfiihrung  von  Farbe  sogar  ganz  unmoglich  war.  Auch  storte 
beide  das  Vorkommen  von  Fallen,  wo  die  Deformation  nach 
dem  obenerklarten  Prozefi,  beim  ersten  Anblick  mindestens, 
unangenehm  beriihrte.* 

Diese  Deformationen  waren  aber  unvermeidlich, 
eine  auch  nur  entfernte  Naturahnlichkeit  in  der  Erscheinung 
des  Kunstwerks  beibehalten  wurde.  Mittels  der  vereinigten 
Entdeckungen  Braques  und  Picassos  aus  dem  Sommer  1910 
erwuchs  jetzt  die  Moglichkeit  einer  neuen,  von  all  diesen  Feh- 
lern  freien  Ausdruckweise. 

Einerseits  konnte  durch  Picassos  neue  Methode  eine  deut- 
liche  Darstellung  der  Tiefendimension  gegeben  werden  auf 
nicht  illusionistischem  Weg.  Diese  Darstellungsweise  laBt  sich 
in  ihrer  etwas  spater  erreichten  endgiiltigen  Form  etwa  so  be- 
schreiben:  anstatt  von  einem  angenommenen  Vordergrunde 
auszugehen  und  von  diesem  aus  mittels  perspektivischer  Mittel 
eine  scheinbare  Tiefe  vorzutauschen,  geht  der  Maler  von  einem 
festgelegten  und  dargestellten  Hintergrunde  aus,  einer  Wand 
z.  B.,  von  der  er  dann  in  moglichst  anschaulicher  Weise  eine 
Art  Formenschema  nach  vorn  arbeitet,  mittels  Flachen  etc., 
die  durch  ihre  Stellung  gegeneinander  und  durch  ihre  Richtung 
ein  deutliches  plastisches  Bild  geben.  Eine  solche  Darstellung, 
die  kerne  Naturahnlichkeit  mehr  zeigte,  konnte  so  im  rhythmi- 
schen  Aufbau  des  Kunstwerks  harmonisiert  werden,  ohne  in 
Widerstreit  zu  treten  mit  den  beim  Beschauer  losgelosten 
Erinnerungsbildem.  Was  diese  betrifft,  so  gestattete  die  von 
Braque  gefundene  Einfiihrung  „realer'‘  Einzelheiten  — das 
namlich  war  die  Bedeutung  des  Nagels  und  der  Buchstaben  — 
durch  Anbringung  von  solchen  ‘Reize  zu  schaffen,  die  durch 
Beriihrungsassoziation  in  dem  Beschauer  Erinnerungsbilder 

* Vergl.  hiezu  da s von  Picasso  seibst  oft  erz&hite  Witzwort  seines  Frcundes,  des 
Bildhauers  Manolo:  „Qui  est-ce  que  tu  dirais,  si  en  arrivant  A Barcelone,  tu  trouvais  A 
la  gare  tes  parents  nni  t’attendent  avec  des  gucules  comme  9a 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus  2 1 9 

hervorrief en , deren  Hineinsehen  in  das  Gemalde  diesem  kor- 
perliche  Bedeutung  als  Darstellung  des  gewollten  Gegenstandes 
gab. 

Auch  gestattete  diese  ganzlich  abstrakte  Darstellungsweise, 
falls  dies  zur  vollstandigen  Charakterisierung  eines  Objektes 
notwendig  war,  dieses  nicht  nur  von  vorn  gesehen  — wie  bei 
der  illusionistischen  Malerei  — zu  zeigen,  sondern  auch  gleich- 
zeitig  von  oben,  von  der  Seite  oder  von  hinten,  durch  Neben- 
einanderstellung  dieser  verschiedenen  Ansichten,  ohne  dafi 
dadurch,  bei  geeigneter  Anbringung  der  „Reize“,  beim  Be- 
schauer  der  Eindruck  mehrerer  Gegenstande  entstiinde. 

So  kann  die  neue  Malerei,  anstatt  an  das  mehr  oder  weniger 
enganschliefiend  dargestellte,  von  einem  einzigen  Standorte 
gesehene  optische  Bild  gebunden  zu  sein  — ihrem  Zwecke  getreu, 
den  sie  in  griindlicherer  Darstellung  der  Gegenstande,  als  bisher, 
fand  — , von  dem  Objekte  eine  analytische  Beschreibung  geben, 
oder,  falls  sie  das  vorzieht,  von  ihm  eine  Synthese  schaffen, 
das  heifit  (nach  Kant),  dessen  „verschiedene  Vorstellungen  zu- 
einander  hinzutun  und  ihre  Mannigfaltigkeit  ineiner  Erkenntnis 
begreifen“. 

Es  sei  bemerkt,  dafi,  selbstverstandlich  bei  dieser  wie  bei 
jeder  neuen  Ausdrucksweise  in  den  bildenden  Kiinsten,  die 
Assoziationen  sich  bei  mit  ihr  noch  nicht  vertrauten  Beschauern 
oft  nicht  sofort  einstellen  mogen.  Es  ist  daher  dringend  anzu- 
raten,  kubistische  Werke  stets  mit  beschreibenden  Titeln  zu 
versehen,  wie  „Flasche  und  Glas“,  ..Spielkarten  und  Wlirfel“, 
da  dadurch  der  (von  H.  G.  Lewes)  Praperception  genannte 
Zustand  hervorgerufen  wird  und  dann,  wie  man  annimmt,  in- 
folge  vorhergehender  Tatigkeit,  gewisse  Gehirnzentren  leichter 
als  gewohnlich  auf  die  mit  dieser  Praperception  zusammen- 
hangenden  Sinnesreize  reagieren,  mit  andern  Worten  die  schon 
durch  den  Titel  angeregten  Erinnerungsbilder  sich  rascher  auf 
die  vom  Gemalde  verursachten  Reize  einstellen.  Ich  wiederhole 
es  ubrigens  noch  einmal : diese  ganze  Untersuchung  beschaftigt 
sich  nur  mit  der  Erscheinung,  der  Kunstwert  als  Ding  an  sich 
wird  von  ihr  nicht  beriihrt,  und  die  das  Ziel  nicht  erreichenden 

15  VoL  m/2 


220 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


Werke  der  beiden  Maler  sind  ebenso  „schon“  wle  die  spateren 
Bilder,  die  es  erreichen. 

Nicht  die  Geschichte  des  Kubismus  soil  hier  gegeben  werden ; 
wir  wiirden  den  Rahmen  dieser  Betrachtung  iiberschreiten , 
wollten  wir  die  Entwicklung  der  beiden  Maler  weiter  Schritt 
filr  Schritt  verfolgen.  Da8  der  neue  Stil  sich  mehr  und  mehr 
der  Erscheinung  des  Gemaldes  bemachtigt,  dafi  mehr  und  mehr 
Maler  kubistisch  malen,  ist  bekannt. 

Unter  denen,  die  sich  dem  Kubismus  anschlossen,  sind  begabte 
Maler  und  unbegabte ; auch  im  Kubismus  bleiben  sie,  was  sie 
waren.  Die  neue  Erscheinung  ist  nur  Erscheinung,  unabhangig 
von  ihr  ist  das  Ding  an  sich,  der  Kunstwert.  Doch  notgedrungen 
wird  jeder  begabte  junge  Kiinstler  sich  kubistisch  ausdrucken 
miissen ; er  wird  so  wenig  anders  sich  aussprechen  konnen,  als 
ein  Zeitgenosse  Tizians  hatte  malen  konnen  wie  Giotto:  der 
Kiinstler,  als  Vollstrecker  des  — unbewufiten  — plastischen 
Wollens  der  Allgemeinheit,  geht  stets  auf  im  Zeitstil,  der  Aus- 
druck  ist  dieses  Wollens. 

Wie  die  illusionistische  Kunst  der  Renaissance  sich  in  der 
Olmalerei  ein  Werkzeug  schuf,  das  ihrem  Streben  nach  Wieder- 
gabe  feinster  Einzelheiten  geniigen  konnte,  so  mufite  der  Kubis- 
mus neue  Mittel  erfinden  fiir  einen  ganz  entgegengesetzten 
Zweck.  Er  fand  sie  in  den  verschiedensten  Stoffen,  wie  auf- 
geklebte  farbige  Papierstreifen,  Lackfarben,  Sagemehl,  Wachs- 
leinwand,  Glas  u.  s.  w. 

Auf  der  1910  gefundenen  Grundlage  konnte,  allmahlich  fort- 
schreitend,  auch  die  Farbe  als  solche  in  das  Gemalde  eingefiihrt 
werden,  und  zwar  mittels  des  gleichen  Prinzips  wie  bei  den 
Formen.  Der  Maler  kann  einerseits  dem  harmonischen  Gesetz 
des  Gemaldes  gehorchen  und  auch  die  nie  ganz  vermeidbare 
Verwendung  der  Farbe  als  Helldunkel  zur  Formendarstellung 
ausniitzen — denn  selbst  zur  Anschaulichmachung  des  plastischen 
Schemas  ist  diese  Verwendung  unumganglich  — und  doch 
andrerseits  die  Lokalfarbe  des  Gegenstandes,  sowie  seine  stoff- 
liche  Beschaffenheit  geben,  indem  er  nur  auf  ganz  geringer 
Ausdehnung  die  Lokalfarbe  und  die  Beschreibung  des  Stoffes 


Daniel  Henry  * Der  Kubismus 


221 


anbringt,  was  dank  der  erganzenden  Reproduktion  geniigt,  um 
dem  Beschauer  den  ganzen  Gegenstand  in  seiner  Farbe  und 
seiner  Stofflichkeit  erscheinen  zu  lassen. 

Die,  wie  eben  gesagt,  in  der  Malerei  unvermeidliche  Ver- 
wendung  des  Helldunkels  suchten  Braque  und  Picasso  in  der 
ietzten  Zeit  durch  Verquickung  der  Malerei  und  der  Skulptur 
zu  beseitigen,  das  KeiBt  durch  wirkliches  Hervortreten,  als 
Relief,  der  nach  vorn  gehenden  Flachen,  in  der  gleichen,  flachen- 
haft  offenen  Form,  die  sie  in  der  Malerei  durch  Helldunkel 
hatten  veranschaulichen  miissen.  Die  ersten  Versuche  dieser 
Art  gehen  sehr  weit  zuriick;  hatte  doch  Picasso  schon  1909 
ein  derartiges  Unternehmen  begonnen,  in  der  geschlossenen 
Form  — in  der  es  allerdings  nicht  gelingen  konnte  — mit  einer 
Art  bemalten  Basreliefs. 

Dieses  Streben  zur  Erhohung  des  plastischen  Ausdrucks 
durch  Zusammenarbeiten  zweier  Kiinste  muB  warm  gebilligt 
werden,  entgegen  dem  landlaufigen  Vorurteil.  Mit  Herbart* 
glaube  ich : ..Derjenige  Affekt,  welchen  das  Kunstwerk  durch 
seine  eigenen,  innern  asthetischen  Verhaltnisse  erregen  kann, 
ist  ihm  nicht  zu  miBgonnen ; auch  nicht  das  Zusammentreffen 
des  Ausdruckes,  wo  verschiedene  Kiinste  zusammenwirken 
und  sich  gleichsam  gegenseitig  beleuchten  . . 

Ein  Wort  mochte  ich  hier  noch  sagen  iiber  die  Bezeichnung 
der  Erscheinung  des  Kubismus  als  geometrisch,  die  ja  auch 
dem  Kubismus seinenNamen  eingetragen  hat.  DaB  diese  Kunst 
in  der  Form,  die  sie  seit  1910  hat,  in  ihrer  Darstellungsweise 
mit  der  stereometrischen  Zeichnung  verwandt  ist,  erscheint 
selbstverstandlich.  Ist  doch  ihr  Objekt  eben  jenes  der  stereo- 
metrischen Zeichnung,  das  Monge  so  beschreibt:  „de  represen- 
ter sur  une  feuille  de  papier  qui  n’a  que  deux  dimensions  tous 
les  corps  de  la  nature  qui  en  ont  trois“,  und  dies  auf  eine  Weise, 
die  eine  eindringlichere  Definition  gestattet  als  die  illusionisti- 
sche  Darstellungsweise.  Der  Name  Kubismus  jedoch  und  die 
Bezeichnung  als  geometrische  Kunst  sind  schon  anfangs  1 909 
aufgekommen,  zu  einer  Zeit,  wo  die  neue  Kunst  sich  noch  gar 

* Joh.  Friedr.  Herbart:  „Kurze  Encyklopidie  der  Philosophic”  2.  Aufl.  (Halle  1841). 


222 


Daniel  Henry  » Der  Kubtsmus 


nicht  dieser  Methoden  bediente.  Icb  glaube  daher,  dafi  dieser 
„geometrische“  Eindruck  vor  dem  Kubismus,  wie  vor  jeder 
abstrakten  Kunst,  nur  bei  dem  Beschauer  entsteht,  bei  dem 
aus  Mangel  an  Gewohnheit  der  Assoziationsprozefi,  der  das 
Hineinsehen  von  Gegenstandlichem  zur  Folge  hat,  sich  nicht 
vollzieht.  Els  tritt  dann  eine  Sinnestauschung  ein,  well  dem 
Menschen  gegeniiber  Werken  der  bildenden  Kunst  ein  Objekti- 
vierungsdrang  innewohnt,  da  diese  doch  stets,  das  weifi  er, 
„etwas  darstellen  sollen“.  Die  Assoziationen,  die  mit  Gewalt 
aufgesucht  werden,  rufen  Erinnerungsbilder  hervor  des  einzi- 
gen,  was  zu  den  geraden  und  regelmafiig  gerundeten  Linien 
des  Bildes  zu  passen  scheint,  namlich  geometrischer  Gebilde. 
Die  Erfahrung  hat  gezeigt,  dafi  dieser  geometrische  Eindruck 
vollig  verschwindet,  sobald  sich,  dank  der  Gewohnung  an  die 
neue  Ausdrucksweise,  der  Prozefi  des  Hineinsehens  richtig 
vollzieht. 

Was  die  Regelmafiigkeit  der  Geraden  und  der  Kurven  in 
jeder  abstrakten  Kunst  betrifft,  so  erklare  ich  diese  nicht  aus 
geometrischen  Austiifteleien,  noch  durch  eine  von  vornherein 
vorhandene  Kenntnis  der  Geometrie,  sondern  einfachdadurch, 
dafi  regelmafiige  Gerade  und  Kurven  dem  menschlichen  Arm 
und  der  menschlichen  Hand  angemessenste  und  angenehmste 
Betatigungen  sind,  die  sich  von  selbst  in  der  Kunst  einstellen, 
wenn  sich  diese  von  der  Naturnachahmung  abwendet. 


223 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


H7(ax  (Brod: 

DIE  ERSTE  STUNDE  NACH  DEM  TODE 

EINE  GESPENSTERGESCHICHTE 

I jER  kleine  absonderliche  Zwischenfall  ereignete  sich,  als  der 

Staatsminister  Baron  von  Klumm  an  der  Spitze  einer 
grofieren  Gesellschaft  hervorragender  Diplomaten  das  Palais 
des  Reprasentantenhauses  verlieB. 

Ein  schmachtiger  Mann  drangte  sich  durch  die  Kette  der 
Wachleute,  lief,  alien  sichtbar,  sehr  schnell  oder  iiberpurzelte 
sich  vielmehr  die  breite  Prachttreppe  hinauf,  deren  oberste 
Stufe  der  Minister  eben  betreten  hatte,  und  fiel,  oben  angelangt, 
auf  die  Knie  nieder,  indem  er  ausrief:  „Herr  Minister,  lassen 
Sie  unseren  Feinden  Gerechtigkeit  widerfahren,  und  wir  haben 
den  Frieden!“ 

Baron  von  Klumm  lachelte  verbindlich  und  ohne  jedwede 
Verlegenheit : „Sie  heiBen  — 

, .Arthur  Bruchfe6.“ 

,,Und  von  Beruf  sind  Sie?“ 

Der  Mann  warf  eine  blonde  Haarstrahne,  die  ihm  beim 
Laufen  vorniiber  ins  Gesicht  gefallen  war,  aus  der  Stirne  zu- 
riick:  „Schornstemfeger“. 

,,Mein  lieber  Herr  BruchfeB,  und  wenn  Sie  ihren  Schom- 
steinen  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  werden  sie  Sie  dann 
weniger  anschwarzen  ?“ 

Da  waren  schon  fiinf,  acht,  fiinfzehn  Polizisten  keuchend 
angelangt  und  legten  ihre  Hand  auf  den  sehr  verdutzt  drein- 
schauenden  Bittsteller. 


224 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  T ode 


Inmitten  der  zusammengedrangten  Schar  der  Wiirdentrager, 
die  aus  erleichtert  aufatmender  Brust  jetzt  nachtraglich  den 
Ministerwitz  bekicherte,  war  von  Klumm  schon  weiter  hinab- 
geschritten. 

Ein  braun  abgebrannter  hagerer  Greis  trat  an  ibn  heran, 
hinter  ihm  regten  sich  geschaftige  Gesichter:  „Die  Information 
fur  die  Presse44. 

Der  Minister  blickte  auf,  sah  einen  Augenblick  lang  zogernd 
umher. 

Der  Chef  der  Geheimpolizei  erriet  seine  Uberlegung : „0  ja, 
man  hat  es  allgemein  gesehen  und  bemerkt44. 

„Wurde  von  einem  schwachsinnigen  Individuum  attackiert44, 
diktierte  der  Minister  gleichsam  in  die  Luft.  „Sofort  Wache. 
Schritt  ein.  Attentater  ins  Irrenhaus  gebracht.  Arzte  kon- 
statieren.  Staatsminister  erledigt  wie  sonst  seine  Tagesgeschafte. 
Meinen  kleinen  Scherz  natiirlich  unter driicken . Adieu,  Herr 
Geheimrat.44  — 

„Ich  weifi  nicht,  was  ich an  Ihnen  mehr  bewundem  soli44,  sagte 
Herr  von  Crudenius,  der  Militarattache  einer  verbiindeten 
Macht,  der  bald  hierauf  mit  Herrn  von  Klumm  in  dessen  Wagen 
zur  Botschaft  fuhr,  die  versammelte  Volksmenge  brach  in  Hoch- 
rufe  aus.  „Sie  stellen  ihre  Verehrer  vor  allzuschwere  Aufgaben, 
Ihre  heutige  Rede  im  Reprasentantenhaus,  die  ein  oratorisches 
Meisterstiick  war,  Ihr  schlagfertiges  geistvolles  Aper^u  an  den 
Unbekannten  oder  den  erstaunlich  sicheren  Takt,  mit  dem  Sie 
die  Wiedergabe  dieses  Aper?u  sofort  unterdriickten.44 

, .Routine,  lieber  Herr  von  Crudenius,  nichts  als  Routine. 
Natiirlich  Routine  nicht  im  schlechten  Sinne  des  Wortes,  etwa 
als  Gewissenlosigkeit,  Herzlosigkeit.  Nein,  ich  will  mich  nicht 
iiberfliissigerweise  heruntermachen,  bin  auch  durchaus  nicht  der 
Bescheidenste  im  Land.  Ich  will  nur  sagen : man  lernt  das,  man 
gewohnt  sich  daran,  wie  man  sich  an  alles  gewohnt.  Neunzehn 
Zwanzigstel  unseres  Lebens  sind  bhnde  bewufitloseGewohnheit.44 

..Dasselbe  sagten  Sie  eben  auch  im  Parlament,  Herr  Baron. 
Ich  staune  iiber  Ihren  Mut.  Den  Beifall  der  konservativ- 
nationalistischen  Gruppe  haben  Sie  sich  gleich  anfangs  ver- 


Max  Brod  * Die  erste  Stundc  nach  dem  Tode  225 

scherzt,  als  Sie  gegen  jede  Prestigepolitik  sprachen.  Und  zum 
SchluB  forderten  Sie  wiederum  die  sogenannten  Fortschritts- 
parteien  zum  Widerspruch  heraus,  indem  Sie  das  Stehenbleiben 
auf  Sitte  und  Tradition  riihmten.“ 

„Nicht  riihmten“,  unterbrach  der  Baron,  dessen  kluger  Kopf 
keine  Spur  von  geistiger  Abgespanntheit  zeigte,  wie  es  nach  der 
anstrengenden  fiinfstiindigen  Sitzung  eigentlich  begreiflich  ge- 
wesen  ware.  „Ich  riihmte  nicht.  Ich  stellte  nur  fest.  Stellte, 
wenn  Sie  wollen,  sogar  mit  Bedauern  fest.  Ich  bin  nun  einmal, 
so  weit  kennen  Sie  mich  ja,  ein  fanatischer  Anbeter  von  fest- 
gestellten  Tatsachen  und  Wahrheiten.  Ich  fiihle  mich  ver- 
antwortlich  fiir  das  Wohl  und  Wehe  des  Reiches,  in  des  Wortes 
schwerster  Bedeutung  vor  meinem  Gewissen  ver-antwort-lich. 
Als  verantwortlicher  Mann  muB  ich  niichternste  Realpolitik 
treiben  und  bin  ein  abgesagter  Feind  aller  Ideologien,  mogen 
sie  nun  von  rechts  oder  von  links  kommen,  mogen  sie  chauvi- 
nistisch  mit  dem  Sabel  klirren  oder  aufgeklart  mit  der  Friedens- 
palme  rasseln.  Wahrhaftig,  lieber  Herr  von  Crudenius,  Ideologen, 
Utopisten,  unverantwortliche  Phantasten  halte  ich  fiir  dieargsten, 
die  einzigen  Feinde  der  Menschheit.“ 

Der  Attache  lachte:  „Und  wenn  man’s  genau  nimmt,  haben 
Sie  immerfort  mit  solchen  Leuten  zu  tun,  Sie  Bedauernswerter. 
Der  Mann  auf  der  Treppe  — und  die  Volksmanner  drinnen, 
denen  Sie  die  wahre  sittliche  Wiirde  des  Krieges  erklaren 
muBten  — ist  es  nicht,  im  Grunde  genommen,  immer  ein  und 
derselbe  Feind.  Verkehrtheit  und  iiberspannter  Idealismus  gegen 
die  gesunde  Menschennatur. 

„In  Ihre  Hand  wiirde  ich  den  Auftrag,  meine  Biographie  zu 
schreiben,  mit  Beruhigung  legen“,  sagte  der  Minister  nicht  ohne 
leise  Ironie.  „Sie  haben  mich  sozusagen  heraus.  — Mit  der 
einen  Einschrankung  vielleicht:  Ich  bin  kein  Freund  Ihres 
Handwerks.“  Er  zeigte  auf  den  troddelgeschmiickten  Sabelgriff 
seines  Nebensitzenden.  „Wiewohl  ich  heute  manches  derartige 
gesagt  habe,  weil  ich  es  sagen  muB.  Ich  bin  iiberhaupt  nichts 
weniger  als  ein  Freund  dieses  Krieges,  der  nun  schon  das 
zwanzigste  Jahr  lang  andauert.“ 


226 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


„Aber  Sie  sagten,  unter  dem  Entriistungssturm  der  Sozial- 
demokraten,  dafi  man  sich  an  den  Krieg  vollkommen  gewohnt 
hat.“ 

„Das  sagte  ich,  weil  es  wahr  ist,  einfach  unbestreitbare  Tat- 
sache.  Bester  Beweis : eben  dieselben  Sozialisten  bewilligen  uns 
jedes  Jahr  glatt  unsere  Kriegskredite.  Aber  zwischen  Gewohn- 
heit  und  Freundschaft  liegt  doch  wohl  noch  so  manches,  nicht 
wahr?  Man  hat  auch  iible  Gewohnheiten  und  ich  stehe  nicht 
an,  den  Dauerkrieg  als  eine  solche  iible  Gewohnheit  Europas 
zu  bezeichnen.  — Aber  wer  wagt  es  ernstlich  zu  bestreiten,  dafi 
wir  den  Krieg  restlos  in  die  Reihe  unserer  sozusagen  instinktiven 
Lebensfunktionen  miteingereiht  haben?  Kein  Wunder,  die 
meisten  von  unserer  reprasentativen  Generation  waren  noch 
schulpflichtige  Kinder,  als  der  Krieg  begann.  Wir  sind  mit  dem 
Krieg  aufgewachsen  und  werden  zweifellos  nicht  so  lange  leben 
wie  er.  Die  heutige  Jugend  gar  weifi  gar  nicht,  was  dieser  sagen- 
hafte  Zustand  „Frieden“  bedeutet,  den  sie  nie  erlebt  hat.  Ja, 
wenn  man  es  genau  nimmt,  hat  es  ja  noch  niemals  Frieden  ge~ 
geben,  so  wie  es  meiner  festen  Uberzeugung  nach  auch  nie  einen 
geben  wird.  Es  war  nur  Nicht-Krieg,  ein  durch  geschaftsman- 
nische  Heuchelei  und  kiinstlich  errechnete  Vertrage  iiberklei- 
sterter  Zustand  gegenseitiger  Feindschaft  und  Ressentiments 
zwischen  den  Staaten.  Ein  Schriftsteller,  der  den  Ausbruch  des 
Krieges  als  reifer  Mann  miterlebt  hat,  also  die  Zustande  vorher 
und  nachher  als  Zeitgenosse  wohl  miteinander  vergleichen  konnte, 
ich  meine  Max  Scheler,  der  auf  meine  Anordnung  hin  jetzt  in 
den  Schulen  gelesen  wird,  hat  das  damals  sehr  gut  dargestellt. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  versteckten  und  offenen  Krieg, 
der  dann  nur  das  vorhandene  Hafiverhaltnis  enthiillte,  ist  nach 
diesem  Autor  gar  nicht  so  bedeutend  gewesen.  Ich  stimme  ihm 
in  diesem  Punkte  vollstandig  bei.  Anders  ware  es  ja  auch  gar 
nicht  erklarbar,  dafi  wir  den  Krieg  so  gut  vertragen  und  ihm 
unsere  Organisation  wirklich  liickenlos  anpassen  konnten.  Es 
war  eben  immer  Krieg  seit  die  Welt  besteht.  Krieg  ist  der 
naturliche  Zustand  der  Menschheit,  nur  seine  aufiere  Form 
wechselt.  Schauen  Sie  doch  um  sich,  lieber  Herr  von  Crudenius. 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode  227 

Sieht  diese  belebte  Strafie,  dieser  Andrang  vor  dem  Theater, 
diese  Menschenstromung  um  die  Warenhauser  herum  und  in  sie 
hinein  wie  etwas  Abnormales  aus  ? Unsere  Wirtschaftsmaschine 
arbeitet  nach  Uberwindung  einiger  anfanglicher  Storungen,  die 
uns  heute  kindlich  anmuten,  tadellos.  Der  Export  hat  aufgehort, 
der  innere  Markt  hat  sich  da  fur  erschlossen.  Und  mit  welchem 
Erfolg,  das  sagen  Ihnen  die  niedagewesenen  Dividendenhohen 
unserer  Aktiengesellschaften . Die  Vemichtung  von  Werten  wird 
durch  die  angeregte  Erfindertatigkeit  und  NuWbarmachung 
neuer  Rohstoffe  mehr  als  wettgemacht.  Wir  nahem  uns  dem 
Ideal  des  Fichteschen  geschlossenen  Handelsstaates.  Die  Um- 
schichtung  der  Berufe  hat  sich  leicht  und  radikal  vollzogen.  Der 
Mann  ist  Krieger,  die  Frau  zu  jeder  Art  biirgerlicher  Arbeit 
erzogen,  mit  ihr  das  Heer  der  Alten  und  Untauglichen . GewiB 
bedauert  es  niemand  mehr  als  ich,  daB  jahrlich  einige  hundert- 
tausend  junge  Leute  an  der  Grenze  fallen  mtissen . Aber  ist  denn 
im  sogenannten  „Frieden“  niemand  gestorben?  Wir  haben  es 
ja  durch  eine  zielbewufite  Bevolkerungspolitik,  durch  energische 
Kinderversorgung  im  Staatswege,  Aufhebung  der  Monogamie, 
regulierte  Mannschaftsurlaube  zu  Fortpflanzungszwecken,  durch 
Bodenreform,  Einfamilienhaus,  Kriegerheimstatte,  Gartenstadt 
und  andere  vemiinftige  MaBnahmen,  deren  Durchsetzung  man 
friiher  fiir  einen  Traum  hielt,  dahin  gebracht,  daB  die  Bevolke- 
rungszahl  sogar  einen  prozentuell  hoheren  Jahreszuwachs  zeigt 
als  jemals  und  dafi  der  allgemeine  Gesundheitszustand  sich 
konstant  bessert.  Infolge  Rlickgangs  der  Sauglingssterblichkeit 
ist  sogar  die  jahrliche  absolute  Sterbeziffer  samt  alien  Kriegs- 
verlusten  um  etwas,  allerdings  nicht  viel,  kleiner  als  die  vor  dem 
Kriege.  Bitte,  das  ist  statistische  Tatsache.  Wir  ziichten  heute 
sozusagen  Volk,  wahrend  der  Staat  friiher  unbegreiflicherweise 
geradezu  volksfeindliche  Tendenzen  wie  den  GroBgrundbesitz 
und  unhygienische  Fabrikationsmethoden  begiinstigte.“ 

„Und  wie  erklaren  Sie  dann  trotzdem  diese  allgemeine  Un- 
zufriedenheit,  dieses  nicht  uberhorbare  dumpfe  Grollen  in  der 
Welt,  das  sich  zum  Beispiel  in  solchen  peinlichen  Auftntten 
wie  heute  entladt?*' 


228  Max  Brod  * Die  erste  St  unde  nach  dent  Tode 

„Gewohnheit  ist  noch  nicht  Zufriedenheit.  Sagte  ich  es  nicht 
schon  vorhin?  Der  MenscK  gewohnt  sich  auch  ohne  jede  Zu- 
friedenheit an  das  Furchtbarste,  weil  ihm  keine  andere  Wahl 
bleibt.  Wir  haben  uns  ja  sogar  an  den  Tod  gewohnt.  Lachen 
Sie  nicht.  Ich  meine  das  ganz  im  Ernst.  Wir  als  Geschlecht, 
als  genus  humanum,  machen  uns  gar  nichts  mehr  aus  dem  Tod. 
Und  doch  ist  es,  wenn  man  so  allein,  als  Einzelner  dariiber 
nachdenkt,  ein  entsetzlicher,  ja  unfafibarer  Gedanke,  zu  sterben, 
von  einem  bestimmten  Moment  an  nichts  mehr  zu  fiihlen, 
nichts  zu  denken,  einfach  fur  alle  Ewigkeit,  nicht  etwa  vor- 
iibergehend,  nicht  mehr  zu  existieren.  Wie  mag  es  eine  Stunde 
nach  dem  Tode  in  unserem  Kopfe  ausschaun  ? Und  fiinfhundert- 
tausend  Jahre  nachher?  Und  dabei  ist  dieser  unendlich  lange 
Zustand  des  Nichtseins  doch  fur  jeden  von  uns  sicher,  unaus- 
weichlich,  nicht  etwa  ein  boser  Zufall,  dem  man  vielleicht 
entgehen  konnte,  wenn  man  Gluck  hat,  und  diese  absolute, 
unbedingte  Sicherheit  des  Sterbens  eben  ist  das  GraBlichste 
an  der  Sache.“ 

Der  junge  Offizier  errotete  vor  Bewegung.  „Ich  danke  Ihnen, 
Herr  Baron.  O wie  viel  Dank  schulde  ich  Ihnen  schon,  seit  Sie 
sich  in  der  fremden  Stadt  meiner  angenommen  haben.  Sie 
machen  mich  zu  einem  Menschen.  Ohne  Sie  konnte  ich  nicht 
mehr  Ieben.“ 

„Sie  haben  sich  nur  an  mich  gewohnt,  lieber  Freund.  Alles 
ist  Gewohnheit!“ 

,.Nein,  ich  liebeSie,  Sie  sind  meine  einzigeStiitze“,  erwiderte 
Crudenius  feurig.  „Ich  habe  es  schwer  ertragen.  schwerer  als 
Sie  es  ahnen,  aus  meiner  Heimatstadt  herausgerissen  zu  werden, 
von  meinen  Eltern  weg,  die  ich  verehre,  aus  dem  Kreis  lieber 
Kameraden,  hieher  an  eirren,  sagen  wir  es  offen,  steifen,  zere- 
monidsen  Hof,  dessen  Sprache  ich  kaum  verstand.  Sie  haben 
mich  oft  dieser  Sentimentalitat  wegen  ausgelacht  . . .“ 

, Ja,  das  tue  ich  noch  heute.  Die  Welt  ist  doch  gleich,  hier 
wie  dort,  die  moderne  Welt  zummdest.  Uberall  gibt  es  Schlaf- 
wagen,  Badezimmer,  Untergrundbahnen,  Beton,  Asphalt,  die- 
selben  eleganten  DamenkostUme,  sogar  dieselben  Parfiims.  Der 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


229 


modeme  Mensch  findet  uberall  das,  was  seinen  Gewohnheiten 
entspricht.  Ich  sehe,  von  geographischer  Lange  und  Breite 
abgesehen,  gar  keine  Unterschiede  zwischen  unseren  heutigen 

GroBstadten." 

,,Aber  doch  zwischen  den  Volkern.  Sonst  gabe  es  ja  keinen 
Krieg.“ 

Der  Minister  warf  sich  mit  humoristischem  Schreck  in  seinem 
Sitz  herum : Wehe  mir ! Sind  das  die  Erfolge  meines  Niichtern- 
heitskursus,  den  ich  Ihnen  seit  Monaten  vordoziere?  — Auch 
Sie  fallen  also  immer  noch  auf  solche  Phrasen  herein,  wie  die 
vom  verschiedenen  Geist  der  Volker,  verschiedenen  Ethos  der 
Rassen?  Nein,  nein,  — gerade  gegen  solche  Unterstellungen 
zu  protestieren,  das  ist  ja  der  bescheidene,  aber  doch  vielleicht 
nicht  ganz  unwesentliche  Sinn  meines  Lebens.  Lemen  Sie  doch 
endlich,  mein  Herr,  daB  die  Notwendigkeit  dieses  Krieges  nicht 
beruht  auf  Volkerverschiedenheiten,  die  ich  jain  mikroskopischen, 
wirkungslosen  Ausmafien  zugebe,  sondern  gerade  auf  der  un- 
erbittlichen  Gleichheit  aller  Volker,  die  mit  ihren  identischen 
Lebensnotwendigkeiten  einander  immanenterweise  den  Raum, 
die  Entfaltungsmoglichkeit  streitig  machen  miissen.  Gleiche 
Bediirfnisse  widerstreben  einander  eben,  solange  die  Erdober- 
flache  nicht  mehrmals  iibereinander,  wie  Orgelklaviaturen,  so- 
lange sie  nicht  so  oft,  als  es  Volker  gibt,  vorhanden  ist.  Weil 
jedes  Volk  in  einem  fernen  Zeitpunkt  die  ganze  Erdoberflache 
fur  sich  allein  brauchen  wird.  Und  das  um  so  schneller,  je  besser 
und  starker  es  ist,  je  entwicklungskraftiger,  je  sittlicher.  Und 
dann  kommt  irgend  so  ein  armer  Teufel  gesprungen  und  ver- 
langt  von  mir  emphatisch,  ich  solle  „den  Feinden  Gerechtigkeit 
widerfahren  lassen“.  Das  tue  ich  ja,  habe  ich  stets  getan.  Meinen 
Sie,  ich  billige  die  abscheulich  verhetzende  und  unanstandige 
Sprache,  die  unsere  Tagespresse  gegen  die  Gegner  fiihrt?  Hoch- 
stens  als  Kampfmittel,  um  die  Energie  unseres  Volkes  wach- 
zuhalten,  na  ja,  da  ist  sie  unentbehrlich,  ebenso  unentbehrlich 
wie  Minen  und  Flammenwerfer,  die  ja  an  sich  auch  nicht  gerade 
sympathische  Dinge  sind.  Aber  es  ist  doch  naiv  zu  glauben, 
daB  wir  von  der  Regierung  aus  das  auch  wirklich  denken,  was 


230 


Max  Brod  ♦ Die  ersie  Stunde  nach  dem  Todt 


wir  da  iiber  „Barbaren“  und  „Heuchler“  schreiben  lassen. 
Nein,  wir  sind  gerecht,  wir  erkennen  den  Wert  und  das  Recht 
der  Feinde  vollkommen  an.  Aber  eben  je  gerechter  wir  sind, 
desto  klarer  erkennen  wir,  obne  jeden  HaB  und  jede  Verbitterung, 
daB  auch  wir  Wert  und  Recht  auf  unserer  Seite  haben,  daB  es 
eben,  Gott  sei  es  geklagt,  nicht  ein  Recht,  sondem  zwei  und 
mehrere  Rechte  auf  der  Welt  gibt,  daB  unsere  realen  hand- 
greiflichen  Interessen  — und  nur  auf  die  kommt  es  an,  nicht 
auf  irgendwelche  Erdichtungen  — mit  den  ebenso  hand- 
greiflichen  Interessen  der  Feinde  kollidieren,  daB  die  Volker 
kampfen  miissen,  weil  sie  atmen  miissen  und  solange  sie  eben 
atmen  wollen.  Ebenso  wie  auch  der  gerechteste  und  gutmiitigste 
Schomstein  nicht  umhin  kann,  RuB  zu  erzeugen.  1st  denn 
wirklich  jemand  so  kurzsichtig,  der  das  nicht  einsieht,  diese 
ganz  reale,  unumstoBliche  fragile  des  mens<£[i(£en  Caseins? 
Ich  mufi  sagen,  wer  das  nicht  einsieht,  der  ist  auch  ein  schlechter 
Christ.  Der  Leim,  aus  dem  wir  gebildet  sind,  ist  schon  ver- 
dammlich,  sagt  Luther.  Die  Essenz  des  Menschseins  ist  nun 
eben  nichts  als  bose  Begierde,  ist  Erbsiinde,  und  mir  erscheint 
sehr  oberflachlich,  wer  den  traurigen  Zustand  der  Menschheit 
auf  ephemere  Regierungsfehler,  Unehrlichkeit,  Beschranktheit, 
Eroberungssucht  einzelner  zuriickfiihren  will,  statt  auf  diesen 
dunklen  Urgrund  alles  Menschlichen,  auch  des  bestgemeinten, 
wohlwollendsten.  Sehen  wir  doch  der  Wirklichkeit  ganz  sachlich 
ins  Auge ! Der  Kirchenmann  entsagt  der  ganzen  Welt  auf  einmal. 
Das  ist  ein  Weg.  Der  Staatsmann  aber,  dem  dieser  Weg  nicht 
erlaubt  ist,  weil  er  ja  das  Weltliche  in  der  Welt  lenken  soli, 
und  der  dabei  ein  ebenso  guter  Christ  sein  will,  wie  der  welt- 
fliichtige  Asket,  muB  sich  ganz  klar  dariiber  sein,  daB  seine 
MaBnahmen  niemals  Aufhebung  des  Krieges,  iiberhaupt  des 
menschheitlichen  Leidens  und  Ungliicks  bezwecken  konnen, 
sondern  nur  — wie  soil  ich  es  nennen  — erne  bessere,  inten- 
sivere  Organisation  des  Ungliicks.  Mehr  nicht.“ 

Sie  waren  am  Botschaftspalast  angelangt.  Der  Offizier  stieg 
aus  und  verabschiedete  sich.  — „Ich  muB  sagen“,  schloB  der 
Minister  „mich  hat  gerade  der  Krieg  dieses  richtige,  todlich 


Max  Brod  * Die  erste  Slunde  nach  dem  Tode 


231 


emste  Christentum  gelehrt,  die  erhabene  Religion  des  Leidens.— 
A propos,  Sie  kommen  doch  heute  nach  zehn  Uhr  noch  zu 
meiner  Bridgepartie?  Die  schone  Gabriele  wird  da  sein,  auch 
Ihr  Nannerl  hab  ich  eingeladen.“ 

Im  Ministerium  wartete  eine  lange  Reihe  vortragender  Rate. 
— Baron  von  Klumm,  dessen  Fleifi  und  Sorgfalt  geradezu 
sprichwortlich  waren,  pflegte  nach  Parlamentssitzungen  die 
verlorene  Zeit,  wie  er  sagte,  nachzuholen  und  gonnte  sich  dann 
oft  bis  spat  in  die  Nacht  keine  Ruhe.  So  losten  einander  auch 
an  diesem  Abend  in  seinem  Biiro  Referenten,  Konzipienten, 
telephonische  Anrufe  und  Diktate  ab.  Eine  Abordnung  aus  dem 
eroberten  Gebiete  wurde  empfangen,  brachte  Bitten  undWiinsche 
vor.  Der  Baron  notierte  einige  Biicher  und  Broschiiren,  die 
hiebei  mehrmals  erwahnt  worden  waren.  Noch  um  neun  Uhr 
nachts  schickte  er  den  Diener  in  die  Ministerialbibliothek  und 
endlich,  auf  der  Heimfahrt  in  seinem  Auto,  versenkte  er  sich 
noch  in  die  Lektiire  eines  der  empfohlenen  Werke,  das  die 
schwierigsten  Geld-  und  Wahrungsfragen  behandelte. 

Gabriele,  erste  Tanzerin  der  Hofoper,  wartete  bereits  mit 
den  iibrigen  Gasten  in  der  Privatvilla  des  Barons  und  entziickte 
die  Tafelrunde  durch  die  lustige  Unbefangenheit,  mit  der  sie 
sich  die  Rolle  der  Hausfrau  angemafit  hatte.  Die  Gesellschaft 
war  reichlich  gemischt:  Schauspieler,  die  unaufgefordert  fur 
Unterhaltung  sorgten,  indem  sie  mehr  oder  minder  gewiirzte 
Anekdoten  zum  besten  gaben,  ein  paar  Landrate,  in  ewige  Jagd- 
geschichten  vertieft,  zwei  bis  drei  ironische  Causeure  aus  der 
Diplomatic,  ein  jiidischerSchriftsteller,  der  zu  allererstbetrunken 
war  und  sich  dann  in  revolutionaren  Reden  und  staatsfeindlicher 
Lyrikdeklamation  gefiel,  woriiber  man  sich  sehr  belustigte. 
Nannerl,  eine  offensichtlich  aus  dem  untern  Volke  stammende, 
noch  gar  nicht  entdeckte  Chansonette,  entziickte  den  Militar- 
attache  durch  ihren  reschen  Dialekt,  den  er  bezaubemd  natiir- 
lich  fand,  obwohl  ihm  jede  Redewendung  erst  in  die  Schrift- 
sprache  iibersetzt  werden  mufite,  worauf  er  sie,  von  niemandem 
angehort,  nur  fiir  sich,  in  die  Sprache  seiner  Heimat  ubertrug 
und  in  Erinnerungen  an  die  Felder  und  Bauerinnen  zu  Hause 


232  Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  T ode 

schwelgte.  Seiner  bei  diesem  schleppenden  Umweg  des  Gefiihls 
erklarlichen  Schiichternheit  half  der  Minister  durch  eine  ge- 
schaftsmaBige  Feststellung  ab.  SchlieBlich  glich  der  Kartentisch 
alle  Leidenschaften  aus.  Gabriele,  fiir  die  stets  einige  Zimmer 
in  der  Villa  vorbereitet  waren,  hatte  sich  schon  langst  zu  Bett 
begeben,  als  die  letzten  Gaste  iiber  knisternde  Scherben  der 
Champagnerglaser  hinweg,  von  schla  ftrunkenen  Lakaien  unter- 
stiitzt,  sich  zur  Tilre  hinaustasteten.  — 

Baron  von  Klumm  liefi  sich  von  seinem  Leibdiener  eine 
kalte  Kompresse  um  die  Stirn  winden.  Er  wollte,  ehe  er  sich 
zu  Gabriele  begab,  noch  ein  wenig  arbeiten.  Die  von  dem 
okonomischen  Buche  angeregten  Gedanken  hatten  ihn  wahrend 
des  ganzen  Soupers  nicht  verlassen,  wie  es  iiberhaupt  eine 
seiner  Haupteigenheiten  war,  stets  vollstandig  von  gewichtigen 
Dingen  bis  zum  Rande  ausgefiillt  zu  sein,  auch  mitten  in 
seichter  Unterhaltung. 

Er  setzte  sich  an  seinen  Schreibtisch.  Das  Arbeitszimmer 
war,  wie  eben  in  einem  rechten  Junggesellenheim,  sehr  weit- 
raumig  und  zentral  gelegen.  Els  fiillte  mit  seiner  Front  von  vier 
Fenstern  den  groBten  Teil  des  ersten  Stockwerkes,  eigentlich 
mehr  ein  Saal  als  ein  Zimmer  zu  nennen.  Drei  hohe  Wande, 
bis  zur  Decke  mit  Bucher-  und  Aktenriicken  austapeziert,  ver- 
loren  sich  1m  Dunkel,  vor  den  Fenstern  breitete  sich  im  sausen- 
den  Nachtwind  die  mondbeschienene  Schneekette  des  nahen 
Hochgebirges  aus. 

„Du  hast  hereinschneien  lassen.  Peter."  Der  Baron  wies  auf 
einen  hellen  weifien  hiigeligen  Fleck  auf  dem  Parkettboden. 

Der  Diener  zuckte  verstandnislos  die  Achseln,  griff  an  die 
Fensterklinken,  um  zu  zeigen,  daB  alle  geschlossen  waren,  strich 
aber  dann  trotzdem  mit  einem  rasch  herbeigeholten  Wischfetzen 
iiber  den  Fufiboden  an  del'  vom  Baron  immer  noch  mit  aus- 
gestrecktem  Finger  bezeichneten  Stelle  hin,  allerdings  mit  der 
gekrankten  Miene  eines  Mannes,  dem  ein  schrullenhaft  um- 
standlicher  Auftrag  erteilt  wird  und  der  ihn  nur  aus  Gutmiitig- 
keit  ausfiihrt. 

Dann  ging  er. 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


233 


Der  Baron  begann  zu  Iesen,  bald  aber  storte  ihn  ein  leises 
Knistern.  Trat  er  immerfort  noch  auf  Scherben?  Er  sah  auf. 
Zu  seinem  grofiten  Erstaunen  war  der  weiBe  Fleck  im  Zimmer, 
der  iibrigens  ganz  jenseits  des  Mondlichtstreifens  im  Schatten 
eines  Kastens  lag,  nun  zu  einem  richtigen  Hiigel  emporge- 
wachsen,  ja  er  riickte  wie  ein  unnaturlich  schnell  aufschiessen- 
derPilz  sichtlich  weiter  in  die  Hohe.  — Nein,  das  warallerdings 
kein  Schneehaufen,  das  bewegte  sich  ja.  — Plotzlich  kam  die 
Erkenntnis.  Das  war  ein  menschlicher  Kopf. 

Im  Augenblick  hatte  sich  der  Baron  gefaBt,  den  Revolver 
ergriffen,  den  er  immer  bei  sich  trug,  und  auf  den  Kopf  abge- 
feuert.  „Ich  wufite  gar  nicht,  daB  es  Falltiiren  in  meiner  Villa 
gibt.“  Er  repetierte.  Sechs  Schiisse,  dan n war  der  Revolver  leer. 

Die  Schiisse  hatten  offenbar  nicht  getroffen,  sondern  brachten 
eineandere,  ganzunerwarteteWirkunghervor.  „Ja,  jetzt  geht’s* ‘, 
rief  einewieausdemSchlaf  gesprochene,  ungelenke,  verschleimte 
Stimme,  und  sofort  schwebte  mit  einem  Ruck  wie  ein  straff 
gefiillter  Gasballon  die  ganze,  sehr  lange  Gestalt  der  Erschei- 
nung  empor,  merkwiirdigerweise  ohne  dabei  den  FuBboden 
merklich  weiter  aufzureissen.  Es  war  ein  stattlicher  weiBhaariger 
alter  Herr,  der  mit  geschlossenen  Augen,  die  Arme  fest  an  die 
Seiten  des  Korpers  gepreBt,  emporstieg.  Der  befreiende  Auftrieb 
schien  aber  plotzlich  nachzulassen,  so  daB  die  FiiBe  und  Unter- 
schenkel  des  seltsamen  Wesens  unter  dem  FuBboden  stecken 
blieben,  ohne  daB  dies  auf  den  Beschauer  oder  auf  das  Wesen 
selbst  einebesonders  befremdendeNebenwirkungausgeiibt  hatte. 

Dem  Baron  straubten  sich  die  Haare  unter  der  Kompresse. 
Er  fiel  in  seinen  Lehnsessel  zuriick,  aus  seinen  Beinen  war  jede 
Kraft,  ja  jedesGefiihl  entwichen,  so  daB  er  sich  wie  mit  eisemen 
Reifen  um  die  Hiiften  in  eine  Art  sitzender  oder  halbliegender 
Stellung  festgeklammert  fiihlte,  ohne  ein  Glied  riihren  zu 
konnnen.  Er  war  aber  nicht  der  Mann,  sich  ohne  Widerstand 
durch  ein  Gespenst  oder  vielmehr  durch  irgend  einen  iiber- 
miitigen  Bubenstreich  aus  der  Fassung  bringen  zu  lassen.  Ge- 
wohnheitsmaBig  rang  er  nach  einem  einleitenden  Gesprachs- 
thema,  doch  iiber  seine  Lippen  kam  nur  etwas  Speichel,  dann 


234  Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dent  Tode 

ein  Gurgeln  und  Labern,  wie  es  Sauglinge  ihren  ersten  Artikula- 
tionsversuchen  vorausschicken.  Endlich  konnte  er  sich  verstand- 
lich  machen:  „Ihr  Name  ist  . . 

Die  Erscheinung  hatte  jetzt  ihre  Augen  geoffnet,  grofie, 
schdne,  braune,  gar  nicht  unheimliche  Augen,  mit  denen  sie 
freundlich  und  still  ungefahr  in  der  Richtung  auf  den  sich 
abqualenden  Minister  herabsah.  Der  Minister  erwiderte,  wie 
er  es  stets  zu  tun  pflegte,  diesen  Blick  mit  Strenge  und  Festig- 
keit,  trotz  seiner  kraftlos  ausgestreckten  Lage  im  Sessel,  zwi- 
schen  dessen  Lehnen  seine  obere  Korperhalfte  wie  auseinander- 
geworfen,  ungeordnet,  gleichsam  auf  den  Misthaufen  hinge- 
schmissen  herumlag.  „Ihr  Name  ist . . sagte  er  nun  schon 
sicherer  und  machte  den  Versuch,  durch  heftiges  Augenzwin- 
kern  die  Herrschaft  iiber  seine  erstarrten  Glieder  wiederzuer- 
langen.  SchlieBlich  aber  sah  er  die  Aussichtslosigkeit  dieses 
Versuches  ein  und  wurde  ganz  still,  da  er  fiirchtete,  sich  vor 
dem  Geist  lacherlich  zu  machen.  DaB  er  es  mit  einem  wirk- 
lichen  und  nicht  bloB  gespielten  Geiste  zu  tun  hatte,  war  in- 
zwischen  seinem  rastlos  arbeitenden  Gehirn  klar  geworden.  — 
Schon  die  Dimensionen  der  Erscheinung  sprachen  dafiir.  Sie 
war  namlich  mehr  als  zweimal  so  groB  wie  ein  irdischerMensch, 
iiberragte  also  sogar  die  iiblichen  Panoptikumriesen,  dabei  gaben 
ihre  Proportionen  den  gewohnten  an  Ausgeglichenheit  nicht  nach, 
hatten  also  durchaus  nicht  das  Gewaltsame,  Rohe,  das  uns  jene 
Monstren  auf  dem  Jahrmarkt  so  unheimlich  macht.  Unheimlich 
war  hier  nur,  daB  die  seltsame  Gestalt,  wie  zum  Ausgleich  fur 
ihre  GroBe,  aus  einer  merkwiirdig  lockeren  Materie  zu  bestehen 
schien,  durch  welche  man  das  hinter  ihr  liegende  Fenster  und 
sogar  den  das  Mondlicht  widerspiegelnden  Gebirgskamm  in  der 
Feme  ganz  matt  durchschimmern  sah.  Ein  erstaunlicher  An- 
blick,  der,  wie  sich  von  Klumm  mit  wissenschaftlicher  PrazisiSn 
eingestand,  durch  keinerlei  Hokuspokus  hervorgebracht  sein 
konnte.  Das  Unerklarlichste  aber  blieb  dabei,  daB  die 
langsam  und  ganz  allmahlich  einzuschi  umpfen,  in  sich  zusani- 
menzusinken  schien,  wobei  sie  auch  immer  festeren  Inhalt  be- 
kam,  ohne  ubrigens  ihre  (Jmrisse  oder  Gesichtsziige  im  min- 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


235 


desten  zu  verzerren.  E$  wurde  nur  alles  zierlicher,  vertraulicher, 
gleichsam  menschlicher  an  ihr.  Uberhaupt  schien  es  dem  Phan- 
tom, wie  man  jetzt  deutlich  merkte,  durchaus  nicht  darum  zu 
tun  zu  sein,  Schrecken  einzujagen.  Es  machte  vielmehr  (vielleicht 
war  dies  Sinnestauschung,  vielleicht  aber  eine  richtige  Beob- 
achtung  des  immer  mehr  zur  Besinnung  kommenden  Staats- 
mannes)  ganz  im  Gegenteil  den  Eindruck,  als  wolle  es  Vertrauen 
gewinnen,  ja  binnen  kurzem  bot  es  den  ganz  unglaublichen 
Anblick  ernes  Gespenstes,  das  sich  selbst  am  meisten  fiirchtet, 
das  bescheiden  und  angstlich  in  die  Fcke  treten  mochte,  um 
nicht  zu  storen  und  nur  Ieider  nicht  von  der  Stelle  kann,  wo- 
durch  es  in  eine  recht  verlegene  und  verwirrte  Stimmung  gerat. 

Der  Minister  raffte  sich  nun  zusammen  und  setzte  sich  ge- 
waltsam  gerade  auf.  Seine  erste  Bewegung  war,  die  Kom- 
presse  abzunehmen,  die  fur  sein  Gefiihl  den  guten  Ton  einer 
Privataudienz  groblich  verletzte.  Dann  sagte  er,  schon  ganz 
kaltbliitig  geworden:  „Sie  miissen  mir  aber  Ihren  Namen 
nennen,  Ihren  Namen. “ 

,,Namen“,  wiederholte  das  Gespenst,  als  suche  es  mit  aller 
Anstrengung  sich  etwas  klar  zu  machen.  „Namen  . . . Namen  . . . 
Was  ist  das  nur : Namen  ?“  Die  Stimme  klang  jetzt  nicht  mehr 
verschlafen,  sondern  rein  und  hoch,  nur  etwas  zu  vibrierend, 
um  menschlichen  Stimmbandern  anzugehoren.  Ein  Unterton 
von  grofier  Schiichternheit  und  Demut  war  in  ihr  unverkennbar. 

Der  Baron  sah  wieder  an  der  Gestalt  empor,  musterte  sie  von 
Kopf  bis  zu  Fufi,  vielmehr  bis  zum  Knie  — denn  sie  stak 
immer  noch  teilweise  unter  dem  Parkett.  Wiederum  trat  erne 
Pause  ein,  in  welcher  nicht  nur  der  Baron  sich  bequemer  zu- 
rechtsetzte,  sondern  auch  die  Erscheinung  zum  erstenmal  zu 
erkennen  schien,  dafi  sie  Arme  habe,  — zumindest  sah  sie  jetzt 
mit  erstauntem  Blick  an  ihren  Seiten  herab  und  loste,  unglaubig 
und  zogernd,  die  GliedmaCen  von  den  Hiiften,  hob  sie  ein 
wemg  und  liefi  sie  wieder  smken.  Dabei  schien  sie  auch  iiber 
die  Bewegung  ihres  Kopfes,  die  sie  jetzt  zum  erstenmal  machte, 
in  Staunen,  sogar  in  Schrecken  geraten  zu  sem,  denn  ihr  Ge- 
sichtsausdruck  wurde  von  Minute  zu  Minute  angstlicher  und 


IS  Vo!,  m/2 


236 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


die  Starrheit  der  Kontur  verfestigte  sich  nach  diesen  Bewegungs- 
versuchen  fiir  die  nachste  Weile  nur  noch  mehr. 

Der  Baron  konnte,  wie  es  seine  engeren  Parteifreunde  nannten, 
unter  Umstanden  „ganz  ekelhaft  madig“  werden.  Ein  solcher 
Moment  der  Offensitat  war  auch  jetzt  gekommen.  Als  wolle  er 
sich  fiir  die  knapp  iiberwundene  Kleinmiitigkeit  schadlos  halten, 
fuhr  er  den  Cast  mit  voller  Stimme  an:  „Nun,  zum  Teufel, 
Sie  miissen  doch  wissen,  wie  Sie  heifien,  wer  Sie  sind,  was  Sie 
hier  wollen  und  wie  Sie  eigentlich  hergekommen  sind.“ 

Bei  dem  rauhen  Klang  dieser  Worte  schien  sich  die  Erschei- 
nung  nun  energisch  zusammenzunehmen.  Ein  alter  Mann,  der 
sich  auf  etwas  besinnen  will,  der  angstlich  die  weiBen  Augen- 
brauen  zusammenzieht,  — nicht  viel  anders  sah  das  Gespenst 
jetzt  aus.  Doch  brachte  es  nicht  mehr  hervor  als  die  gezwitscher- 
ten Worte:  ,,Ich  glaube,  ich  bin  eben  hier  hereingestorben.“ 
„Hereingestorben,  — was  ist  denn  das?" 

Wieder  eine  Pause, 


„Sie, 


was  das  ist,  frage  ich.“ 


„Ja,  wenn  ich  das  selbst  wiifite,  mein  Herr“,  erwiderte  der 
Greis,  ,,Haben  Sie  Mitleid  mit  mir.  Ich  bin  erst  soeben  ge- 
storben,  vor  einem  kleinen  Weilchen,  und  ich  habe  so  viele 
Siinden  begangen.  Wie  soli  ich  mich  da  schon  auskennen.  Ich 
bin  ja  noch  ganz  benommen.  Glauben  Sie  mir,  eine  Kleinigkeit 
ist  es  nicht."  Und  nach  diesen  ersten  wemgen  zusammenhan- 
genden  Satzen  schlofi  er  wieder  die  Augen,  gleichsam  ganz 
erschopft  von  so  viel  Anstrengung. 

..Merkwiirdig",  sagte  der  Baron,  ,,ganz  eigentiimlich  . . . hm, 
hm.  Das  ist  mir  ganz  neu."  Wie  hilfesuchend  griff  er  um  sich 
und  packte  den  Schirm  seiner  Schreibtischlampe.  Diese  Be- 
riihrung  schien  ihn  auf  einen  Einfall  zu  bringen.  Den  Schirm 
wie  einen  Stutzpunkt  festhaltend,  drehte  er  sich  im  Sitzen 
herum,  in  den  grellen  Lichtkreis  der  Stehlampe  und  entzog 
damit  zum  erstenmal  wieder  das  Gespenst  seinem  Blick.  Plotz- 
lich  begann  er  krampfhaft  zwischen  den  aufgehauften  Papieren 
und  Biichern  zu  wvihlen.  Das  waren  doch  seine  ganz  normalen 
Arbeiten,  seine  gewohnten  Gedanken  und  Vorstellungen.  Er 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode  237 

suchte  sich  an  einzelnen  Worten  und  Ziffern,  die  er  las,  anzu- 
krallen,  festzusaugen,  — doch  sie  verschwammen  vor  seinem 
aufgeregten  Blick,  nichts  konnte  er  entziffern.  Immerhin  dachte 
er  nach  einer  Weile  sich  so  weit  zur  Vemunft  gebracht  zu 
haben,  da6  er  sich  wieder  ins  Zimmer  hinter  sich  um- 
schauen  zu  diirfen  glaubte.  Langsam  wagte  er  es  und  wandte 
sich  wieder  in  die  vorige  Richtung.  Da  lag  der  dunkle,  ins 
Unendliche  verschwimmende  Saal,  in  dem  die  elektrische  Lampe 
nur  den  nachsten  Umkreis,  nahezu  nur  bis  zu  seinen  FiiBen, 
erhellte.  Und  knapp  vor  ihm  schon  wieder  dieser  langaufge- 
schossene  Patron,  der  ubrigens,  was  wirklich  grauenhaft  aus- 
sah,  die  Zwischenpause  nicht  dazu  beniitzt  hatte,  um  sich  in 
eine  bequeme  Stellung  zu  arrangieren,  sondern  statt  dessen 
starr  und  mit  tiefem  Ernst,  wie  in  volliger  Selbstvergessenheit, 
eine  Antwort  des  Ministers  abzuwarten  schien. 

„Nun,  Sie  sagen  also  ...  Sie  sind  also  gestorben  . . . Und 
doch  leben  Sie  . . . Was  bedeutet  das?  Ich  meine,  konnen  Sie 
sich  nicht  verniinftiger  ausdriicken?  Sind  Sie  also  eigentlich 
gestorben  oder  sind  Sie  hier?“ 

„Ich  bin  hierhergestorben  . . . wegen  meiner  Siinden.** 

Der  Baron  schiittelte  den  Kopf.  „Wegen  Ihrer  Siinden,  das 
sagten  Sie  schon.  Was  fur  Siinden  ? Sie  sind  ein  Morder, 
nicht  wahr?“ 

Eine  heftige  Bewegung  des  Abscheus  ging  durch  den  Leib 
des  Gespenstes,  es  schiittelte  sich  von  oben  bis  unten  und, 
immer  noch  etwas  unbeholfen,  aber  mit  unbewuBter  Energie, 
hob  es  jetzt  die  Arme  hoch  empor  und  schlug  sogar  die  Hande 
iiber  dem  Kopf  zusammen,  indem  es  jammervoll  rief:  „Ein 
Morder!  Ich,  ein  Morder!  — Nein,  Gott  sei  Dank,  davon  habe 
ich  mich  zeitlebens  weit  entfernt  gehalten.  Mordgedanken  kann 
ich  auch  bei  peinlichstem  Nachforschen  in  meinem  Gemiit, 
wie  es  damals  war  und  wie  es  jetzt  ist,  nicht  entdecken.“ 
„Also  haben  Sie  gestohlen,  betrogen,  Schiebungen  gemacht, 
Gaunereien,  oder  sind  unehrlich  gewesen,  nicht?** 

..Unehrlich  — ja,  das  vielleicht.  Ich  habe  nicht  immer  und 
nicht  bei  jedem  Schritt  an  die  ewige  Wahrheit  der  Dinge  ge- 


238 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dent  Tode 


dacht,  obwohl  ich  immer  und  immer  wieder  diesen  festen  Vor- 
satz  hatte.“ 

„Und  das  war  Ihre  ganze  Unehrlichkeit?"  lachte  der 
Baron  auf. 

„0  eine  Siinde  — die  allerargste  Siinde!  Deshalb  erlebe  ich 
ja,  zur  Strafe,  diese  furchtbare  Versetzung  in  eine  andere  Welt, 
deshalb  ist  ja  meinem  Sterben  nicht  ein  Aufstieg  in  die  hohere 
Sphare  gefolgt,  sondern  das  entsetzliche  AusgestoBensein  in 
eine  beigeordnete,  wo  nicht  tiefere  Entwicklungsstufe." 

„Unfa6bar.  — Sie  beharren  also  wirklich  darauf,  daB  Sie 
gestorben  sind  ?“ 

„Natiirlich,  das  ist  es  ja,  ich  erlebe  soeben  das,  wovor  man 
sich  am  meisten  furchten  soil,  oder  besser  gesagt,  was  man  als 
Zeichen  der  gottlichen  Gerechtigkeit  am  meisten  ehrfiirchten 


soli, 


ich  erlebe  die  erste  Stunde  nach  meinem  Tode." 


„Das  mufi  wirklich  interessant  sein‘d  fuhr  es  unbedacht  aus 
dem  Mund  des  Barons  heraus,  ,,das  heiBt...  ich  wollte  sagen... 
Bitte,  mochten  Sie  nicht  Platz  nehmen  7 Davon  miissen  Sie  mir 
mehr  erzahlen.  Wie  ist  denn  das,  in  der  ersten  Stunde  nach 
dem  Tode  7 Sie  miissen  wissen,  mit  diesem  Gedanken,  das 
heiBt  damit,  mir  diesen  Zustand  auszumalen,  habe  ich  mich 
schon  oft  in  miiBigen  Stunden  beschaftigt.  Ich  habe  ja  immer 
viel  zu  tun,  leider,  leider.  Abei  manchmal,  sehn  Sie,  zwischen 
den  wichtigen  Staatsgeschaften  fallt  einem  doch  etwas  so  Ab- 
struses  ein,  ja  ich  mufi  abstrus  nennen,  denn  wie  kann  ein  le- 
bender  Mensch  wissen  oder  sich  richtig  vorstellen,  wie  es  nach 
seinem  Tode  in  ihm  zugehen  mag.  Das  ist  ja  schlechterdings 
eine  Unmoglichkeit,  eine  Absurditat.  Nun,  item,  ich  habe  ein 
gewisses  MaB  von  Vorliebe  fur  diese  Sache,  ich  behalte  stan- 
dig  diese  Angelegenheit  im  Auge . . Unwillkiirlich  geriet  er, 
je  mehr  er  in  Eifer  kam,  in  die  feingedrechselten  Redensarten, 
mit  denen  er  seit  Jahren  Petenten  und  Deputationen  mecha- 
nisch  abzufertigen  pflegte.  So  sehr  hatte  dieses  Gesprach  schon 
den  Charakter  des  Absonderlichen  und  Geisterhaften  fur  ihn 
verloren,  so  sehr  betrachtete  er  es  als  eine  gar  nicht  mehr  grus- 
lige  ^Conversation.  ,,Kurz  und  gut,  ich  denke  mir  in  dieser 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode  239 

ersten  Stunde...  hehe,  wenn  ich  so  sagen  darf,  alles  recht  finster 
und  leer  und  ode  um  einen  herum.  Das  Nichts,  verstehen  Sie, 
das  Nichts  in  des  Wortes  allerscharfster  Bedeutung.  So  stelle 
ich  mir  es  vor.  Natiirlich  fallt  es  mir  gar  nicht  ein,  meine  Er- 
fahrungen  mit  den  Ihrigen  zu,  messen  oder  gar  in  eine  Reihe 
stellen  zu  wollen.  Verzeihen  Sie  meine  Schwatzhaftigkeit.  Ich 
werde  mit  weit  grdBerem  Vergniigen  Ihren  Ausfiihrungen  lau- 
schen,  als  ich  gesprochen  habe.  So,  ich  bin  schon  ganz  Ohr. 
Bitte,  setzen  Sie  sich,  hier . . .“ 

Das  Gespenst  hatte  ziemlich  ratios  seine  Augen  umher- 
wandern  lassen,  jetzt  hefteten  sie  sich  auf  den  Klubfauteuil, 
den  der  Minister  heranriickte.  Die  Worte  schienen  von  ihm 
verstanden  worden  zu  sein,  denn  nun  setzte  es  sich  gehorsam 
und  so  schnell,  als  es  seine  festgeklammerten  FiiBe  zulieBen, 
wobei  es  allerdings  eine  gewisse  Unvertrautheit  mit  dem  Ge- 
brauch  einer  Sitzgelegenheit  verriet,  denn  es  heB  sich  iiber 
beide  Armlehnen  zugleich  nieder.  Allerdings  hatte  es  seine 
immer  noch  riesenhaften  Korperformen  nur  schwer  in  den 
breiten  Fauteuilgrund  einzwangen  konnen. 

„Reden  Sie  also,  erzahlen  Sie  mir  etwas  von  diesem  Paradies, 
das  unsere  Pfaffen  so  gut  zu  kennen  vorgeben.“ 

,,Vom  Paradies !“  erwiderte  das  Gespenst  mit  emem  Seufzer. 
„Wie  sollte  ich  niednges  Wesen  Ihnen  etwas  vom  Paradies  er- 
zahlen konnen,  in  das  ich  vielleicht  nach  Billionen  Jahren, 
vielleicht  niemals  Zutritt  erlangen  werde. 

,,Also  erzahlen  Sie  meinetwegen  von  der  Holle,“  warf  der 
Minister  mit  einer  verbindlichen  Handbewegung  wie  einen 
klemen  Konversationsscherz  hin. 

„Der  Holle  scheine  ich  ja  allerdings,  wenn  mich  nicht  alles 
triigt,  entronnen  zu  sein“,  erwiderte  die  Erscheinung  mit  einem 
nicht  gerade  zuversichtlichen  Blick  rundum,  doch  schien  ihr 
schon  dieser  Blick  eine  Vermessenheit  zu  bedeuten,  denn  sie 
verbesserte  sich  sofort  mit  stiller  Bescheidenheit.  ,,Sie  diirfen 
iibrigens  nicht  glauben,  daB  das  etwas  Besonderes  ist.  Die  Ex- 
treme, voile  Erlosung  und  voile  Verdammnis  sind  wahrschein- 
lich,  so  vermute  ich  mindestens,  im  ewigen  Sein  ebenso  seltene 


v.w 


Max  Brod  » Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


Ausnahmen,  wie  im  sterblichen  Leben.  Die  Mittelstufen  mit 
ihren  tausendfaltigen  Abschattierungen  iiberwiegen  weitaus.  So 
erne  Mittelstufe  scheint  auch,  obwohl  ich  mir  dariiber  durch- 
aus  nicht  klar  bin,  mein  Los  zu  werden.“ 

„Nun,  ich  danke,  fiir  meinen  Geschmack  wiirde  das  Nichts, 
das  absolute  Nichts  nach  dem  Tode  schon  Holle  genug  be- 
deuten.“ 

„Das  Nichts  ?“ 

„Nun,  das  Nichts,  von  dem  ich  vorhin  sprach,  der  Wegfall 
aller  sinnlichen  Empfindungen,  aller  Wiinsche  und  Freuden 
und  Leiden/' 

,,Verzeihen  Sie,  da  habe  ich  Sie  wohl  schon  vorher  nicht 
ganz  richtig  verstanden.  Sie  miissen  mit  mir  Nachsicht  haben, 
ich  nehme  mir  die  allergrofite  Miihe,  aber  ich  bin  von  all  dem 
Neuen,  das  ich  erlebe,  so  aus  der  Fassung  gebracht,  so  betaubt, 
dafi  ich  I hnen  trotz  I hrer  Freundlichkeit  nur  schwer  folgen  kann . — 
Ein  Nichts  nach  dem  Tode,  sagten  Sie?  Da  hatte  ich  eigentlich 
sofort  widersprechen  miissen.  Gerade  das  Gegenteil  da  von 
trifft  ja  zu.  Eine  solche  Fiille  frischer,  ungeahnter  Eindriicke 
fallt  nach  dem  Tode  iiber  einen  her.  Es  kostet  die  groBte  An- 
strengung,  sich  dieses  Ansturms  zu  erwehren  . . 

,,Neue  Eindriicke  . . . im  Moment  des  Todes?" 

„Nicht  gerade  im  Momente  des  Todes.  Da  gibt  es  allerdings 
einen  kleinen  Augenblick  von  gemindertem  Bewufitsein,  in  dem 
man  nichts  fiihlt  als  einen  heftigen  RiB,  eine  vorher  ganz  unbe- 
kannte  starke,  aber  ganz  kurze  Empfindung,  mit  der  sich  die 
Seele  vom  Korper  lost,  cm  Zucken,  von  dem  ich  nicht  sagen 
konnte,  ob  es  der  Lust  oder  dem  Schmerz  verwandter  ist.  Aber, 


wie  gesagt,  das  dauert  nur  den  Bruchteil  einer  Sekunde  lang. 
Dann  ist  die  Seele  von  Materie  frei,  ganz  rein  und  losgebunden. 
Das  aber  ist  gerade  das  Anstrengende.  Wie  soli  ich  es  nur  be- 
schreiben?  Unser  ganzes  Leben  lang  hatten  wir  damit  zu  tun, 
in  unsere  Materie,  die  ja,  seien  wie  aufrichtig,  den  Schwerpunkt 
unseres  Daseins  bildete,  mit  Geistigem  und  Gefiihltem,  mit 
seelischem  Leben  vollzusaugen,  das  wir  aus  den  wogenden  Le- 
bensstromen  rings  um  uns  fiir  unseren  Gebrauch  entnahmen. 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  tiach  dent  T ode  24 1 

Plotzlich  ist  unsere  Seele  frei,  bildet  gleichsam  einen  materie- 
losen  Hohlraum,  eine  luftleere  Blase  mitten  in  der  Materie.  Die 
Materie  aber,  die  gewohnt  ist,  sich  an  Seelischem  zu  nahren, 
gleichsam  vollzusaufen,  stiirzt  natiirlich  von  alien  Seiten  mit 
rasender  Begierde  auf  diesen  Hohlraum  zu  und  versucht  sich 
einzudrangen.  Alle  Arten  von  Stofflichkeiten,  auch  solche  der 
tiefsten  Lebensformen,  mochten  von  der  eben  freigewordenen 
Seele  Besitz  ergreifen,  mochten  sich  an  ihr  nahren  und  empor- 
pappeln.  Diese  ersten  Minuten  sind  schrecklich.  Ich  kann  ja 
sagen,  mir  ist  es  dabei  noch  ganz  gut  gegangen,  ich  hielt  mein 
kleines  Biindel  von  Seelensubstanz  tlichtig  beisammen.  Viele 
Seelen  aber  werden  schon  in  diesen  ersten  Augenblicken  ihres 
neuen  Daseins  in  Stiicke  gerissen,  einfach  zerfetzt,  und  es  graut 
mir  geradezu,  wenn  ich  mir  ausmale,  was  eine  solche  in  Atome 
zerbrochene  Seele  zu  leiden  hat,  die  ja  doch  noch  bei  all  dem 
ihr  einheitliches  IchbewuBtsein  behalt  und  nun  zu  gleicher  Zeit 
in  einem  Regen wurm,  einemBaumblatt  und  vielleicht  in  einpaar 
Bazillen  darauf,  die  einander  gegenseitig  vertilgen,  weitervege- 
tieren  muss.  Ich  nehme  an,  daB  gerade  das  der  Zustand  ist,  den 
man  Holle  nennt.“ 

„Nichtausgeschlossen“,unterbrachderBaronmitdemLacheln, 
das  er  fiir  ertappte  Gegner  zu  verwenden  pflegte.  „Nur  mochte 
ich  wissen,  woher Sie  nicht  nur  iiber  Ihr  eigenes Schicksal,  sondern 
auch  noch  zum  UberfluB  iiber  das  anderer  Seelen  sogenau  Aus- 
kunft  zu  geben  wissen.  Ohne  Ihnen  nahetreten  zu  wollen,  — sind 
Sie  sich  klar  dariiber,  daB  Sie  sich  hier  auf  ein  Gebiet  begeben 
haben,  auf  dem  alien  PhantasienundTauschungen,  insbesondere 
Selbsttauschungen,  Tiire  und  Tor  geoffnet  ist?  Haben  Sie  sich 
in  dieser  Hinsicht  emstlich  genug  gepriift?  Sind  Sie  Ihrer  so 
vollstandig  sicher,  daB  eine  kleine . . .ich  will  nicht  Luge  sagen . . 
eine  kleine  Ubertreibung  oder  Entstellung  der  Wahrheit  ganz 
ausgeschlossen  erscheint?“ 

Der  Greis  war  gar  nicht  beleidigt,  im  Gegenteil,  er  schien 
fiir  jede  Ermahnung  dankbar  und  verfiel  sofort,  nachdem  er  das 
Vorige  in  gewissermafien  ruhigem  Ton  geauBert  hatte,  in  seine 
anfangliche  reuige  Zerknirschung:  ,,Oh,  Sie  haben  recht.  Oh, 


24 2 Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 

wie  recht  Sie  haben.  Offenbar  sind  Sie  mir  ills  Richter  be- 
stimmt,  vor  dem  ich  mich  zu  verantworten,  nein,  nicht  ver- 
antworten,  vor  dem  ich  meine  Verfehlungen  zu  beichten  habe.  — 
Ja,  es  ist  wahr,  ich  habe  mich  durchaus  nicht  geniigend  ge- 
priift  und  habe  mich,  obwohl  es  mein  emsthcher  Wille  war, 
auch  vor  eitlen  Selbsttauschungen  nicht  hinreichend  gehiitet. 
Meine  Einsicht,  wenn  ich  die  erbarmlichen  Resultate  meines 
Lebens  so  nennen  darf,  reichte  gerade  noch  aus,  um  mich  die 
erste  Priifung  nach  dem  Tode,  die  Attacke  der  Materie,  be- 
stehen  zu  lassen.  Ich  verstand  in  diesem  Moment  mit  wirklich 
merkwiirdiger  Hellsichtigkeit  nicht  nur  alles,  was  mit  mir, 
sonde  rn  auch  was  mit  anderen  eben  Gestorbenen  rings  um 
mich  vorging.  Schreckliches  habe  ich  da  in  wenigen  Minuten 
gesehen,  noch  Schrecklicheres  ist  mir  wie  in  Ahnungen  klar 
geworden.  Ganz  rein  konnte  ich  mich  iibrigens  trotz  meiner 
verzweifelten  Gegenwehr  doch  nicht  erhalten.  Ich  sehe,  dafi 
da  schon  wieder  allerlei  Fremdes  an  mir  herumhangt,  was  mit 
unsterblicher  Substanz  nichts  gemein  haben  diirfte.“  Bei  diesen 
Worten  betastete  er  traurig  seine  Rockknopfe  und  zog  das 
Jackett,  das  er  trug,  mit  einer  Bewegung  iiber  dem  Magen  zu- 
sammen,  der  man  anmerkte,  daB  ihm  dieses  Kleidungsstiick 
etwas  ganz  Unerklarliches  war,  dafi  er  es  vielleicht  fiir  einen 
Korperteil  hielt. 

„Trdsten  Sie  sich,  alle  Kleidungen  haben  etwas  Groteskes“, 
beruhigte  lhn  der  Minister  mit  Herablassung. 

..Kleidung  nennen  Sie  das  . . . Ach  so,  nun  verstehe  ich. 
Unsere  Kleidung  sah  allerdings  ganz  anders  aus.  In  der  syl- 
phischen  Sphare,  aus  der  ich  stamme,  besteht  die  Kleidung  in 
einer  gewissen,  sehr  hohen  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  die 
Individuen  bestandig  kreiselformig  um  sich  selbst  drehen.“ 

„Eine  Sylphe  sind  Sie  also,  eine  Sylphide.“  Eine  ganz 
schwache  Erinnerung  an  die  schone  Gabriele  und  ihren  Sylphen- 
tanz  im  letzten  Ballett  schwebte  am  Baron  vorbei.  „Sylphen 
stellen  wir  uns  allerdings  ganz  anders  als  in  Ihrer  Figur  vor.“ 

„Sie  sind  auch  ganz  anders,  wahrhaftig,  und  leben  auch  ganz 
anders  als  ich  es  jetzt  tue.  Ich  bin  schon  auf  dem  Ubergang 


243 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  clem  T ode 


in  Ihre  Welt  begriffen,  lebe  schon  halb  und  halb,  so  gut  ich 
es  kann,  als  Mensch.  Das  ist  ja  eben  die  zweite  schwerere 
Priifung,  die  ich  durchzumachen  habe : man  wird  plotzlich  in 
eine  ganz  andere  Welt  unter  ganz  neue  Bedingungen  versetzt, 
alle  Gewohnheit  des  Alltags,  alle  Routine  fallt  infolgedessen 
von  einem  ab,  und  gerade  das  ist  der  Priifstein,  an  dem  sich 
zeigt,  wie  viel  wirkliche,  fur  alle  nur  irgend  mogliche  Welten 
geltende  Realitat  man  in  dem  einen  Leben  zu  erwerben  gewufit 
hat  . . 

„Sie  sind  also  gar  kein  toter  Mensch,  sondem  aus  einer 
andern  Welt?"  fragte  der  Baron  und  lehnte  sich,  wiederum 
etwas  fassungslos  geworden,  zuriick. 

„Ich  bin  aus  einer  andern  Welt  hier  herein gestorben“,  wieder- 
holte  das  Gespenst  geduldig. 

,,Vom  Mond  etwa  oder  vom  Sirius?" 

„Nein,  aus  einem  ganz  andern  Weltsystem,  wie  ich  schon  sagte." 

, Aus  der  Milchstrafie  also  oder  dem  Orionnebel  ?“ 

„Wenn  Sie  in  Ihrer  Korperwelt  noch  so  weit  gehen,  un- 
endlich  weit,  so  konnen  Sie  meine  Heimat  trotz  alledem  nicht 
finden.  Meine  Heimat  ist  ein  Reich  anderer  Sinne  oder  war  es 
vielmehr  bis  heute,  ich  zahie  mich  aber  noch  ein  wenig  zu  ihr. 
Wir  Sylphen  sehen  nicht,  wir  horen  und  riechen  nicht  und 
werden  nicht  gehort  und  gesehen.  Wir  haben  dafiir  andere 
Organe,  eine  andere  Schwere  und  andere  Naturgesetze.  Dem 
Raume  nach  aber  leben  wir  unter  euch  Menschen,  mitten 
unter  euch.  Els  gibt  eben  unendlich  viel  Welten,  die  sind  aber 
ineinandergeschoben,  nicht  nebeneinander  laufend,  und  trotz 
ihres  unmittelbaren  Beisammenseins  wissen  Sie  nichts  von 
einander.  — Auch  mir  war  bisher  eure  Welt  samt  Stemenhimmel 
und  Milchstrafie  und  allem,  was  eure  Sinne  fassen,  vollstandig 
verborgen.  Ich  bin  vollig  iiberrascht,  dafi  ich,  ohne  mich  von 
der  Stelle  geriihrt  zu  haben,  nur  gleichsam  durch  eine  innere 
Umschaltung  der  Organe,  in  eine  so  vollig  ungeahnte  neuartige 
Umgebung  versetzt  bin." 

„Warten  Sie,  nicht  so  schnell ! — ich  mufi  das  erst  fassen", 
rief  von  Klumm  und  prefite  die  Hand  an  die  von  pochenden 


244 


Max  Brod  ♦ Die  erste  St  unde  nach  dem  Tode 


Adem  schmerzhaft  durchpulste  Stirn : „Es  ist  IKnen  also  alles 
ganz  neu?  . . . Nun  immerhin,  das  muB  ich  sagen  . . . voraus- 
gesetzt,  daB  das  alles  wahr  ist,  was  Sie  da  erzahlten,  . . . immer- 
hin benehmen  Sie  sich,  wenn  Ihnen  wirklich  alles  ganz  neu 
ist,  anerkennenswert  korrekt  und  sicher.  Es  ist  mancher  so 
vor  mir  gesessen  wie  Sie  jetzt  hier  sitzen,  und  hat  vor  Verlegen- 
heit  nicht  ein  noch  aus  gewuBt.  Sie  mtissen  wissen,  ich  bin  — 
das  darf  ich  ohne  Selbstiiberhebung  sagen  — ein  ziemlich 
einfluBreicher  Mann  und  seltsamerweise  sagt  man  mir  nach  — 
ich  weiB  selbst  nicht,  wie  ich  zu  diesem  Ruf  komme  — daB 
mein  Auftreten  etwas  Imponierendes  an  sich  hat  und  daB  es 
auch  fur  den  Mutigsten  und  Frechsten  schwer  ist,  die  Con- 
tenance  zu  bewahren,  wenn  er  mir  gegeniibersteht.“ 

Hier  gab  das  Gespenst,  das  bisher  die  Unterredung  mit  eben- 
derselben  Spannung  gefiihrt  hatte  wie  der  Baron,  zum  ersten- 
mal  ein  Zeichen  von  Interesselosigkeit  von  sich,  ein  recht  deut- 
liches  Zeichen  sogar,  indem  es  seinen  Blick  auf  eines  der 
Fenster  heftete  und  die  Landschaft  draufien  mit  sichtlichem 
Vergniigen  zu  betrachten  begann,  wobei  es  den  Kopf  reckte 
und  sich  sogar  halb  von  seinem  Sitze  erhob. 

Der  Minister  war  Weltmann  genug,  dies  nicht  zu  bemerken. 

,,Die  schonenBerge",  sagte  das  Gespenst  und  ein  sehnsuchts- 
volles  Aufatmen  hob  seine  Brust. 

,,Auch  unsere  irdischen  Berge  erkennen  Sie  also  sofort“, 
sagte  der  Minister  im  Ton  einer  gewissen  kiihlhoflichen  Ga- 
lanterie.  ,,Ich  mache  Ihnen  mein  Kompliment  iiber  Ihr 
schnellesOnentierungsvermogen.  — Gibt  es  dennauch  in  Ihrer 
Welt  so  etwas  wie  Berge?“ 

,,Nein.  Bei  uns  driickt  sich  alles,  oder  vielmehr  driickte  sich 
alles,  in  elektrischen  Wellen,  rotierenden  Lufttrichtern  und 
Wirbeln  aus.“ 

,,Und  dennoch  . . 

„Aber  natiirlich  gibt  es  auch  in  dieser  Materie  Naturschon- 
heiten,  erhabene  Erscheinungsformen  der  ewigen  Krafte,  des 
Wachsens  und  Vergehens.  — Da  ich  nun  mein  ganzes  Leben 
lang,  so  oft  ich  in  die  freie  Natur  hinaus  kam,  es  geschah  bei 


Max  Brod  • Die  erste  Stunde  nach  iem  Tode 


245 


meinem  abscheulichen  Berufe  selten  genug,  ...  da  ich  vielleicht 
gerade  deshalb,  weil  es  mir  so  ungewohnt  war,  die  Herrlich- 
keiten  der  Natur  mit  einem  wahren  Durst  und  Entzticken  in 
mich  aufnahm  und  jedesmal  dabei  in  mir  ohne  weiteres  das 
Geflihl  wach  wurde,  daB  ich  in  diesem  Genufi  irgendwie  an 
ein  Ewiges,  Allgemeingiiltiges,  ganz  unerschiitterlich  Wirkliches 
riihrte,  eben  deshalb  bin  ich  moglicherweise  jetzt  befahigt,  in 
allem,  was  Naturschonheit  betrifft,  auch  in  der  neuen  Welt 
mich  schnell  auszukennen  und  sofort  zu  fiihlen,  wo  ich  auch 
hier  auf  ein  Wesentliches  in  dieser  Beziehung  stoBe.“ 

„Hochst  sonderbar.  Mache  ich  Ihnen  nicht  nach,  wahrhaftig. . . 
Wenn  ich  aus  einem  Alpenpanorama  von  lauter  Luftwirbeln 
kame  . . . pardon,  so  sagten  Sie  doch  . . . aus  lauter  Seifen- 
blasen,  nicht  wahr,  also  ohne  Steine,  ohne  Schnee,  ohne  Pflanzen, 
ohne  Farbe  . . . natiirlich  auch  ohne  Farbe  . . . nun,  ich  mufi 
sagen,  dann  ware  ich  beim  Anblick  der  wirklichen  Berge  so 
verbliifft,  so  verbliifft . . .“  der  Baron  versank  in  Briiten,  endlich 
fur  er  auf.  „Mit  einem  Worte,  ich  ware  verbliifft.“ 

„Sie  wollen  mich  verspotten“,  klagte  das  Gespenst.  „Bin  ich 
am  Ende  noch  zu  wenig  verbliifft  und  verwirrt?  Nur  gerade 
der  freien  Gottesnatur  gegeniiber  fiihle  ich  etwas  mehr  Ver- 
trauen.“ 

,,0  nein,  auch  in  anderem  kennen  Sie  sich  ganz  erstaunlich 
aus.  Ja,  es  scheint  mir  sogar,  in  den  Hauptsachen.  Sie  wissen 
genau,  ich  muB  direkt  sagen,  unnatiirlich  genau  Bescheid  dar- 
iiber,  woher  Sie  kommen  und  wohin  Sie  gehen.“ 

„0h,  ich  weifi  es  nicht,  mein  Herr,  ich  weiB  es  nicht.“ 

Der  Baron  fuhr  unbeirrt  fort:  „Sie  sind  sich  sogar  dessen 
bewuBt,  dafi  Sie  sich  in  einem  Ubergangsstadium  befinden. 
Sie  haben  einen  Begriff  von  den  Priifungen,  denen  Sie  ent- 
gegengehen,  von  einem  gewissen  Gerichtsverfahren  und  von 
den  Verdiensten,  die  Sie  vor  diesem  Gericht  geltend  machen 
konnen.  Dabei  macht  Ihnen  unsere  Sprache,  unsere  Begriffs- 
bildung  in  diesem  doch  recht  schwierigen  Thema  merkwiirdiger- 
weise  gar  keine  Schwierigkeiten.  Sie  reden  wie  gedruckt  und 
Sie  reden  dabei  von  der  ewigen  Gerechtigkeit,  wie  wenn  Sie 


246  Max  Brod  • Die  erstc  Stunde  nach  dem  Tode 

mit  ihr  verwandt  waren.  Sie  reden  ebenso  von  Gott  und  Tod 
und  Holle  und  Teufel,  und  ich  weifl  nicht,  wovon  noch  . . 
Der  Baron  war  geradezu  wiitend  geworden  und  ging  mit  groBen 
Schritten  im  Zimmer  auf  und  ab. 

, Ja,  gliicklicherweise  habe  ich  mich  gerade  mit  diesen  Dingen 
auch  in  meinem  sterblichen  Leben  einigermaBenbefaBt“,  sagte 
das  Phantom  mit  ausserster  Zaghaftigkeit,  wenn  auch  lange 
nicht  genug.  Und  nicht  daB  ich  sie  verstanden  hatte.  Aber  eine 
gewisse  Sehnsucht  zog  mich  immer  wieder  zu  ihnen  hin  und 
auch  da  hatte  ich  das  Gefiihl,  dafi  es  um  ewige  unumstoBliche 
Wirklichkeiten  gehe,  die  iiberall  gelten  miissen  . . . Ach,  leider 
habe  ich  dafiir  anderes  vernachlassigt,  und  das  racht  sich  jetzt 
bitter  an  mir  . . 

,.Sie  schweigen?“  rief  der  Baron  unwillig,  da  eine  kleine 
Pause  eintrat.  „Gerade  auf  das  ware  ich  besonders  neugierig. 
Was  ist  es  nun  eigentlich,  was  sich  an  Ihnen  racht?  Worin 
haben  Sie  gesiindigt?  . . 

„Ich  war“,  kam  es  stockend,  beschamt  hervor,  . . ich  war, 
wie  soil  ich  es  sagen,  in  Kleinigkeiten  sehr  ungeschickt.  Das 
heifit,  ich  hielt  sie  fur  Kleinigkeiten.  Jetzt  aber  sehe  ich,  daB 
auch  sie  bedeutungsvoll  sind  und  daB  auch  sie,  wenn  man  sie 
mit  der  nchtigen  Sorgfalt  anpackt,  einen  verehrungswiirdigen 
Kern  von  Realitat  enthalten.  Denn  jetzt  fehlen  sie  mir.  Das 
ist  eben  das  besondere  Gesetz,  unter  dem  wir  Gestorbenen  in 
der  ersten  Stunde  nach  dem  Tode  stehen.  Aktion  und  Reaktion 
sind  vollstandig  vertauscht.  Das,  was  wir  im  sterblichen  Leben 
ehrfiirchtig,  mit  Schauder  und  Staunen  bewundert  haben,  das 
ist  uns  jetzt  vertraut.  Was  wir  aber  dort  wegwerfend  behandelt 
und  zu  einer  seelenlosen  gewohnheitsmaBigen  Hantierung  herab- 
gewiirdigt  haben,  das  mutet  uns  hier  fremd  und  umerstandlich 
an.  So  geht  es  mir  hier  . . .“  Er  stockte  wieder  ,,mit  der  Klei- 
dung.  Ich  habe  sie,  offen  gesagt,  sehr  vernachlassigt.  Uberhaupt, 
Etikettefragen  verstand  ich  nie.  Mit  einem  gewissen  Hochmut 
setzte  ich  mich  iiber  sie  hinweg  und  glaubte,  inrolge  meiner 
sonstigen  hoheren  Studien  sogar  ein  Recht  auf  diesen  Hochmut 
zu  haben.  Fur  ihn  werde  ich  jetzt  bestraft.  Denn  gewifi  liegt 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dent  Tode 


247 


auch  in  der  Etikette,  iiberhaupt  im  geregelten  gesetzlichen  Ver- 
kehr  zwischen  den  Geschopfen,  im  Mafihalten  und  Distanz- 
gefiihl  etwas  Allgemeingiiltiges  und  von  Gott  Gewolltes.  Mag 
sein,  dafi  dieses  Distanzhalten  iibertrieben  wird,  dafi  nur  ein 
Kornlein  Wahrheit  und  sehr  viel  Liige  in  ihm  liegt.  Aber  eben 
auch  dieses  Kornlein  Wahrheit  zu  finden  war  ich  verpflichtet, 
und  noch  so  arge  Liige,  die  es  verhiillte,  ist  keine  geniigende 
Entschuldigungdafiir,  dafi  ich  mich  von  dieser  Hiille  abschrecken 
liefi  . . . Zur  Strafe  bin  ich  jetzt  in  allem  Derartigen  ganz  ratios. 
Bedenken  Sie  nur,  wie  peinlich  es  fiir  mich  ist,  dafi  ich  immer 
noch  nicht  herausbrmgen  konnte,  in  welcher  Gestalt  Sie  vor 
mir  stehen.  Ich  sehe  Sie  gar  nicht.  Ich  glaube  zwar,  dafi  Ihre 
Stimme  aus  diesemschonen  leuchtenden  Korper  kommt“,  dabei 
zeigte  er  auf  die  Schreibtischlampe  weit  hinter  dem  Baron,  der 
bei  diesen  Worten,  vielleicht  zum  erstenmal  in  seinem  Leben, 
ein  eigentiimliches  Gefiihl  von  Kleinheit  und  Unbedeutendheit 
empfand,  was  jedoch  seine  Erbitterung  nur  steigerte,  „und  ich 
halte  irgendwie  dieses  Licht  fiir  das  Zentrum  der  Personlich- 
keit,  mit  der  ich  mich  unterhalte.  Im  iibrigen  aber  hebt  sich 
fiir  mich  leider  keine  deutliche  Gestaltung  aus  der  Umgebung 
hervor.  Und  auch  mit  meiner  eigenen  Figur  kann  ich  nicht 
ins  reine  kommen,  so  sehr  ich  mich  meiner  neuen  Welt  an- 
passen  mdchte.  Bald  zuckt  es  in  mir  zusammen,  bald  fliefit  es 
ausemander.  In  alien  Poren  fiihle  ich  ein  Unbehagen.  Glauben 
Sie  mir,  mir  fehlt  jedes  Raumgefiihl,  alles  torkeltmirschwindhg 
durch  den  Kopf.  Ich  kann  die  richtige  Ebene  nicht  finden,  in 
der  ich  mich  zu  bewegen  hatte.  Alles  sehe  ich  schief.“ 

„Das  merke  ich  nun  wirklich“,  fuhr  von  Klumm  mit  hoh- 
nischem  Lachen  auf. 

„Jetzt  erst  merke  ich,  zu  spat,  wie  recht  ein  Freund  hatte, 
der  mir  immer  von  seinem  Heimweh  erzahlte.  Er  war  nur  aus 
einer  andern  Stadt,  nicht  etwa  aus  einer  ganz  andern  Welt  zu 
uns  gekommen,  und  immer  wieder  klagte  er,  wie  unheimlich, 
ja  geradezu  wie  bestraft  er  sich  fiihle.  Was  sich  namlich  zu 
Hause  unter  einer  Hiille  lieber  Gewohnheiten,  in  der  Warme 
des  Korper-an-Korper-Sitzens  im  Familienkreis  verborgen  hatte, 


248 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode 


das  trat  jetzt  nackt  zu  Tage : eine  gewisse  innere  Leerheit  und 
Sinnlosigkeit  seines  Lebens.“ 

,,Dasselbe  bat  Keute  der  Militarattache  gesagt“,  murmelte 
der  Baron  mit  gespanntem  Mifitrauen. 

,,Wenn  man“,  fuhr  die  Erscheinung  rubig  fort,  „in  einem 
triigerischen  Schein  von  ewigem  Beschaftigtsein  sein  Leben 
hinbringt,  immerfort  fleifiig  und  strebsam  ist,  immerfort  so- 
genannte  „emste“  Dinge  treibt,  die  meist  nur  der  banalen  Not- 
durft  des  Tages  dienen,  seine  Mufle  wiederum  mit  einem  „ Un- 
ernst“  vergeudet,  der  jenem  Ernst  an  Irrealitat  gleichwertig  ist, 
— kurz,  wenn  man  nirgends  die  befreiende  absolute  Wahrheit 
sieht,  sondern  iiberall  nur  eine  triibselige  Notwendigkeit  und 

Gewohnheit . . 

„Das  ist  zuviel“,  schrie  der  Baron  und  ging  mit  geballten 
Fausten  auf  das  Phantom  los,  „jetzt  reden  Sie  gar  von  mir!“ 

„Nein,  von  meinem  Freund",  schrie  die  Erscheinung  entsetzt 
und  wich  mit  dem  Oberleib  zuriick. 

„Haha,  — der  sah  also  nirgends  absolute  Wahrheiten?  Horen 
Sie,  da  lafi  ich  ihn  schon  griifien  und  ihm  sagen,  dafi  er  ein 
ausgezeichneter  Kerl  ist,  dieser  Freund,  und  durchaus  mein 
Mann.  Genau  so  bin  ich  namlich  auch.  Die  niichternen  Tat- 
sachen  des  Lebens  erkenne  ich  an,  relative  Verniinftigkeiten, 
Zweckmassigkeiten.  Aber  was  Sie  da  von  allgemeingiiltiger 
Realitat  faseln  . . . Donnerwetter,  gerade  gegen  solche  torichte 
Ideologien  anzukampfen,  darin  sehe  ich  den  bescheidenen,  aber 
vielleicht  doch  nicht  ganz  unwesentlichen  Sinn  meines  Daseins. 
Zum  Teufel,  ist  denn  jemand  so  kurzsichtig,  der  das  nicht  ein- 
sieht?  Es  gibt  kein  Recht  fiir  alle  und  keine  Gerechtigkeit,  weil 
jeder  Recht  hat,  der  Recht  zu  haben  glaubt,  jeder  Staat,  jedes 
Volk,  jeder  Einzelne.  Deshalb  mufi  es  ewig  Krieg  geben,  Zwie- 
tracht  von  Mann  zu  Mann  und  Kneg  der  Volker  unterein- 
ander  . . 

Kaum  hatte  der  Minister  diese  Worte  ausgesprochen,  als 
das  Gespenst  sich  mit  einemmale  wie  umgewandelt  gebardete. 
War  es  bisher  eines  von  der  weinerlichen  Sorte,  sogar  nahezu 
temperamentlos  gewesen,  so  geriet  es  jetzt  in  einen  zornigen 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  T ode 


249 


Eifer,  der  dem  des  Barons  in  nichts  nachstand.  „Hallo,  das  ist 
ja  Unsinn“,  rief  es  und  schien  alle  Zimperlichkeit  mit  einem 
Schlage  vergessen  zu  haben:  „Es  gibt  kein  MuB  und  es  gibt 
keine  relative  Verniinftigkeit?  Mit  solchen  Ansichten  stecken 
Sie  ja  in  einer  ganz  gewaltigen  Verblendung.“ 

„Ich  — Verblendung?  Ich,  der  anerkannt  sachlichste  Real- 
politiker  der  Gegenwart?  Selbst  von  den  Gegnern  als  sacblich 
anerkannt?  Und  solch  ein  Phantast,  solch  ein  Utopist  wie  Sie, 
will  das  behaupten?  Wissen  Sie,  daB  ich  Leute  Ihres  Schlages 
fur  die  argsten,  ja  die  einzigen  Feinde  der  Menschheit  halte?“ 
Der  Baron  hatte  die  Erscheinung  beim  Arm  ergriffen  und  zerrte 
sie  hin  und  her,  die  Emporung  hatte  ihn  vollstandig  iibermannt. 
Doch  auch  die  Erscheinung  war  wild  geworden.  Erregt  tappte 
sie  um  sich,  allerdings  sehr  ungeschickt,  so  daB  sie  den  Baron 
verfehlte.  „Ja,  fiir  einen  solchen  Feind44,  schrie  dieser,  indem  er 
zurSeite  sprang,  „daB  ich  mir  gar  kein  Gewissen  daraus  mache, 
Sie  selbst  samt  Ihren  lappischen  Erfindungen  jetzt  auf  derStelle 
iiber  den  Haufen  zu  schieBen.44  Er  war  an  den  Schreibtisch 
geeilt,  offnete  eine  Kassette  und  begann  mit  zitternder  Hand, 
den  Revolver  von  neuem  zu  laden.  Dabei  aber  schrie  und  zankte 
er  ununterbrochen  weiter  und  seine  Stimme  klang  vor  Wut  und 
Aufregung  immer  heiserer:  ,,Mit  Ihrem  albernen  Gerede  von 
ewiger  Gerechtigkeit  . . . begreifen  Sie  gar  mcht,  daB  Sie  sich 
an  dem  heiligsten  Gute  der  Menschheit  versiindigen?  Wenn 
es  nur  ein  Recht  und  eine  Wahrheit  gabe,  wo  bliebe  dann  . . ., 
he,  wo  bliebe  dann  die  immanente  MiBlungenheit,  die  Smn- 
losigkeit  alles  Irdischen,  die  doch  gerade  darin  besteht,  dafl 
alle,  die  aufeinander  gegenseitig  loshauen,  alle,  alle  zugleich,  im 
Rechte  sind,  wo  bliebe  das  Christentum,  die  Religion  des  Lei- 
dens,  wo  bliebe  die  ganze  metaphysische  Tragik  des  Erden- 
wallens?" 

„Sie  erbarmlicher  Wicht44,  schrie  nun  auch  der  Geist  aus 
voller  Kehle  und  in  seine  Stimme  rollte  etwas  wie  unterirdischer 
Donner,  ja,  auch  aus  den  Wanden  und  Fenstem  schien  es 
dunkel  mitzusprechen,  der  Wind  draufien  setzte  mit  starkerer 
Wucht  ein  und  brachte  vom  Hochgebirg  ein  eigentiimlich  leises 


250  Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  detn  T ode 

Pfeifen  und  Knistern  mit,  als  losten  sich  irgendwo  in  der  Feme 
die  Fugen  des  uralten  Gesteins  und  bereiteten  sich  vor,  in  feinen 
Staubbachen  herabzurieseln.  „Sie  erbarmlicher  Wicht‘\  schrie 
gleichsam  die  ganze  sicbtbare  Natur  in  ihrer  Emporung  auf. 
„Ist  es  Ihre  Sache,  Gott  ins  Handwerk  zu  pfuschen,  und  die 
Tragik  seines  Werkes  gonnerhaft  besorgt  zu  protegieren,  fur 
die  vielleicht  genug  und  mehr  als  genug  geschehen  ist,  wenn 
er  solche  schadliche  Wiirmer  wie  Sie  in  seiner  unendlichen  Giite 
iiberhaupt  nur  weiterexistieren  lafit,  statt  sie  zu  vertilgen?“  — 
Bei  diesen  Worten  bog  sich  das  Gespenst  ganz  zuriick,  als  wolle 
es  einen  Anlauf  nehmen,  um  das  Menschlein  einfach  mit  der 
Wucht  seines  Leibes  niederzustofien  und  dann  zu  erdriicken. 
Durch  diese  heftige  Bewegung  aber  hatte  es  sich  unversehens 
aus  dem  Parkett,  in  dem  es  noch  immer  bis  zum  Knie  gefangen 
stand,  frei  gemacht.  Es  stieg  nun  vollends  empor,  erstaunlicher- 
weise  jedoch  hielt  es  mit  dieser  Bewegung  nicht  ein,  als  es  die 
Ebene  des  Fufibodens  unter  den  Sohlen  hatte,  sondern  wie  im 
Schwung  seines  Ausholens  erhob  es  sich  weiter  und  fuhr  nun 
frei  in  die  Luft  empor,  doch  nicht  geradeaus,  sondern  schrag, 
als  schwebe  es  eine  unsichtbare  Treppe  hinauf.  In  dieser  Be- 
wegung kam  es  wie  in  einem  eisigen  Luftzug  dicht  am  Baron 
vorbei,  so  dafi  es  ihn  also  wieder  verfehlt  hatte.  „Wehe  mir“, 
schrie  es  jetzt  mit  klaglich-schneidendem  Laut,  indem  es  plotz- 
hch  etwa  in  halber  Hohe  des  Zimmers  einhielt  und  fast  unbe- 
weglich,  nur  mit  leichtem  Pendelschlag  schwingend  blieb. 

„Meine  Siinde!  Meme  Siinde!“ 

Der  Baron  war  zitternd  in  die  Knie  gestiirzt,  in  weitem 
Bogen  entfiel  die  Waffe  seiner  Hand  und  klirrte  zu  Boden. 
Nicht  so  sehr  die  Rede  des  Geistes  als  der  furchtbare  Anblick 
des  in  der  Luft  wie  an  einem  Galgen  hangenden  Leibes,  der 
an  Gespenstigkeit  all  das  Merkwiirdige,  was  er  an  diesem  denk- 
wiirdigen  Abend  bereits  erlebt  hatte,  weit  iiberbot,  warf  ihn  aus 
seiner  miihsam  erkiinstelten  Fassung.  Nun  riihrten  die  beben- 
den  Worte  von  oben,  die  wie  unmittelbar  aus  einem  gequalten 
Herzen  hervorgestofien  schienen,  an  einen  Nerv  seiner  Seele, 
der  schon  lange  nicht,  vielleicht  seit  semen  ersten  Kinderjahren 


Max  Brod  * Die  erste  Stunde  nach  dem  Todc 


nicht  geschwungen  hatte.  „Meine  Siinde ! Meine  Siinde !“ 
wimmerte  nun  auch  er  und  verdrehte  die  Augen.  Denn  weinen 
konnte  er  nicht  mehr.  Das  hatte  er  in  all  den  vielen  Jahren 
ganz  verlemt. 

Eine  Weile  schrien  nun  beide  jammervoll  durch  das  Zimmer 
und  erweckten  den  schaurigen  Widerhall  der  leise  knarrenden 
Mobel.  Der  Mond  war  untergegangen,  volliges  Dunkel  herrschte 
auBerhalb  des  Lampenschirms.  Jetzt  erst  bemerkte  man,  daB 
ein  ganz  zartes  flimmerndes,  blaulichweifies  Licht  von  den 
Konturen  des  Phantoms  ausging,  wie  von  einem  Kamm,  der 
knistemd  durch  Haare  streicht.  Es  machte  wirklich  den  Ein- 
druck,  als  sei  jedes  Faserchen  im  Kleide  des  Geistes  bis  zur 
Wurzel  hinab  schmerzlich  aufgeregt  und  erschauere  in  dem 
fremden  widerspenstigen  Medium  des  irdischen  Luftraumes, 
der  sich  bei  der  geringsten  Bewegung  als  unangenehm  krank- 
hafte  Reibung  bemerkbar  machte. 

„Was  ist  Ihnen  denn?  Herr  des  Himmels,  was  ist  Ihnen?“ 
rief  der  Minister,  dessen  Wut  vollig  verraucht  war  und  der  nur 
noch  Mitleid  fiihlte,  Mitleid  mit  der  armen  verirrten  Spuk- 
gestalt,  noch  mehr  Mitleid  aber  mit  sich  selbst,  denn  er  begann 
zu  ahnen,  daB  sein  Schicksal  in  jener  unausweichlich  gewissen 
Stunde  nach  dem  Tode  dem  des  Geistes  verwandt,  aber  noch 
viel,  viel  entsetzlicher  sich  gestalten  miisse. 

„Sehn  Sie  denn  nicht“,  erklang  es  jammerlich  von  oben. 
„Ich  habe  keinen  Raumsinn,  das  ist  es.  Ich  erkenne  zwar,  daB 
es  hier  Zimmer  und  Stockwerke,  eine  gewisse  gesetzmassige 
Anordnung  von  Oben  und  Unten,  von  Rechts  und  Links  gibt. 
Aber  ich  kann  diese  merkwiirdige  Anordnung  nicht  in  mein 
Gefiihl  aufnehmen,  ich  kann  sie  nicht  von  innen  heraus  emp- 
finden  . . . Und  jetzt  weiB  ich  auch  schon,  fiir  welchen  be- 
sonderen  Vorfall  meines  Lebens  diese  Heimsuchung  mich 
treffen  soll.“ 

„Oh  , es  ist  schrecklich“,  wehklagte  der  Minister.  „ Was  wares 
denn,  was  Sie  verbrochen  haben  ? Vielleicht  kann  ich  Ihnen 
helfen.  Wenn  es  in  meiner  Macht  liegt,  seien  Sie  iiberzeugt, 
daB  ich  nichts  unversucht  lassen  werde  . . .“  Die  gewohnten 


17  Vol.  m/2 


252 


Max  Brod  * Die  ersie  Stunde  nach  dem  Tode 


Diplomatenphrasen  kamen  tonlos,  nur  so  kopfiiber  aus  seinem 
blassen  Munde  gestiirzt. 

Der  Geist  antwortete  auf  sein  Anerbieten  gar  nicht,  er  schien 
ganz  in  Erinnerung  zu  versinken  und  nur  zu  sich  selbst  zu 
sprechen:  „Ein  vomehmer  Mann,  ich  giaube,  er  war  Staats- 
minister,  besuchte  mich  einmal,  vielleicht  in  der  besten  Ab- 
sicht,  von  lauterstem  Wohlwollen  erfiillt,  in  meiner  armseligen 
Dachkammer.  Er  wollte  von  mir  Iemen,  sagte  er,  wollte  meine 
originelle  Lebensweise,  meinen  Eigenbau  in  Weltanschauungen, 
so  nannte  er  es  wortlich,  mit  eigenen  Sinnen  nachpriifen.  Da 
ritt  mich  der  Satan  der  Aufgeblasenheit,  der  richtige  Proletarier- 
stolz  und  ich  warf  ihn  eigenhandig  dieTreppe  hinunter,  wobei 
ich  triumphierend  ausrief:  „Damit  Sie  wirklich  sehen  und  am 
eigenen  Leib  fiihlen,  dafi  es  bei  mir  kein  Hoch  und  Niedrig, 


kein  Oben  und  Unten  gibt. 

„Kein  Oben  und  Unten. 
gliicksehger  jetzt  in  der  Luft? 
damals  nicht  schon  von  Ihnen.“ 


Und  deshalb  hangen  Sie  Un- 
Nun,  aber  es  war  wirklich 


„Ja,  das  schrie  ich  ihm  damals  nach,  mit  vollem  Brustton 
und  in  der  Uberzeugung,  etwas  Grofiartiges  ausgefiihrt  zu 
haben.  Leider  bin  ich  ja  so  jahzornig.  Sie  haben  vorhin  eine 
Probe  davon  erlebt.  Und  es  kam  mir  damals  so  naheliegend 
vor,  so  selbstverstandlich,  den  Mann  einfach  am  Kragen  zu 
packen  und  hinunterzuwerfen.  Nachher  noch  freute  ich  mich 
lange  dariiber,  dafi  ich  diesen  glanzenden  Einfall  gehabt  hatte, 
er  schien  mir  aus  meinem  Innersten  gekommen  zu  sein,  ich 
konnte  mir  gar  nicht  vorstellen,  dafi  die  Sache  anders  hatte 
ausfallen  sollen  und  diirfen.  — Jetzt  aber  fiihle  ich  ganz  genau 
eben  diese  scheinbare  Selbstverstandlichkeit  und  Insichgeschlos- 
senheit,  diese  handgreifliche  Sicherheit  der  Dinge  ist  die  argste 
Gefahr,  die  argste  Versuchung  fur  die  Sterblichen.  Es  kann 
gar  nicht  anders  sein,  denkt  man,  oder  denkt  gar  nichts,  be- 
ruhigt  sich  einfach  dabei,  dafi  es  so  ist,  dafi  es  Elend  undHeu- 
chelei  und  Massenmord  und  Verkiimmerung  gibt.  Es  ist  nichts 
zu  andern  und  zu  bessern,  denkt  man,  und  vergifit  ganz,  dafi 
man  bei  sich  selbst  den  Anfang  machen  konnte  . . 


253 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dent  Tode 


Der  Baron  unterbrach  ihn,  zahneklappemd,  mit  dem  Aus- 
bruch  seiner  hochsten  Angst:  ,,Aber  bedenken  Sie,  Liebster, 
wie  wird  es  erst  mir  ergehen,  wenn  Sie  schon  wegen  einer  ein- 
maligen  geringfiigigen  Verfehlung  oder  vielmehr  nur  Vier- 
schrotigkeit  so  viel  auszustehen  haben  ? In  Etikette  und  Distanz- 
fragen  zwar  werde  ich  mich  auskennen.  Aber  in  den  vielen  an- 
deren  und,  wie  es  scheint,  wichtigeren  Dingen,  die  ich  alle  nur 
als  Gewohnheiten  gelten  lieB,  und  die  sich  infolgedessen  alle 
gegen  mich  emporen  werden?  Sogar  an  den  Tod,  pflegte  ich 
zu  sagen,  haben  wir  uns  gewohnt.  Also  wird  es  mir  in  der  ver- 
drehten  Welt...  im  Jenseits  wollte  ich  sagen,  ganz  liberraschend 
neu  und  unerklarlich  erscheinen,  nicht  wahr?“ 

,,Ja,  jetzt  ergreift  es  mich“,  rief  das  Gespenst  in  diesem 
Augenblick  frohlockend  aus,  ohne  sich  um  den  von  Entsetzen 
geschiittelten  Staatsmann  zu  ktimmern,  „jetzt,  jetzt  weicht  das 
Verhangnis  von  mir.  Jetzt  fiihle  ich,  daB  mir  verziehen  wird. 
Eine  unvergleichliche  Harmonie  ergreift  mich,  erfiillt  meine 
GIieder...“  Freudetranen  glanzten  in  den  Augen  des  Greises, 
der  verstummt  war  und  mit  einem  sanften  Lacheln  auf  seinen 
Ziigen  langsam  zum  Fufiboden  niederschwebte.  Er  hatte  jetzt 
auch  schon  nicht  mehr  als  die  GroBe  und  Gestalt  eines  nor- 
malen  Menschen,  das  spitzige  Nadelglitzern  rings  um  seinen 
Korper  war  verschwunden.  Nun  hatte  er  das  Parkett  beriihrt. 
Sofort  losten  sich  seine  FiiBe  aus  der  unnatiirlichen  Gebunden- 
heit  und  frei  schritt  er  jetzt  auf  den  Baron  zu,  den  er  auch 
schon  richtig  von  seiner  Umgebung  zu  unterscheiden  schien. 
Er  bemerkte  jetzt,  dafi  dieser  auf  der  Erde  kniete.  „Stehn  Sie 
auf“,  sagte  er  freundlich  und  half  ihm  nach,  indem  er  den  Ach- 
zenden  emporhob,  „niemand  ist  unrettbar  verloren  . . . Mich 
aber  reifit  es  jetzt  mit  Macht  anderswohin.  Welche  andere 
Priifungen  sind  mir  noch  beschieden?  Oder  stehe  ich  schon 
am  Ende  und  bin  fur  die  hochste  Ebene  gelautert?  Ich  weiB 
es  nicht.  Ich  fiihle  nur,  daB  meine  Zeit  in  dieser  terrestrischen 
Welt  um  ist,  dafi  ich  wieder  in  eine  neue  Sphare  auftauche, 
vielleicht  — oh,  die  Ahnung  schon  beseligt  — in  eine  reinere, 
als  diese  hier  und  als  die  meine  es  waren.  Leben  Sie  wohl !“ 


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254  Max  Brod  * Die  erste  S tunic  nach  de)n  Tode 

,,Nein,  bleiben  Sie“,  rief  der  Baron  verzweifelt,  „bleiben  Sie 
bei  mir.  Sprechen  Sie  noch.  Sie  tun  mir  so  wohl.  Und  damit 
will  ich  nicht  sagen,  dafi  ich  mich  nur  an  Sie  gewohnt  habe. 
Nein,  es  ist  etwas  Wesenhaftes,  Wirkliches,  wenn  Sie  bleiben. “ 

Die  Erscheinung  schiittelte  ernst  den  Kopf:  „Ich  darf  es 
nicht.“ 

„Und  wenn  ich  kniefallig  bitte.  Wenn  ich  Ihnen  sage,  daB 
Ihre  Worte  von  unendlicher,  ausschlaggebender  Bedeutung  fur 
mein  Seelenheil  sein  konnen,  dafi  meine  unsterbliche  Erlosung 
in  Ihrer  Hand  liegt.“ 

„Ein  hoheres  Gesetz  zwingt  mich,  zu  gehen.“ 

In  einer  Demut,  die  er  nie  vorher  gekannt  hatte,  neigte  der 
Minister  das  Haupt.  Die  Erscheinung  reichte  lhm  sanft  die 
Hand. 

,,Dann  sagen  Sie  mir  wenigstens  noch  das  eine:  Welche  er- 
schiittemden  Erfahrungen,  hohen  Studien,  welche  Gelehrsam- 
keit  und  groBartige  Unterweisung  haben  Sie  in  Ihrer  Sylphen- 
welt  durchgemacht,  um  sich  zu  einer  so  hohen  Erkenntnisstufe 
emporzuringen,  daB  Ihnen  nach  dem  Tode  wenig  mehr  als 
eine  kleine  Peinlichkeit  beschieden  war?  GewiB  waren  Sie 
Philosophenschiiler  und  selbst  Philosoph,  waren  ein  groBer 
verkannter  Kiinstler,  oder  gar  ein  Apostel,  ein  Prophet,  ein 
Religionsstifter  ?“ 

„Nem“,  erwiderte  die  Erscheinung  mit  eigentiimlich  ver- 
haltenem  Lacheln.  ,,Ich  habe  gelebt  wie  jeder  andere.  Ein 
Unrecht  habe  ich  niemals  geduldet,  das  ist  wahr,  aber  zum 
Studieren  hatte  ich  nur  wenig  Zeit.  Mein  Beruf  freilich  war 
ein  philosophischer.  Oft  mufite  ich  namlich  allein  sein,  in  einer 
ganz  engen,  finstern  Kammer,  fern  von  alien  Menschen  und 
nur  auf  mich  angewiesen.  So  etwas  ladt  zum  Nachdenken  ein. 
Ich  war  Schornsteinfeger.“ 

Der  Minister  zuckte  zusammen.  ,,Schornsteinfeger  — Schorn- 
steinfeger“  — wiederholte  er  lallend. 

Als  er  aufsah,  war  die  Erscheinung  spurlos  verschwunden. 

Plotzlich  schrie  er  auf  und  stiirzte  ansTelephon:  „Hallo 
— Irrenanstalt,  Irrenanstalt.“ 


Max  Brod  ♦ Die  erste  Stunde  nach  dem  Tode  255 


Der  Nachtinspektor  meldete  sich. 

..1st  Arthur  Bruchfefi  dort?  Der  Schornsteinfeger,  der  heute 
das  Attentat  auf  mich  veriibt  hat  ? 1st  er  nicht  gerade  vor  einer 
halben  Stunde  gestorben  ?“  Der  Minister  glaubte  nichts  anderes, 
als  dafi  er  die  eben  beendete  Unterredung  mit  dem  Spirit  dieses 
Mannes  gfehabt  hatte. 

„Ich  werde  sofort  selbst  nachsehen,  Exzellenz." 

Nach  einer  Weile,  deren  Spannung  sich  ins  Unertragliche 
ausdehnte:  „Nein,  Inhaftat  Bruchfefi  lebt,  ist  sogar  auffallend 
ruhig  und  heiter.  Er  hat  sich  nicht  zur  Ruhe  gelegt,  sondern 
geht,  ein  Liedchen  trallernd,  in  seiner  Zelle  auf  und  ab.  Die 
Arzte  haben  nicht  die  geringste  Spur  von  geistiger  Umnachtung 
an  ihm  feststellen  konnen,  nicht  einmal  eine  besondere  Er- 
regung  des  Nervensystems.“ 

,, Lassen  Sie  den  Mann  laufen,  sofort“,  keuchte  der  Minister, 
„die  ganze  Affare  wird  niedergeschlagen.  Man  mufi  das  alles 
anders  machen,  die  ganze  Justiz,  die  ganze  Welt.  Haben  Sie 
verstanden  ? Sofort  in  Freiheit  setzen.“ 

„Zu  Befehl,  Eure  Exzellenz.“ 

Schwer  atmend  fiel  der  Minister  in  seinen  Sessel  nieder, 
ununterbrochen  versetzte  er  seinem  Kopf  leichte  Schlage,  wie 
um  sich  aufzuriitteln  und  das  Unsagbare  zu  fassen. 

Da  raschelte  es  in  der  Tiire. 

Die  schone  Gabriele  war  eingetreten.  Das  laute  Gesprach 
vorhm  hatte  sie  nicht  geweckt,  wohl  aber  jetzt  das  Klingeln 
des  Telephons . „Wann  kommst  du  endlich  ?“  riefsie  undspitzte 
schmollend  ihre  Lippen.  So  blieb  sie,  leicht  erschauemd,  stehn, 
denn  sie  trug  nichts  als  ihr  diinnes  halbdurchsichtiges  Nacht- 
hemdchen,  das  nur  zwei  hellblaue  Seidenbandchen  liber  den 
Schultern  festhielten.  Man  sah  ihr  einfaches  junges  Gesicht, 
die  zarten  runden  Arme  und  jene  leichte  apfelglatte  Wolbung 
des  kleinen  Busens,  die  mehr  als  alles  in  der  Welt  selbst- 
verstandlich  ist  und  zu  vertraulich-heimischem  Vergessen,  zur 
siifien  Gewohnheit  eines  bewufitlosen  Ausruhens  verleitet.  Auch 
ein  Starkerer  als  der  Baron  hatte  diesem  mit  sanfter  Gewalt 
berauschenden  Anblick  nicht  widerstanden.  Im  nachsten 


256 


Max  Brod  ♦ Die  ersie  Stunde  nach  dem  Tode 


Augenblick  war  er  bei  ihr.  „Wie  lange  soli  ich  noch  allein 
warten?“  hauchte  sie  zartlicb,  wahrend  er  sie  schon  umfangen 
hielt  und  sich,  mit  stiirmiscber  Freude,  aus  tiefer  Brust  auf- 
atmend,  der  slifien  miitterlichen  Schlaflauheit,  die  von  ihrem 
Korper  ausging,  und  dem  sachten  Schlag  tiberlieB,  mit  dem 
ihneineihrer  losgeldsten  Haarstrahnen  wie  eine  unendlich  feine, 
melodisch  aufklingende  Zaubergerte  an  der  Wange  beriihrte. 


Hans  Gathmann  * Ruj 


KLEINE  ANTHOLOGIE. 


Sffans  Qaidmann: 

RUF 

Wir,  aus-  und  eingebuchtet  von  den  Auf-  und  Niedergangen 
der  Tage  und  der  Menschen,  die  uns  iiberqueren, 

Wir  Eingespannte  Leids  und  Gliickes  straffen  Strangen, 
Schlachten  ersinnend,  dass  wir  uns  verheeren, 

uns  bliiht  kein  Garten  mebr!  Die  Rosen  leuchten 
nur  iiber  Totenschadeln,  die  verscharrt  die  Wiirmer  nagen ! 

Es  brachen  Stiirme  los,  die  Geist  und  Herz  verscheuchten ! 
Europa!  Sammle  dich  zu  Friedensarbeitstagen ! 

Du  stirbst ! Der  Sohne  ruchlos  ausgeschiittet  Blut  wird  dich 

ertranken ! 

Hort  Briiderruf!  Und  zu  den  Sternen  aufgetiirmtes  Schreien! 
Lass  sich  der  Briider  ungehemmten  Lauf  zu  Briidern  lenken ! 
Giess  Sonne  briiderlich ! Und  Krafte,  uns  dem  neuen  Stern  zu 

weihen ! 

Verscheuch  Vertieren!  Fieischbefiihlen  und  das  Aas-Betasten 
der  Toten,  die  dem  Wahn  zum  Opfer  fielen 
Und  furchtbar  mit  den  starren  Augen  glasten ! 

Verscheuch  Vertieren ! Und  so  nach  dem  grossten  Gelde  schielen ! 


258 


Willy  Kiistcrs  ♦ Gebet  und  Tod 


f$iffy  0(usters  : 

GEBET  UM  TOD 

Nun  hat  man  wieder  mich  ins  Totenkleid  gesteckt. 

Dumpf  pocht  der  Wille  an  die  dunklen  Wande. 

Ich  stehe  starr  und  stumm,  die  kahlen  Hande 
In  namenlosem  Grauen  in  die  fahle  Luft  gereckt. 

Schlagt  mich  ans  Kreuz!  Zerbrecht  mir  die  Gebeine! 

Nur  lafit  das  Leben  noch  in  meinen  Armen  I 
Ich  will  in  weltbegliickendem  Erbarmen 
Der  Briider  Schwerter  in  die  Arme  fassen, 

Mein  Herz  durchstofien  und  entfliefien  lassen. 

Um  dieses,  Erde,  fleh  ich  dich,  um  dieses  Eine: 

Schaff  aus  dem  Blutstrom,  meines  Leibs  verwestem  Paradiese, 
Des  neuen  Menschen  Tempel,  Stern  und  Festtags wiese. 


Alfred  Wolfenstetn  ♦ Bewegung 


259 


£3>ffred  C XOoffenstein : 

BEWEGUNG 

PRESTO. 

O schweige  nicht,  das  Weltall  schweigt  in  leerem  Chor  — 
— Es  schaumen  meine  Arme  aus  der  Brust  Kervor. 

Wo  weilen  deine  ? 

Sie  werfen  aus  Verstecken  Steine. 

Es  stiirzt  mein  Blut  vom  Herzen,  den  verzweigten  Lauf 
Fangt  Wald  und  Ather  ozeanisch  schliirfend  auf, 

Und  doch  nur  Tropfen, 

Das  ungetiime  Rund  zu  stopfen ! 

Und  meiner  Blicke  iibervolles  Strahlen  mischt 
Nur  einen  Streifen  in  die  Luft  hell,  der  verzischt. 

Die  Lippen  stufen 

Den  Wind  mit  rasch  verwischten  Rufen. 

Das  ist  die  weite  Welt!  wer  riihrt  sie  menschlich  an? 
Unformlich  liegt  sie,  breit  erwartend  jedermann. 

O bhndlings  Schweigen, 

Wo  Lerchen  sich  verlierend  steigen. 

Doch  du  bist  hier!  Gesang,  Gerank  fiir  uns  und  dich! 
Den  Horizont,  der  in  die  diinnste  Feme  schhch, 

Driickst  du  zusammen 

In  deines  Haupts  gedrangte  Flammen. 


260 


Alfred  Wolfenstein  * Bewegung 


In  deiner  Haut  bewohnten  Mauern  glanzt  die  Glut, 

Die  statt  der  Sonn’  und  Mondes  gliiht  als  Schlecht  und  Gut. 

Nur  dich  beriihren 

Gestalten  Andrer!  loschen,  schiiren. 


Du  Mensch  und  meine  einzige  Moglichkeit!  du  Freund  — 
— Und  du,  die  Burg  der  Seele,  — allzuhart  umzaunt, 
StoBt  meine  Liebe 
In  haltlos  tiefe  Weltgetriebe ! 


ANDANTE. 

Fasst  eure  Finger:  spiiret  euch  denken, 

Tupfend  wie  Geigen,  nervige  Singer, 

Aber  vom  Herzen  aufpulsen  Pauken, 

Dumpfere  Ringer,  um  euer  Gliick. 

Wiinscht  nicht,  zu  stehen,  horend  zu  schmelzen! 
Formet  mit  Fiiften  bergiges  Gehen, 

Kampfend  entgegen  atmet  die  Erde! 

Wild  bleibt  ihr  Wehen  in  euch  zuriick. 

Sterniges  Kiihlen  — Gliihen  der  Seele, 
Emsamkeit,  Liebe,  o beides  fiihlen! 

Gehende  Stimme  geht  auf  zu  Stimmen, 

Freunde  umwiihlen  Wiiste  in  Gliick! 


SCHERZO. 

Die  Tapeten  hangen  bleich  vom  Gas  der  Strafie 

— Schwarze  Finger  schlagt  des  Baumes  Laub  ins  Licht, 

— Bis  sein  Schatten  plotzlich  blind  allein  durchbricht 
Neben  dem  verloschten  Pfahle, 

Und  mein  Zimmer  zackig  schwankt  und  rauscht. 


Alfred  Wolfenstein  * Bewegung 


261 


— Bis  das  Knacken  eines  Knopfes 
Leicht  sein  Dunkel  iiberfliegt 
Und  es  fest  und  gliihend  voller  Friichte  liegt, 
Blitze  dringen  auf  den  Schreibtisch  ein, 

In  die  tote  Strafie  lauft  ein  Schein. 


ALLEGRO. 

Die  Menge  iiberfullt  die  Strafien,  auf  die  Dacher 
Schlagen  die  Kronen  der  Getose.  Hohler  und  frecher 
An  des  Abends  Miindung. 

Ein  Madchen  kommt,  die  weiBen  Kleider  bunt  von  Blicken, 
Bedeckt  mit  Kiissen  des  Getiimmels,  bohrend  nicken 
Die  blutroten  Fenster. 

Die  Pferde  schiitteln  sich,  die  Knochenkopfe  schwanken. 

Von  Scharen  Peitschen  rasch  gestreift  in  weichen  Flanken. 
Noch  fern  die  einsamen  Stalle.  — 

Die  dichten  Lam  pen  mischen  ihre  dunstigen  Zungen. 

Am  Boden  Bettler  quer  mit  Stocken  eingedrungen 
Versinken  in  FiiBen.  — 

Und  dann  Gestirne,  eng  aus  Freundschaft,  — docb  geschieden 
Durch  unberiihrte  Kliifte  Finsternis  und  Frieden, 

Die  zarteste  Menge! 


262 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


Gduard  ^Bernstein: 


• • 


VOLKER  ZU  HAUSE 


ERINNERUNGEN. 

VI. 

GEHEIME  KONGRESSE  UND  DIE  AUSWEISUNG 

AUS  DER  SCHWEIZ. 


N die  Zeit  meines  Aufenthalts  in  Zurich  fallen  die  drei  Kon- 
gresse,  welche  die  unter  das  Ausnahmegesetz  gestellte  deut- 
sche  Sozialdemokratie  im  Auslande  abhielt.  Ihnen  und  meiner 
auf  dem  letzten  dieser  Kongresse  erfolgten  Ausweisung  aus  der 
Schweiz  glaube  ich  einen  Abschnitt  dieser  Erinnerungen  widmen 
zu  sollen.  Zuvor  aber  einige  Bemerkungen  iiber  die  Personlich- 
keit  des  bedeutenden  Mannes,  dessen  Kollege  ich  durch  Uber- 
nahme  der  Redaktion  des  ,,Sozialdeinokrat“  geworden  war,  und 
dessen  Name  in  diesen  Tagen  durch  seinen  Sohn  dem  groBen 
Pubhkum  ins  Gedachtnis  zuriickgerufen  worden  ist.  Ich  meine 
den  Vater  meines  Reichstagskollegen  und  Gesinnungsgenossen 
Karl  Liebknecht,  den  urn  die  Begriindung  und  Ausbildung  der 
deutschen  Sozialdemokratie  hochverdienten  Wilhelm  Liebknecht. 

Liebknecht  war,  wie  friiher  erzahlt  wurde,  deutscher  Redak- 
teur  am  ,,Sozialdemokrat‘‘.  Als  ich  die  Ziiricher  Redaktion 
ubernahm,  saB  er  grade  eine  vielmonatige  Gefangnisstrafe  ab. 
Bald  nach  seiner  Freilassung  kam  er  jedoch  auf  vier  bis  fiinf 
Wocnen  nach  Zurich,  um  sich  mit  mir  iiber  die  Redaktion  zu 
besprechen  und  zugleich  sich  von  seiner  Haft  zu  erholen.  Dies 

* Siehe  das  Dezemberheft  der  WciCcn  Blatter,  2.  Jahrgang,  und  die  Februar-,  Marz-, 
Mai-  und  Julihefte,  3.  Jahrgang. 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


263 


ist  vielleicht  nicht  das  richtige  Wort.  Denn  von  korperlicher 
Geschwachtheit  war  an  diesem  kerngesunden  Mann  nichts  zu 
nierken.  Aber  er  wollte  eine  Zeitlang  freieLuft  atmen  und  hatte 
die  Ferien,  die  er  zu  diesem  Zweck  nahm,  gewifi  redlich  verdient. 

In  diesen  vier  Wochen  nun  und  bei  den  weiteren  Besuchen, 
die  Liebknecht  uns  in  der  Folge  abstattete,  sowie  durch  unsern 
Briefwechsel  habe  ich  reichlich  Gelegenheit  gehabt,  ihn  genauer 
kennen  zu  lernen.  Vor  allem  lernte  ich  seine  Arbeitskraft  be- 
wundern.  Der  Mann  war  von  einer  erstaunlichen  Elastizitat 
des  Geistes.  Ich  glaube  nicht,  dafl  er  sonderlich  viel  und  inten- 
siv  gelesen  hat,  und  theoretisch  war  er  schon  damals  nicht  mehr 
mein  Lehrer,  da  ich  mich  in  den  Marxismus  vertiefte,  zu  dessen 
Exponenten  er  nicht  gerechnet  werden  konnte.  Nach  seiner 
Geistesrichtung  gehorte  Liebknecht  vielmehr  eher  zu  den  Sozia- 
listen  der  franzosischen  Schule,  und  an  die  Franzosen  erinnerte 
auch  sein  glanzender,  an  kurzen,  schlagenden  Satzen  und  zuge- 
spitzten  Gegeniiberstellungen  reicher  Stil.  Er  beherrschte  die 
Form  in  ungleich  hoherem  Grade  als  sein  Mitkampfer  August 
Bebel,  dessen  Starke  dagegen  die  Substanz  war,  und  ganz  be- 
sonders  zu  Hause  war  er  in  der  Geschichte  der  Revolutions- 
kampfe  Frankreichs,  in  bezug  auf  ihre  Behandlung  u.  a.  von 
Jules  Michelet  beeinfluBt.  Bei  Gelegenheit  jenes  Besuches 
fragte  ich  ihn  einmal,  ob  er  mir  nicht  zur  Wiederkehr  des 
1 0 . August  einen  Artikel  iiber  den  Sturm  auf  die  Tuilerien  (1792) 
schreiben  konne.  „Gewifi“,  sagte  er,  „den  sollst  du  haben.“ 
Sprach’s,  ging  in  sein  Zimmer  und  brachte  mir,  ohne  zu  Biichern 
gegriffen  zu  haben,  nach  einer  Stunde  einen  mit  packender 
Kraft  geschriebenen  Artikel,  der  die  ganze  erste Seite des  „Sozial- 
demokrat“  vom  1 1 . August  1 88 1 fiilite.  Er  konnte  unter  den 
schwiengsten  Verhalfnissen  Artikel  oder  polemische  Notizen 
schreiben,  im  Eisenbahnabteil,  in  einem  mit  laut  schwatzenden 
Menschen  gefiillten  Zimmer  — ja,  einmal  habe  ich  ihn  beobachtet, 
wie  er  als  Leiter  einer  durchaus  nicht  ruhig  sich  verhaltenden  Ver- 
sammlung  vor  sich  hin  an  einem  Artikel  arbeitete.  Ebenso  warer 
als  Redner  durchaus  nich  t auf  Vorbereitung  angewiesen . Die  beste 
Rede,  die  ich  von  ihm  gehort  habe,  war  ganz  und  gar  improvisiert. 


264 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  H arise 


Diese  Leichtigkeit  der  geistigen  Orientierung  nun  hat  Wilhelm 
Liebknecht  auf  semen  Sohn  vererbt.  Und  nicht  nur  sie.  In 
seinem  ganzen  politischen  Verhalten  ist  Karl  Liebknecht  durch- 
aus  der  Sohn  seines  Vaters.  Das  zeigt  sich  mit  verbliiffender 
Deutlichkeit,  wenn  man  ihn  nicht  mit  dem  unter  festgelegten 
Parteiverhaltnissen  arbeitenden  Parteiveteranen,  sondern  mit  dem 
im  gleichen  Alter  wie  er  stehenden  und  unter  ahnlichen  Ver- 
haltnissen  wirkenden  Wilhelm  Liebknecht  vergleicht.  Karl  Marx 
spricht  einmal  in  einem  Brief  an  Friedrich  Engels  von  dem 
..grenzenlosen  Optimismus  unseres  Liebknecht1*.  Das  Wort  war 
berechtigt,  aber  es  deckt  die  Geistesart  nicht  vollig,  um  die  es 
sich  da  handelt.  Mit  dem  Optimismus  in  inmgster  Verbindung 
stand  zugleich,  vielleicht  als  Uranlage,  eineselteneUnbesorgtheit 
um  alles,  was  die  eigene  Person  betraf,  und  Gleichgiiltigkeit 
gegen  formale  Regeln.  Auch  Wilhelm  Liebknecht  folgte  als 
Politiker  nicht  selten  ohne  langes  Uberlegen  spontanen  Ein- 
gebungen,  auch  er  rief  zu  seiner  Zeit  durch  riicksichtsloses  Aus- 
sprechen  dessen,  was  ihm  Wahrheit  war,  Stiirme  im  Parlament 
hervor,  auch  er  brachte  sich  nicht  selten  durch  eigenmachtiges 
Handeln  mit  seinen  politischen  Freunden  in  Konflikte.  Dieser 
Hang  zur  Eigenmachtigkeit  war  nicht  auf  berechnete  Effekt- 
hascherei  zuriickzufiihren,  er  war  die  Komplementareigenschaft 
des  Mutes,  der  Wilhelm  Liebknecht  befahigte,  in  Situationen, 
wo  alles  um  ihn  herum  dem  Taumel  des  Erfolgs  huldigte  oder 
vor  ihm  die  Segel  strich,  den  Berauschten  als  Anwalt  der  Mensch- 
lichkeit  und  Gerechtigkeit  entgegenzutreten.  Will  man  Karl 
Liebknecht  gerecht  beurteilen,  so  mufi  man  Wesen  und  Verhalten 
seines  Vaters  studieren. 

Als  Privatmann  war  Wilhelm  Liebknecht  durchaus  bedachtig, 
ohnedarum  Asket  zu  sein.  Er  konnte  beimTrinken  viel  vertragen, 
aber  war  fiir  gewohnlich  ein  durchaus  maBiger  Trinker.  Er  war 
beim  Gastmahl  ein  guter  Esser,  aber  ebenso  leicht  mit  sehr 
bescheidener  Kost  zufrieden.  So  beschneb  er  mir  damals,  wo 
er  gerade  das  Gefangnis  verlassen  hatte,  seme  Gefangniskost  als 
ihm  auBerst  zutraglich,  und  wiederholt  kam  es  vor,  daB  er  uns 
beim  Glase  Bier  ein  nichts  weniger  als  ausgezeichnetes  Gebrau 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


265 


als  „pompos“  pries.  Eine  seiner  Leidenschaften  war  Wandern  in 
der  freien  Natur,  und  da  er  damit  bei  mir  auf  einen  verwandten 
Hang  stiefi,  haben  wir  viele  Spaziergange  auf  den  Zlirichberg 
und  andere  Anhohen  um  Zurich  miteinander  gemacht.  Memer- 
seits  habe  ich  ihn  m jenen  Tagen  veranlafit,  die  edle  Kunst  des 
Schwimmens  wieder  aufzunehmen,  die  er,  wie  er  .mir  erklarte, 
wohl  gut  zwei  Jahrzehnte  nicht  mehr  geiibt  hatte.  Kraftig,  wie 
er  war,  tummelte  er  sich  sofort  wieder  im  See,  wie  ein  Fisch  im 
Wasser,  und  eines  Tages  haben  dann  er,  Freund  Julius  Metteler 
und  ein  klein  wenig  auch  der  Schreiber  dieses  einen  im  Ertrinken 
Begriffenen,  der  schon  das  Bewufitsein  verloren  hatte,  mit  ver- 
einten  Anstrengungen  wieder  ans  Ufer  gebracht. 

Soviel  vom  Soldaten  der  Revolution,  wie  Wilhelm  Liebknecht 
sich  1 872  als  Angeklagter  im  Leipziger  Hochverratsprozefi  selbst 
bezeichnet  hat,  und  wonach  er  — ich  glaube  zuerst  von  mir  — 
den  Beinamen  „der  Soldat“  erhielt.  Und  nun  zu  den  Kongressen. 

Mehr  noch  als  fur  jede  andere  politische  Partei  sind  fur  eine 
demokratische  Partei  Delegiertentage  oder  Kongresse  eine  Le- 
bensnotwendigkeit,  da  nur  auf  solchen  oder  durch  solche  die 
Fragen  des  inneren  Lebens  der  Partei,  ihrer  Fiihrung  und  ihrer 
Politik  in  befriedigender  Weise  zum  Austrag  gebracht  werden 
konnen.  Da  nun  das  Ausnahmegesetz  es  der  deutschen  Sozial- 
demokratie  zur  Unmoglichkeit  machte,  im  Reichsgebiet  solche 
Kongresse  abzuhalten,  war  sie  genotigt,  solange  dieses  Gesetz 
bestand,  sie  ins  Ausland  zu  verlegen.  Und  selbst  das  mufite 
unter  Beobachtung  von  VorsichtsmaBregeln  aller  Art  geschehen. 
Die  Besucher  der  Kongresse  mufitenvor  politischer  Verfolgung 
und  die  Kongresse  selbst  vor  unerwiinschten  Teilnehmern  ge~ 
schiitzt  werden.  Wahrend  die  Anforderungen  einer  demokrati- 
schen  Vertretung  der  Mitgliedschaften  es  notig  machten,  die 
Tatsache,  dafi  ein  KongreC  bevorstehe.weithin  bekannt  zu  geben, 
mufite  zugleich  iiber  den  Ort,  das  genaue  Datum  des  Zusammen- 
tritts  des  Kongresses  sowie  iiber  allerhand  sonstige  Einzelheiten 
strenges  Stillschweigen  beobachtet  werden.  Bei  der  starken  Auf- 
merksamkeit,  welche  die  Polizei  alien  Vorgangen  in  der  Sozial- 
demokratie  widmete,  war  es  keine  leichte  Aufgabe,  beiden  An- 


266 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


forderungen  gerecht  zu  werden.  Aber  sie  ist  jedesmal  insoweit 
gelost  worden,  dafi  trotz  ihres  ausgebreiteten  Uberwachungs- 
dienstes  diePolizei  stets  erst  nach  Zusammentritt  der  Kongresse 
von  ihnen  erfuhr. 

Die  vielleicht  grofite  Uberrascbung  dieser  Art  bereitete  der 
Polizei,  und  nicht  nur  ihr,  gerade  der  erste  dieser  geheimen 
Kongresse.  Erward  in  denTagenvom  20.  bis  23.  August  I8&0 

auf  Schweizer  Gebiet  abgehalten,  und  alles  war  dazu  angetan, 
ihm  ein  romantisches  Geprage  zu  verleihen.  Da  die  allgemem 
bekannten  Ftihrer  der  Partei  auf  ihm  zu  erscheinen  hatten,  war 
davon  Abstand  genommen  worden,  ihn  in  einer  der  groBeren 
Stadte  der  Schweiz  zusammentreten  zu  lassen.  Das  gleichzeitige 
Erscheinen  der  Bebel,  Liebknecht,  Hasenklever,  Auer,  Grillen- 
berger,  Fritzsche,  Vahlteich  u.  a.  hatte  den  dort  herumlungern- 
den  Spitzeln  die  Auskundschaftung  des  Kongresses  gar  zu  leicht 
gemacht.  Ein  abseits  der  groBen  internationalenVerkehrsstraBen, 
unweit  des  Fleckens  Ossingen  im  Kanton  Zurich  gelegener, 
halb  verfallener  und  zumVerkauf  stehender  Herrensitz  — SchloB 
Wyden  — wurde  fur  geeignet  erachtet,  dieVertreter  der  geachteten 
Partei  einige  Tage  zu  beherbergen,  und  zu  diesem  Zweck  vom 
Inhaber  mit  der  Angabe  auf  eineWoche  gemietet,  es  wolle  die 
Kranken-  und  Sterbekasse  der  deutschen  Arbeitervereine  in  der 
Schweiz  dort  ihre  Generalversammlung  abhalten,  woran  der 
gute  Mann  nichts  Verdachtiges  fand.  Man  richtete  den  gerau- 
migen  Festsaal  des  ,,Schlosses“  — einst  der  Rittersaal  genannt 
zum  Versammlungssaal  her,  stattete  die  Kiiche  geniigend  aus, 
um  der  Frau  eines  St.Galler  Parteigenossen  nebst  einer  von  ihr 
eingestellten  Kochin  die  Speisung  der  Delegierten  zu  ermog- 
lichen,  und  da  kein  anderes  Zimmer  im  SchloB  benutzbar  war, 
ward  eines  der  kleinen  Nebengebaude,  das  sonst  als  Stallung 
oder  Scheune  dienen  mochte,  durch  Aufschiitten  von  Stroh  in 
den  Stand  gesetzt.den  Kongressteilnehmern  als  nachtliche  Lager- 
statte  zu  dienen.  Denn  weder  bot  der  Ort  Ossingen  geniigend 
Gastzimmer,  um  die  Delegierten  aufzunehmen,  noch  ward  es 
fur  ratsam  erachtet,  daB  iiberhaupt  Delegierte  in  nennenswerter 
Zahl  dort  Wohnung  nahmen,  da  dies  den  Bauern  leicht  Veran- 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause  267 

lassung  hatte  geben  konnen,  sich  etwas  genauer  um  die  Vorgange 
im  SchloB  zu  kiimmern.  Diese  sollten  sowenig  als  moglich  von 
dem  KongreB  merken.  Die  in  Zurich  oder  bei  den  Parteileitern 
in  Deutschland  angemeldeten  Delegierten  aber  wurden  nicht 
direkt  nach  Ossingen  entboten,  sondern  erhielten  nur  Weisung, 
sich  am  festgesetzten  Tage  in  Winterthur  in  einer  bestimmten, 
nahe  beim  Bahnhof  gelegenen  Wirtschaft  einzufinden.  Dort 
wurden  ihre  Mandate  einer  ersten  Priifung  unterzogen  und  lhnen 
dann  erst  gesagt,  wohin  die  Reise  wirklich  ging.  So  kam  man 
am  Nachmittag  des  20.  August  1880  unbeachtet  im  SchloB 

Wyden  zusammenund  konnte  auch  zweiTage  Beratung  pflegen, 
ohne  daB  lrgend  ein  Unbeteihgter  sich  emmischte.  Zuverlassige 
Genossen  sorgten  als,  ,Wachtposten“dafiir,daBdem  KongreB  jede 
Uberraschung  erspart  blieb.  Erst  am  vorletzten  Sitzungstage 
meldete  sich  der  Statthalter  des  Bezirks  Andelfingen,  zu  dem 
Ossingen  gehort,  und  ersuchte  um  Aufklarung,  was  man  im 
SchloB  triebe.  Da  der  Zweck  des  Kongresses  schon  im  wesent- 
lichen  erfiillt  war,  ward  dem  Mann,  der  der  demokratischen 
Partei  Ziirichs  angehorte,  klarer  Wein  eingeschenkt  und  lhm 
freigestellt,  der  Sitzung  beizuwohnen,  was  er  jedoch  ablehnte. 
Die  Bauern  von  Ossingen  aber  wollten,  als  der  KongreB  zu  Ende 
ging  und  sich  nur  eine  groflere  Zahl  Delegierter  in  den  Wirt - 
schaften  Ossingens  einfanden,  nur  dariiber  Auskunft  haben,  ,,ob 
die  Herre  auch  einen  Umzug  machen  wolle“.  Ein  KongreB  ohne 
Umzug  war  ihnen  offenbar  eine  Exekution  ohne  Delinquenten. 

Die  grofiere  Offentlichkeit  ward  liber  die  Tagung  des  Kon- 
gresses erst  durch  eine  Zeitungsnotiz  unternchtet,  die  von  Ver- 
tretern  der  Partei  selbst  in  die  Presse  lanciert  wurde  und  ent- 
sprechend  ausgeschmiickt  war.  Indes  war  die  Wirklichkeit  viel 
eindrucksvoller  gewesen,  als  es  die  Pikanterien  der  Notiz  zu 
erkennen  gaben.  GewiB  waren  die  Veranstaltungen,  unterdenen 
der  KongreB  tagte,  noch  immer  romantisch  genug,  auch  wenn 
es  z.B.  iibertrieben  war,  was  die  Zeitungsnotiz  dem  Phihster 
erzahlte : 

,,Man  bekam  keinen  der  geheimnisvollen  Schlofibewohner 
ausser  der  Tore  zu  sehen  mit  Ausnahme  der  Wachen,  welche 


18  Vol.  m/2 


* 

Eduard  Bernstein  » Vdlker  zu  House 


die  Wege  zum  Schlosse  absperrten  und,  von  einem  Posten 
auf  dem  Turm  benachrichtigt , niemand  nahe  kommen 
liefien.“ 

Der  Turmwachter  war  natiirlich  ein  Geschopf  der  Phantasie, 
die  Wachtposten  konnten  niemand  den  Weg  verwehren,  und 
die  KongreBbesucher  liefien  es  sich  nicht  nehmen,  in  den  Pausen 
das  Gebaude  zu  verlassen  und  sich  an  den  nahen  Anhangen 
zu  lagern,  von  denen  aus  man  eine  reizvolle  Aussicht  auf  das 
umliegende  Gelande  hatte,  oder  sich  in  Spaziergangen  durch 
die  Felder  und  Wiesen  zu  ergehen.  Was  den  Teilnehmern  den 
KongreB  erst  unvergefilich  machte,  war  der  seine  Verhandlungen 
und  das  ganze  Zusammensein  beseelende  Geist. 

Es  war  die  erste  groflere  Zusammenkunft  der  Partei  seit  fast 
drei  Jahren.  Die  Schreckensmonate  des  Attentatsommers  1878 
mit  ihren  schweren  Strafverfiigungen,  die  Verhangung  des 
Ausnahmegesetzes  iiber  die  Sozialdemokratie,  Auflosung  ihrer 
Organisationen,  die  Unterdriickung  ihrer  Organe  hatten  die 
Kraft  der  Partei  nach  auBen  hin  zeitweilig  geschwacht  und 
mancherlei  Wirrnis  in  ihren  Reihen  hervorgerufen.  Aber  nun 
zeigte  sich  deutlich,  daB  sie  den  Kern  der  Partei  unberiihrt 
gelassen  und  unter  den  Festgebliebenen  das  Gefiihl  der  Zu- 
sammengehorigkeit  nur  gestarkt  hatten.  Nur  drei  von  den  56 
Teilnehmern  am  Wydener  KongreB  zeigten  eine  gewisse  Hin- 
neigung  zu  den  beiden  bishengen  Parteifiihrern  Most  und 
Hasselmann,  die  vom  Ausland  her  als  Sozialrevolutionare  der 
Partei  Fehde  angesagt  hatten,  aber  auch  sie  mochten  nicht  so- 
weit  gehen,  den  Bruch  mit  der  Partei  gutzuheiBen.  Es 
wurde  auf  Wyden  lebhaft  debattiert  und  an  verschiedenen 
MaBnahmen  der  Parteivertreter  scharfe  Kritik  geiibt.  Der 
Grundton  jedoch,  in  dem  die  Verhandlungen  gefiihrt  wurden, 
war  von  jeder  Gehassigkeit  oder  auch  nur  Gereiztheit  frei.  Es 
uberwogdieimmerwieder  von  neuemzum  Ausdruck  gelangende 
Freude  dariiber,  dafi  man  trotz  der  Zeitlaufe  in  so  grofier  Zahl 
versammelt  war  und  in  vollem  gegenseitigem  Vertrauen  sich 
iiber  alles  aussprechen  konnte,  was  die  Seelen  bedriickt  hatte. 
Die  Verfolgungen  hatten  die  Verfolgten  zusammengeschweiBt, 


Eduard  Bernstein  * V olker  zu  Hausc 


269 


und  die  GewiBheit,  dafi  man  den  Kampf  mit  ungebrochener 
Entschlossenheit  fortfiihren  werde,  lieB  auch  den  Humor  zu 
seinem  vollen  Recht  kommen.  Mit  guter  Laune  wurde  alien 
Unbequemlichkeiten,  die  man  sich  batte  auferlegen  miissen, 
die  scherzhafte  Seite  abgewonnen,  und  wer  in  seinen  Reden 
sich  gar  zu  kiihne  Bilder  leistete  oder  sich  in  falscbe  Kon- 
struktionen  verwickelte,  konnte  sicber  sein,  seme  Leistung  in 
improvisierten  Beitragen  fur  eine  satirische  ,,KongreBzeitung“ 
verewigt  zu  seben,  die  nicht  feblen  durfte,  und  um  deren 
Illustrierung  sicb  namentlich  Karl  Kautsky  und  der  leider  ver- 
storbene  Karl  Grillenberger  verdient  machten.  Die  mafilosen 
Angriffe,  mit  denen  Johann  Most  in  der  Londoner  „Freiheit“ 
seine  bisherigen  Kampfgenossen  zu  iiberschutten  liebte,  fanden 
bier  in  Wort  und  Bild  ihre  ironisierende  Gegenkntik.  Ob  es 
unbedingt  notig  war.  Most  und  Hasselmann  noch  durch  KongreB- 
beschluBals  aufierhalb  der  Partei  stehend  zu  erklaren,  nachdem 
sie  sicb  schon  durch  die  Tat  von  ihr  getrennt  hatten,  mag  be- 
stritten  werden  konnen ; solche  Beschliisse  haben,  wo  es  sicb 
um  politische  Differenzen  bandelt,  stets  einen  unangenehmen 
Beigeschmack.  Aber  wohlverdient  waren  die  Spottverse,  mit 
denen  die  KongreBzeitung  Johann  Most  bedacbte,  der  von 
London  aus  einen  Revolutionarismus  predigte,  von  dem  er 
wissen  mufite,  dafi  er  im  damaligen  Deutschland  unanwendbar 
war.  Den  Geist,  der  auf  dem  KongreB  herrschte,  kennzeichnet 
die  einmiitige  Annabme  des  Antrags,  aus  dem  Satz  im  damaligen 
Programm  der  Partei  — des  sogenannten  Gothaer  Programms  — 
wo  es  hiefi,  dafi  die  Partei  fur  ihre  Forderungen  und  Ziele 
„mit  alien  gesetzlichen  Mitteln"  eintrete,  das  Wort  „gesetz~ 
lichen“  zu  sfreichen.  Selbstverstandlich  konnte  die  Partei, 
nachdem  sie  auBerhalb  des  Gesetzes  gestellt  war,  sich  fiir  ihre 
propagandistische  Betatigung  und  politische  Aktion  nicht  auf 
gesetzliche  Mittel  beschranken.  Aber  die  Streichung  des  Wortes 
gesetzlich  veranderte  den  Satz  in:  „mit  alien  Mitteln",  und 
das  lieB  eine  viel  weitergehende  Auslegung  zu.  DaB  sie  nicht 
gescheut  wurde,  war  die  trotzige  Antwort  auf  die  Gewaltpolitik, 
der  die  Partei  unterworfen  worden  war.  Und  so  wird  man  die 


270  Eduard.  Bernstein  * Volker  zu  House 

Genugtuung  iiber  folgendes  der  besagten  Kongrefizeitung  ein- 
verleibte  Poem  zu  wiirdigen  wissen: 

MIT  ALLEN  MITTELN. 

Es  steht  ein  SchloB  im  Schweizerland, 

Da  wird  an  den  Staaten  geriittelt. 

Da  wird  der  Umsturz  zu  Recht  erkannt, 

Da  wird  nicht  ,,gesetzlich  gemittelt“. 

Der  helle  Kommunismus  bliiht, 

Man  ifit  und  trinkt  gemeinsam, 

Des  Nachts  das  Volk  zum  Schlafhaus  zieht, 

Um  nicht  zu  ruhen  einsam. 

Der  tolle  Hans,  der  Fehde  blies, 

Hier  wird  er  abgeschlachtet, 

Und  in  der  Verachtung  Burgverhes, 

Da  wird  er  eingeschachtet. 

Die  rote  Republik,  sie  wacht 
An  unsres  Schlosses  Pforte. 

Wer  hatt’  in  London  das  gedacht 
Von  der  Bedientenhorde ! 

Von  den  festgehaltenen  Redebliiten  aber  hat  sich  mir  erne 
ganz  besonders  eingepragt  und  mag  auch  hier  eine  Statte  finden. 
Sie  entstammte  dem  Munde  eines  jugendlich  feurigen  Delegier- 
ten  aus  dem  Schwabenlandle  und  lautete:  „Genossen,  wir  diir- 
fen  uns  nicht  von  der  Geduld  hinreifien  lassen.“ 

Auf  verschiedenen  Wegen  kehrten  die  aus  Deutschland  ge- 
kommenen  Delegierten  nach  beendetem  Kongrefi  in  das  Reich 
zuriick,  nicht  einer  von  ihnen  wurde  an  der  Grenze  abgefaBt, 
verschiedene  aber  brachten  verbotene  Druckware  ins  Vater- 
land,  die  ihnen  der  in  diesen  Dingen  sehr  geschickte  Metteler 
panzerartig  um  den  Leib  gebunden  hatte. 

Weniger  glatt  lief  der  zweite  geheime  KongreB  der  Partei  ab. 
Er  fand  im  Marz  1 883  zu  ^Copenhagen  statt.  Allerdingsward  auch 
er  von  der  deutschen  Polizei  selbst  nicht  ausgefunden,  so  sehr 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


271 


diese  inzwischen  ihren  gegen  unsere  Partei  gerichteten  Spionen- 
dienst  erweitert  hatte.  Wir  waren  schon  mehrereTage  im  schonen 
Versammlungssaal  des  Vereinshauses  der  danischen  Sozialdemo- 
kratie  beim  Kongrefiwerk,  als  die  Agenten  der  politischen  Poli- 
zei  des  Herrn  von  Puttkammer,  der  der  Spezialminister  fiir 
das  Ausnahmegesetz  geworden  war,  noch  an  der  Grenze  und 
in  Ortschaften  der  Schweiz  den  Versammlungsort  des  durch 
Bekanntmachung  im  „Sozialdemokrat“  einberufenen  Kongres- 
ses  aufzuspiiren  suchten.  Aber  die  Verhandlungen  dauerten 
diesmal  fast  eine  Woche,  und  so  lange  liefi  sich  in  Danemarks 
Hauptstadt  die  Tagung,  an  der  so  bekannte  Personlichkeiten 
teilnabmen,  nicht  geheimhalten.  Am  Morgen  nach  dem  vierten 
Kongrefitage  erbielten  die  meisten  von  uns  in  unseren  Quar- 
tieren  den  Besuch  der  danischen  Polizei,  die  von  dem  Kongrefi 
Wind  erhalten  hatte. 

Dabei  ward  mir  eine  sehr  unverdiente  Ehrung  zuteil,  durch 
deren  Mitteilung  an  dieser  Stelle  ich  nunmehr  mein  schlechtes 
Gewissen  erleichtern  mochte. 

Ich  hatte,  um  ohne  allzugroBen  Umweg  von  Zurich  nach 
Kopenhagen  zu  gelangen,  Deutschland  von  Siiden  nach  Norden 
durchqueren  miissen.  Da  ich  mittlerweile  Redakteur  des  ,,Sozial- 
demokrat“  geworden  war,  konnte  meine  Verhaftung  auf  deut- 
schem  Boden  nicht  bloB  mir  selbst,  sondern  auch  der  Partei 
arge  Unannehmhchkeiten  bereiten,  und  so  hatte  ich  neben  an- 
dem  VorsichtsmaBregeln  auch  die  getroffen,  mich  mit  einem 
falschen  PaB  zu  versehen.  In  Kopenhagen  nun  wohnte  ich  mit 
Auer,  Grillenberger  und  noch  vier  andern  Genossen  in  einem 
bescheidenen  Gasthaus  in  der  Vesterbro  Gade,  dessen  Wirt  der 
Sozialdemokratie  angehorte.  Wir  schliefen  unserer  sieben  in  zwei 
ineinandergehenden  Zimmern,  vier  in  dem  ersten  und  drei, 
darunter  ich,  im  zweiten  Zimmer.  Am  Morgen  des  verhangnis- 
vollen  Tages  nun  ward  ich  durch  Pochen  an  der  Haupttiir  aus 
dem  Schlaf  geweckt  und  war  bald  darauf  Ohrenzeuge  folgenden 
Gesprachs  : 

Polizeikommissar  (am  ersten  Bett):  ,,Wie  heifie  Sie?“ 
Auer:  „Ignaz  Auer“.  Polizeikommissar:  „Habe  Sie  sich 


272 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


in  diese  Uste  eingeszriebe"  ? Auer:  ,,Ja“.  Polizeikommis- 
sar:  „Aber  hier  steht  kein  Auer.  Welchen  Name  habe  Sie  ge- 
szriebe"?  Auer:  .Johannes  Sorensen".  Polizeikommissar: 
..Warum  habe  Sie  eine  falsche  Name  geszriebe"?  Auer:  ,,Weil 
nicht  jeder  wissen  soil,  dafi  ich  hier  bin".  Polizeikommissar: 
,,Sie  habe  hier  eine  Kongress"?  Auer:  „Ich  bin  mit  Freunden 
hier‘‘.Polizeikommissar:„Ja,Sie  halten  aber  eine  Kongrefi 
ab“.  Auer:  ..Nennen  Sie  es,  wie  Sie  wollen".  — (DerPolizei- 

kommissar  schrieb  verschiedenes  in  sein  Buch  ein,  trat  dann  an  das  zweite 
Bett  heran,  in  dem  Karl  Grillenberger  lag,  und  stellte  die  gleichen  Fragen.) 

Polizeik  ommissar  (am  zweiten  Bett):  „Wie  heifie  Sie?" 
Grillenberger:  „Karl  Grillenberger".  Polizeikommis- 
sar: „Mit  welche  Name  stehen  Sie  in  diese  Uste"?  Grillen- 
berger: ,,OIaf  Petersen". 

Und  so  ging  es  weiter.  Alle  von  uns,  die  aus  Deutschland  ge- 
kommen  waren,  hatten  sich  mit  danischen  Namen  in  die  Liste 
des  Gasthauses  eingetragen.  Und  so  gab  es  an  sechs  unsrer 
Betten  jedesmal  die  gleiche  Unterhaltung.  Zuletzt  trat  der 
Kommissar  an  mein  Bett,  und  da  erfuhr  er  ein  anderes. 

,, Wie  heifie  Sie"?  Ich:  ..Conrad  Conzett".  Kommissar: 
„Mit  welche  Name  stehen  Sie  hier  eingeszriebe" ? Ich:  „Mit 
meinem  Namen".  K o m m i s s a r (uberrascht) : „Mit  IhreName?" 
I c h (sehr  wiirdig) : ..Jawohl,  mit  meinem  Namen".  Kommis- 
sar (sieht  nach  der  Liste  und  findet  den  Namen.  Immer  noch  mifitrauisch): 

,,Habe  Sie  Papier  szur  Legitimation"  ? I c h (noch  wiirdiger) : ,,0  ja. 
Bitte,  hier".  Der  Kommissar  besichtigte  den  auf  den  Namen 
meines  schweizenschen  Parteigenossen  Conzett  lautenden  Pafi, 
verglich  das  Signalement,  fand,  dafi  es  stimmte  und  auf  wen 
stimmen  Pafiangaben  nicht  ? und  entfernte  sich  dann  mit  einer 
tiefen  Verbeugung.  Er  schien  zu  denken : ..Wenigstens  ein 
ordentlicher  Mensch  unter  der  Gesellschaft".  Und  dabei  hatte 
gerade  ich  ihn  hinters  Licht  gefiihrt. 

Zum  Gluck  habe  ich  in  bezug  auf  Pafischwindel  illustreVor- 
ganger.  Als  in  den  Reaktionsjahren  nach  1 848/49  Preufiens 
Minister  Manteuffel  eines  Tages  von  Hamburg  nach  London 
fuhr,  stiefi  er  beim  Promenieren  an  Deck  des  Schiffes  auf  den 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


273 


als  Steuerverweigerer  damals  im  Exil  lebenden  Lothar  Bucher. 
Es  war  unmoglich,  eine  kurze  Unterhaltung  zu  umgehen.  ,,Wie 
kommen  Sie  denn  hierher?“  fragte  der  Allmachtige  PreuBens 
den  landesfliichtigen  Staatsverbrecher.  „Ich  war  auf  etliche 
Tage  zum  Besuch  in  der  Heimat“,  erhielt  er  zur  Antwort. 
,,Was  ? in  PreuBen?“  ,,GewiB,  in  Preufien“,  gab  Bucher  zuriick. 
,,Wie  sind  Sie  denn  da  hineingekommen,  wo  Sie  doch  keinen 
Pafi  haben ?“  Denn  in  PreuBen  gait  damals  noch  die  PaB- 
pflicht.  „Ich  keinen  PaB?  Selbstverstandlich  hatte  ich  einen 
PaB.  Sie  haben  ja  selbst  dafiir  gesorgt,  daB  ich  einen  PaB 


bekam.“ 


ja 

,,Wieso?“ 


,,Das  will  ich  Ihnen  sagen.  Dank  Ihren 


weisen  Pafivorschriften  kann  ich  in  London  fur  eine  eng- 
lische  Krone  (5  Schillinge)  jeden  preufiischen  PaB  kaufen,  wie 
ich  ihn  brauche.“  In  der  Tat  ward  damals,  wo  jeder  aus  dem 
Lande  oder  ins  Land  hinein  Reisende  einen  Pafi  haben  mufite, 
in  London  ein  schwunghafter  Handel  mit  deutschen  Passen 
betrieben.  Die  Vorschnft  war  eine  Belastigung  fiir  das  harm- 
lose  Publikum,  hat  aber  schwerlich  auch  nur  einen  ein- 
zigen  politischen  oder  gemeinen  Verbrecher  verhindert,  die 
Landesgrenzen  zu  iiberschreiten.  Das  Geheimnis,  Signale- 
mente  so  auszustellen,  daB  sie  nur  auf  eine  bestimmte  Person 
paBten,  hat  noch  kein  Mensch  ausgefunden.  Conrad  Conzett 
war  groBer  und  breiter  als  ich  und  hatte  auch  ganz  andere  Ge- 
sichtsziige,  und  doch  schien  dem  danischen  Polizeikommissar 
seine  Personalbeschreibung  auf  mich  zu  passen. 

Die  danische  Polizeibehorde  benahm  sich  im  iibrigen  un- 
serem  Kongrefi  gegeniiber  leidlich  anstandig.  Sie  erbat  sich  nur 
die  Zusicherung,  daB  wir  von  jeder  Agitation  in  Danemark  Ab- 
stand  nehmen  wiirden,  und  lieB  uns  sonst  unbehelligt  bis  zu  Ende 
tagen.  Indes  drang  nun  die  Kunde  vom  Kongrefi  in  Kopenhagen 
doch  nach  Berlin,  und  der  dortige  Polizeirat  Kruger,  in  dessen 
Handen  die  Faden  der  Spitzelei  ganz  Deutschlands  zusammen- 
liefen,  reiste  jetzt  spornstreichs  selbst  nach  Kopenhagen,  jedoch 
vergeblich.  Als  er  kam,  war  das  Nest  schon  leer.  Erreicht  wurde 
nur,  dafi  sechs  der  heimreisenden  Kongrefiteilnehmer,  darunter 
die  Reichstagsabgeordneten  Georg  von  Vollmar,  Karl  Ulrich 


274 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


und  Karl  Frohme  in  Kiel,  und  tags  darauf  noch  Ignaz  Auer, 
August  Bebel  und  Heinrich  Dietz  in  Neumiinster  angehalten 
und  polizeilich  verhort  wurden,  um  dann  spater,  als  sich  nach  lan- 
gem  Suchen  endlich  eine  hierzu  bereite Strafkammer  fand,  unter 
der  Anklage  des  Geheimbunds  prozessiert  zu  werden,  was  sechs 
von  ihnen  auf  9 und  drei  auf  6 Monate  ins  Gefangnis  brachte. 

Mir  ging  es  besser.  Mit  Auer,  Bebel,  Dietz  und  Richard 
Fischer  war  ich  zwei  Tage  nach  KongrefischluB  nach  Korsor 
an  der  Westkiiste  der  Insel  Seeland  gefahren,  wo  wir  dem  Kon- 
grefiprotokoll  die  fiir  die  Veroffentlichung  geeignete  Form  geben 
wollten.  Wir  waren  in  einem  passablen  Hotel  abgestiegen  und 
hatten  eben  an  einem  grofierenTisch  Platz  genommen,  als  ein 
Kellner  mit  einem  Telegramm  in  der  Hand  an  uns  herantrat 
und  uns  fragte,  ob  es  an  einen  von  uns  gerichtet  sei.  Es  war 
namlich  sehr  lakonisch  adressiert: , .Eduard  Bernstein,  Korsor. “ 
Ich  hatte  mich  in  die  Hotelliste  als  Conzett  eingeschrieben, 
aber  ohne  mich  zu  besinnen,  erklarte  ich,  das  Telegramm  sei 
fiir  mich  bestimmt,  griff  zu  und  eroffnete  es.  Es  war  auch  in 
die  richtigen  Hande  geraten.  Kiel  war  sein  Aufgabeort,  und  im 
ubrigen  enthielt  es  nur  die  drei  Worte,  die  vielsagend  genug 
waren:  „Vorsicht,  nichts  mitnehmen.“  Natiirlich  wufiten  wir 
sofort  Bescheid.  In  Kiel  war  irgend  etwas  passiert,  was  er- 
kennen  heB,  dafi  die  Grenze  nicht  sauber  war.  Es  durfte  somit 
auf  keinen  Fall  das  Protokoll  und  sonstiges  Schrifthche  vom 
KongreB  in  derTasche  jemandes  von  uns  mit  iiber  die  Grenze 
genommen  werden.  Weiter  aber  erklarte  Bebel,  und  wir  andern 
stimmten  ohne  Einwand  zu,  daB  ich  nun  unter  keinen  Um- 
standen  iiber  Deutschland  reisen  diirfe,  sondern  auf  dem  Um- 
wege  liber  England  und  Frankreich  in  die  Schweiz  zuriick- 
kehren  miisse.  Es  war  mir  das  nicht  gerade  unangenehm,  da 
der  Umweg  iiber  London  mir  ermoglicht  hatte,  dort  Friedrich 
Engels  aufzusuchen,  der  damais  erne  ziemlich  lebhafte  Kor- 
respondenz  mit  mir  unterhielt.  Indes  sollte  es  anders  kommen. 

Noch  am  gleichen  Abend  fuhr  ich  wieder  nach  Kopenhagen 
zuriick  und  fand  dort  in  einer  Abendzeitung  die  Meldung,  daB 
die  Reichstagsabgeordneten  Vollmar  und  Frohme  mit  eimgen 


Eduard  Bernstein  ♦ Vdlkcr  zu  Hause 


275 


andern  Sozialdemokraten  auf  der  Heimreise  von  einem  soziali- 
stischen  KongreB  in  Kiel  verhaftet  worden  seien.  So  suchte 
ich  denn  am  nachsten  Morgen  sofort  meine  damschen  Partei- 
genossen  auf,  befragte  sie  iiber  den  schnellsten  Weg  nach  Eng- 
land und  fuhr  auf  den  Rat  eines  von  ihnen  am  iibernachsten 
Tag  quer  durch  ganz  Danemark  an  die  Westkiiste-JiAtlands,  um 
von  dem  neugebildeten  Hafenort  Esbjerg  aus  nach  Harwich 
zu  gelangen.  Mem  Ratgeber  hatte  sich  aber  in  der  Liste  ver- 
sehen.  Ich  fand  in  Esbjerg  kein  Schiff  vor,  das  Passagiere  fiir 
England  nahm  und  hatte  fiinf  Tage  warten  miissen,  um  auf 
dem  angegebenen  Weg  reisen  zu  konnen.  Dazu  konnte  ich 
mich  jedoch  um  so  weniger  entschliefien,  als  in  dem  Gasthaus, 
wo  ich  abgestiegen  war,  kein  Mensch  eine  der  mir  gelaufigen 
Sprachen  sprach.  So  durchquerte  ich  tags  darauf  Jutland 
noch  einmal,  hielt  mich  in  Friedericia  am  kleinen  Belt  zwolf 
Stunden  auf  und  bin  dann  doch  iiber  Deutschland  heim- 
gekehrt,  da,  wie  ich  1m  letzten  Augenblick  richtig  kalkulierte, 
inzwischen  die  Grenze  fur  mich  wieder  passierbar  geworden 
war.  Kein  Polizist,  wohl  aber  Freund  August  Bebel  hat  mich 
auf  dieser  Riickfahrt  ,,iiberrascht“.  Er  klopfte  mir,  als  ich  in 
Hamburg  auf  den  Zug  wartete,  der  mich  nach  dem  Siiden 
bringen  sollte,  mit  den  Worten  auf  die  Schulter:  ,,Im  Namen 
des  Gesetzes“. 

In  bezug  auf  „Volker  zuHause“  war  meine  Reise  ziemhch  un- 
fruchtbar  geblieben.  Immerhin  hatte  ich  Gelegenheit  gehabt, 
Danemarks  schone  Hauptstadt  einigermaBen  kennen  zu  Iernen, 
und  habe,wiebemerkt,einen  halbenTag  inderbefestigtenKlein- 
stadt  Friedericia  zugebracht.  Kopenhagen  gefiel  mir  recht  gut, 
doch  fehlte  mir  die  seelische  Ruhe,  seinen  schonen  Gebauden 
und  Museenvollig  gerecht  zuwerden.  Mein  ganzesSinnen  und 
Trachten  ging  damals  in  der  politischen  Bewegung  auf,  und  es 
lag  mir  daran,  mit  den  verschiedenen  Gesmnungsgenossen  aus 
Deutschland,  die  ich  sonst  nichtzu  sehen  bekam,  inGesprachen 
iiber  die  heimischen  Verhaltnisse  mich  zu  ergehen,  als  mich  in 
das  Studium  vonWerken  der  bildenden  Kiinste  zu  vertiefen,  die 
Kopenhagen  in  so  grofier  Zahl  aufweist.  Am  Tage  nach  SchluB 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


des  Kongresses  fiihrten  uns  danische  Freunde  im  SchloB  Rosen- 
berg herum,  seine  Sale  und  Kostbarkeiten  machten  aber  auf 
mich  mehr  den  Eindruck  von  Kuriositaten,  als  daB  sie  mich 
hatten  fiir  einen  geplanten  Besuch  des  Thorwaldsen-Museums 
entschadigen  konnen,  zu  dem  ich  nun  nicht  mehr  die  Zeit  fand. 
Ebenso  lernte  ich  die  Bewohner  Kopenhagens  zu  oberflachlich 
kennen,  um  iiber  sie  mehr  als  allgemein  Bekanntes  sagen  zu 
konnen.  An  einem  der  Tage  war  ich  bei  dem  Mann  zu  Gast, 
den  meine  danischen  Gesinnungsgenossen  damals  als  ihren 
ersten  Fiihrer  betrachteten  und  mir  als  ,,unsern  Bebel“  bezeich- 
neten.  Es  war  dies  der  sozialistische  Schneidermeister  P.Holm, 
ein  freundlicher  Mann  mit  intelligentem  Gesichtsausdruck,  der 
aber  in  der  Unterhaltung  wenig  von  der  Scharfe  Bebels  merken 
heB,  mehr  klug  als  iiberragend  begabt  zu  sein  schien.  Kaum 
mittelgroB  und  von  etwas  rundlicher  Statur  hatte  er  wenig  vom 
Skandinavieran  sich.  Indes  fehltees  unter  den  danischen  Sozia- 
listen,  mit  denen  wir  in  Beziehung  traten,  auch  nicht  an  echten 
Nordlandsgestalten . 

* 


Der  Prozefi  gegen  die  neun  abgefaBten  deutschenTeilnehmer 
am  Kopenhagener  KongreB  fand  am  4.  August  1886  vor  dem 
Landgericht  Freiburg  mit  der  Verurteilung  der  Angeklagten  zu 
den  schon  erwahnten  Strafen  seinen  AbschluB.  Nur  mit  Miihe 
und  unter  Mitwirkung  des  Reichsgerichts  war  es  gelungen, 
Rechtserklarungen  zu  konstruieren,  auf  die  sich  eineVerurteilung 
begriinden  lieB.  DaB  eine  Zusammenkunft  im  Ausland  allein 
noch  nicht  das  Delikt  des  strafbaren  Geheimbunds  bilde,  hatte 
auch  das  Reichsgericht  anerkennen  miissen.  Es  konnten  aber, 
hatte  es  ausgefiihrt,  konkludente  Handlungen,  die  nicht  in  der 
bloBen  Zusammenkunft  lagen,  die  Strafbarkeit  begriinden,  und 
eine  konkludente  Handlung  solcher  Art  ward  darin  gefunden, 
dafi  ein  Vertreter  des  in  Deutschland  verbotenen  ,,Sozialdemo- 
krat“  iiber  dessen  Verbreitung  und  Finanzen  dem  KongreB 
Bericht  erstattet  hatte.  War  aber  auf  diese  Weise  eine  Verur- 
teilung zustande  gebracht  worden,  so  hatte  man  mit  ihrer  Be- 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  House  277 


griindung  zugleich,  ohne  es  zu  wissen,  der  Sozialdemokratie 
eine  Anweisung  gegeben,  wie  sie  es  in  Zukunft  anzustellen  habe, 
um  einen  KongreB  im  Auslande  abzubalten,  ohne  sich  damit 
Strafverfolgungen  auszusetzen.  Als  das  verurteilende  Erkennt- 
nis  rechtskraftig  geworden  war,  wurde  zunachst  die  offizielle 
Verbindung  der  Partei  mit  dem  Ziircher  „SoziaIdemokrat“ 
gelost,  und  nachdem  die  verurteilten  Parteifiihrer  ihre  Gefang- 
nisstrafe  abgebiifit  hatten,  ward  im  August  1887  in  deufsc6en 
Blattern  ein  von  der  Reichstagsfraktion  der  Partei  unterzeich- 
neter  Aufruf  veroffentlicht,  der  ohne  Umschweife  die  Partei- 
genossen  im  Lande  zur  Beschickung  eines  Kongresses  einlud, 
iiber  dessen  genauen  Zeitpunkt  und  Versammlungsort  bis  zu 
einem  bestimmten  Tage  — den  15.  September  — den  ange- 
meldeten  Delegierten  rechtzeitig  Mitteilung  zugehen  werde. 

Dieser  KongreB,  von  dem  sogar  die  Tagesordnung  und  die 
Namen  der  Referenten  im  Einladungsaufruf  bekannt  gegeben 
wurden,  fandwiederum  in  der  Schweiz  statt.  Er  trat  am  3.  Ok- 
tober  1 887  im  Saal  der  Brauerei  Schonenwegen  bei  St.  Gallen 
zusammen.  Obwohl  er  erheblich  starker  beschickt  war  als  die 
vorhergegangenen  zwei  Kongresse,  erfuhr  auch  diesmal  die 
deutsche  Polizei  den  Ort  des  Zusammentritts  erst,  nachdem 
der  KongreB  schon  seine  Tagung  begonnen  hatte.  Und  auch  das 
zuerst  durch  die  sozialdemokratische  Berichterstattung  selbst. 
Denn  nun  wurden  von  KongreB  wegen  der  Presse  laufende  Be- 
richte  iiber  den  Gang  der  Verhandlungen  iibermittelt.  Ferner 
wohnten  Mitglieder  der  schweizerischen  Sozialdemokratie,  die 
angesehene  Stellen  bekleideten,  den  Verhandlungen  bei,  so  daB 
sich  eine  Anklage,  er  habe  als  Geheimbund  getagt,  nicht  hatte 
begriinden  lassen.  Vom  Ziiricher  ,,Sozialdemokrat“  ward  auf 
ihm  kein  Wort  gesprochen.  Er  beschaftigte  sich  nur  mit  all- 
gemeinen  Fragen  der  Politik  und  Sozialpolitik,  dies  allerdmgs 
unter  erneuter  Betonung  der  scharfen,  unbeugsamen  Kampf- 
stellung  gegen  Regierung  und  herrschende  Klassen.  Insbeson- 
dere  kiindigte  eine  von  Ignaz  Auer  begriindete  Resolution  der 
Wirtschaftspolitik  des  Fiirsten  Bismarck  mit  ihrer  Pflege  der 
indirekten  Steuern,  sowie  aller  zu  finanziellen  Zwecken  betrie- 


278 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


benen  Monopolisierung  wichtiger  Verbrauchsartikel  der  groBen 
Masse  unerbittliche  Gegnerschaft  an. 

Der  wohlgelungene  Verlauf  des  Kongresses  machte  in  der 
Offentlichkeit  groBes  Aufsehen.  Er  war  ein  Schlag  ins  Gesicht 
des  Polizeisystems  Bismarck-Puttkammer ; nicht  nur  in  der  Ar- 
beiterschaft,  auch  bei  der  Jugend  der  Intellektuellen  gewann  die 
Sozialdemokratie  zusehends  an  moralischem  GewicKt.  Um  den 
Schlag  zu  erwidern,  lieB  Bismarck  dem  Reichstag  die  Vorlage 
eines  neuen  Strafgesetzes  zugehen,  die  alle  bisherigen  Ausnahme- 
gesetze  an  Verfolgungswut  noch  iibertraf.  Nach  ihr  sollte  die 
Teilnahme  an  Kongressen  im  Auslande,  diesozialdemokratischen 
Bestrebungen  dienten , di  e T eilnahme  an  geheimen  Verbindungen 
und  die  ,,geschaftsmaBige“  Verbreitung  verbotener  Schriften 
auBer  mit  Gefangnis  auch  noch  mit  der  mittelalterlichen  MaBregel 
der  Gandesacfitung  — der  Expatriierung  — bestraft  werden 

Und  diese  ungeheuerliche  Vorlage,  deren  Begriindung  und 
Strafbestimmungen  alien  modernen  Rechtsbegriffen  zuwider- 
liefen,  hatte  anscheinend  gute  Aussicht,  Gesetz  zu  werden.  Im 
Februar  1887  hatten,  nachdem  der  Reichstag  wegen  der  Frage 
eines  neuen  Mihtarseptennats  aufgelost  worden  war,  Neuwahlen 
stattgefunden,  bei  denen  dieangeblich  drohende  Franzosengefahr 
mit  Aufgebot  einer  Flut  von  beispiellosauftragenden  Flugblattern 
ausgespielt  worden  war.  Ein  Kartell  von  Konservativen,  Reichs- 
parteilern  und  Nationalliberalen  hatte  die  Mehrheit  erhalten, 
und  diese  Kartellparteien  standen  Bismarck  in  den  meisten  Fallen 
auch  fur  seme  politische  Gesetzgebung  willig  zur  Verfiigung. 
Es  sah  einen  Augenblick  so  aus,  als  sollte  sich  wirkhch  fiir  die 
Expatriierungs- Vorlage  eine  Mehrheit  finden. 

Da  half  der  Sozialdemokratie  ein  Gliicksfall  einen  Gegen- 
schlag  fiihren,  der  sie  vor  diesem  Achtungsgesetz  bewahrte. 
Jemand,  der  Gelegenheit  hatte,  in  die  Akten  der  Berliner  Ge- 
heimpolizei  hineinzublicken,  spielte  dem  Abgeordneten  Singer 
eine  Liste  von  politischen  Agenten  in  die  Hand.  Die  Liste 
wanderte  nach  Zurich,  sie  wurde  zur  Uberrumpelung  einiger 
der  auf  ihr  bezeichneten  Personen  benutzt,  die  Betreffenden 
bekannten  in  der  Verbliiffung  mehr,  als  sie  sonst  wohl  gestanden 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause  279 


hatten,  und  Paul  Singer  konnte  bei  der  ersten  Lesung  der  Vor- 
lage  dem  Reichstag  ein  Aktenstiick  iiberreichen,  welches  ein- 
wandfrei  Beweise  dafiir  erbrachte,  daB  Agenten  der  Berliner 
Polizei  in  Zurich  und  Genf,  von  ihren  Auftraggebem  formlich 
dazu  gedrangt,  das  unsaubere  Geschaft  der  Lockspitzelei  be- 
trieben  hatten.  Das  heiBt,  sie  hatten  selbst  zu  Gewalttatigkeiten 
aufgehetzt  und  Attentate  planenden  Gewalt-Anarchisten  bei 
ihren  Unternehmungen  Vorschub  geleistet.  Bei  einem  dieser 
im  Solde  der  Berliner  Polizei  stehenden  Agenten,  namens 
Schroder,  hatte  die  Haussuchung  haltende  Ziiricher  Polizei  eine 
Kiste  Dynamit  gefunden,  und  es  war  festgestellt  worden,  daB 
Schroder  einer  Konferenz  von  Anarchisten  prasidiert  hatte,  auf 
der  Attentate  beraten  worden  waren,  die  tatsachlich  zur  Aus- 
fuhrung  gelangten.  Der  Eindruck  dieser  Enthiillungen  war  so 
niederschmetternd,  sie  machten  im  Publikum  so  groBes  Auf- 
sehen,  daB  der  Reichstag  sich  begniigte,  das  zu  neuer  Beratung 
stehende  Sozialistengesetz  einfach  zu  verlangern,  indes  die  Ex- 
patriierungsparagraphen  gegen  eine  verschwindende  Minderheit 

abgelehnt  wurden.  Das  geschah  im  Februar  1888.  Der  Mini- 
ster des  Ausnahmegesetzes,  Puttkammer,  der  jene  Vorlage  be- 
fiirwortet  hatte,  erlitt  also  eine  bose  Niederlage.  Aber,  wie  bei 
einer  friiheren  Gelegenheit,  verschaffte  er  sich  und  seinen 
blofigestellten  Polizeiagenten,  um  mich  des  von  ihm  gebrauch- 
ten  Ausdrucks  zu  bedienen,  eine  „eklatante  Genugtuung“.  Da- 
mals  war  Paul  Singer,  nachdem  er  einen  in  Berlin  wirkenden 
Lockspitzel  entlarvt  hatte,  aus  Berlin  ausgewiesen  und  dadurch 
genotigt  worden,  aus  seiner  von  ihm  begriindeten  Firma  aus- 
zutreten.  Jetzt  verfiigte,  zwei  Monate  spater,  im  April  1888 
der  Bundesrat  der  Eidgenossenschaft  die  Ausweisung  des  Re- 
dakteurs  (meiner  Wenigkeit),  des  Geschaftsftihrers  und  Expe- 
dienten  O^lius  Metteler),  des  Verlagsleiters  (Hermann  SchlUter) 
und  des  Druckereileiters  (Leonhard  Tauscher)  des  Ziiricher 
„Sozialdemokrat“  aus  der  Schweiz.  Gegeniiber  der  sofort  von 
Schweizer  Biirgem  erhobenen  Beschuldigung,  er  habe  einem 
von  Berlin  ausgeiibten  Druck  nachgegeben,  legte  der  Bundes- 
rat feierliche  Verwahrung  ein  und  erklarte,  nur  seiner  eigenen. 


IVaWaVa* 


280 


Eduard  Bernstein  * Volker  zu  Hause 


wohliiberlegten  Eingebung  gefolgt  zu  sein,  und  soweit  das  offi- 
zielle  Verfahren  in  Betracht  kommt,  wird  das  wohl  stimmen. 
Es  gibt  viele  Wege,  eine  gewiinschte  Handlung  zu  suggerieren. 
Der  ,,Sozialdemokrat“,  der  nun  wochentlich  in  emer  Auflage 
von  nahezu  1 2,000  Exemplaren  ins  Reich  wanderte,  hatte  sich 
dem  System  Bismarck-Puttkammer  sehr  unbequem  gemacht 
und  indirekt  wohl  auch  dem  Bundesrat  der  Schweiz  manche 
Unannehmhchkeit  bereitet.  Da  war  es  fur  Mittelspersonen  nicht 
allzuschwer,  durch  Andeutungen  hinsichthch  des  MiBvergnii- 
gens  dariiber,  daB  die  Schweiz  sich  zum  ..Brutnest  reichsfeind- 
licher  Umtriebe“  hergebe,  in  Bundesratskreisen  jene  Stimmung 
zu  erzeugen,  in  der  es  keiner  bestimmten  Drohung  bedurfte, 
um  jene  Mafiregel  herbeizufiihren.  So  plump,  wie  Bismarck  es 
einige  Jahre  friiher  Belgien  gegeniiber  gemacht  hatte,  als  er 
dieses  zur  Einfiihrung  ernes  neuen  Strafgesetzparagraphen  — 
des  sogenannten  Kesselflickergese^zes  — veranlafite,  war  man 
diesmals  jedenfalls  nicht  vorgegangen.  Und  so  mag  es  dahin- 
gestellt  bleiben,  welche  Erwagungen  den  damaligen  Schweizer 
Bundesrat  leiteten,  als  er  den  besten  Uberheferungen  der 
Schweiz  entgegen  uns  den  Laufpafi  erteilte.  Verschiedentlich 
ward  davon  gesprochen,  daB  Befiirchtungen  hinsichtlich  etwa- 
lger  Schwiengkeiten  beim  Verhandeln  iiber  einen  notig  gewor- 
denen  neuen  dcutsch-schweizerischen  Handelsvertrag  nicht  ohne 
Einflufi  auf  den  Entschlufl  des  Bundesrats  gewesen  seien. 

Wie  dem  aber  auch  sei,  bemerkenswert  ist,  daB  gerade  das- 
jenige  Mitglied  des  Bundesrates,  dem  das  Dezernat  iiber  die 
eidgenossische  Polizei  unterstand,  der  gut  demokratische  Waadt- 
lander  Louis  Ruchonnet,  aus  AnlaB  des  Ausweisungsbeschlusses 
ziemlich  demonstrativ  dies  Dezernat  abgab.  Ebenso  legte  das 
Mitglied  des  Ziiricher  Regierungsrats,  das  das  Dezernat  der 
Polizei  des  Kantons  Zurich  innehatte,  der  feingebildete , als 
Sozialpolitiker  der  Schule  Friedrich  Albert  Langes  zugehorende 
Regierungsrat  StoBel  unmittelbar  nach  unserer  Ausweisung  dies 
Dezernat  nieder,  und  lieB  sich  dafiir  das  Erziehungswesen  iiber- 
weisen.  Und  schliefilich  hatte  auch  der  Chef  der  Polizei  der 
Stadt  Zurich,  der  Polizeihauptmann  Fischer,  uns  unzweideutige 


Eduard  Bernstein  * V olker  zu  Hause 


28! 


Beweise  geliefert,  daB  er  nicht  dem  deutschen  Spitzelwesen, 
wohl  aber  unserm  Kampf  dagegen  seine  voile  Sympathie 
schenkte.  Wir  waren  also  in  der  gewifi  eigentiimlichen  Lage, 
gegen  den  bestimmten  Willen  der  Polizeihaupter  von  Bund, 
Kanton  und  Stadt  aus  der  Schweiz  ausgewiesen  zu  sein. 

Uberhaupt  emporte  sich  das  demokratische  Empfinden  des 
Schweizervolkes  stark  gegen  unsere  Ausweisung.  Im  National- 
rat  griff  unter  anderen  Theodor  Curti  sie  in  einer  treffllichen 
politischen  Rede  an,  die  viel  Eindruck  machte  und  dann  als 
Flugschrift  veroffentlicht  wurde.  In  einer  in  Zurich  veranstal- 
teten  grofien  Protestversammlung  zog  neben  bekannten  Wort- 
fiihrern  der  schweizerischen  Sozialdemokratie  der  Professor 
der  Naturgeschichte  Arnold  Dodel-Port  in  leidenschaftlicher 
Erregung  gegen  den  Bundesrat  zu  Felde.  Auch  an  Bezeugungen 
personlicher  Sympathie  fehlte  es  uns  nicht.  Selbst  der  Bundes- 
rat tat  das  Seinige,  uns  die  MaBregel  moglichst  ertraglich  zu 
machen.  Er  bewilligte  uns  aus  freien  Stricken  eine  Frist  von 
vier  Wochen  zur  Regelung  unserer  geschaftlichen  Angelegen- 
heiten  und  heB  durch  Zwischenpersonen  bei  uns  anfragen,  ob 
wir  fiir  unsere  Ubersiedelung  finanzielle  Hilfe  brauchten,  was 
wir  selbstverstandlich  dankend  ablehnten.  Wir  veroffentlichten 
im  „Sozialdemokrat“  einen  langeren  Aufruf,  worin  wir  uns  da- 
gegen verwahrten,  der  Schweiz  wissentliche  Schwierigkeiten 
bereitet  zu  haben,  und  ausfiihrten,  daB  wir  die  wahren  Urheber 
unserer  Ausweisung  nicht  in  Bern,  sondern  in  Berlin  suchten 
und  von  der  Schweiz,  in  der  wir  solange  ein  Asyl  gefunden, 
ohne  Bitterkeit  Abschied  nahmen. 

GewiB  hatten  wir  uns,  von  der  Herausgabe  und  Hiniiber- 
schmuggelung  des  „Sozialdemokrat“  abgesehen,  die  ja  in  das 
Gebiet  der  Ausiibung  freier  Presse  entfallen,  keine  Handlung 
zu  schulden  kommen  lassen,  die  man  als  irgendwie  kompro- 
mittierlich  hatte  bezeichnen  konnen.  Die  Sprache  des  „Sozial- 
demokrat“  war  allerdings  zuweilen  sehr  frei  gewesen,  aber  sie 
ging  nicht  liber  das  hinaus,  was  sich  die  biirgerliche  Demokratie 
seinerzeit  im  Exil  geleistet  hatte.  Ich  wies  das,  als  Vorboten 
der  drohenden  Ausweisung  an  mich  gelangt  waren,  mit  mog- 


282 


Eduard  Bernstein  • Vdlker  zu  Hause 


lichst  unverfanglicher  Einleitung  im  Feuilleton  des  „Sozial- 
demokrat"  an  der  Hand  von  Ausziigen  aus  der  Vor-  und  Nach- 
achtundvierziger  Literatur  des  biirgerlichen  Radikalismus  nach, 
die  aber,  scheint  es,  in  Bern  als  Verhohnung  aufgefaBt  wurden. 
Was  jedoch  ganz  besonders  gegen  uns  verschnupft  hatte,  war 
ein  Kampfblatt,  das  wir  zur  Zeit  der  Wahlen  von  1 887  als 
Gegenwaffe  gegen  die  mit  dem  Franzosenschrecken  arbeitende 
Literatur  des  Bismarck-Kartells  unter  dem  Titel  „Der  rote 
Teufel“  herausgaben.  Auf  tief  rotem  Papier  gedruckt,  lieC 
dieses  Blatt,  dessen  Titel  der  seinerzeit  von  den  Gegnern  des 
zweiten  Kaiserreichs  in  Frankreich,  Edouard  Lockroy  und  Ge- 
nossen,  herausgegebene  ,,Diable  a Quatre“  angeregt  hatte,  und 
zu  dem  uns  dichterisch  begabte  Genossen  im  Reim  pointierte 
Beitrage  in  poetischer  Form  geliefert  hatten,  es  an  bissigen 
Ausfallen  auf  die  Spitzen  der  Reichsregierung  nicbt  fehlen, 
und  dafi  einige  davon  des  Guten  — oder  Bosen  — darin  etwas 
zu  viel  taten,  soli  nicht  bestritten  werden.  Nur  darf  man  nicht 
vergessen,  dafi  der  „Sozialdemokrat“  und  fast  alles,  was  der 
Verlag  sonst  noch  herausgab,  notgedrungen  in  konzentrierter 
Form  Ausdruck  der  Entriistung  war,  die  sich  der  Anhanger 
einer  unter  Ausnahmebestimmungen  gehaltenen  Partei  immer 
wieder  von  neuem  bemachtigte. 

Die  Ausweisung  stellte  uns  vor  die  Frage,  ob  der  „Sozial- 
demokrat“  unter  Leitung  von  Schweizer  Biirgern  in  Ziiricb 
weitererscheinen  oder  mit  uns  Ausgewiesenen  nach  London 
iibersiedeln  solle,  wohin  wir  uns  zunachst  wenden  wollten. 
Nach  eingehender  Beratung  ward  das  letzte  beschlossen. 

So  nahte  der  Tag  der  Abreise,  der  12.  Mai  1888  heran.  Die 
Ziiricher  Arbeiterschaft  lieB  es  sich  nicht  nehmen,  den  Ausge- 
wiesenen zum  SchluB  noch  demonstrativ  ihre  Sympathie  zu  be- 
kunden.  Der  weite  Bahnhofplatz  war  zur  angegebenen  Stunde 
mit  Menschen  iibersat,  ebenso  waren  die  Wege  entlang  der  Bahn 
und  die  Ubergange  liber  den  Bahnkorper  dicht  mit  Menschen 
besetzt.  Den  Ausgewiesenen  wurden  grofie  Kranze  mit  roten 
Schleifen  und  sinngemaBen  Inschriften,  sowie  geschmackvolle 
BlumenstrauBe  iiberreicht,  und  wosieerschienen,  wurden  ihnen 


Eduard  Bernstein  ♦ Vdlker  zu  Hause 


283 


laute  Hochs  und  immer  von  neuem  „Auf  Wiedersehen !“  zuge- 
rufen.  War  dies  schon  geeignet,  uns  hartgesottene  Sunder 
wehmiitig  zu  stimmen,  so  tat  auch  der  Himmel  das  seinige,  uns 
den  Abschied  von  Zurich  schwer  zu  machen.  Es  war  ein  wunder- 
voller  Maimontag,  in  herrlichster  Beleuchtung  erglanzte  der  mir 
so  vertraut  gewordene  Ziirichsee,  dieBergeder  Umgebunglagen 
klar  mit  ihrem  vielfach  abgetonten  Griin  und  i hren  abwechslungs- 
reichen  Umrissen  vor  uns,  hinten  leuchteten  die  schneebedeckten 
Spitzen  der  Alpen  der  inneren  Schweiz,  die  iippigen  Wiesen 
prangten  in  frischen  Farben  — alles,  Menschen  wie  Natur,  zeigte 
sich  uns  von  der  freundlichsten  Seite.  Und  das  sollten  wir  nun 
— wer  wufite,  auf  wie  lange?  — verlassen.  Mir  hat  die  Natur 
die  Gabe  des  Weinenkonnens  versagt,  aber  als  der  Zug  aus  dem 
Bahnhof  Zurich  herausfuhr,  standen  mir  doch  Tranen  in  den 
Augen.  Zurich  war  mir  eine  zweite  Heimat  geworden,  meine 
Vizeheimat,  wie  ich  gern  sagte.  Alles,  was  es  darbot,  seine  geistigen 
Anregungen,  sein  interessantes,  von  alten  und  neuen  Zeiten 
erzahlendes  StraBenbild,  seine  vielen  Naturreize,  die  Nahe  der 
Alpen  und  die  Geniisse  des  Sees  hatte  ich  — ich  darf  es  sagen  — 
immer  wieder  mit  dem  Gefiihl  grofier  Erkenntlichkeit  genossen, 
ich  hatte  viel  liebe  Freunde  dort  gewonnen  und  die  Eigenart 
seiner  Bevolkerung  verstehen  und  schatzen  gelemt.  Man  schilt 
die  Schweizer  als  erwerbsiichtig  und  dem  Kultus  des  Geldes  erge- 
ben.  Ichhabe  sie  in  dieser  Hinsicht  von  nicht  wesentlich  anderer 
Gesinnungsart  gefunden,  als  die  Menschen  in  alien  Landern 
kapitalistischer  Entwicklung,  sie  geben  sich  nur  manchmal  darin 
etwas  urwiichsiger  oder,  wenn  man  will,  ungeschickter.  In  Karl 
Marxs  ,,Herr  Vogt“  wird  irgendwo  von  einem  Schweizer  Bauern 
erzahlt,  daB  er  bei  der  Kunde  von  dem  ungliicklichen  Ausgang 
der  badisch-pfalzischen  Erhebung  in  die  Worte  ausgebrochen 
sei:  ,,Da  wollt’  ich  doch  lieber,  daB  unserm  Hergott  sein  bestes 
paar  Kiihe  verreckte“,  und  der  Erzahler  bemerkt  dazu  wohl- 
wollend,  die  eigenen  Kiihe  mochte  der  gute  Landmann  nicht 
geme  opfern,  aber  es  sei  doch  recht  hiibsch  von  lhm  gewesen, 
wenigstens  des  Hergotts  Kiihe  fiir  die  Revolution  preiszugeben. 
Ganz  im  Geiste  dieser  Erzahlung  wollte  mein  Ziircher  Haus- 


19  Vol.  m/2 


284 


Eduard  Bernstein  ♦ Volker  zu  Hause 


wirt,  ein  ehrsamer  Handwerkermeister,  als  ich  durch  ,,hohere 
Gewalt“  verhindert  wurde,  meinen  mit  ihm  abgeschlossenen 
Mietsvertrag  zu  Ende  abzuwohnen,  von  der  noch  nicht  abge- 
laufenen  Miete  nichts  ablassen.  Als  ich  aber  dann  am  Tage 
der  Abreise  sein  Haus  verlieB,  da  schiittelte  auch  er  in  der 
Haustiir  mir  geriihrt  die  Hand  und  brach  in  Schluchzen  aus. 
Honni  soit  qui  mal  y pense.  Man  muB  nicht  viel  von  den  Men- 
schen  verlangen,  wenn  man  sie  lieben  will,  sagt  Diderot,  und 
ich  habe  es  in  diesem  Punkt  mein  Lebenlang  mit  dem  Verfasser 
von  „Rameaus  Neffe“  gehalten. 

Auf  der  Station  Baden  im  Aargau  nahm  der  Polizeihaupt- 
mann  Fischer  von  Zurich  in  unserm  Wagenabteil  Platz.  Er 
hatte  vom  Bundesrat  die  Weisung  erhalten,  uns  bis  an  die 
Schweizer  Grenze  zu  geleiten,  und  es  fiir  taktvoll  gehalten, 
nicht  gleich  in  Zurich,  wo  ein  jeder  ihn  kannte,  sich  zu  uns 
zu  gesellen.  Auch  war  er  in  Zivil.  Wir  erkannten  diese  Riick- 
sichtnahme  gebiihrend  an  und  gingen  mit  ihm  eine  zwangslose 
Unterhaltungein.  Unsere  Fahrt  fiihrte,  da  wir  deutsches  Gebiet 
meiden  mussten,  liber  Olten,  Delemont,  Delle  nach  Frankreich 
,,hinein“.  Zwei  bis  drei  Tage  gedachten  wir  in  Paris  zuzu- 
bringen,  wo  wir  politische  Freunde  aufsuchen  wollten,  und 
dann  sollte  es  heiBen:  Auf  nach  der  Themsestadt!  Sie  war 
mir  nicht  vollig  unbekannt,  aber  sie  hatte  mir  bei  den  drei 
kurzen  Besuchen,  die  ich  ihr  1 880,  1 884  und  1 887  abgestattet 
hatte,  wenig  Anheimelndes  offenbart,  dagegen  hatte  ich  aller- 
hand  Ungunstiges  liber  Land  und  Leute  vernommen.  So  iiber- 
schlich  mich  denn  jedesmal  ein  leises  Grauen,  wenn  ich  an 
den  bevorstehenden  Wechsel  vom  traulich  heiteren  Zurich  in 
das  unheimlich  groBe,  diistere  London  dachte.  Undenkbar  vor 
allem  war  mir,  dafi  ich  mich  noch  einmal  an  einem  Ort  wiirde 
wohlfiihlen  konnen,  der  dem  Bewohner  kein  flieBendes  Wasser 
bot,  sich  auf  und  in  ihm  zu  tummeln.  Und  trotzdem  ist  es  so 
gekommen. 


Lu  Marten  • Geburt  der  Mutter 


285 


jQ)U  <TT(arien: 


GEBURT  DER  MUTTER 

DIE  erste  wird  geschehen  um  die  Zeit  der  Wandlung  aller 

Dinge. 

Es  ist  die  Zeit  . . . 

Es  ist  die  Zeit,  in  der  die  alten  Kulturen  sonderbar  requisite 
Formeln  auf  Zweck  und  Wichtigkeit  untersuchen. 

Und  die  besten  der  Geister  nicht  tatenlos  nur  denken  — wo 
iiber  allem  Krimskrams  der  Werkstatten  sich  sieghaft  und  er- 
schiitternd  das  Al-fresco-Symbol  derer  sich  hebt,  die  den  sonder- 
barsten  Zukunftstraum  ungriiblerisch  auf  ihren  Schultern  tra- 
gen  — den  Frauen,  den  Kiinstler  gestaltet.  Jubel  und  Sein, 
das  noch  nicht  lebt. 

Der  neue  Glaube  der  Massen,  der  im  Gehirn  des  einzelnen 
zum  Universum  einer  Gesellschaft  wurde  — war  es  ungewifi, 
wohin  er  fiihrte,  so  war  es  gewiB,  dafi  er  fiihrte. 

Und  die  Welt  steht  im  Zeichen. 

Nicht  nur  die  Kunst,  die  Sprache,  der  Verkehr  bedient  sich 
ihrer,  auch  die  Glauben  und  Zweifel  stehen  im  Zeichen  weniger 
Siegel  — die  auf  fernen  Traditionen  ruhend,  nun  jedem  gelaufig 
werden.  Signale  des  Erlebens  — hie  Freund  — dort  Feind  — 
und  jeder  Freie  ein  Verrater  des  Leidens. 

Noch  zu  wenig  sind  aufgeriittelt,  zu  wenig  sind  begehrend  — 
noch  ist  zuviel  Sehnsucht,  und  die  Hochzeit  der  Dinge  scheint 
zeitlos  fern  — aber  Manner  und  Frauen  sind  erregt  vom  Nahen 
und  Bliihen  einer  Zeit,  die  mii  fflucfi  (commi,  um  die  <Jloi  und 
Opfer  ifirer  Qeburi. 

Es  ist  die  Zeit  des  Schaffens,  es  ist  die  Zeit  der  Mutter. 

F rauen ! 


286 


Lu  M alien  * Geburt  der  Mutter 


Auferstanden  zu  erlesenen  herrlichen  Geistern.  Still  und  stark 
geworden  unterm  HaB  und  Zauber  der  Jahrhunderte  — den 
sie  erregt,  gefordert  und  gelitten. 

Grofie  Scharen  blicken  zur  Grenze,  wo  ihr  gefallen  — dahin, 
wo  man  gemeine  Geschicklichkeit  nocb  mit  Ehren  empfangt 
und  wo  man  euch  verschwieg  und  liegen  liefi  — weil  ihr  Frauen. 

Dieser  jammerliche  und  grausame  Instinkt  der  jahrtausend- 
alten  Herrenschaft  forderte  die  Feurigsten  und  Frohlichsten. 

DieZagen  erschrecken  vor  solchem  Weg  und  bleiben  unterm 
Zeicljen  des  Geschlecht*,  mit  dem  sie  die  alte  Welt  beherrscht. 
Zauberei  und  Spiel. 

Die  Starken  sehen  dieOpfer  und  kehren  nicht  um.  Verachtlich 
gegen  ihre  zeitlichen  Vorteile  bleiben  sie  die  eigentlichen  Empo- 
rer.  Ausharrend  iiber  die  Zeit,  iiber  die  Mauern  des  Jahrhun- 
derts.  — Ungewifi  der  nahen  Zukunft  — gewifi  nur  der,  die 
sie  in  sich  fiihlen. 

Mutter. 

Wird  einst  die  Geschichte  dieser  erzahlt,  so  liegt  dann  das 
Schicksal  derer,  die  noch  kommen  werden. 

Siinden  ruhen  darin,  begangen  wie  an  Kindern,  begangen 
wie  am  Friihen,  am  Unschuldigsten,  was  die  Zartlichkeit  des 
Lebens,  der  Sinn  der  Geister  erbringen  konnte. 

Menschen,  die  wie  Extrakte  sind  der  Sozialitat  alles  Gesche- 
hens.  — Geniale  Eruptionen.  Eigentliche  Fiihrer.  Wer  redet 
in  solchen  Zeiten  nicht  von  der  Frau.  Wer  wagt  es  nicht,  das 
Muttertum,  das  Schaffende  — vor  die  Fronten  der  Dinge  zu 
stellen,  der  Dinge,  die  euch  bisher  wichtig  waren. 

Ich  sage  davon.  Nicht  um  Einzelwerte  zu  betonen,  sondern 
um  den  Menschen  gesunder  sozialer  Kraft  zu  verraten.  Men- 
schen der  Kraftfreude,  wie  sie  die  erste  Frau  am  ersten  Manne 
haben  miiBte.  Menschen  von  schneidender  leuchtender  Geistig- 
keit  — wie  sie  der  letzte  Mensch  an  der  letzten  Kultur  haben 

miiBte. 

DaB  diese  Frauen  heiBen  werden,  haben  euch  die  Albernen 


und  Weisen  vorausgesagt,  als  sie  sprachen : Das  Weib  sei  eine 
Mitte  zwischen  Kind  und  Mann. 


Lu  Marten  • Geburt  der  Mutter 


287 


Denn  der  feme  freie  ungriiblerische  Mensch  muG  also  sein ! — 
Soil  er  nicht  verzweifeln  am  Tier  in  sich  — soil  er  nicht  ver- 
dorren  am  Intellekt  — muG  er  den  Tanz  wissen  der  Lachenden 
und  Schaffenden.  Das  sind  die  Mutter. 

Die  Frauen  erlost  von  der  Karikatur  ihrer  Bander  und 
Schniire.  Die  Frauen,  erlost  vom  Gitter  und  von  der  Gosse. 

So  sprach  der  soziale  Einzelmensch : 

Ich  will  nicht  mehr  gehen  und  Klage  dichten  und  Fluch  der 
Einsamen  — ich  werde  ihren  Weg,  ihr  Sein  erweisen  — ich 
werde  so  unzerbrechlich  sein,  wie  Frauen  es  jemals  waren  — 
wie  Stahl,  und  in  einem  neuen  Leben  lebendig  — einem  Leben, 
dem  ich  das  Siegel  aufdriicke. 

Ich  werde  die  verwirrten  Geistlein  berichtigen,  die  da  meinen, 
ein  Weib  opfert  den  Geist  um  der  Freundschaft  willen.  — Es 
wird  mir  gefallen,  meine  Freundschaft  zu  verspielen  — sie 
wegzuwerfen,  wenn  es  mir  notwendig  erscheint.  Von  neuem, 
aber  um  OTe/oe/willen  und  als  Opfer  meines  Geistes,  denn  der 
Geist  ist  Mutterschaft. 

Mutterschaft ! nicht  sinnlos  Gebaren,  sondern  das,  danach 
ihr  sehnt  und  trachtet  in  jedem  Atem  — DaseinsbewuGtsein, 
durch  das  wir  nicht  untergingen,  durch  das  wir  gehemmt  wur- 
den  — durch  das  wir  Ewigkeit  und  Befreiung  noch  einmal 
glauben. 

Alles  war  und  wird  wieder  sein  — aber  es  gilt,  das  versteckte 
Wesen  der  Dinge  lebendig  machen.  Neue  Korper  dem  Atem 
des  Lebens. 

Noch  einmal  mogen  Frauen  geraubt  werden,  wo  es  an  Frauen 
fehlt  — doch  alle  Waffen  der  Zeiten,  alles,  was  der  Mann  als 
seine  Kultur  riihmt  und  zeigt,  alle  Kraft  des  einstigen  Raub- 
tiers  — alle  Gewandtheit,  Kiihnheit  und  Ehrfurcht  dieser 
Gotterdammerung  wird  er  aufbieten  miissen. 

* 

Ich  rede  zu  den  Frauen,  die  bescheiden  sind  in  der  GroGe 
ihres  Tuns  und  die  Taten  tun  wie  unsere  Mutter.  Unsere  Mut- 
ter haben  den  Boden  in  uns  bereitet  — wir  wuchsen  unter  ihrem 


288 


Lu  Marten  ♦ Geburt  der  Mutter 


Schutz  am  neuen  Sein.  Ihre  Zartheit  hat  uns  lichtempfindlich 
gemacht  — vergessen  wir  das  nicht.  Die  Zeit  hat  sie  gering 
gelassen  von  Ansehen  — wir  aber  wollen  ihre  Arbeit  adeln  und 
treu  und  herrlich  nennen,  wo  sie  Wachstum  gab ; denn  wir  sind 
so  stolz  geworden  aus  ihrem  Schofi  und  ihrer  Wiirde. 

Ich  rede  zu  den  Frauen,  die  friih  auf  eine  Merkwiirdigkeit 
gestimmt  sind  und  die  die  Meinung  der  andern  in  einen  feind- 
lichen  Alltag  zwingen  will. 

La8t  euch  der  Natur,  befier : dem  Geschwatz  davon  nicht  als 
Opfer  iiberantwortet  werden.  Entscheidet  den  Willen  zum  Ge- 
schlecht  nach  eurer  Kraft  und  eurer  Einsicht.  Es  ist  nicht  wahr,  daB 
idr  der  bidden  Qrdnung  des  djeraan gtichen  untertan  sein  miifit. 

Als  Grandseigneurs  gegen  Vorteil  und  Freundlichkeit  des 
Lebens  — liefien  einige  ihr  Leben  berauben  und  verwiisten  — 
um  des  Schaffens  willen,  urn  des  einen  sichren,  ihnen  bestimmten 
Schaffens  willen.  Welch  eine  Klage  und  Reue  miifite  ihr  Leben 
sein,  wenn  es  nicht  Sinn  ware  fiir  euch!  Einen  Spott  ohne 
Gnaden  miifiten  sie  erfinden,  es  zu  spiegeln,  wenn  es  nicht 
Pracht  und  Macht  ware  — fiir  euch  — die  ihr  ihnen  die  Zeit 
von  den  Schultern  nehmen  sollt. 

Frauen,  die  ihr  nach  ihnen  kommt,  ihr  werdetfrohlichersein. 
Sie  mufiten  ihr  Frauentum  noch  einmal  fiir  alle  erproben,  be- 
zweifeln  und  miBhandeln  lassen  und  in  einem  Glanz  von  neuen 
Zufriedenheiten  wiederfinden.  Sie  waren  die  Sehnsucht,  die  bis 
an  die  Schwelle  eurer  Zeit  fiihrte  — da  das  Schaffende  sich  in 
euch  besann. 

Dies  Namenlose,  was  zu  euch  ruft  — es  war  die  Feuersbrunst 
an  alten  Dingen.  Darum  sind  wir  allem  Neuen  Neues  schuldig.  — 
,,GroBe  Aschen  brennen  auch  auf  unsern  Herzen/'  — Daraus 
muB  nicht  ein  Buch  werden,  nicht  ein  Bild  . . . Daraus  wurde 
der  cfinn  einer  neuen  soziafen  S%rt,  die  nicht  Menschen  erzeugt, 
sondern  Welten  gestaltet,  Wesen  wie  sie  selbst,  und  nicht  nur 
dichtend, 

Schaut  auf  die  friihen  Geschwister  im  Geist  — sie  waren 
mehr  Programme  einer  Zeit,  denn  zuerst  Dichter  oder  Maler 
einer  Kunst  .... 


Lu  Marten  * Geburt  der  Muller 


289 


Erstickt  die  Eitelkeit  des  Menschen  und  Weibchens  in  euch. 
Im  Zorn  des  Intellekts.  Er  will  euch  reiner  und  iiberlegener  denn 
irgendeiner  — denn  ihr  sollt  alle  Siinden  erproben,  um  der- 
willen  Menschen  soviel  weinten  und  larmten. 

Unser  Leben  wahret  viele  dunkle  Nachte  und  einige  junge 
Jahre.  Und  wenn  es  kostlich  gewesen,  so  ist  aller  Irrtum  stark 
und  heiB  gewesen. 

Denkt  daran,  wenn  eure  Kinder  das  Leben  vor  euch  wieder- 
holen  und  wie  einsam  jeder  wird,  der  das  Leben  von  sich  aus 
anredet. 

Was  konntet  ihr  als  Mutter  mehr  tun,  als  an  manchem  Weg- 
ende  auf  das  Kind  warten  und  ihm  seinen  Irrtum  aus  den 
Handen  nehmen.  Andere  Erlosungen  gibt  es  nicht  und  andre 
wird  keine  Religion  erfinden. 

Griindet  jegliche  neue  Heiligkeit  auf  den  wissenden  Mutter- 
geist : 

„Reif  sein,  ist  alles.“ 

Wo  die  „Macht“  der  Frau  beginnt,  da  lacheln  die  Manner. 
Wo  sie  endet,  weinen  die  Kinder. 

Eine  Macht  ist  erprobt  — es  gilt  eine  andre:  denn  begreift 
doch  endlich,  daB  ihr  die  Zukunft  in  euch  tragt,  die  euch  die 
Gedankenlosigkeit  so  vergilt  wie  die  Kraft. 

Einen  Rausch  von  Kraft,  von  Mutter-  und  Wurzel-Dasein 
laBt  euch  vergelten. 

Sehntet,  traumtet  ihr  nie  von  Macht?! 

‘JJlachi. 

Der  Herzschlag  von  Engeln  und  Teufeln  surrt  in  demKlang. 

Dein  Name  ein  Schild.  Dein  Wort  ein  Weg.  Uberlegenheit 
und  heftig  drangendes  Sein  umsetzen  in  Tat. 

Das  Laster  der  gemeinen  Geschicklichkeit  bekriegen.  Aus 
der  Ruhlosigkeit  des  Denkens  Antwort  auf  Fragen  des  Tages 
machen. 

Macht ! 

Keinen  Tyrannen  — und  war  er  der  adligste,  will  deine  Zeit  — 
so  bleibt  dir  dein  eigner  innrer  Weg  der  Macht.  Und  stille 
Gassen  hat  deine  Zeit,  darin  so  Machtige  wohnen  konnen. 


290 


Lu  Marten  * Geburt  der  Mutter 


Es  sind  so  viele  neue  Fragen  iiber  euch  geworfen  — und  es 
ist  so  wenig  eigentlich,  was  das  Neue  will. 

Das  Dasein  des  einzelnen  verniinftig  berechnen  und  statt 
dem  einzigen  ein  Denkmal  planen,  den  letzten  Schwachen 
wohlhabend  machen. 

‘Dufdet  (cern  verschimmelndes  Qetreidemeftr  undfceine  einsam 
ihronenden  Qditer  werden  me  fir  sein. 

Danach  und  zwischen  allem  — ein  wenig  riicksichtsloses 
Gericht  — eine  sonderliche  Klugheit  iiber  euch  selbst. 

Das  erste  ist  <z#erZeitwerk.  Das  andre  des  einzelnen  Stunden- 
werk. 

Mit  starker  Feinheit  auf  sich  achten,  das  Leben  tropfen  horen. 
Das  wagt  die  Krafte  ab,  die  wir  haben,  und  lehrt  den  UberfluB 
vergeben. 

Denn  nun  ist  jeder  reich  und  eure  Geselligkeit  kann  Ent- 
ziicken  sein. 

Bis  an  die  Zahne  bewaffnet  mit  Giite  — aber  nicht  die,  die 
nicht  hart  aussehen  konnte  — den  Hochmut  reinsten  Geistes, 
den  keiner  noch  richten  durfte,  sollen  wir  haben. 

Seid  brutal  ehrlich.  Erbt  nicht  Eitelkeiten,  die  scheinen  wollen, 
sie  sind  die  Feinde  aller  tiefen  Klugheit.  Seid  brutal  ehrlich. 

Es  ist  die  Zeit,  dafi  die  namenfose  Qenialitai  des  Daseins 
verraten  werde,  denn  die  neue  Zeit  braucht  sie. 

Ich  rede  zu  den  Schaflfenden,  den  Miittern  — denn  nicht  die 
Redenden  tragen  die  Welt,  sondern  die  Schaffenden  — daB  die 
Kinder  starker  Herzen  die  Klugheit  gebaren.  — Bis  dahin  niitzt 
es  nichts,  von  leichthin  sein  und  seliger  Freiheit  zu  singen. 
Die  alte  Welt  liegt  in  Triimmern  — doch  wir  sind  obdachlos 
und  haben  zu  bauen. 

Wir  gehen  dahin,  wo  die  Friihlinge  und  Winter  gehen  — in 
eine  neue  unfafibare  Reife,  die  niemand  aussprechen  kann  und 
niemand  gewollt  hat,  die  gekommen  ist,  weil  wir  wandern  und 
wachsen. 

Wir  wandern  und  wachsen  furchtlos. 


Hans  Reitnann  ♦ Scherze 


291 


(Jfans  H{eimann: 


SCHERZE 


J-JATTE  die  Schale  durchgepickt,  alte,  groBe,  dicke  Schale, 


und  sich  dem  Ei  entrungen.  Ah.  Stand  da  mit  blei- 


schwerem  Kopfe  und  schopfte  vor  alien  Dingen  erst  einmal 


tief  Atem.  Donnerwetter. 


Was  nun? 


Ah,  die  Klucke. 


Feucht,  klebrig,  benommen  torkelt  das  Kiiken  unter  die  brut- 


warmen  Fittiche  der  Alien  und  droselt  augenblicklich  ein. 


Einszweidrei  ist  es  wieder  im  Himmel,  ist  es  wieder  selig.  Kiiken 


schlaft.  Schlaft  tief  und  hingebungsvoll.  Schlaft  sich  heiB. 


Da  kommt  — oh,  gucke  — da  kommt  eine  alte,  groBe,  dicke 


Hand,  umfaBt  das  Kiiken  von  oben  her  und  verschleppt  es. 


Schleppt  es  weit  weg.  Dem  Kiiken  ist  wie  Kindem  im  Fahrstuhl 


zumute:  Der  kleine  Magen  hebt  sich  aus  und  fangt  einen 


Fahrstuhl  fur  sich  an.  Das  winzig  - winzige  Kiiken  - Herzchen 


bubbert. 


Auf  einmal  ist  es  wieder  himmlisch,  warm  und  wohlig.  Die 


dunklen,  ganz  runden,  kullerigen  Kiiken-Auglein  schauen  welt- 


begierig  und  staunend  in  fauter  Dunkles.  Die  groBe  Hand  hat 


namlich  das  Kiiken  in  einen  Topf  mit  mollig-weichen  Tiichern 


versenkt  und  das  Tierchen  bis  zur  Nasenspitze  hineinge- 


mummelt.  Der  Topf  steht  in  der  leicht  geoffneten,  vom  Kochen 


warmen  Ofenrohre.  Der  Topf,  das  ist  die  Welt.  Das  Kiiken 


hatte  sich  die  Welt  anders  vorgestellt.  Lichter,  heller,  freier.  Es 


erfahrt  seine  erste  bittere  Enttauschung. 


In  der  Ofenrohre  bleibt  das  Kiiken,  bis  es  hiibsch  trocken 


ist.  Das  dauert  geraume  Zeit.  Das  Kdrperchen  erwarmt  sich. 


und  je  warmer  es  wird,  umsomehr  schwindet  des  Kiikens  Interesse 


fiir  die  Welt.  Ob  es  dunkel  ist  oder  nicht 


warm  ist  es . Was 


292 


Hans  Reimann  ♦ Scherze 


das  Dunkel  ist belanglos!  Hauptsache  warm  ist  es.  Himm- 

lisch  warm  ist  es ! Sanftiglich  dusselt  Kiiken  hiniiber.  Im  Dunklen 
schlaft  sich’s  herrlich.  Die  Welt  ist  zappenduster.  Undder  unter 
der  Klucke  angesponnene,  fiihlbar  starkende  Schlummer  wird 
gehorig  fortgesetzt.  Kiiken  schlummert.  Schlummert  ausLeibes- 
kraften,  schlummert,  was  das  Zeug  halt. 

Was  ewig  ist,  weiB  Kiiken  nicht.  Aber  es  empfindet  unter- 
bewufit,  daB  es  eine  Ewigkeit  entlang  geschlummert  hat.  Es  ist 
plotzlich  hell  und  frohlich  und  hchterloh  um  das  Kiiken.  Ach, 
und  Kiiken  kann  nicht  kucken.  Es  ist  gar  so  hell  und  frohlich 
ringsum.  Eben  erst  war  die  Welt  noch  pechfinster,  und  jetzt  ist 
sie  plotzlich  licht  und  heiter.  Wie  geht  das  zu?  Kiiken  wundert 
sich.  Nein,  so  was!  Ja,  die  Welt! 

Die  grofie  Hand  hat  namlich  den  Topf  mit  dem  Kiiken  auf 
den  Kiichentisch  gestellt  und  nimmt  das  kleine  Dingchen 
heraus . 

Auf  dem  Tisch,  das  ist  nun  erst  die  eigentliche,  die  richtige 
Welt : grofi,  lang,  glatt  und  gelb.  Und  da  liegen  Kullem  und 
etwas  Weifies.  Das  Wei  Be  ist  naB.  Das  weiBe  Nasse  soil  Kiiken 
trinken.  Kiiken  weifi  noch  nicht,  was  Trinken  ist.  Kiiken  kennt 
nur  Schlafen.  Es  tappelt  auf  das  weiBe  Nasse  los.  Milch.  Und 
die  Kullem,  das  sind  Hirsekornchen  und  Senfkornchen.  Die 
Senfkornchen  sollen  den  Appetit  und  insonderheit  das  Trink- 
bediirfms  des  klemen  Dingchens  wecken.  Vorderhand  genieBt 
Kiiken  nichts.  Es  bildet  sich  ein,  der  Schnabel  ist  zum  Kucken 
da.  Es  kann  ja  noch  nicht  einmal  stehen.  Und  stehen,  das  ist 
wichtiger  fiirs  Leben  als  Trinken  und  Essen.  Denkt  Kiiken. 
Kiiken  hat  den  Kopf  voll.  Das  Stehen  ist  eine  verflixte  Sache. 
Stehen  will  gelernt  sein.  Stehen,  das  ist:  Nicht-Umfallen. 
Man  muB  die  Beine  breit  machen  und  blatschig  — und  mufi 
rechtschaffen  balancieren.  Balancieren  ist  furchtbar  schwierig. 
Das  kann  der  Zehnte  nicht.  Kiiken  steht  da  und  balanciert. 

Em  Finger  der  groBen  Hand  schnippst  dem  Kiiken  ein  paar 
Kornchen  zu.  Kiiken  denkt,  die  reiBen  aus,  und  will  hinterher. 
Aber  Hinterherwollen  und  Hinterherkonnen  ist  zweierlei. 
Wieder  reiBen  ein  paar  Kornchen  aus.  Kiiken  bleibt  vorsichtig 


Hans  Reimann  * Scherzt 


293 


balancierend  stehen  und  iiberlegt  grimmig.  Die  Kornchen  mufi 
es  haben.  Koste  es,  was  es  wolle.  „Welt,  was  machst  du  mit  mir ?“ 
denkt  es.  Und  wieder  kullem  einige  Kornchen  davon.  Kiiken 
will  sich  biicken.  Es  hebt  das  eine  Bein  hoch  — und  pardauz 
liegt  der  ganze  Kerl  auf  dem  Bauche  — den  Kopf  weit  nach 
den  entkullerten  Kornchen  gestreckt.  Kiiken  hatte  sich  das 
Biicken  einfacher  vorgestellt.  Es  weifi  nicht,  dafi  sein  Kopf  so 
schwer  ist.  Kiiken  liegt  da  in  tausend  Angsten  und  strampelt. 
Denkt,  es  mufi  liegen  bleiben  in  alle  Ewigkeit. 

Da  kommt  die  grofie  Hand  und  hilft  dem  Kiiken  auf  die 
Beinchen  und  pflanzt  es  mitten  unter  die  Korner.  Kiiken  weifi 
nun,  dafi  Biicken  eine  Kunst  ist.  Es  achtet  auf  seinen  Kopf 
und  macht  sich  schwer  in  den  Beinen.  Miihselig  und  zaghaft 
pickt  es  einige  Kornchen  auf.  Els  geht.  Els  geht  immer  besser 
mit  dem  Picken.  Sieh  mal  einer  an,  das  ist  ja  gar  nicht  so 
unerlernbar!  Und  aberwitzig  unternimmt  Kiiken  zwei,  drei 
Schritte  nach  den  nachsten  Komem  hin.  Els  stofit  — tappig  — 
die  Korner  mit  seinem  Beinchen  fort,  und  die  Korner  kullerrr 
in  das  weifie  Nasse  hinein.  Ach  herrjeh.  Kiiken  tappelt  den 
Kornem  hinterdrein.  Stellt  sich  unschliissig  vor  der  Mich- 
pfiitze  auf.  Denkt,  es  ist  werweifiwie  tief. 

Da  kommt  die  grofie  Hand  und  stippt  das  Kiiken  erbar- 
mungslos  in  das  weifie  Nasse.  Kiiken  denkt,  nun  mufi  es  sterben. 
Kiiken  glaubt,  es  geht  auf  Leben  und  Tod,  und  strampelt  und 
patscht  und  wedelt  mit  den  Fliigelstumpen.  In  den  Nasen- 
lochern  hat  es  Milch,  im  Schnabel  hat  es  Milch.  Kiiken  schiittelt 
sich  und  prustet.  Ach,  Welt,  wie  bist  du  schwer.  Aus  Ver- 
zweiflung  und  in  grofier  Not  schluckt  Kiiken  hinunter,  was  es 
im  Schnabel  hat.  Ah,  das  schmeckt  aber  gut.  Hatte  Kiiken 
nicht  vermutet.  Sieh  einer  an.  Welt,  aus  dir  wird  man  nicht 
klug.  Kiiken  steht  mitten  in  dem  weifien  Nassen.  Ganz,  ganz 
vorsichtig  biickt  es  sich  und  titscht  den  Schnabel  in  die  Milch. 
Dann  hebt  es  — ohne  dafi  die  Hand  es  gezeigt  hat!  — das 
Kopfchen  hinteniiber  und  habbelt.  Ui,  das  schmeckt. 

Aber  die  Anstrengung  war  zu  grofi.  Kiiken  ist  erschopft, 
halbtot.  Im  Stehen  fallen  ihm  die  Auglein  zu,  und  von  Balan- 


294 


Hans  Reimann  ♦ Scherze 


zieren  ist  keine  Rede  mehr.  Der  dicke  Kopf  baumelt  triibselig 
hin  und  her.  Die  groBe  Hand  greift  Kiiken  und  steckt  es  zuriick 
in  den  warmen  Topf.  Schwer  schlaft  es  und  gewichtig.  Im 
Schlafe  traumts.  Es  traumt  von  vielen,  vielen  Kornchen  und 
Iauter  weiBem  Nassen  und  von  der  groBen  Hand  und  von  der 
Welt,  die  so  zappenduster  und  so  lichterloh  sein  kann. 

Im  Schlafe  fiihlt  Kiiken  etwas  Feuchtes.  Es  knopft  dieAugen 
auf  und  . . oh  . . sieht  sich  selbst  neben  sich  selbst  hocken.  Es 
reifit  die  Augen  ganz  weit  auf  und  be  fiihlt  sich.  Es  ist  aber 
gar  nicht  es  selbst,  sondern  es  ist  ein  zweites  Kiiken,  das  unter- 
weilen  ausgeschliipft  ist.  Das  Erstausgekrochene  piepst  leise. 
Es  begriiBt  das  neue.  Das  neue  kann  noch  nicht  piepsen,  hat 
auch  kein  Interesse  an  dem  ersten;  es  will  weiter  nichts,  als  in 
Ruhe  gelassen  werden,  damit  es  schlafen  kann.  Das  erste  laBt 
das  zweite  nicht  in  Ruhe,  es  ist  iibervoll  von  seinen  Erlebnissen 
und  muB  erzahlen.  Es  erzahlt  von  der  Welt  und  von  dem 
weiBen  Nassen  und  von  den  Kornchen,  die  ausreiBen.  Dariiber 
wird  es  miide  und  schlaft  gleichzeitig  mit  dem  Neuling  ein. 
Die  beiden  schubbern  sich  dicht  aneinander  und  schlafen  ge- 
waltig.  Sie  schlafen,  bis  sie  fressen  miissen.  Da  riihren  sie 
sich.  Die  Hand  kommt  und  setzt  sie  in  die  glatte,  groBe,  weite 
Welt.  Das  altere  macht  vor,  wie  man  frifit.  Es  hat  gedacht, 
es  kanns,  aber  es  kann  es  noch  nicht  und  purzelt  hin.  Das 
zweite  denkt,  so  wirds  gemacht,  und  purzelt  seinerseits  eifrig 
hin.  Die  Hand  schreitet  hilfreich  ein.  Beide  stehen  wieder 
aufrecht  und  blatschig.  Das  erste  — es  fiihlt  sich  blamiert  und 
will  die  Scharte  auswetzen  — macht  es  noch  einmal  vor.  Aber 
es  torkelt  und  glitscht  — hoppla  — an  das  zweite  dran.  Und 
wiederum  purzeln  beide  Kiiken  hin.  Oje,  oje,  oje!  Die  Hand 
lafit  auf  sich  warten.  Hinpurzeln,  das  ist  leicht  getan  — aber 
in  die  Hohe  kommen!  Die  beiden  Kiiken  kucken  sich  hilflos 
an;  eines  wills  dem  andern  absehen,  und  keins  kann  es.  End- 
lich  naht  die  Hand  und  stellt  die  beiden  Kerlchen  an  die  weiBe 
Pfiitze.  Das  altere  zeigt  — sehr  behutsam  — wie  man  trinken 
muB.  Das  neue  versuchts.  Es  geht.  Nun  tummeln  sich  die 
beiden  auf  der  Welt  und  trinken  und  fressen. 


Hans  Reimann  ♦ Scherze 


295 


Da  kommt  die  grofie  Hand  und  steckt  die  Kiiken  in  den 
Topf.  Das  erste  piept  und  zwitschert.  Das  neue  bemiiht  sich, 
mitzuzwitschern . Die  Tone  bleiben  tief  unten  in  der  Keble 
stecken.  Schliefilich  gliickts.  Vom  Piepsen  miide,  schlafen 
beide  ein. 

Wahrend  sie  schlafen,  steckt  die  Hand  noch  zwei  und  spater 
drei  frisch  Ausgeschliipfte  in  den  Topf.  Alle  sieben  huscheln 
sich  innig  aneinander  und  warmen  sich  und  druseln  vor  sich 
hin.  So  vergeht  eine  Stunde.  Dann  rumort  es  in  dem  Topfe, 
und  die  beiden  Altsten  lehren  den  Neuankommlingen  das 
Piepen.  Alle  sieben  vollfiihren  einen  Heidenlarm. 

Es  ist  eine  frohliche,  muntere  Gesellschaft. 

Aber  es  dauert  nicht  lange,  da  kommen  sie  alle  sieben  unter 
die  Klucke,  und  da  fangt  der  Ernst  des  Lebens  an:  die  Er- 
ziehung.  # 

Auf  der  Wiese  steht  ein  Greis  und  will  eine  Kneipp-Kur 
machen. 

Er  ist  barfuB  und  barhaupt. 

Uber  ihm  hangt  ein  wunderschoner,  blauer,  wolkenloser 

Himmel. 

Der  Greis  halt  Ausschau  nach  einer  Kuh,  die  fern  am  Wald- 
rande  Bediirfnis  uber  Bediirfnis  verrichtet. 

Da  tropft  dem  Greis  etwas  aufs  Haupt. 

Ein  dicker  Tropfen. 

Der  Greis  greift  mit  der  Hand  auf  seinen  Schadel  und 
wischt  den  Tropfen  ab. 

Dann  lugt  er  auf  zum  Himmel. 

Der  Himmel  glanzt  in  seidiger  Blaue. 

„Wie?“  denkt  der  Greis,  „ein  Tropfen  aus  heiterm  Himmel?" 

Und  er  begibt  sich  von  dem  Flecke,  auf  dem  er  gestanden, 
weg  und  pflanzt  sich  anderswo  auf. 

Daselbst  halt  er  wiederum  Ausschau  nach  jener  bediirfnis- 
strotzenden  Kuh. 

Er  steht  nicht  lange  — der  Greis  — , so  kleckt  ihm  ein  zweiter 
Tropfen  aufs  Haupt. 


296 


Hans  Reimann  * Scherzc 


Aufschauend  zum  Himmel,  wundert  er  sich  ins  Faustchen 
und  wischt  sodann  den  nassen  Tropfen  sich  vom  Schadel. 

Der  Himmel  lacht.  Mit  Recht. 

,,Wenn  das  so  weiter  geht“,  denkt  unser  Greis  bei  sich,  ,,das 
kann  ja  gut  werden!“ 

Und  er  bleibt  stehen,  wo  er  steht. 

Er  will  herauskriegen,  wo  die  Tropfen  herkommen ; auch 
will  er  wissen,  ob  ihrer  noch  mehr  herunterklecken. 

Abermals  wendet  er  sein  Augenmerk  nach  jener  fladenden 
Kuh  und  vergiBt  iiber  sie  das  Tropfen. 

Es  wahrt  nur  kurze  Zeit,  so  tropft  dem  Greis  ein  dritter 
Tropfen  auf  den  Kopf. 

Der  Greis  runzelt  die  Stirn  und  betrachtet  den  Himmel.  Der 
thront  unschuldig  und  engelisch-rein  iiber  der  Szenerie. 

Der  Greis  legt  sich  ins  grime  Gras  und  laBt  den  Himmel 
nicht  aus  dem  Auge. 

Es  kleckt  kein  Tropfen  mehr  vom  Himmel. 

„Aha“,  denkt  sich  der  Greis,  dies  geschieht,  weil  ich  Obacht 
gebe.“ 

Und  er  paBt  auf.  Er  wendet  keinen  Blick  vom  Himmel. 

Auf  der  Wiese  hegt  ein  Greis.  Er  hat  erne  Kneippkur  machen 
wollen,  aber  er  muB  aufpassen,  ob  es  tropft.  Er  ist  iiberzeugt, 
dafi  in  dem  Augenblicke,  wo  er  den  Himmel  auBer  acht  lafit, 
ein  Tropfen  ihm  aufs  Haupt  kleckt. 

Der  Greis  schlaft  dariiber  ein. 

Er  traumt,  daB  ihm  ein  Tropfen  auf  den  Kopf  kleckt.  Er 
stellt  sich  anderswohin,  und  ein  zweiter  Tropfen  kleckt.  Er 
bleibt  stehen,  und  ein  dritter  Tropfen  kleckt.  Da  legt  er  sich  ins 
grime  Gras  und  spannt  auf  den  Himmel.  Dies  traumt  der  Greis. 

Die  Kuh  mohkt  plotzlich  dicht  bei  ihm. 

Davon  erwacht  der  Greis,  erhebt  sich  achzend  und  begibt 
sich  an  die  Kneippkur. 

Ihm  ist,  als  seien  drei  Tropfen  auf  seinen  Kopf  gekleckt. 

Dies  ist  jedoch  vollig  unmoglich.  Denn  der  Himmel  ist  blau, 
heiter  und  wolkenlos. 

Hat  der  Greis  getraumt? 


Glosscn 


297 


GLOSSEN 


QJber  eine  unveroffent(j<£te 

Scfirjff. 

Ernst  Markus  hat  in  einem  konzen- 
trierten  Werkeuber  die  optischen  Taten 
des  Geistes  berichtet  und  mit  einer 
zwingenden  Vorstellungskraft  darge- 
tan,  daB  unser  eigentliches  Sehvermo- 
gen  eine  Eigenschaft  des  Organes  sei, 
das  als  Sitz  des  Geistes  sich  auch  sinn- 
lich  orientiert.  Ich  messe  dieser  Schrift 
einen  Wert  bei,  der  die  noch  immer 
schwankende  Einstellung  unseres  Sin- 
nen-Apparates  auf  die  Dispositionen 
einer  von  ihm  unabhangigen  Geistes- 
kraft  endgiiltig  festlegt.  Die  Durch- 
dringung  einer  von  Kant  entdeckten 
Gesamtwahrheit,  immer  in  nachster 
Ftihlung  mit  ihrem  unausgesetzten 
Ringkampf  inmitten  niederprasselnder, 
blinder  und  unsichtbarer  Krafte,  wird 
zu  einem  grandiosen,  dramatischen  Er- 
leben. 

Wie  sehr  diese  Schrift  Klarheit  brin- 
gen  wiirde  in  unsere  Deutung  der  Na- 
tur,  die  ja  nur  fur  das  Geschaute  und 
durcfi  das  Geschaute  Natur  ist,  mochte 
wohl  jedem  oflfenbar  werden,  der  das 
Manuskript  gelesen  hat.  Doch  wie  un- 
gern  bin  ich  mir  bewuBt,  hier  einen 
personlichen  Vorzug  zu  genieBen,  fiihle 
ich  doch  in  dieser  seit  vielen  Jahren  im 
Pulte  verwahrten  Handschrift  den  Be- 
ruf  hochster  Belehrung.  Gerade  jenen, 


von  ganz  anderer  Richtung  Kommen- 
den,  die  sich  schon  als  heilsame  Zer- 
triimmerer  vielerPappbaume  und  -wal- 
dungen  gezeigt  haben,  wird  durch 
Markus  bewiesen,  wie  recht  sie  hatten. 

Es  sind  Gebilde  und  Vorstellungen, 
zu  denen  Euch  Ernst  Markus  fiihrt,  die 
werden  konnen,  so  groB  Ihr  wollt; 
denn  er  erschlieBt  nicht  nur  ein  Ge- 
heimnis,  er  tut  viel  mehr:  er  lost  eine 
Kraft.  Stellen  wir  uns  vor,  daB  alles 
Lichte,  Dunkle,  die  gradweisen  Ver- 
mengungen  beider,  alles  Farbige  und 
Geformterlebte  uns  schon  erscheint  als 
Zeichen  unserereigenen  inneren  Schon- 
heit,  die  den  Vorzug  hat  vor  der  ethi- 
schen  Schonheit  durch  ihre  ungeteilte 
Richtung,  durch  ihre  Unfahigkeit,  bose 
zu  sein,  da  ihr  spezifisches  Wesen 
Schonheit  ist,  Schonheit  als  lichtvolles 
Tun:  dann  verstehen  wir  Markus* 
Schrift  als  eine  Tugendlehre  und  haben 
etwas  von  einer  ungeheuren  Belastung 
verloren  bei  dem  Innehaben  dieser 
Machtgewahr  weltbildenden  Sehens. 

Man  muBannehmen,  daB  die  schop- 
ferischen  Handlungen  unseres  Licht- 
denkens  abgeschlossen  sind,  abge- 
schlossen  wie  das  Erleben  des  Natur- 
faktums,  also  scheint  es  eine  sachliche 
Grenze  fur  die  geistige  Erzeugung  un- 
serer  Anschauung  zu  geben.  Aber  die 
gesamte  Anschauung  ist  geistig:  Wir 
stehen  vor  gewodnien  Grenzen ! Und 


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298 


Glossen 


wenn  wir  sagen  das  Helle,  das  Dunkle, 
die  Farben  und  die  Formen,  die  wir 
sehendhandeln,  gleichen  einem  Ursein 
unseres  Geistes,  das  schon  ist,  was  es 
erschaut,  dann  sollten  wir  uns  fragen : 
Ist  denn  schon  alles  getan,  ist  unsere 
Anschauungskraft  nicht  kiinstlich  ab- 
gegrenzt  und  sie  der  Sklave  eigener 
Gebilde  geworden  ? Die  Antwort  war 
mir  schon  lange  fur  die  Befreiung  der 
Kunst  gegeben,  aber  Markus  gibt  sie 
als  kosmisches  Phanomen,  und  er  macht 
dadurch  den  Menschen  selbst  zum  kos- 
misch  wirkenden  Phanomen.  Also  an* 
nahernd  beherrschen  wir  das  Unend- 
liche  in  raumlicher  und  zeitlicher  Dif- 
ferenzierung.  Diese  ungeheure  An* 
naherung  aber  macht  noch  gerade  das 
Leben  moglich,  gibt  ihm  aber  schwin- 
delerregende  Horizonte.  Und  die  all- 
gekannte  Natur:  ist  ein  Rettungsver- 
such,  eine  hemmende  Distanzierung 
von  weiteren  und  immer  weiteren  Mog- 
lichkeiten,  ist  eine  Festlegung  nach 
Obereinkunft  solcher,  die  ein  Interesse 
daran  hatten,  sich  selbst  in  ihren  Gren- 
zen  zu  sefien , die  unmerklich  seit  lan- 
gem  und  von  Jugend  an  den  Geist 
zwangen,  i/ire  Grenzen  als  die  abso * 
futen  Grenzen  anzuerkennen,  die  den 
Umfang  dessen,  was  gesehen  werden 
soffte,  als  Dogma  festlegten  und  dieses 
Dogma  als  Tradition  weitergaben:  es 
ist  jetzt  das  Merkma!  der  Menschheit 
geworden,  wonach  jeder  sich  unter 
Natur  dasselbe  vorstefft. 

Aber  die  optische  Wahrheit  lautet: 
Der  Ort,  den  du  erblickst,  an  dem  bist 
du  auch.  Exzentrische  Empfindungen ! 
Bin  ich  nicht  bei  der  Blume,  die  ich 
pfliicke  ? Ist  die  Entfernung  nicht  iiber- 
briickt,  wenn  ich  etwas  mit  Handen 
fassel  Wie  hoch  gedacht  wtrd  wieder 


der  menschliche  Korper  sein,  wenn  er 
uns  fiirdas^e/iffffeAbbild  unserer  ein- 
geborenen  Geistigkeit  gilt;  wenn  wir 
von  Armen  und  Fingern  wissen:  unser 
Geist  ist  armhaft  und  fingerhaft,  darum 
sind  sie ; von  Beinen  und  Fiifien:  unser 
Geist  ist  schreitend  von  sich  aus,  darum 
sind  sie;  von  den  Augen  und  Ohren: 
unser  Geist  ist  schauend  und  ver- 
nehmend  seiner  unkorperlichen  Natur 
nach:  darum  sind  sie.  Alles  aber  ist 
er  aufierdem  zugleich:  Sein  Schauen 
ist  ein  Ausstrecken  von  Armen  und 
Greifen  von  Fingern,  ein  Hinwandern 
auf  Fiifien  in  weiteste  Fernen,  ein  Ver- 
nehmen  mit  Ohren  aus  entlegensten 
Gebieten.  Was  kommt  denn  zu  uns, 
wenn  wir  doch  liberal!  hingehen  miis- 
sen  ? Was  ist  denn  aufier  uns,  da  wir 
doch  alles  zuerst  in  uns  sein  miissen  ? 
Was  sind  denn  Sonne,  Mond  und 
Sterne  und  die  gesamte  farbige  ge~ 
formte  Aufienwelt  — doch  davon 
spricht  Markus:  eine  Phantasmagoric 
innigsten  Gestaltens,  lauter  Tun  des 
Geistes.  Was  ich  sehe,  ist  bei  mir,  und 
ich  bin  bei  ihm.  Es  ist,  als  wenn  der 
Unterschied  zwischen  Leben  und  Tod 
wegfiele,  der  Unterschied  zwischen 
Himmel  und  Erde,  als  wenn  das  Ich 
und  das  Du  sich  erweiterten  zum  welt- 
umspannenden  Gleichheitsbewufitsein. 
Wirklich,  die  Grenzwerte  sind  andere 
geworden : heute  sind  wir  verantwort- 
lich  fiir  die  Enge  des  Aufienlebens, 
denn  wir  wissen,  dafi  es  von  uns  ab- 
hangt.  Aber  Taten  der  Erweiterung 
konnen  nicht  von  beschaulichen  Men- 
schen geleistet  werden,  von  wachen, 
tatigen,  von  keinen  ehrfurchts/bse/J, 
aber  von  solchen,  die  geistige  leister 
sind  und  als  solche  Rechte  haben,  die 
Dilettanten  niemals  haben  konnen. 


Glossen 


299 


Meister  sein  heifit  aber  gottlich  sein  iibef 
seiner  Materie:  und  wie  deren  Formen 
auch  waren,die  Wahrheit  ist  nicht  grau- 
sam,  aber  sie  kennt  kein  Privatleben. 

Es  ist  ein  physiologischer  Bindungs- 
weg  iiber  die  Grenzen  des  Korpers  hin- 
aus  vorhanden  zu  ihm,  das  also  ohne 
diese  Physis  Ding  an  sich  ware.  Oder 
wird  von  dem  Augenblick  an,  wo  die 
Korpermaterie  versagt,  wo  die  meilen- 
weit  reichenden  Organe  lichthafter  Ge- 
staltung  sich  iiber  die  fleischliche  Peri- 
pherie hinausstrecken,  wird  von  diesem 
Augenblick  an  das  Physische  zum  Gei- 
stigen  ? Wohnt  also  dem  Geistigen  eine 
transfigurierte  Physis  inne,  ist  also  was 
wir  schauen  unsere  erweiterte  Leib- 
iichkeit,  tragen  wir  in  fast  unendlicher 
Sphare  unsere  Erlosung  mit  uns,  die 
mit  uns  wandelt,  an  uns  haftet  und 
darauf  wartet,  daB  wir  uns  zu  ihr  be- 
kennen  ? Markus’  Schrift  lesen  und  sie 
verstanden  haben,  heiBt  dies  bejahen. 
So  ist  die  Optik  unser  hochstes  Organ, 
unser  kosmisches  Organ,  durch  das  wir 
am  Kosmos  mitwirken  konnen.  Aber 
wie  Erdenmeftsch  sein  bedeutet:  Feind 
sein  der  geistigen  Wirksamkeit,  so 
scheint  diese  Verschwdrung  schon  in 
unkontrollierbar  friiher  Zeit  unseren 
eminentesten  geistigen  Sinn  getroffen 
zu  haben,  die  Schaukraft;  ihr  vor  alien 
anderen  Fahigkeiten  geistiger  Expan- 
sion: denn  groB  sehen  heiBt  grofi  sein. 
Die  Menschheit  hat  den  Widerstand 
der  Erde  gegen  ihre  zentrifugalen  Er- 
innerungen  geerbt,  aber  wer  das  MaB 
hat,  braucht  keine  Ausdehnung  zu 
fiirchten.  In  diesem  winzigen  Punkte 
kann  die  Haltekraft  fiir  das  Entfernteste 
liegen,  und  tatsachlich  balancieren  wir 
die  gesamte  Welt  der  Anschauung.  Vor 
allem  fragen  wir  nicht  was  wird,  furch- 


tend,  Abschied  nehmen  zu  mussen  von 
dem  was  ist;  sondern  seien  wir  das 
Gegen  wartigste  auf  der  aanzen  Basis 
unseres  Selbst;  diese  aber  ist  sefir 
groB  — kennten  und  wollten  wir  nur 
ihre  GroBe. 

Es  ist  mir  bei  dem  einmaligen,  wenn 
auch  intensi  ven  Lesen  der  Markusschen 
Schrift  die  Erklarung  zweier  Probleme 
nur  noch  in  ihrer  Konzeption  vorstell- 
bar ; ihre  Originalitat  und  folgen- 
schwere  Bewertung  ragt  besonders  her- 
vor  und  muB  den  in  der  Anschauung 
Schaffend-denkenden  leidenschaftlich 
ergreifen:  Was  ist  der  Spiegel  — was 
die  Perspektivel  Der  Anschauliches 
zeugende  Geist  ist  Vater  zweier  Na- 
turen,  der  im  Spiegel  und  auBer  dem 
Spiegel  geschauten.  Und  beide  Na- 
turen  sind  qualitativ  dieselben,  quali- 
tativ  gleichwertig  vor  unserer  die  An- 
schauung bildenden  Geistigkeit.  Aus 
der  Starrheit  des  Spiegels  springt 
plotzlich  ein  vitales,  geistiges  Urge- 
bilde,  ist  ihm  vorgelagert  und  haftet 
nur  lose  an  ihm,  und  nimmt  dem  To- 
ten,  Glatten,  Sproden  sogar  die  Macht 
der  Reproduktion  I Welche  eminente 
Sensibilitat  wohnt  uns  inne,  daB  wir 
auf  jede  Kriimmung,  auf  jede  glatte 
oder  rauhe  Flache  uns  anders  handelnd 
verhalten  und  unsere  Weltanschauung 
variieren.  Die  zeugende  Tat,  die  Ob- 
jektvorstellungen  schafft,  vermag  das 
Gesetz,  unter  welchem  Angeschautes 
mdglich  ist,  mit  einer  chemisch  pra- 
zisen  Gewalt  zu  organisieren  und  tut 
dies  nach  dem  Ethos  dieses  Gesetzes  ? 
Es  sind  Dinge,  die  uns  von  dem  un- 
geheuren  dramatischen  Anteil  unseres 
Geistigen  an  dem  Entstehen  des  Welt- 
gebildes,  so  wie  wir  es  sehen,  ein  helles 
BewuBtsein  geben. 


20  vol.  m/2 


300 


Glossen 


Els  ist  erstaunlich,  in  welche  physisch- 
aktive  Nahe  Markus  diese  geistigen 
Problemc  zu  riicken  vermag,  wie  ihm 
dadurch  das  Allerschwerste  gelingt, 
das  ist,  ein  ethisch  Erlebtes  asthetisch 
zu  steigern  und  so  machtig  zu  machen, 
daB  der  Sieg  ilber  den  eingefleischten 
Anschauungs-Schematismus  mit  Ge- 
wiBheit  vorauszusagen  ist.  Er  bringt 
Kant,  der  wie  ein  femer  stiller  Merker 
am  Anfang  dieses  Weges  steht,  zu  einer 
gegenwartigen  und  modernen  Teil- 
nehmerschaft:  eine  groBe,  gewaltige 
Welle  hebt  sich  heute;  zwischen  ihr 
und  dem  Gipfel  einer  fruheren,  die  die 
kantische  Windsbraut  erzeugte,  liegt 
ein  tiefes  Tal:  aber  sie  allein  hat  die 
Kraft,  ein  neues  Land,  einen  neuen 
Strand  zu  erreichen. 

Wie  frisch  geboren,  welchen  Alters 
wir  auch  sind,  werden  wir  dereinst  vor 
der  Natur  stehen:  das  ist  Fleisch  von 
unserem  Fleisch,  Bein  von  unserm  Bein , 
blutsbriiderlich  ist  es  uns  zugesellt. 
Aber  wir  werden  andere  geworden  sein 
miissen,  ehe  wir  so  groBer  Verwandt- 
schaft  teilhaftig  werden  diirfen.  Uns 
selbst  reicher  und  immer  reicher  zu 
entziffern,  ist  die  Voraussetzung  des 
grofien  Konnens,  und  dann  werden  wir 
nicht  mehr  Papageien  unserer  selbst 
sein.  — Man  verkennt  die  Kiinstler 
unserer  Tage  vollig,  wenn  man  ihnen 
ihre  Befreiungsversuche  von  einem  Ko- 
pistendasein  zum  Vorwurf  macht:  — 
sei  es  von  der  erstarrten  Naturvorstel- 
lung  oder  den  nicht  minder  erstarrten 
geistigen  Direktiven  — einen  sehr 
spdien  asthetischen  Befreiungsver- 
such,  der  als  Initiative  unbedingt  auf 
die  Befreiungstat  Kants  von  der  Em- 
piric zuriickzuleiten  ist. 

Diesen  Kiinstlern  ist  nur  dann  ein 


Vorwurf  zu  machen,  wenn  sies/ofinicht 
auf  die  ganze  breite  Basis  des  Moglichen 
stellen  und  sich  nicht  bewuBt  sind, 
einer  Natur  iota  [Hat  eine  zulangliche 
Geistes totafrtdt  gegeniiberstellen  zu 
miissen.  Um  dies  zu  erreichen,  haben 
sie  als  Feldherrn  zu  handeln,  ihren 
gewaltigen  Gegner  nicht  zu  unter- 
schatzen,  aber  doch  im  VollbewuBtsein 
zu  Werke  zu  gehen,  daB  ihre  Mittel 
iiberlegene,  aber  nur  mit  vollen deter  Or- 
ganisation erfolgreich  zu  verwendende 
seien.  Darum  diirfen  und  miissen  sie 
sogar  a/feaattackieren,  und  wo  sie  noch 
nicht  attackieren  konnen,  miissen  sie 
wissen,  daB  dies  eines  Tages  zu  ge- 
schehen  hat,  und  sich  vorbereiten. 
Hierzu  bedarf  es  einer  reifen  Kultur, 
die  im  Besitze  differenzierter  Gesetze 
ist  und  diese  mit  wissenschaftlicher 
Prazision  anwendet.  Die  Kunst  also, 
meine  Herren,  bedarf  ein  paar  Augen, 
die  quasi  chemisch-aktiv  sind.  Denn 
dieser  Stoff  da  draufien  erfreut  sich 
schon  zu  lange  einer  lethargischen 
Ruhe:  diese  aber  ist  die  Ursache  alles 
Obels.  In  der  Grundlegung  zur  Meta- 
physik  der  Sitten  hat  Kant  der  Mensch- 
heit  alle  Mittel  in  die  Hand  gegeben, 
den  Weltzustand  nach  hochster  Norm 
zu  regeln;  warum  geschieht  dies  nicht? 
Ja,  da  draufien  wird  alles  gewufit,  ge- 
bucht,  gezahlt.  Els  ist  erstaunlich,  was 
man  seit  hundert  Jahren  alles  weiB; 
aber  irgendwo  steht  ein  Satz,  der  heifit 
etwa:  ,,Die  Entmannung  desoptischen 
Sinns,  seine  Einengung  auf  rezeptive, 
physiologische  Tatigkeit,  seine  grobe 
Vermateriali$ierung.“  Und  als  pars  pro 
toto  gilt  er  fur  das  gesamte  geistige 
Weltverhaltnis  des  Menschen. 

Otto  Freund [7 <£. 


>• 


Glossen 


301 


Rofizen. 

In  Berlin  erscheint  eine  Zeitschrift 
( Wieland , die  neben  harmlosen  No- 
velletten  und  Gedichten  blutriinstige 
Zeichnungen  und  gehassige  Glossen 
veroffentlicht,  genau  wie  alle  ahnlichen 
Zeitschriften  in  den  kriegfiihrenden 
Landern.  So  enthalt  die  Augustnum- 
mer  eine  ganzseitige  Zeichnung  von 
Schilling  (der  fiir  dieses  Geschaft  nicht 
gerade  pradestiniert  schien):  August 
1916.  Ober  der  Erdkugel,  in  den 
Himmel  ragend,  hoch  bis  zu  blutigen 
Schaferwolkchen,  ragt  ein  blutrotes 
Skelett,  der  Schnitter  Tod.  Von  der 
blutigen  Sense  fallen  groBe  Bluts- 
tropfen  auf  eine  Gruppe  zitternder 
Soldaten : einen  Franzosen  und  einen 
Italiener,  die  sich  beide  die  Ohren  zu- 
halten  — womit  vermutlich  an  den 
Kanonendonnervor  Verdun  undbinter 
Gorz  erinnert  werden  soli  — einen 
in  Gottergebenheit  glotzenden  Russen 
und  einen  Englander,  der  sich  ganz 
schmal  macht  vor  Angst.  Von  Mit- 
leidens  wegen  diirfte  auf  dem  Bild  der 
Deutsche  nicht  fehlen.  Denn  die  Zeit- 
schrift ist  ,,herausgegeben  im  Einver- 
standnis  mit  dem  Zentralkomitee  der 
deutschen  Vereine  vom  Roten  Kreuz". 
Sie  enthalt  eineRubrik:  ,,Mitteilungen 
des  Zentralkomitees  der  deutschen 
Vereine  vom  Roten  Kreuz".  Die  Vi- 
gnette hierzu  zeigt  einen  Amor,  der 
nur  mit  einer  Soldatenmiitze  bekleidet 
ist  und  ein  schwarzes  Kreuz  halt.  Man 
bemerkt  mit  Staunen,  daB  die  „Mit- 
teilungen  des  Zentralkomitees  der 
deutschen  Vereine  vom  Roten  Kreuz" 
einzig  und  allein  aus  Inseraten  be- 
stehen.  Das  erste,  das  der  Amor  mit 


der  Soldatenmiitze  und  dem  schwarzen 
Kreuz  iiberfliigelt,  lautet: 

,,Eine  illustrierte  Geschichte 
des  Hauses  Hohenzollem. 

Zugunsten  des  Roten  Kreuzes  ist  unter 
dem  Titel  ,500  Jahre  Hohenzollem4 
ein  Prachtwerk  erschienen,  das  sich  in 
der  Reihe  ahnlicher  Veroffentlichungen 
in  doppelter  Hinsicht  auszeichnet.  Der 
Text  stammt  aus  der  sachkundigen 
Feder  des  Geh.  tfrchforaies  0r.  Georg 
Schuster  vom  Koniglichen  Hausar- 
chiv,  der  unter  Beriicksichtigung  der 
neuesten  Forschungsergebnisse  eine 
recht  lebendige  Geschichte  der  Hohen- 
zollern  abgefaBt  hat;  auBerdem  enthalt 
das  Werk  zahfreiche  flbbildungen,  die 
weiteren  Kreisen  bisher  unbekannt 
waren. 

Das  Buch  hat  es  sich  zur  beson- 
deren  Aufgabe  gemacht,  die  besten 
und  geschichtlich  beglaubigten  Wilder 
alter  IKohenzollernfUrsten  und  ihrer 
Gemahlinnen  zu  veroffentlichen  und 
iiberhaupt  moglichst  zahlreiche  Ab- 
bildungen  zu  bringen,  durch  die  das 
Leben  und  die  Taten  der  Hohenzollem 
veranschaulicht  werden.  So  finden  wir 
ihre  Wappen,  Siegel,  Schwerter,  Kro- 
nungsinsignien , ihre  taglichen  Ge- 
brauchsgegenstande  ebenso  abgebildet 
wie  ihre  Schlosser  und  die  Darstellung 
ihrer  Taten  von  Kiinstlerhand.44 


* 

Ober  den  schrecklichsten  Krieg,  den 
die  Weltgeschichte  kennt,  denkt  der 
russische  General  A.  P.  Skugorewsky 
sehr  skeptisch.  „Ich  erinnere  mich  an 
Sebastopol44,  schreibt  er  in  *Rufihoje 
c/Tovo,  ,Das  war  ein  Krieg,  wie  es 
noch  keinen  gegeben  hatte.  Er  wahrte 


302 


Glossen 


fast  vier  Jahre.  Die  Ktigeln  fielen  wie 
Hagel  aus  einer  Entfernung  von  . . tau- 
send  Metern.  Friiher  hatten  die  Ku- 
geln  nur  dreihundert  Meter  weit  ge- 
tragen,  und  da  war  noch  ein  grofies 
Spotten  gewesen  iiber  die  AnmaBung, 
auf  diese  Entfernung  ein  dreistockiges 
Haus  treffen  zu  wollen.  Im  Jahre  1866, 
als  der  Krieg  zwischen  PreuBen  und 
Osterreich  tobte,  war  ich  Offizier.  Man 
sprach  schon  von  der  fabelhaften  Wir- 
kung  der  Feuerwaffen,  die  bestimmt 
seien,  in  der  Schlacht  das  entschei- 
dende  Wort  zu  sprechen,  und  Suwa- 
rows  Lieblingswort : ,Die  Kugel  ist 
eine  Torin,  das  Bajonett  ist  ein  ganzer 
Kerl4  schien  plotzlich  eine  Ketzerei. 
In  diesem  Krieg  gaben  die  PreuBen 
taglich  2 Millionen  Taler  aus.  Jeden 
Tag  2 Millionen!4  sagte  man.  ,Ein 
unerhorter  Krieg!4  Der  Krieg  1870/71 
war  ebenfalls  .unglaublich4.  Die 
Deutschen  hatten  fast  eine  Million 
Soldaten  nach  Frankreich  gebracht. 
Dieser  Krieg  hatte  eine  solche  An- 
spannung  aller  kriegerischen  Krafte 
bewirkt,  dafi  es  unmoglich  schien,  darin 
noch  weiter  zu  gehen.  Doch  war  der 
Krieg  kaum  beendet,  da  machten  sich 
alle  Volker,  Deutschland  an  der  Spitze, 
daran,  von  Jahr  zu  Jahr  ihre  Riistungen 
zu  steigern.  Das  Heer  wurde  zum  Volk 
in  Watfen,  und  man  begann,  vom 
nachsten  Krieg  zu  sprechen,  der  eben- 
fallsalleVoraussichtUbertreffen  sollte.44 

Jetzt  aber,  meint  General  Skugo- 
rewsky,  jetzt  endlich  wiiBten  dieVolker, 
was  es  heiBe,  den  nachsten  Krieg  vor- 
bereiten.  Jetzt  lieBen  sie  sich  nicht 
mehr  tiberraschen.  Und  er  rechnet  aus, 
daB  in  zehn  Jahren  die  Bevolkerungs- 
zahl  RuBlands  200  Millionen  iiber- 
schreiten  und  die  Deutschlands  etwa 


100  Millionen  erreicht  haben  werde. 
Also  wurde  im  Kriegsfall  RuBland  mehr 
als  40  Millionen  Manner,  Deutschland 
deren  an  die  20  Millionen  unter  die 
Fahne  rufen.  Darauf  erortert  der  rus- 
sische  General  eingehend  die  milita- 
rische  Organisation  von  40  Millionen 
Kriegern . Eine  Armee  von  40  Millionen 
Mannern  braucht  mindestens  300,000 
Offiziere.  Man  wird  also  die  Dienst- 
pflicht  fur  Offiziere  einfiihren:  alle 
jungen  Leute,  die  eine,  wenn  auch  un- 
vollstandige  Mittelschulbildung  erhal- 
ten  haben,  werden  als  Offiziere  dienen 
mlissen.  Dazu  kommt,  in  samtlichen 
Schulen  des  Reichs,  die  militarische 
Vorbereitung,  die  natiirlich  obligato- 
risch  sein  wird.  Fur  die  Etappen  und 
die  weiteren  riickwartigen  Verbindun- 
gen  bedarf  es  eines  ungeheuren  Per- 
sonals. Es  wird  an  Mannern  fehlen. 
Die  Frauen  miissen  einspringen  iaber- 
all,  wo  eine  Frau  in  der  Not  einen 
Mann  ersetzen  kann.  Also  Einfiihrung 
der  Dienstpflicht  fur  die  Frauen.  Ein 
40  Millionenheer  braucht  mindestens 
100,000  Kanonen,  eine  Million  Ma- 

schinengewehre,  Hunderttausende  von 
Automobilen ; bei  Kriegsausbruch 
muBten  mindestens  50  Millionen  Gra- 
naten  und  5 Milliarden  Patronen  be- 
reit  liegen.  Diesem  Aufgebot  miiBte 
die  Zahl  der  vorhandenen  Luftschiffe 
(in  jeder  Art)  entsprechen.  Was  die 
Artillerie  anbelangt,  so  diirfte  man 
bald  Kanonen  gebaut  haben,  die  von 
Calais  nach  Dover  schieBen.  In  der 
Friedenszeit  wird  man  die  Plane  fur 
Befestigungen  entwerfen,  die  sich  iiber 
Hunderte  von  Kilometern  hinziehen, 
und  alles  Material,  alle  erforderlichen 
Maschinen  bereitstellen.  Wenige  Tage 
nach  dem  Mobilmachungsbefehl  wer- 


Gloss  en 


303 


den  die  Befestigungen  gebaut  sein. 
Der  militarischen  Vorbereitung  mufi 
die  politische  entsprechen.  Die  An- 
spannung  der  wirtschaftlichen  und 
finanziellen  Krafte  wird  derart  sein, 
daB  sie  die  Leistungsfahigkeit  eines 

einzigenMinisteriums  bei  weitemiiber- 
steigen:  man  wird  ein  selbstandiges 
Ministerium  der  Kriegsvorbereitung 
bilden.  Vermutlich  wird  man  bei  der 
Kriegserklarung  sofort  alle  Erfindun- 
gen,  die  Fabriken,  Industrien  und  selbst 
die  Heimarbeiter  mobilisieren ; auch 
der  Plan  dieser  Mobilmachung  muB 
im  Frieden  bis  ins  einzelne  ausgear- 
beitet  werden.  Das  innere  Land  wird 
uberzogen  sein  von  ungeheuren  Ge- 
treidelagern,  Schuppen,  Viehplatzen, 
iiber  die  ein  Heer  von  Agenten,  Inspek- 
toren  und  Kontrolleuren  wachen.  ,,Je- 
doch“t  schliefit  der  General  (der  vom 
nachsten  Krieg  weniger  weit  entfernt 
scheint,  als  es  Jules  Verne  von  uns  ist), 
„dies  alles  sind  Einzelbeiten ; iiber 
jeden  Zweifel  steht,  daB  der  nachste 
Krieg  unvergleichlich  schrecklicher 
sein  wird  als  alle  vorangegangenen 
Kriege.  Deren  Zerstorungsmaschinen 
werden  wie  Kinderspielzeug  erscheinen 
neben  den  neuen.  Es  wird  Millionen 
Tote,  Zehntausende  Millionen  Ver- 
wundete  geben,  und  wenn  der  nachste 
Krieg  langer  als  ein  Jahr  dauerte,  dann 
gabe  es  kein  Mittel,  die  kriegfiihrenden 
Lander  vor  der  Entvclkerung  und  dem 
Rum  zu  bewahren.11  — 

* 

Der  Leipziger  Inselverlag  veroffent- 
licht  in  seiner  kleinen  Biicherei  das 
gewaltige  Kapitel  ,,Der  GroBinquisi- 
tor“  aus  Dostojewskys  ,,Briidern  Ka- 
ramasow".  Man  sollte  es,  in  Ermang- 


lung  des  zweibandigen  dicken  Romans, 
lesen,  verbreiten,  ins  Feld  schicken. 
Der  lange  Monolog  des  spanischen 
Kardinals  ist  die  erschiittemdste  An- 
klage  gegen  jeden  Imperialismus,  weil 
er  die  kliigste  Verteidigung  eines  jeden 
Imperialismus  ist.  Mehr:  hier  erschei- 
nen Politik  und  einfache  Liebe,  Staat 
undMensch  geschieden  wie  Feuerund 
Wasser.  Nie  hob  Wahrheit  sich  heller 
von  Luge  ab,  wie  in  dieser  wahrhaften 
Rechtfertigung  der  Luge.  Dostojewsky 
fallt  kein  Urteil  iiber  das  seltsame  Ge- 
sprach  der  beiden,  die  einander  imGe- 
fangnis  von  Sevilla  gegeniiberstehen, 
und  wo  nur  der  eine  spricht,  der  Kar- 
dinal,  vor  den  stillen  Augen  des  an- 
dern,  des  leibhaftigen  Jesus,  der  wieder- 
gekommen  ist,  und  den  die  Hascher 
der  Inquisition  in  den  Kerker  geworfen 
haben.  Der  Kardinal  spricht  das  grofle 
Plaidoyer  der  CIJ(cicf)it  Weltgedanken, 
wie  sie  nur  aus  einem  grofien  Herzen 
kommen,  und  die  nur  ein  starker  Geist 
in  so  endgiiltigen  Worten  auszupragen 
vermag. 

„Da  der  Inquisitor  seine  Rede  be- 
endet  hat,  wartet  er,  daB  der  Gefangene 
ihm  antworte,  denn  dafi dieser  schweigt, 
bedrlickt  ihn.  Er  sieht,  wie  der  Ge- 
fangene ihm  die  ganze  Zeit  iiber  auf- 
merksam  zuhort  und  ihm  dabei  gerade 
ins  Auge  sieht,  ohne  dafi  er  auch  nur 
im  geringsten  den  Wunsch  verriete, 
ihm  zu  erwidern.  Der  Greis  mochte, 
dafi  er  ihm  ein  Wort  nur  sagte,  ein 
stolzes  meinetwegen,  ein  furchtbares. 
Doch  er  steht  plotzlich  auf,  tritt  an 
den  Greis  heran  und  kiiBt  ihn  sanft 
auf  dessen  blutlose  Lippen.  Das  war 
seine  Antwort.  Der  Greis  erbebt.  Seine 
Mundwinkel  bewegen  sich.  Er  geht 
zur  Tur,  oflfnet  sie  und  spricht  zu  ihm : 


Glosscn 


Gehe  hinaus  und  kehre  nicht  wieder 
— kehre  nie  wieder  — nie,  niel4  Er 
lafit  ihn  hinaus  auf  die  ,dunklen  schwei- 
genden  Platze*  der  Stadt.  Der  Ge- 
fangene  geht  hinaus.4* 

Hier  schliefit  das  Buchlein  des  Insel- 
verlags,  so  wie  Rudolf  Ka&ner  das  Ka- 
pitel  in  gekiirzter  Form  iibersetzt  hat. 
Im  Roman  heiBt  es  aber  weiter: 


f,Und  der  Alte?“ 

ftDer  Kufl  brennt  in  seinem  Herzen, 
:h  er  bleibt  bei  seiner  Auffassung.4* 
Wie  ist  das  moglich  ? 

Es  wird  kurz  vorher  gesagt: 

,tDein  Inquisitor  glaubt  nicht  an 
Gott,  sieh,  das  ist  sein  ganzes  Ge- 
heimnis.‘4 


Digitized  by 


Original  from 

UNIVERSITY  OF  MICHIGAN 


INHALTSVERZEICHNIS 


AUFSATZE 

Theodor  Daubler,  Georg  Grofi 

Fr.  W.  Foerster,  Der  Weg 

Alfred  H.  Fried,  Die  Cholera 

Fritz  Hoeber,  Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die 

Willensfreiheit 

Rene  Schickele,  Die  Pflicht  zur  Demokratie  . . . 
Andre  Suares,  Uber  Charles  P4guy 


II. 

GEDICHTE 

Kleine  Anthologie : Gedichte  von  Ludwig  Baumer, 

Ottokar  Brezina,  Rudolf  Fuchs,  Max  Herrmann, 

Gerhart  Husserl XII  212 

Johannes  R.  Becher,  Bruchstiicke  aus  dem  Gedicht 

„Der  Sozialist" XII  25 1 

Albert  Ehrenstein,  Dialog X 34 

Willy  Kiisters,  Melancholie  des  Soldaten  ....  X 65 

Ren6  Schickele,  Gebete X 42 

S.  D.  Steinberg,  Gesicht X 66 


III. 

DRAMAT I SCHES 

Franz  Blei,  Der  Geizige.  Komodie  in  4 Akten 

nach  Moliere XI  96 

Bernhard  Guttmann,  Huber  und  Cox.  Ein  zeit- 

genossisches  Gesprach XII  220 


IV. 


EPISCHES 

HEFT 

SEITE 

Gottfried  Benn,  Die  Insel 

...  XII 

241 

Leonhard  Frank,  Der  Kellner 

...  XI 

149 

Hans  Gathmann,  Die  Niederlage 

. . . X 

35 

Hermann  Hesse,  Eine  Traumfolge 

...  XII 

199 

V. 

GLOSSEN 

Civis  diplomaticus,  Ein  Reichstagsausschufl  fur 

auswartige  Angelegenheiten X 

Civis  diplomaticus,  Kontrolle  der  auswartigen 

Politik  im  Auslande XI 

Civis  diplomaticus,  Diplomatic  und  Volksideale  . XII 
Kasimir  Edschmid,  Die  Nacht  des  Angeschossenen  XI I 
S.  Friedlander,  Vom  Schaltwerk  der  Gedanken  . XI 
Max  Herrmann-NeiBe,  Nimm  dein  Kreuz  ....  X 

Lu  Marten,  Der  Knabe  Herbst XII 

Walter  L.  Miiller-Wulkow,  Vom  Zukiinftigen  . . XI 
H.  R.,  Entwurf  einer  neuen  Asthetik  der  Tonkunst  XII 
Ludwig  Rubiner,  Aktualismus X 

R.  S.,  Notizen X 

R.  S.,  Notizen XI 

R.  S.,  Notizen XII 

Frana  Jsramek,  Soldat  im  Feld  (Deutsch  von  Otto 

Pick) X 

Robert  Walser,  Poetenleben X 

Morgenrote? XII 

„Noch  ist  Polen  . . .“ XII 

Intellektuelle  Apologeten XII 


VI. 

ZEICHNUNGEN 


Georg  Grosz,  Sieben  Zeichnungen 


160 


Fr.  W.  Foerster  ♦ Der  We* 


Fr.  (~w.  Foerster: 

DER  WEG 

P)ie  Oulinummer  der  ‘Weiflen  ‘Blatter  bracFte  die  ZuscFrift 
des  <Bs  ‘Fr . ‘W.  ‘Foerster,  ‘Professors  an  der  CUnhersddt  ‘UttincFen , 
an  das  Berliner  ‘Cageblatt  ats  „eines  der  erFebendsten  Zed • 
dokumentri* . On  dieser  ZuscFrift  gab  Professor  Foerster  eine 
‘Darstellung  seines  OConflikts  md  der  pFHosopFiscFen  Fakuiiat  der 
Qlniversrtdt  ‘IKuncFen.  tfier folgt,  unter  ‘Weglassung  der  genannten 
ZuscFrrfi,  eine  ausfQFrlicFe  und  wed  uber  den  persdnlicFen 
ZwiscFenfall  Fin ausreicFen d e Begr&ndung  einer  OCutturpo litik, 
die  den  doppelten  ‘ V or  tug  Fat,  nicFt  erst  von  Feute  oder  gestem 
za  sem  — Fat  docF  Professor  Foerster  diesen  ‘Weg  von  den  ersten 
O&nfangen  seiner  wissenscFaftlicFen  Fatigkeit  an  bescFrdten  — 
und  die  scFwankenden  mat erie lien  Qrundlagen  a Her  ,fRealpotdiku 
durcF  geistige  ‘Werte  zu  ersetjen,  die  ein  cFristlicFer  Guropder  seFr 
woFl als  eine  konst  ante  Qrdfle  in  die  OlecFnung  poldiscFer  Zukunfts* 
gestaltung  einsetjen  kann.  P>as  ‘IJlaterial  sum  „ Fall  Foerster**,  der 
fdr  einen  Feil  des  deutscFen  Vo  Ikes,  zumal  der  deutscFen  Ougend, 
zum  Olusgan gspunkt  einer  programmatiscFen  31  use  in  andersefiun g 
von  grdflter  Fra g we  it  e geworden  ist,  fndet  sicF,  nocF  umfang • 
reicFer,  von  nocF  meFr  GesicFtspunkten  aus  beleucFtet,  in  Foersters 
neuem  BucF  ,fDie  deutscFe  Ougend  und  der  (Weltkrieg<( , das  soeben 
im  Qeipziger  Verlag  ^FlaturwissenscFa fieri*  erscFienen  ist . 

Im  Marz  1913  hielt  ich  in  der  Aula  der  Universitat  Wien 
eine  Abschiedsrede  an  die  Wiener  Studentenschaft,  worin  ich 
der  deutschen  Jugend  in  Osterreich  empfahl,  in  all  ihren  poli- 
tischen  Gedanken  und  politischen  Sitten  treu  und  konsequent 
zu  Osterreich  zu  halten  und  die  grofie  Kulturaufgabe  der  oster- 
reichischen  Deutschen,  namlich  die  germanisch-slawische  Ver- 
standigung,  fest  ins  Auge  zu  fassen.  Dabei  gab  ich  auch 
folgenden  Rat: 

„Ich  mochte  hier  ein  offenes  Wort  sagen,  auf  die  Gefahr  hint  Ihre  Sym- 
pathie  griindlich  zu  verlieren.  Ich  sage  es  als  deutscher  Mann  zur  deutschen 
Jugend:  Ich  hoffe,  daB  die  Zeit  kommen  werde,  wo  Sie  trotz  tiefster  Treue 


2 


Fr.  W.  Foerstcr  * Dcr  Wtg 


gegcnliber  Ihrem  deutschen  Stammesgefiihl  docK  hier  in  Osterreich  aufhdren, 
die  Wacht  am  Rhein  zu  singen,  ein  Lied  aus  einer  ganz  anderen  historischen 
und  kulturellen  Konstellation,  das  Ihre  Loyalitat  gegeniiber  der  schwarz- 
gelben  Kulturgemeinschaft  und  Kulturmission  nicht  klar  zum  Ausdruck 
bringt.  Wahlen  Sie  ein  anderes  Lied,  meinetwegen  ,,Brlider,  reicht  die  Hand 
zum  Bunde“  — jedenfalls  ein  Lied,  das  die  Bruderhand  ausstreckt  zu  den 
Rassen,  die  Ihnen  durch  die  Vorsehung  zur  Verwirkiichung  hoherer  kultureller 
Gemeinschaftsformen  gegeben  sind!" 

Die  hier  ausgesprochene  Anregung  habe  ich  dann  gegeniiber 
vielfacher  Kritik  in  meiner  Schrift  ,,Das  Osterreichische  Pro- 
blem“  (Wien,  H.  Hellers  Verlag)  in  folgender  Weise  verteidigt: 

„Man  hat  mich  darauf  aufmerksam  gemacht,  daB  die  ,, Wacht  am  Rhein44 
in  Osterreich  als  ein  deutsches  Nationalsymbol  gemeint  sei,  losgetrennt  von 
dem  besonderen  Sinne,  den  es  fur  die  Reichsdeutschen  habe.  Pardon,  meine 
Herren,  es  kommt  aber  hier  doch  gar  nicht  darauf  an,  wie  es  gemeint  ist, 
sondem  wie  es  auf  die  anderen  wirkt,  mit  denen  man  m staatlicher  Gemein- 
schaft  zusammenleben  soil.  Nehmen  wir  einmal  an,  Osterreich  bestehe  zu 
einem  Dnttel  aus  Russen,  und  diese  sangen  mitVorliebe  die  russische  National- 
hymne  — was  wiirden  die  Deutschen  dazu  sagen  ? Wennschon  die  Deutschen 
in  Osterreich  sich  als  Erzieher  und  Fiihrer  der  kulturell  jiingeren  Rassen  be- 
trachten,  dann  miissen  sie  doch  auch  ,,padagogisch*4  auftreten  — und  pada- 
gogisch  kann  die  an  der  Donau  gesungene  „Wacht  am  Rhein‘*  nun  doch  wahr- 
lich  auf  die  anderen  Rassen  Osterreichs  nicht  wirken.  Vielmehr  nimmt  sie  den 
Deutschen  die  Autontat  einer  osterreichischen  Staatsrasse,  laBt  sie  wie  Aus- 
lander  erscheinen,  die  durch  ein  leidiges  Geschick  zwischen  die  schwarzgelben 
Grenzpfahle  eingeklemmt  sind,  macht  sie  verdachtig,  sich  mit  dem  Herzen 
mehr  zu  Deutschland  als  zu  Osterreich  gehorig  zu  fiihlen  — und  das  schadet 
ihrer  ganzen  politischen  Stellung  in  der  Donaumonarchie  weit  mehr,  als  die 
Sanger  ahnen.  Man  mufi  auch  den  bosen  Schein  meiden  — das  ist  doch  wohl 
ein  erstes  Gebot  politischer  Weisheit. 

Wenn  die  grofien  gemeinsamen  Erregungen  des  Krieges  voriiber  sein 
werden,  so  werden  zweifellos  auch  die  alten  nationalen  Gegensatze  wieder 
erwachen,  und  gerade  dann  wird  alles  darauf  ankommen,  dafi  die  alte  fiihrende 
Nationalitat  der  osterreichischen  Monarchic,  die  deutsche,  durch  ihr  eigenes 
Beispiel  verhiitet,  daB  diese  Gegensatze  wieder  in  der  alten  Weise,  ohne  jedes 
Gedenken  an  das  gemeinsame  osterreichische  Vaterland,  aufeinanderplatzen. 
Dazu  gehort,  daB  man  auch  bei  alien  erhebenden  Gelegenheiten  (offenthchen 
Feiern  usw.),  soweit  sie  nicht  speziell  nationale  Tagungen  oder  Gedenkfeste 
sind,  der  osterreichischen  Hymne  den  Vorzug  gibt.  Dafi  die  ewige  ,, Wacht 
am  Rhein*4  fur  die  iibrigen  Volker  Osterreichs  eine  unnotige  Irritation,  ein 
schlechtes  Beispiel  und  fiir  die  Deutschen  eine  politische  Unklugheit  ersten 
Ranges  war,  wegen  des  bosen  irredentistischen  Scheines,  der  dadurch  (in  Ver- 


Fr.  W.  Foerster  ♦ Der  Weg 


3 


bindung  mit  den  an  Hochverrat  grenzenden  Extravaganzen  der  Schonerianer) 
auf  die  Deutschen  Osterreichs  fiel  — das  faann  doc  fa  mtr  jemand  (eugnen, 
der  fan  ‘Jtaascfa  des  eigenen  Gmpfndens  sicfa  um  fremde  cIKiflgefufa[e  und  um 
faiafe  ‘Rticfawirfaun gen  seines  C uns  Qberfaaupt  n/cfat  (cammern  witt.  Darin 
weiC  ich  zahlreiche  gute  Deutsche  Osterreichs,  besonders  der  jungen  Genera- 
tion, vcn  Grund  aus  auf  meiner  Seite.  Was  wohl  die  Alldeutschen  gesagt  hatten, 
wenn  die  Serbokroaten  immerdie  serbische  Nationalhymne gesungen  hatten? 
In  einer  hochkomplizierten  politischen  Situation,  wie  es  dieosterreichischeist, 
wo  alles  davon  abhangt,  dafi  man  liber  den  Volkerzwistigkeiten  an  ein  gemein- 
sames  Staats-  und  Vaterlandsgefiihl  appellieren  kann,  da  mufi  auch  der 
politische  Gesang  (und  besonders  bei  denen,  die  sich  als  fiihrende  Nation 
fiihlen  und  als  Haupttrager  des  Staatswesens  gelten  wollen!)  in  den  Dienst 
des  politischen  Taktes  und  der  staatsbildenden  Weisheit  treten,  statt  ein 
Argemis  und  ein  MiCton  fur  jeden  zu  sein,  dem  am  Wachstum  des  oster- 
reichischen  Staatsgedankens  gelegen  ist.“ 


Das,  was  ich  hier  der  osterreichischen  Jugend  gesagt  habe, 
das  ist  genau  der  gleiche  Rat,  den  Bismarck  zu  wiederholten 
Malen  warnend  den  Deutsch-Osterreichern  ausgesprochen  hat. 
Aber  jene  meine  Ansprache  in  der  Universitat  Wien  und  noch 
mehr  der  Umstand,  dafi  mein  Appel!  von  der  versammelten 
Jugend  mit  einmiitiger  Zustimmung  aufgenommen  wurde,  hat 
die  osterreichischen  Alldeutschen  in  erne  so  aufierordentliche 
Erbitterung  gegen  mich  gebracht,  dafi  sie  mir  seit  jener  Rede 
unablassig  auf  den  Fersen  sind;  einer  ihrer  Parlamentarier  hat 
sogar  in  einer  bei  Diedenchs  (Jena)  erschienenen  Broschiire 
,,Osterreich  nach  dem  Kriege  ' die  Unterstellung  ausgesprochen 
(natiirhch  anonym !),  ich  sei  wohl  von  oben  ,,bestochen  * worden. 
Diese  Kreise  haben  denn  auch  meinen  Artikel  „Bismarcks  Werk 
im  Lichte  der  grofideutschen  Kntik“  1m  Januarheft  (1916)  der 
Fnedenswarte  zuerst  aufgegriffen  und  angegriffen,  und  zwar  in 
der  Form  eines  ,,Offenen  Briefes“  in  der  Wiener  Deutschen 
Hochschulzeitung  (Heft  9/10  1916),  worin  einzelne  Satze  meines 
Artikels  nicht  nur  aus  dem  Zusammenhang  gerissen,  sondern 
durch  geschickte  Zusammenfugung  einzelner  Wendungen  ihres 
wirklichen  Sinnes  in  hochst  illoyaler  Weise  beraubt  worden  sind. 
Von  hier  aus  ging  der  Text  in  ein  Flugblatt  des  mit  den  alldeut- 
schen Wodansanbetern  in  Osterreich  durch  die  Los-von  Rom- 
Bewegung  eng  alliierten  Evangelischen  Bundes  iiber;  es  wurden 


aVaV 


4 


Ft.  IT.  Fosrsier  ♦ Der  HVc 


in  dieser  ,,Deutsch-Evangehschen  Correspondenz  ‘ (Nr.  19) 
einige  weitere  Hetzereien  sowie  der  Wunsch  hinzugefiigt,  ich 
moge  von  ..anderer  Stelle“  aus  an  der  Fortsetzung  meines  schad- 
lichen  Wirkens  gehindert  werden.  Dieses  Flugblatt  wurde  von 
Berlin  aus  an  alle  Mitglieder  der  Universitat  sowie  an  samtliche 
protestantische  Geistliche  versandt  . . . 

Fiir  die  Prefimora!  dieser  alldeutschen  Korrespondenzen  und 
der  von  lhnen  gespeisten  Tageszeitungen  ist  die  mit  hohem  Ge- 
schick  arbeitende  Zitierungsmethode  charaktenstisch.  Im  fol- 
genden  will  ich  diejemgen  Hauptabsatze  des  angegnffenen 
Artikels  zusammenstellen,  aus  denen  dann  die  in  jenen  Hetz- 
Korrespondenzen  zitierten  oder  willkiirlich  neu  kombinierten 
Satze  herausgerissen  worden  sind.  Auch  die  folgenden  Absatze 
erhalten  natiirlich  erst  im  Zusammenhang  des  Ganzen  ihren 
vollen  Sinn,  doch  geniigt  schon  lhr  Abdruck,  um  zu  zeigen,  wie- 
viel  unnotige  Erregung  und  Erbitterung  durch  das  Herausreifien 
einzelner  Wendungen  entstehen  mufite: 

Die  rein  individualistische  Grofimachtstheorie  ist  nur 

eine  kurze  Phase,  eine  Verirrung,  sie  konnte  nur  in  jenem  Inter- 
regnum aufkommen,  in  dem  die  mittelalterliche  Vorstellung  der 
,,civitas  humana“  zerfallen  war,  ohne  dafi  neue  grofie  welt- 
orgamsatonsche  Ideen  an  ihre  Stelle  getreten  waren.  Diesem 
Interregnum  des  blofien  National-  und  Territorial  - Egoismus 
entsprach  ein  wahrhaft  armseliger  Zustand  der  politischen 
Wissenschaft.  Man  kannte  nur  noch  den  einzelnen  Staat;  das 
zwischenstaatliche  Leben  mit  seinen  Realitaten,  Bediirfnissen 
und  Bedingungen  wurde  vollig  ubersehen.  Statt  dafi  die  Staats- 
wissenschaft  den  allgemeinen  Volkerverkehr  als  eine  zu  dem 
inneren  Leben  der  Staaten  selbst  gehorige  Angelegenheit  ansah 
und  behandelte,  wurde  ein  ganzlich  iiberspannter  Begriff  von 
emzelstaatlicher  Souveranitat,  Selbstbehauptung  und  Selbst- 
geniigsamkeit  ausgebildet,  der  mit  dem  Wachstum  mtematio- 
naler  Abhangigkeiten  und  Aufgaben  absolut  nicht  mehr  zu- 
sammenstimmte.*) 

*)  v.  Mohl  sagt : . So  wie  schon  das  Volkerrecht  das  Recht  des  Krieges 

und  des  hlutigen  Zwanges  unendlich  vollstandiger  ausgebildet  hat  als  das  Recht 


Ft.  W.  Forrsfrr  * Der  Wcg 


0 


Die  neuere  deutsche  Geschichtschreibung,  vor  aliem  in  Ranke 
und  Sybel,  hat  sich  leider  ganz  in  den  Dienst  der  Verherrlichung 
des  nationalen  Prinzips  gestellt.  Der  edle  und  feinsinnige,  aber 
merkwiirdig  kindliche  Ranke  war  tief  lm  Machtkultus  befangen, 
er  lebte  ganz  in  den  Ideen  des  europaischen  GroBmachtsystems, 
er  registrierte  die  bloBen  oden  Kraftverschiebungen  innerhalb 
dieses  Systems  mit  hochstem  Interesse;  daB  an  Stelle  der  fran- 
zosischen  Praponderanz  die  deutsch-preuBische  trat,  war  fur  ihn 
von  unermefilicher  Wichtigkeit;  was  die  Welt  dabei  gewonnen 
und  ob  Deutschland  in  diesem  Wettstreit  und  in  dieser  Nach- 
ahmung  der  auslandischen  Entwicklungen  seine  allerwichtigste 
Praponderanz  aufs  Spiel  gesetzt  habe,  danach  fragt  er  nirgends, 
es  kommt  ihm  iiberhaupt  nicht  in  den  Sinn,  daB  die  wahre 
Politik  kiinftig  wohl  andere  und  hohere  Aufgaben  in  Angriff 
nehmen  miisse,  als  um  ,, Praponderanz"  zu  streiten.  Es  gehort 
zu  dieser  Art  von  Geschichtschreibung,  daB  sie  die  groBe  iiber- 
nationale  Mission  des  alten  deutschen  Kaisertums  vollig  iiber- 
geht.  Dem  Leser  wird  der  Eindruck  beigebracht,  als  sei  jenes 
alte  Kaisertum  auch  nur  deutsche  GroBmachtpolitik  gewesen, 
die  nun  nach  langer  Stagnation  wieder  aufgenommen  worden 
sei.  Der  gewaltige  Unterschied  des  alten  universalistischen, 
iibemationalen  und  darum  weltfiihrenden  deutschen  Reiches 
von  dem  neuen  preufiisch  verengten  Nationalstaat  wird  dabei 
ganz  und  gar  verwischt.  Das  Heilige  Romische  Reich  Deutscher 
Nation  entsprang  nicht  nur  aus  der  Nachwirkung  des  romischen 
Impenums,  sondern  auch  unmittelbar  aus  dem  sozialorganisa- 
torischen  Geiste  des  Christentums ; der  Foderalismus  war  sozu- 
sagen  die  der  Welt  zugewandte  Seite  der  christlichen  Entwick- 
lung,  er  vereinigte  Freiheit  und  Einheit,  er  war  Gememschaft 
ohne  Unterdriickung,  er  verkorperte  die  Wahrheit  und  Not- 
wendigkeit  iibernationaler  Menschheitsinteressen,  — das  neue 
Reich  hmgegen  ist  ganz  dem  heidnischen  Geiste  entsprungen, 

desfriedlichen  Verkehrs,  so  hat  sich  auch  die  wissenschaftliche  Politik  nur  der 
gewalttatigen  und  listigen  Seite  des  Staatenverkehrs  zugewendet.  Hier  hat 
unleugbar  die  Wissenschaft  noch  eineschwere  Schuld  zu  bezahlen.“  Ency- 

clopad.  d.  Staatsw.  859. 


6 


Fr.  W'.  Foerster  ♦ Der 


Weg 


namlich  dem  rein  national egoiftifcfi en  Ondividualismus,  der 
seit  der  Renaissance  von  dem  po(i1if<fien  ^DenHen  der  tJRenfcfi" 
fieit  Besitz  ergriffen  hat,  der  in  Bismarck  seinen  genialen  und 
konsequentesten  Praktiker  gefunden  hat,  und  der  unaufhaltsam 
zu  einer  Katastrophe  treiben  mufite,  — wie  alies  in  der  Welt, 
was  gegen  den  Geist  der  christlichen  Wahrheit  zu  wirken  und 
zu  organisieren  sucht. 

DaB  gerade  Deutschland  jahrhundertelang  der  Trager  fode- 
ralistischer  Organisation  war,  hing  aufs  engste  mit  dem  deut- 
schen  Wesen  zusammen,  in  dem  ein  leidenschaftlicher  Unab- 
hangigkeitssinn  mit  einem  ebenso  starken  Drange  nach  freier 
Assoziation  zusammen  besteht.  Nur  auf  Grund  dieser  beiden 
Grundkrafte  vermochte  das  alte  Deutschtum  die  eigenartige 
Lebensform  hervorzubringen,  die  ihm  die  politische  Symbiose 
mit  ganz  andern  nationalen  Gruppen  moglich  und  seine  Ver- 
fassung  uberhaupt  zu  einem  Symbol  kommender  Kulturgemein- 
schaft  der  Volker  machte.  Im  Auslande  hat  man  diese  uni- 
versalistische  Bedeutung  Deutschlands  friiher  erkannt,  als  in 
Deutschland  selbst.  Schon  der  Franzose  St.  Pierre  berief  sich 
in  seinem  „Projet  pour  rendre  la  paix  perpetuelle  en  Europe" 
auf  das  Vorbild  des  Deutschen  Reiches,  in  dem  so  viele  Staaten 
zu  einem  Ganzen  verbunden  seien.  Uberhaupt  muBten  von 
jeher  alle  Schriftsteller,  die  ernstlich  iiber  die  Bedmgungen  eines 
Friedenssystems  nachdachten,  unausweichlich  auf  die  Idee  einer 
grofien  Foderation  kommen.  Denn  der  bloBe  FriedensschluB  ist 
ja  keine  Garantie  fur  den  Frieden.  Die  Unzulanglichkeit  des 
Haager  Tribunals  liegt  ja  auch  darin,  daB  der  foderative  Unter- 
bau  und  damit  die  eigentlichen  volkerrechtlichen  Grundlagen 
fehlen:  Eine  fosiafe  Institution  ist  auf  ein  Ganzes  von  lauter 
durchaus  individualistisch  gerichteten  Einheiten  aufgepfropft . 
Schon  Kant  behauptete  in  seinem  ..Traktat  zum  ewigen  Frie- 
den" : „Die  Zusammenstimmung  der  Politik  mit  der  Moral  ist 
nur  in  einem  foderativen  Verein  moglich."  Und  er  war  iiber- 
zeugt,  daB  das  Volkerrecht  auf  einen  ,,Foderalismus  freier 
Staaten"  begriindet  sein  miisse.  Und  hangt  es  nicht  auch  mit 
dem  foderativen  Charakter  des  alten  Deutschlands  zusammen. 


7 


Fr.  W.  Foerster  * Der  Weg 


daB  die  modeme  Volkerrechtswissenschaft  von  Deutschland  aus- 
ging? 

Die  Theorien  und  praktischen  Vorschlage  von  Frantz  sind 
gewifi  nicht  alle  annehmbar.  Manche  seiner  Auffassungen  iiber 
konfessionelle  Fragen  werden  berechtigtem  Widerspruch  begeg- 
nen,  auch  wenn  man  seiner  Ansicht  beipflichtet,  daB  Deutsch- 
land fur  das  friedliche  Nebeneinander  der  Konfessionen  die 
gleiche  Vorarbeit  und  Weltarbeit  zu  leisten  habe,  die  ihm  auf 
volkerpolitischem  Gebiete  durch  seine  besonderen  Gaben  und 
durch  den  Geist  seiner  Geschichte  auferlegt  sind.  Von  hoher 
Bedeutung  fiir  die  politische  Bildung  des  neuen  Deutschlands 
ist  es  jedenfalls,  daB  man  grlindlich  von  Frantz’  deutscher  Ge- 
schichtsphilosophie  und  von  seinen  Gedanken  iiber  National- 
staat,  Zentralismus  und  Foderalismus  lemt.  Was  er  als  die 
Grundfehler  der  Jahre  1 866  und  1 87 1 bezeichnet,  das  kann  aller- 
dings  heute  nicht  mehr  in  dem  Sinne  riickgangig  gemacht  wer- 
den, wie  er  es  vor  dreifiig  Jahren  noch  fiir  moglich  hielt.  Wohl 
aber  werden  die  schwierigen  Aufgaben  unserer  neuen  Welt- 
stellung  uns  ganz  von  selbst  in  die  Richtung  treiben,  von  der 
wir  durch  die  starke  nationale  Konzentration  abgedrangt  worden 
sind.  Die  Welt  verlangt  heute  ebenso  Ieidenschaftlich  nach 
Differenzierung  und  Freiheit,  wie  nach  Einordnung  und  Organi- 
sation. Man  ist  reifer  geworden  fiir  Einheit  und  Disziplin,  aber 
explosiver  als  je  gegen  alles  reglementierende  Machtwesen.  Ein 
Staatswesen,  das  damit  nicht  rechnen  wollte,  ware  dem  Unter- 
gang  geweiht ...  — Auf  den  weltorganisatorischen,  wahrhaft 
sozialen  Geist  kommt  es  an,  von  dem  wir  abgefallen  sind  und 
den  wir  wiedergewinnen  miissen.  Ahnlich  wie  die  Kunst  der 
Glasmalerei  verloren  ging  und  hinterher  erst  wieder  entdeckt 
werden  mufite,  so  muB  die  deutsche  Wissenschaft  sich  erst 
wieder  zur  wahren  Reichsidee  erheben  und  mit  ihr  das  allge- 
meine  Bewufitsein  durchdringen.  Es  mufi  klargemacht  werden, 
daB  der  neuere  Nationalkrampf,  von  dem  wir  seit  den  groBen 
Erfolgen  besessen  sind,  eine  franzosische  Infektion  ist,  die  uns 
gar  nicht  ansteht,  ja  die  infolge  unserer  Schwere  und  Griindlich- 
keit  noch  haBlicher  wirkt  als  driiben;  wir  sind  dadurch  gerade 

2i  Voi.  rn/2 


Fr.  IV.  Foerster  ♦ Der  Weg 


8 

m dem  gelahmt  worden,  was  unsere  Nationalisten  so  leiden- 
schaftlich  erstreben,  namlich  in  der  Expansion  deutschen  Ein- 
flusses  iiber  unsere  Stammesgenossen  hinaus ; die  einseitig  natio- 
nal Konzentration  und  Zentralisation  hat  in  unserem  Volks- 
leben  und  in  unseren  Beziehungen  nach  aufien  eben  jenes  fede- 
rative Prinzip  verdrangt,  das  dem  Prinzip  der  Zentralisation  in 
alien  komplizierteren  Aufgaben  so  unendlich  iiberlegen  ist,  — 
weil  es  eine  Synthese  zwischen  zwei  gleicb  starken  Lebens- 
machten,  zwischen  Organisation  und  Selbstandigkeit  ist. 

Von  all  diesen  Gesichtspunkten  und  Perspektiven  aus  er- 
kennt  man  auch  deutlich  den  Kern  von  Recht  und  zugleich  den 
phantastischen  Nonsens  in  der  alldeutschen  Propaganda.  Hinter 
den  besten  Vertretern  dieser  Sache  steckte  die  richtige  Ahnung, 
daB  Deutschland  weit  iiber  seine  jetzigen  Grenzen  hinaus  welt- 
organisatorisch  wirken  miisse.  In  dieser  Beziehung  standen  sie 
dem  alten  germanischen  Geiste  naher,  als  die  blofi  national-ge- 
sinnten  Kleindeutschen.  Sie  entfernten  sich  aber  wiederum  weit 
von  diesem  Geiste  und  gerieten  in  vollig  lebensfremde  Utopien 
dadurch,  daB  sie  diese  Weltaufgabe  durch  nationale  Expansion 
und  Aufsaugung  angrenzender  Kulturen  und  Nationalitaten  er- 
fiillen  zu  konnen  glaubten.  Sie  sahen  nicht,  daB  auch  hier  nur 
derjenige  wahrhaft  herrscht,  der  zu  dienen  entschlossen  ist.  Sie 
verkannten,  dafi  in  einer  Zeit,  in  welcher  der  Respekt  vor  der 
Individualist  so  sehr  im  Mittelpunkt  der  ganzen  Kultur  steht 
und  so  sehr  alle  Lebensordnungen  durchdnngt,  wie  es  in  der 
Gegenwart  der  Fall  ist,  die  Volker  sich  nicht  mehr  durch  bloBe 
Unterwerfung  organisieren  lassen.  Eine  dauerhafte  Weltwirk- 
samkeit  kann  heute  nicht  mehr  durch  Imperium,  sondern  nur 
durch  weltorganisatorische  Zusammenfassung  autonomerVolker- 
individualitaten  begriindet  werden.  So  gilt  auch  fur  das  Volker- 
leben  in  geheimnisvollem  Sinne  das  Wort  Christi:  „Wer  von 
euch  den  anderen  dient,  der  wird  der  GroBte  unter  euch  sein!“ 

Wird  die  deutsche  Nation  einmal  in  diesem  Sinne  wieder  die 
eigentliche  Tragerin  intemationaler  Kultur,  die  Basis  fiir  die 
Entwicklung  des  Volkerrechtes,  so  wird  das  auch  fiir  alle  ihre 
inneren  Lebensordnungen  von  unberechenbarem  Segen  werden. 


9 


Ft,  W.  Foerstcr  * Der 


Es  gibt  gar  keine  fruchtbarere  Expansion,  als  die  Expansion  des 
Rechtsgedankens  iiber  die  nationalen  Schranken  hinaus.  Das 
Volkerrecht  erst  ist  die  wahre  Sanktion  und  Befestigung  der 
Rechtsidee  iiberhaupt,  so  wie  anderseits  die  Anarchie  in  den 
intemationalen  Beziehungen  auch  die  Kraft  und  Sicherheit  des 
innerstaatlichen  Rechtslebens  unablassig  lahmt  und  in  Frage 
stellt.  Frantz  nennt  in  diesem  Sinne  das  Volkerrecht  ,,die  Krone 
alles  Rechtes,  woraus  alles  andere  Recht  erst  sein  voiles  Licht 
erhalt“.  Und  er  will  nur  diejenige  Politik  als  wahrhaft  groB 
gelten  lassen,  die  solche  iibernationalen  Horizonte  im  Auge  hat. 
„Das  macht  eine  Nation  noch  nicht  groB,  daB  sie  eine  grofie 
Armee  schafft  und  ihre  Nachbarn  niederschlagt,  sondem  wahr- 
haft groB  macht  sie  erst,  dafi  sie  sich  hohe  Ziele  setzt,  und  nur 
was  aus  dem  Streben  danach  entspringt,  das  sind  die  wahrhaft 
groBen  Taten.“ 

Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  ist  es  wahrhaft  erstaunlich, 
wie  das  deutsche  Volk,  das  auf  so  groBen  T raditionen  der  Welt- 
arbeit  steht,  es  vier  Jahrzehnte  hat  ertragen  konnen,  in  bezug 
auf  die  GroBe  seiner  Gesamtziele  derartig  auf  Hungerration  ge- 
setzt  zu  sein.  Viel  deutsche  Unruhe  und  MiBstimmung  mag 
ihre  eigentliche  Ursache  in  dieser  Erbarmlichkeit  der  nationalen 
Horizonte  gehabt  haben,  viel  alldeutsches  Sehnen  ist  sicherlich 
aus  dieser  deutschen  Entbehrung  entsprungen,  und  viele 
Deutsche  haben  den  Krieg  zweifellos  auch  als  endliche  Befreiung 
aus  dieser  Enge  begriiBt,  haben  darauf  gehofft  — so  paradox 
es  scheint  — , daB  gerade  auf  den  Schlachtfeldem  ein  groBeres 
Programm  intemationaler  Volkerkultur  beschlossen  werden 
wiirde.  Die  gahnende  Langeweile  der  bloBen  Nationalinteressen 
und  ewigen  gegenseitigen  Bedrohung  dieser  beschrankten  Inter- 
essen  war  jedenfalls  nicht  mehr  zu  ertragen  . . . 

Es  ist  unglaublich,  was  man  in  dieser  Beziehung  der  deutschen 
Schuljugend  an  manchen  Zentren  des  Nationalismus  zugemutet 
hat.  Als  ob  das  unablassige  larmende  Karussellfahren  um  die 
Wiirde  und  Herrlichkeit  der  eigenen  Nation  irgendeinen  bilden- 
den  Wert  habe  und  nicht  vielmehr  die  Seele  veroden  miisse,  trotz 
aller  Romantik,  mit  der  man  die  Kahlheit  dieses  nationalen  Ich- 


10 


Fr.  W.  Foerster  * Der  Weg 


kultus  verhiillt  hat.  Wer  die  deutsche  Jugend  der  jtingsten 
Generation  beobachtet  hat,  der  weifi,  wiesehr  sie  innerlich  diesen 
Dingen  fremd  geworden  war  und  wie  sehr  sie  nach  grofieren 
Horizonten  fur  ihren  Enthusiasmus  diirstete.  Man  kann  sagen  : 
diese  Jugend  war  aus  innerster  Revolte  gegen  das  Nationaltreiben 
wieder  mehr  wahrhaft  deutsch  geworden  und  weniger  patrio- 
tisch-national.  Fur  grofie  Opfer  und  wahres  Heldentum  im 
Leben  ist  das  die  allein  gesunde  Basis.  So,  wie  „Personlichkeit“ 
nicht  durch  ewiges  Reden  vom  Ich  und  Sichbesinnen  auf  das 
Ich,  sondem  durch  das  Gegenteil  davon  erzeugt  wird,  so  kann 
auch  wahre  Volksliebe  nicht  durch  unablassige  nationale  Selbst- 
bewunderung  gesichert  werden,  vielmehr  lernt  man  sein  Deutsch- 
land lieben  dadurch,  dafi  man  ganz  schlicht  angeleitet  wird,  im 
altesten,  besten  Sinne  deutsch  zu  sein,  — dazu  gehort  eben  vor 
allem  erne  Einfiihrung  in  den  tiefgegriindeten  internationalen 
Beruf  des  deutschen  Volkes,  der  doch  das  unzweideutige  Ver- 
machtnis  seiner  ganzen  Kulturgeschichte  ist.  Fur  die  hohere 
staatsbilrgerliche  Erziehung  der  reiferen  Jugend,  fur  die  Er- 
weckung  jener  volkerverbindenden  Tradition  ware  kein  Autor 
so  geeignet,  wie  gerade  Frantz.  Bei  ihm  konnte  unsere  Jugend 
lernen,  in  politischen  Dingen  wahrhaft  deutsch  zu  denken.  Wie 
wenig  hingegen  kann  sie  dies  aus  der  abstrakten  Staatsphilo- 
sophie  Fichtes  und  Hegels  lernen.  Da  ist  iiberall  nur  vom  iso- 
lierten  Staat  und  nirgends  von  Weltkultur  und  Volkergemeinschaft 
die  Rede.  Wir,  das  Volk  der  Denker,  leiden  geradezu  schweren 
Mangel  an  hohen  und  zugleich  konkreten  Gedanken  iiber  den 
nationalen  Beruf  des  deutschen  Volkes  in  der  Weltpolitik.  Da 
werden  unsem  jungen  Leuten  immer  wieder  Fichtes  Reden  an  die 
deutsche  Nation  empfohlen.  Und  jeder  redet  sich  aufs  neue  ein  — 
nicht  selten,  ohne  diese  Reden  wirklich  durchgelesen  zu  haben  — , 
dafi  sie  wirklich  herrlich  und  begeistemd  seien.  Hat  denn  aber 
niemand  den  Mut,  einmal  offen  zu  sagen,  dafi  die  Grofie  Fichtes 
als  Denker  und  Personlichkeit  ganzlich  aufierhalb  dieser  Reden 
liegt,  und  dafi  sie  ein  ganz  erstaunlich  leeres,  breites  und  phrasen- 
haftes  Gerede  sind,  ohne  alle  klaren  und  leuchtenden  Direktiven 
fiir  den  personlichen  und  nationalen  Willen? 


II 


Die  Vertiefung  in  die  intemationale  Weltaufgabe  Deutsch- 
lands,  in  ihre  geschichtlichen  Wurzein  und  Voraussetzungen,  in 
ihre  geistigen  und  sittiichen  Erfordemisse  wird  die  ganze  poli- 
tische  und  soziale  Bildung  unserer  Jugend  auf  eine  hohere  Stufe 
heben  und  alle  dem  Ideal  zugewandten  jungen  Seelen  machtig 
ergreifen.  Und  nur  ein  durch  diese  Gedanken  gelautertes  und 
erzogenes  Deutschland  wird  wirksam  an  der  Lauterung  der 
Welt  arbeiten  konnen.  In  den  Kriegsmonaten  hat  man  bis  zum 
Uberdrufi  lesen  und  horen  konnen,  daB  „am  deutschen  Wesen“ 
noch  einmal  „die  Welt  genesen“  solle.  Wie  gar  wenige  von 
denen,  die  ihre  Reden  und  Aufsatze  mit  dieser  VerheiBung  ge- 
schlossen  haben,  konnen  von  sich  sagen,  daB  sie  wirklich  in  der 
alten  deutschen  Tonart  geredet  haben,  auf  die  sich  jenes  Dichter- 
wort  allein  bezieht  und  durch  die  es  allein  Sinn  erhalt,  wie  viele 
haben  vielmehr  gerade  die  Tonart  gewahlt,  an  der  die  Welt  krank 
geworden  ist,  die  Tonart  der  herrischen  Selbstsicherheit,  der 
nationalen  Einbildung,  des  einseitigen  Glaubens  an  Blut  und 
Eisen ! Moge  die  neue  Jugend  hier  grundlich  Wandel  schaffen !“ 

Man  vergleiche  nun  mit  den  hier  zitierten  Absatzen  (ein  deut- 
scher  Hauptmann  schreibt  in  der  Allg.  Rundschau  Nr.  27,  der 
ganze  Artikel  sei  aus  „einwandfreiester  deutscher  Gesinnung“ 
hervorgegangen)  die  herausgerissenen  Satze  und  Worte  der  im 
Mai  d.  J.  durch  die  nationalistische  Presse  verbreiteten  Hetz- 
artikel . 

Am  meisten  ist  die  Publikation  meines  Aufsatzes  in  der  in  der 
Schweiz  erscheinenden  Friedenswarte  beanstandet  worden  — 
auch  von  guten  Freunden.  Ich  glaube  sagen  zu  diirfen,  daB  hier 
nur  der  Schein  gegen  mich  spricht.  Die  Friedenswarte  erscheint 
zwar  in  Zurich,  hat  aber  die  weitaus  groBte  Zahl  ihrer  Abon- 
nenten  in  Deutschland  und  Osterreich,  wurde  auch  in  besonders 
groBem  MaBstabe  an  die  deutschen  Universitaten  verschickt. 
Hatte  ich  meinen  Artikel  in  einer  groBeren  reichsdeutschen  Zeit- 
schrift  veroffentlicht,  so  ware  er  im  Ausland  weit  mehr  beachtet 
worden  als  in  der  Friedenswarte.  Man  kann  geradezu  sagen: 
Wer  seinen  Landsleuten  etwas  sagen  will,  das  vom  Ausland  mog- 
lichst  wenig  bemerkt  werden  soil,  der  tut  am  besten,  in  die 


12 


Fr.  W.  Foerster  ♦ Der  Weg 


Friedenswarte  zu  schreiben.  Da  mir  da  ran  lag,  die  pazifistische 
Bewegung  durch  Hinweis  auf  Konstantin  Frantz  vertiefen  zu 
helfen,  so  war  es  natiirlich  schon  darum  angebracht,  in  das 
Hauptorgan  dieser  Bewegung  zu  schreiben.  DaB  mein  Artikel, 
der  sich  ja  nicht  im  geringsten  mit  Kriegszielen,  Friedenspropa- 
ganda  und  militarischen  Angelegenheiten  befafit,  nicht  gegen  die 
Zensurbestimmungen  verstofit,  ist  ja  durch  den  Abdruck  in  einer 
norddeutschen  Tageszeitung  klargestellt. 

Zur  Rechtfertigung  gegen  die  iibrigen  Bedenken  betreffend 
die  Zeit  der  Publikation  stelle  ich  im  folgenden  die  Hauptabsatze 
meiner  darauf  beziiglichen  offentlichen  Erklarungen  zusammen, 
aus  denen  ich  alle  diejenigen  Satze  fortgelassen  habe,  die  sich 
auf  die  Aktion  der  Fakultat  gegen  mich  beziehen : 


AUS  EINER  ERKLARUNC 
IN  DER  VOSSISCHEN  ZEITUNG  Nr.  300 

Ich  soli  ..die  deutschen  Stamme  gegeneinander  aufgehetzt 
haben“.  Meine  ganze  Lehrtatigkeit  und  meine  schriftstellerische 
Tatigkeit  ist  stets  auf  das  Gegenteil  gerichtet  gewesen.  In 
meinen  Vorlesungen  iiber  politische  Padagogik  habe  ich  nach- 
driickhch  gerade  vor  einem  siiddeutschen  Publikum  die  groBen 
Seiten  der  preuBischen  Staatspadagogik  hervorgehoben  — das 
betreffende  Kapitel  meiner  ..staatsblirgerhchen  Erziehung" 
wurde  seinerzeit  von  der  freikonservativen  „Post“  als  Leitartikel 
abgedruckt,  diirfte  also  nicht  preufienfeindlich  gewesen  sein. 
Wir  stehen  aber  jetzt  vor  der  dringenden  Aufgabe,  die  uns  durch 
die  kommenden  weltorganisatorischen  Probleme  nahegebracht 
wird,  die  groBen  Einseitigkeiten  des  groBen  preuBischen  Geistes 
durch  Ve.  tiefung  in  alte  ethische  und  weltorganisatorische  Ver- 
machtnisse  der  deutschen  Tradition  zu  erganzen.  Nur  in  diesem 
universelleren  Rahmen  sind  die  preuBischen  Gaben  der  unge- 
heuren  Kompliziertheit  der  kommenden  Volkerfragen  gewachsen 
und  konnen  sich  segensreich  entfalten. 

Der  klassische  Mahner  und  Philosoph  fiir  diese  Aufgabe  ist 
aber  Konstantin  Frantz,  den  Richard  Wagner  als  wahrhaft  deut- 


13 


Ft.  W.  Foerster  ♦ Der  We* 


schen  politischen  Denker  gefeiert  hat,  und  dessen  Hauptwerk 
die  , .Deutsche  Weltpolitik“  und  die  „Grenzen  der  preuBischen 
Intelligenz“  sind,  in  denen  er  die  groBen  foderativen  Traditionen 
des  alten  Deutschtums  als  regulatives  Prinzip  deutscher  Welt- 
politik  nach  innen  und  auBen  wieder  zu  beleben  sucht,  ohne 
Vergangenes  einfach  wiederherstellen  zu  wollen.  Ich  bin  selber 
PreuBe  und  stolz  auf  die  groBe  mannliche  Seite  des  PreuBen- 
tums,  die  groBe  Motorkraft  des  geordneten  Willens,  die  durch 
das  preufiische  Wesen  in  die  Kulturarbeit  eingesetzt  wird.  Aber 
nur  der  vermag  seine  ganze  Starke  zu  fiihlen  und  weise  zu  be- 
nutzen,  der  auch  seine  Schwache  von  Grund  aus  erkennt  und 
sich  gegen  deren  Gefahren  sichert.  Durch  Selbsterkenntnis 
allein  schiitzt  man  die  eigene  Starke  vor  zerstorenden  Gegen- 
wirkungen.  Wir  PreuBen  sollten  den  mannlichen  Mut  haben, 
uns  zu  sagen,  daB  ein  Grund  fiir  die  explosive  Abneigung  der 
iibrigen  Kulturwelt  gegen  uns  wohl  auch  in  gewissen  abstoBen- 
den  Harten  unseres  Auftretens  und  in  mangelnder  Kunst  der 
Menschenbehandlung  liegt . . . Man  erkannte  nicht,  daB  der 
Mensch  sich  viel  Imperium  gefallen  lafit,  wenn  man  ihn  nicht 
1m  kleinen  schikaniert.  Die  Mahnung,  daB  wir  hier  von  Grund 
aus  umlernen  miissen  (gerade  auch  unsere  jungen  Beamten),  darf 
mcht  erst  nach  dem  Kriege  ausgesprochen  werden,  nein,  gerade 
jetzt  muB  sie  Iaut  erhoben  werden,  denn  eben  jetzt  miissen  wir 
uns  in  die  ganz  neuen  mitteleuropaischen  Aufgaben  hinein- 
denken.  Darauf  zielte  mein  so  stark  angegriffener  Artikel  in  der 
Friedenswarte  (deren  weitaus  meisten  Abonnenten  in  Deutsch- 
land leben),  worin  ich  eben  ein  Referat  und  einen  Kommentar 
zu  Frantz’  Hinweisen  auf  die  ethischen  Vermachtnisse  des  alten 
deutschen  politischen  Geistes  gegeben  habe.  Man  mag  meine 
dort  ausgesprochenen  Ansichten  stark  bekampfen.  Ich  lasse  mir 
aber  das  patriotische  Recht  zu  solchen  Mahnungen  nicht  ab- 
sprechen;  es  ist  wahrlich  die  Stunde  gekommen  fiir  jedes  der 
kriegfiihrenden  Volker,  nicht  immer  bloB  nach  aufien  hin  zu 
schelten,  sondern  die  Ursachen  fiir  die  furchtbare  Not  der  Gegen- 
wart  auch  einmal  bei  sich  selbst  zu  suchen. 


14 


ANSPRACHE  AN  DIE  UNIVERSITATSHORER 

„Meine  Damen  und  Herren ! Sie  werden  mir  gewiB  glauben, 
daB  es  nicht  gerade  ein  Vergniigen  ist,  in  grofien  Krisen  des 
nationalen  Schicksals  ganz  isoliert  dazustehen,  auch  von  vielen 
hochgeachteten  Kollegen  scharf  getrennt  zu  sein.  Els  ist  zweifel- 
los,  daB  unter  den  Bismarck-GIaubigen  viele  der  Allerbesten 
unseres  Volkes  sind,  und  es  ist  mir  ein  aufrichtiger  Schmerz, 
daB  ich  diese  Volksgenossen  in  dem,  was  ihnen  heilig  ist,  durch 
meine  Kritik  schwer  verletzen  muB.  Das  ist  aber  nun  einmal 
ein  geistiges  Schicksal,  dem  ich  nicht  entrinnen  kann,  denn  seit 
Beginn  meiner  Universitatslaufbahn  habe  ich  mich  mit  keinem 
Problem  intensiver  beschaftigt,  als  mit  dem  Problem : Politik  und 
Moral;  dabei  bin  ich  eben  durch  Studium  und  Weltbeobachtung 
im  Ausland  und  Inland  zum  radikalen  Gegner  der  Tradition 
Bismarck-Treitschke  geworden,  bei  aller  Wiirdigung  der  person- 
lichen  GroBe  und  Tragik  in  dieser  Tradition.  Ich  glaube  fest, 
daB  wir  unseren  kommenden  mitteleuropaischen  Aufgaben  und 
unseren  Weltaufgaben  nur  in  dem  Mafie  gewachsen  sein  werden, 
als  wir  weit  iiber  diese  Tradition  hinausschreiten,  genau  so,  wie 
auch  die  anderen  Volker  sich  von  ihren  machtpolitischen  Tradi- 
tionen  losen  miissen,  wenn  Europa  nicht  in  Wut  und  Blut  unter- 
gehen  soil.  DaB  nun  andere  durch  solche  Absichten  verletzt 
werden,  das  darf  wohl  an  einer  Statte,  die  der  Wahrheitserkennt- 
nis  gewidmet  sein  soil,  kein  Grund  des  Schweigens  sein.  Auch 
im  Kriege,  denn  wir  miissen  durchaus  heute  schon  mit  der  Vor- 
bereitung  auf  das  Kommende  beginnen,  mit  dem  Durchdenken 
all  der  neuen  politischen  Probleme,  die  uns  dann  gestellt  werden  ; 
genau  so,  wie  ja  auch  die  Diskussion  iiber  Mitteleuropa  schon 
jetzt  entbrennen  mufite;  wir  konnen  das  alles  nicht  bis  nach  dem 
Kriege  vertagen.  Aus  dieser  Erwagung  heraus  stammen  meine 
gewiB  sehr  radikalen  Beitrage  zur  Frage  unserer  politischen  Neu- 
orientierung,  zur  Revision  gewisser  Dogmen  unseres  politischen 
Credo.  Gerade  in  dieser  unserer  Zeit  scheint  es  mir  drmgend, 
dafi  ein  Element  in  der  deutschen  Seele,  das  in  den  Jahrzehnten 
des  grofien  auBeren  Erfolges  in  den  Hintergrund  gedrangt  ist. 


Ff.  W.  Foerster  * Der 


jetzt  wieder  in  die  Oberwelt  der  Seelen  emporsteigt ; nur  an 
diesem  Element  kann  die  Welt  genesen.  Wenn  Sie  den  betreffen- 
den  Artikel  in  der  Friedenswarte  lesen,  so  mag  er  noch  so  sehr 
den  Vorstellungen  widersprechen,  in  denen  Sie  aufgewachsen 
sind,  Sie  werden  doch  fiihlen,  daB  er  aus  deutscher  Seele  stammt, 
aus  Liebe  zum  deutschen  Wesen  und  seiner  Weltmission;  und 
niemand  hat  das  Recht,  mir  Mangel  an  Vaterlandsliebe  vorzu- 
werfen,  weil  ich  eine  andere  Ansicht  vom  Heil  des  Vaterlandes 
habe,  als  er.  Man  redet  von  der  Liebe,  die  den  Tod  iiberwindet, 
groBer  noch  ist  wohl  die  Liebe,  die  es  auf  sich  nimmt,  von  dem, 
den  sie  liebt,  als  Feind  betrachtet  zu  werden,  weil  sie  ihm  schwere 
Schmerzen  und  harten  Widerspruch  zufiigen  muB.  So  gibt  es 
auch  eine  Vaterlandsliebe,  bei  der  man  es  ruhig  auf  sich  nimmt, 
als  vaterlandslos  zu  erscheinen,  weil  man  der  Tagesstimmung 
schmerzlich  und  unbegreiflich  widersprechen  muB,  da  man  zu 
einer  anderen  Ansicht  gekommen  ist  von  dem,  was  dem  eigenen 
Volke  not  tut.  Wenn  es  heute  scheinen  mag,  als  wollten  die 
Universitaten  aufhoren,  ein  Asyl  auch  fur  solche  Art  von  kriti- 
schem  Denken  zu  sein,  so  mag  an  die  Zeit  erinnert  werden,  wo 
das  schwarz-rot-goldene  Denken  dem  Partikularismus  als  Lan- 
des verrat  erschien.  Genau  so  erscheint  es  heute  dem  nationalen 
Denken  der  alten  Schule  als  unpatriotisch,  wenn  man  laut  darauf 
hinweist,  daB  doch  der  ganze  Weltkrieg  es  drohnend  der  Kultur- 
welt  verkiindigt,  daB  wir  alle  aus  dem  bloBen  Nationalegoismus 
heraus  miissen,  daB  die  nationale  Gemeinschaft,  bei  all  ihrer  un- 
ersetzlichen  sittlichen  und  sozialpadagogischen  Bedeutung,  doch 
auch  nur  ein  Partikulares  ist  gegeniiber  der  kommenden  euro- 
paischen  Kulturordnung,  an  deren  Herausgestaltung  wir  jetzt 
mit  jedem  Gedanken  und  jedem  Worte  arbeiten  miissen.  Und 
diejenigen,  die  jetzt  mit  xiberlegenen  Mienen  und  mit  Denun- 
ziationen  diesem  neuen  deutschen  Streben  entgegentreten , das 
zugleich  das  alteste  und  beste  deutsche  Streben  ist,  das  aller- 
deutscheste  Streben,  sie  werden  von  den  kiinftigen  Geschlech- 
tern  genau  so  beurteilt  werden  wie  diejenigen,  die  dam  als  die 
neuen  schwarz-rot-goldenen  Horizonte  verspottet  und  ihre  Ver- 
kiindiger  verfolgt  haben. 


I 


16 


Fr.  W.  Foerster  • Der  Weg 


Den  traurigsten  Eindruck  in  dieser  Angelegenheit  hat  mir  die 
Technik  der  Entstellung  und  Verfalschung  gemacht,  die  man  in 
einem  grofien  Teil  der  nationalistischen  Presse  fur  erlaubt  halt. 
Wenn  z.  B.  von  Miinchen  aus  ein  Drahtbericht  an  die  ganze 
deutsche  Presse  ging,  ich  hatte  ein  Flugblatt  zur  „Verhetzung 
der  deutschen  Stamme“  verfaBt  und  in  der  Universitat  ver- 
breitet,  so  ist  man  solchem  GroBbetrieb  an  Verleumdung  gegen- 
iiber  einfach  wehrlos.  Ich  erwahne  dieses  nur,  weil  es  fur  die 
publizistische  Moral  gewisser  national  krankhaft  erhitzter  Kreise 
charakteristisch  ist.  Im  Ubrigen  ist  es  fur  jeden  in  der  Offent- 
lichkeit  wirkenden  Menschen,  der  nach  auBen  hin  doch  immer 
besser  erscheint  als  er  wirklich  ist,  zweifellos  nur  hochst  wohl- 
tatig,  ab  und  zu  einmal  griindlich  mit  MiBachtung  und  Be- 
schimpfung  iibergossen  zu  werden. 

Psychologisch  mteressant  ist  es  wohl,  daB  die  allerlebhaftesten 
Zustimmungen  gerade  in  Feldpostbriefen  kommen.  Heute 
schreibt  mir  ein  deutscher  Offizier:  „Ja,  iiberall  sollen  sich 
Manner  erheben,  die  es  in  die  Welt  hinausrufen,  daB  Europa 
aus  diesem  verrannten  Wahnsinn  sich  nicht  herausfindet,  wenn 
es  nicht  lernt,  ganz  neu  zu  denken,  wenn  es  sich  nicht  aufrafft 
zu  der  niichternen  Kritik:  Was  ist  falsch  gemacht  worden  im 
Leben  Europas,  daB  dieser  ungeheure  Schaden  fiir  die  Mensch- 
heit  entstehen  konnte?“  Und  ein  Oberlehrer,  der  als  Offizier 
seit  Begmn  des  Krieges  im  Felde  steht,  schreibt  mir : „Ich  habe 
in  Flandern  das  Eiseme  Kreuz  I.  Klasse  erhalten,  das  freut  mich 
ganz  besonders  deshalb,  weil  ich  nun,  ohne  dafl  mich  jemand 
des  mangelnden  Patriotismus  zeihen  kann,  meinem  Willen  zur 
Emeuerung  der  internationalen  Kulturideale  nach  dem  Kriege 
Ausdruck  geben  kann.“  Dafi  solche  Kundgebungen  gerade  von 
der  Front  kommen,  das  ist  ja  nur  zu  begreiflich,  denn  welchen 
verniinftigen  Sinn  hatte  all  dies  Grauen  und  Leiden,  wenn  man 
sich  nicht  sagen  und  geloben  diirfte,  daB  daraus  eine  gelauterte 
Welt,  ein  neues  Europa  hervorgehen  soil,  in  dem  die  Wiederkehr 
solcher  Dinge  von  Grund  aus  ausgeschlossen  ist.  Diese  Neu- 
ordnung  der  Dinge  aber  fallt  uns  nicht  vom  Himmel,  wir  miissen 
ihre  Atmosphare  durch  eigene  innere  Reinigung  und  Erhebung 


Ft.  W . Foerster  ♦ Der  Weg 


17 


schon  heute  vorbereiten.  Es  miissen  groBmiitige  und  aufbauende 
Worte  allmahlich  wie  Tauben  mit  dem  Olblatt  von  einem  Lande 
zum  anderen  fliegen.  Diese  Veredelung  der  Tonart,  diese  Be- 
reitschaft  zur  Selbstkritik,  statt  der  bloBen  leidenschaftlichen 
Anklage  nach  auBen  — das  ist  noch  weit  wichtiger  als  alle 
Friedensvorschlage.  Fiir  diese  fehlt  zurzeit  noch  die  moralische 
Atmosphare.  Alle  diejenigen,  die  zwar  den  Frieden  hefbei- 
wiinschen,  aber  keinen  Anfang  mit  einer  Anderung  der  inter- 
nationalen  Tonart  machen  wollen,  sie  scheinen  wirklich  anzu- 
nehmen,  der  Krieg  dauere  bis  7 Uhr  10,  und  der  Frieden  fange 
7 Uhr  II  an ; man  sagt  sich  bis  7 Uhr  1 0 alle  denkbaren  Be- 
schimpfungen  und  MiBachtung  ins  Gesicht;  7 Uhr  1 1 ist  dann 
plotzlich  Friede.  Diese  Wunderglaubigen  vergessen,  das  der 
Friede  verdient  werden  mufi,  nicht  nur  durch  Waffentaten,  son- 
dern  auch  durch  jene  stillen  Taten  der  Selbstiiberwmdung,  in 
denen  ein  Volk  sich  auf  seine  eigenen  Siinden,  Fehler,  Irrungen 
besinnt  und  dadurch  eine  Atmosphare  schafft,  in  der  die  starre 
Selbstbehauptung  sich  losen  und  die  Idee  eines  neuen  Europas 
praktische  Kraft  in  den  Seelen  gewinnen  kann.  Kein  einziger 
grofier  Streit  auf  Erden  kann  beigelegt  werden,  ohne  daB  jeder 
der  streitenden  Teile  sich  fragt:  Inwiefern  bist  auch  du  mit- 
schuldig  geworden  und  hast  dich  gegen  Grundgesetze  mensch- 
licher  Lebensgemeinschaft  versiindigt?  Erst  in  solcher  Selbst- 
priifung  erhebt  man  sich  iiber  den  Streit,  iiber  den  Starrkrampf 
der  Rechthaberei,  lost  auch  im  anderen  die  gleichen  Empfin- 
dungen  aus  und  befreit  sich  vom  Fluch  der  eigenen  Vergangen- 


In  den  „Miinchner  Neuesten  Nachrichten“  (Nr.  330)  hat  Prof. 
Dr.  E.  Marcks  unter  der  Uberschrift : ..Deutsche  Geschichte  und 
deutsche  Zukunft“  einen  langeren  Artikel  erscheinen  lassen,  der 
sich  mit  meinem  Aufsatze  iiber  ,,Bismarcks  Werk  im  Lichte  der 
groBdeutschen  Kritik“  auseinandersetzt.  Eine  eingehende  Be- 
antwortung  der  Marcksschen  Argumentation  muB  auf  die  Zeit 
nach  Aufhebung  der  Zensur  verschoben  werden : Die  entschei- 


18 


Fr.  W.  Foerster  * Der 


den  den  Griinde  gegen  die  Haltbarkeit  jener  ganzen  Betrach- 
tungsweise  konnen  zurzeit  nicht  dargelegt  werden.  Im  iibrigen : 
Was  auch  die  griindlichsten  Beweisfiihrungen  nicht  vermogen, 
das  wird  inzwischen  der  Weltkrieg  selber  besorgen  — er  wird 
auch  den  hartnackigsten  Anhangem  des  machtpolitischen  Natio- 
nalismus  in  alien  Nationen  von  Grund  aus  die  Augen  dariiber 
offnen,  da6  die  Fundamente  dieser  gefeierten  politischen  An- 
schauungsweise  langst  nicht  mehr  den  Tatsachen  und  Bediirf- 
nissen  des  modemen  Volkerlebens  entsprechen  und  dafi  sie  alles 
andere  eher  verdienen  als  den  Namen  ..Realpolitik  . . 

Ich  glaube  nicht,  dafi  diejenigen,  denen  mein  Aufsatz  zu  Ge- 
sicht  gekommen  ist,  durch  die  Argumente  befriedigt  sein  werden, 
mit  denen  Herr  Professor  Marcks  mich  zu  widerlegen  sucht.  Der 
Hinweis  auf  das  Elend  des  Deutschen  Bundes  kann  die  Tendenz 
memer  Darlegungen  nicht  treffen,  denn  auch  mir  kommt  es  nicht 
auf  eine  einfache  Wiederbelebung  der  Vergangenheit  an;  ich 
entnehme  der  alten  foderativen  und  iibernationalen  Vergangen- 
heit Deutschlands  nur  gleichsam  ein  „regulatives  Prinzip“  fiir 
das  Kommende,  ich  glaube  keineswegs,  dafi  wir  im  alten  deut- 
schen Bundeselend  hatten  steckenbleiben  sollen,  wohl  aber,  dafi 
es  besser  gewesen  ware  fiir  uns  und  fiir  Europa,  dafi  jenedeutsche 
Vergangenheit  nicht  so  jah  abgebrochen,  sondem  organisch 
weiterentwickelt  worden  ware;  das  ware  gewifi  schwieriger  ge- 
wesen, als  die  einfachen,  blutigen  Losungen  der  Bismarckschen 
Ara  — aber  wir  hatten  dann  die  ethische  Fiihrung  Europas  be- 
haiten,  wir  waren  das  Zentrum  europaischer  Organisation  ge- 
worden,  so  wie  wir  es  einst  waren  und  wie  wir  es  als  Zentralland 
sem  miissen.  Deis  hatte  uns  auch  eine  gesichertere  Stellung  ge- 
geben,  als  es  alle  aufiere  Macht  der  Welt  vermag.  Vergangenes 
lafit  sich  nicht  riickgangig  machen,  wohl  aber  kann  und  soli  man 
aus  den  Irrtiimern  der  Vergangenheit  lernen,  der  einzelne  soli 
es  und  die  Nation  soil  es;  jetzt  ist  die  Stunde  fiir  dieses  Um- 
lernen  gekommen,  fiir  uns  und  fiir  die  anderen  Volker;  wehe 
dem,  der  die  Stunde  verpafit ! Ich  weifi  bestimmt,  dafi  Tausende 
in  Deutschland  ahnlich  denken  und  dafi  die  kommenden  Dinge 
uns  recht  geben  werden. 


>• 


19 


Ft.  W.  Foerster  • Der  Weg 


Herr  Professor  Marcks  hat  den  schweren  Vorwurf  gegen  mich 
erhoben,  dafi  ich  unseren  Kampfern  in  den  Riicken  falle.  Nun 
— ich  weiB  aus  zahireichen  Briefen  von  der  Front,  dafi  gerade 
unsere  Besten  dort  durchaus  fur  ein  ganz  neues  Deutschland  und 
fur  ein  ganz  neues  Europa  kampfen  und  nicht  fiir  ein  Weiter- 
bestehen  des  alten  europaischen  Elends,  und  dafi  sie  darum 
durchaus  auch  eine  ernste  nationale  Selbstkritik  zu  wiirdigen 
wissen.  Ich  kann  auf  jenen  Vorwurf  am  besten  antworten,  in- 
dem  ich  aus  den  Feldpostbriefen,  die  mir  anlafilich  der  ganzen 
Angelegenheit  zugegangen  sind,  folgende  charakteristische 
Stellen  wiedergebe*) : 

* 


Vor  Verdun. 

. . Ihre  Erklarung  im  Berliner  Tageblatl  hat  auf  mich  wie  eine  Erlosung 
gewirkt,  daB  endlich  einmal  ausgesprochen  ist,  wodurch  allein  ein  dauemder, 
keine  der  kriegfiihrenden  Machte  verletzender  Friede  geschlossen  werden 
kann.  Ich  wiinsche  von  ganzem  Herzen,  daB  Ihre  Worte  in  alien  Landem 
Europas  Widerhall  finden  mogen  und  die  Parole  ,,UmIernen“  alle  wahren 
Patrioten  sich  zu  Herzen  nehmen,  bis  die  Atmosphare  geschaffen  ist,  in  der 
allein  ein  versohnender  dauernder  Friede  gedeihen  kann.  Das  ist  ein  Ziel,  fur 
das  mir  die  vielen,  vielen  Kameraden  nicht  umsonst  gestorben  zu  sein  scheinen 
und  fiir  das  wir  gerne  weiterkampfen  und,  wenn  es  notig  ist,  auch  freudig  den 
Tod  erleiden  wollen. 

(gez.)  H.,  Leutnant. 


Vogesen. 

. . . Ich  glaube  nun  aus  den  Zeitungsnotizen  so  vie!  entnehmen  zu  konnen, 
daB  ich  Ihnen  geeigneterweise  die  Gedanken  anvertrauen  kann,  die  wir  (es 
denkt  mancher  Kamerad  wie  ich)  uns  hier  im  Feld  zusammengedacht  haben. 
Mehr  intuitiv,  als  rechtlich  erkannt.  Nicht  gemacht,  um  aktive  Politik  zu 
treiben,  wohl  aber  vielleicht  wert,  einem  fiihrenden  Manne  anvertraut  zu 
werden.  DaB  sie  nur  aus  vaterlandischer  Gesinnung  erwachsen  sind,  brauchen 
wir  unter  Gleichgesinnten  ja  nicht  zu  sagen. 

Ich  denke  nicht  von  Grund  auf  gegen  den  Krieg,  gegen  jeden  Krieg.  Ich 
denke  nicht  gegen  die  Gewalt,  gegen  die  militarische  Gewalt.  Sie  wird  wohl 
noch  auf  lange  Zeit  die  „ultima  ratio**  der  Volker  sein.  Ich  denke  so:  Neben 
der  militarischen  Gewalt  muB  sich  eine  geistige  Kraft  formen  aus  dem  Inner- 

*)  Die  Originale  stehen  zur  Verfiigung,  natiirlich  nur  mit  Unkenntlich- 

machung  der  Unterschriften. 


20 


Ft.  W.  Foersier  ♦ Der  Weg 


sten  des  Volkes  heraus ; eine  hohe,  sittliche  Kraft,  mit  weitem,  freiem  Blick. 
Baut  die  erste  Gewalt  auf  auf  der  brutalen  Oberlegenheit,  so  miiBte  die  zweite 
fundamentiert  sein  auf  dem  geistlich-sittlichen  Boden,  der  das  Heil  unseres 
Volkes  und  aller  Volker  in  Frieden  und  Gesittung  erstrebt.  Der  die  Liebe 
predigt  fiir  den  HaB,  der  die  Vorziige  zeigt,  statt  die  Fehler  zu  vergroBern. 
Und  diese  Kraft  mufi  sich  fest  formen  nach  auBen  hin  im  gemeinsamen  Wirken 
unserer  besten  Manner,  sie  muB  sich  durchsetzen  in  der  Offentlichkeit  und 
aktiv  an  den  Staatsgeschaften  teilnehmen,  zum  mindesten  gleichberechtigt 
neben  der  bisher  alleinberechtigten  mihtarischen  Macht.  Und  das  nicht  nur 
bei  uns,  vielmehr  gerade  so  oder  noch  mehr  bei  unsern  Gegnern  von  heute. 
Was  diese  geistige  Kraft  auBerlich  binden  soli,  ein  hohes  ethisches  Prinzip 
oder  ein  Kultur-Ideal,  das  weiB  ich  nicht.  Jedenfalls  etwas  Tiefergehendes 
als  Internationale  oder  pazifistische  Foderationen,  die  zur  Kriegsstunde  wie 
Schaum  zerstoben.  Das  sind  die  unmafigeblichen  Gedanken  eines  nicht- 
politischen  Soldaten;  nur  so  bitte  ich  sie  aufzunehmen. 

Wir  hier  glauben  nun,  daB  solche  oder  grundahnliche  Gedanken  auch  in 
einem  grofien  Teil  unseres  Volkes  daheim  leben  (wir  wissen  es  ja  nicht,  weil 
wir  nichts  davon  horen).  Ja  wir  glauben,  daB  auch  bei  unsern  Gegnern  eine 
solche  Kraft  lebendig  ist.  DaB  sie  aber  niedergehalten  und  niedergeknebelt 
wird,  weil  die  herrschenden  Klassen  ihre  Macht  nicht  aus  der  Hand  geben, 
ihren  falschen  Gedankengang  nicht  einsehen,  ihr  Unrecht  nicht  zugeben 
wollen.  Aber  wir  miissen  umlernen,  wir  miissen  iiber  diese  ,,Gewaltigen“ 
hinauswachsen.  Und  wir  miissen  da  anfangen,  heute  noch.  Und  daB  Sie, 
verehrter  Herr  Professor,  als  erster  so  zu  sprechen  wagten,  dafiir  nehmen  Sie 
den  Dank  einiger  Soldaten.  Sie  sind  die  erste  sichtbare  Form  der  neuen  Kraft, 
und  so  miissen  Sie  nun  ertragen,  daB  viele  zu  Ihnen  kommen.  Weil  sie  einen 
Weg  suchen,  aber  noch  keinen  anderen  Richtpunkt  sehen.  Wir  wollen  her- 
auBen  treulich  und  einfach  unsere  Soldaten pflicht  weiter  tun.  Wir  haben  sie 
immer  getan  fiir  unsere  deutsche  Sache,  weil  wir  immer  den  heiligen  Glauben 
hatten,  dafi  an  ihr  emmal  die  Welt  genesen  solle.  Und  nun  soli  sie  erst  recht 
stark,  innerlich  stark  werden  neben  der  auBern  Kraft.  Und  wir  bitten  Sie  nun, 
verehrter  Herr  Professor,  und  alle  die  daheim  sind,  in  dem  Sinne  weiterzu- 
arbeiten  im  Geiste  des  Friedens,  eines  hoheren  Friedens,  wurzelnd  in  einer 
neuen  Kraft  . , . 

(gez.)  F.  J.  E.,  Vizewachtmeister. 


Argonnen. 

. . . Begeistert  von  den  Gedanken,  die  Sie  kiirzlich  ausgesprochen  haben, 
und  entriistet  iiber  die  Beschimpfungen,  die  Ihnen  zuteil  geworden,  freue  ich 
mich  als  Deutscher,  daB  gerade  ein  Deutscher  der  Welt  den  Weg  gewiesen  hat, 
auf  dem  sie  allein  vorwarts  kommen  kann  . . . 

(gez.)  Ltn.  H.,  Feldflieger. 


Ft.  W.  Foerster  ♦ Der  Weg 


21 


Vor  Verdun. 

...  So  viel  darf  ich  von  mir  und  meinen  Leuten  bekennen : Wenn  wir  nicht 
den  unerschiitterlichen  Glauben  batten,  dafi  es  einstens  moglich  sein  wird,  daB 
die  Menschheit  sich  ohne  diese  kulturwidrigen  Greuel  weiter  entwickelt,  so 
hatten  wir  kaum  die  Kraft,  all  das  Schwere,  das  uns  und  die  Unsern  schon 
betroffen  hat  oder  das  uns  noch  bevorsteht,  in  Rube  und  mit  Gleichmut  aus- 
zubalten  . . . Wer  vom  sichem  Scbreibstubl  aus,  fern  von  den  Greueln  des 
Krieges,  Loblieder  auf  den  Krieg  als  etwas  fiir  immer  Unentbehrliches  singt, 
dem  wiinsche  icb  nur  eine  der  Nachte,  die  wir  bier  durchleben. 

(gez.)  H.,  Amtsrichter  und  Lt.  d.  L. 


Im  Westen. 

. . . Icb  babe  oft  mit  Dr.  G.  iiber  die  Affare  F.  gesprochen  und  wir  sind  da 
ganz  gleicber  Ansicht:  namlich,  dafi  wir  jede  seiner  Aufierungen  obne  Be- 
denken  unterscbreiben  wiirden.  Oft  haben  wir  ahnliche  Gedanken  scbon  ent- 
wickelt . . . Eine  grofie  Befriedigung  war  es  uns  daher,  langst  gehegte  und 
empfundene  Gedanken  aus  dem  Munde  eines  F.  in  konkreter  Form  zu  horen. 
Das  Umlernen  in  der  Politik  ist  das  wichtigste.  Alles  vom  Standpunkt  des 
20.  Jbd.  aus  betrachten,  sich  bewufit  sein  der  uralten  Kultur  und  offen  die 
vielen  Febler  anerkennen,  die  in  der  Vergangenbeit  gemacht  wurden,  und  diese 
durcb  Werke  des  Friedens  gutzumachen,  das  ware  Aufgabe  jedes  einzelnen 
Staates.  Wenn  das  jeder  Staat  befolgen  wiirde,  dann  ware  „der  ewige  Friede" 
im  Zeicben  unseres  Jahrhunderts  noch  moglich,  was  fur  Kant  vom  Stand- 
punkt seiner  Zeit  und  seiner  Menschen  eine  Utopie  war  . . . 

. . . Mochte  nur  das  Umlernen  und  das  langsame  Hineindenken  in  das  neue 
zukiinftige  Europa  recht  rasch  erfolgen,  das  ware  hier  draufien  unser  aller- 
sehnlichster  Wunscb,  besonders  gerade  jetzt,  wo  wir  das  ununterbrocbene 
Trommelfeuer  von  der  Front  her  horen,  da  passen  diese  Betrachtungen  am 
besten. 

Im  Feld,  Anfang  Juli  16. 

(gez.)  Dr.  H. 


Osten. 

. . . Aufrichtig  danke  ich  Ihnen  fiir  Ihr  Eintreten  dafiir,  dafi  aucb  im  offent- 
lichen  und  poiitischen  Leben  Recht  und  Moral  als  oberste  Richtschnur  und 
Grundlage  angeseben  werden  miissen.  Wenn  diese  Anschauung  Gemeingut 
unseres  lieben  deutscben  Volkes  wiirde,  so  ware  dies  der  schonste  Erfolg  dieses 
blutigen  Volkerringens.  Dazu  beizutragen,  ist  besonders  Aufgabe  der  Daheim- 
gebliebenen  . . . 

(gez.)  F.  D. 


OV/V/ 


22 


Feuerstellung,  Batterie  im  Westen. 

. . . Es  ist  mir  eine  Freude  und  grofite  Genugtuung,  Ihnen  die  Zustimmung 
weiter  Kreise  auch  bei  uns  aussprechen  zu  konnen.  Es  ist  ja  wohl  kaum  notig, 
daB  ich  meine  Bitte  ausspreche,  auf  dem  von  Ihnen  eingeschlagenen  Wege 
unentwegt  weiterzugehen.  Gerade  wir  hier  drauBen,  die  mit  offenen  Augen 
zu  sehen  gezwungen  sind,  wissen  es  zu  schatzen,  dafi  daheim  G.  s.  D.  doch 
noch  Manner  sind,  die  sich  einen  klaren  Blick  bewahrten  und  die  iiber  die 
Engherzigkeit  der  Stunde  erhaben  sind,  Darum  gerade  hierin  durchhalten 
gegen  alle  Anfechtungen,  woher  sie  auch  kommen  mogen. 

Das  Interesse  fur  Ihre  Ausfiihrungen  ist  hier  nicht  nur  bei  Gebildeten, 
sondern  auch  in  gleichem  MaBe  — noch  mehr  beim  einfachen  Mann  sehr  groB. 
Der  einfache  Soldat,  der  frei  ist  von  den  anerzogenen  und  angelehrten  und 
gelehrten  Vorurteilen  unsrer  bisherigen  Geschichtsauffassung  und  Politik, 
weiB den  Wert  Ihrer  Gedankengange  besser  zu  wiirdigen,  als  man  anzunehmen 
versucht  ist, 

Wenn  man,  wie  ich,  beinahe  19  Monate  die  Wut  und  Wucht  des  Krieges 
aus  der  Nahe  kennen  gelernt  hat,  freut  man  sich,  wenn  man  sieht,  daB  man 
daheim  doch  noch  nicht  vergessen  hat,  daB  es  auch  noch  bessere  Siege  zu  er- 
kampfen  gibt,  als  die  mit  Blut  und  Eisen  errungenen. 

Seien  Sie  unserer  regen  Anteilnahme  und  unserer,  leider  vorlaufig  ia  nur 
mehr  passiven  Unterstutzung  Ihrer  Plane  und  Idecn  versichert. 

Lassen  Sie  nicht  nachl  Die  Leute,  die  Ihnen  entgegenarbeiten,  ha  ben  ja 
auch  nicht  die  geringste  Ahnung,  wie  man  hier  drauBen  allgemein  denkt.  Wo- 
her auch?  Der  Offizier  und  Reserveoffizier  kann  ja  schon  aus  dem  Grunde 
sich  kein  richtiges  Urteil  bilden,  weil  ihm  der  einzelne  Mann  als  Untergebener 
ja  nie  oder  hochst  selten  Einblick  in  sein  Denken  ermoglicht. 

Ich  habe  als  Kriegsfreiwilliger  jetzt  nahezu  zwei  Jahre,  davon  18  Monate 
im  Felde,  als  Kamerad  mit  Leuten  aus  alien  Volksschichten  zusammengelebt 
und  glaube  darum,  mir  wohl  ein  Urteil  erlauben  zu  diirfen. 

Darum  bitte  ich  Sie,  sehr  geehrter  Herr  Prof.,  lassen  Sie  sich  durch  nichts 
irre  machen  in  der  Vertretung  Ihrer  in  der  letzten  Zeit  bekannt  gewordenen 
Anschauungen ; rari  nantes  in  gurgite  vasto,  dazu  gehoren  Sie  einstweilen  noch, 
aber  Ihren  Ideen  gehort  die  Zukunft. 

(gcz) 
Vor  Verdun. 

. . . Wenn  die  Menschheit  weiter  organisiert  werden  soli,  so  miissen  die 
Nationalindividuen  auch  opfern  konnen,  um  eine  htthere  Lebensform  zu 
bilden,  wie  es  stets  Gesetz  gewesen  ist  in  der  Geschichte  der  organischen 
Natur,  dafi  die  Individuen  einen  Teil  ihres  Selbst  opferten  (nicht  ihre  ganze 
Existenz),  um  ein  hoheres  Leben  zu  gewinnen.  Da  erscheinen  uns  in  ihrer 
ganzen  Kraft  und  Wahrheit  die  Worte  Christi:  „Ich  bin  der  Weg,  die  Wahr- 


>■ 


Fr.  W.  Foerster  ♦ Der  Weg 


23 


heit  undi  das  Leben**  und  „Was  niitzt  es  dem  Menschen,  wenn  er  die  ganze 
Welt  gewinnt,  aber  Schaden  leidet  an  seiner  Seele  ?“ 

Wer  sich  nicht  einfiigt  in  den  Bau  urn  den  Eckstein  Christ!,  wird  keinen 
Teil  haben  am  hoheren  Leben  und  zugrunde  gehen. 

Es  ist  ganz  falsch,  Ihre  Stellungnahme  zum  Krieg  und  zur  europaischen 
Politik  als  antinational  zu  bezeichnen;  diejenigen,  die  das  tun,  lessen  nur  er- 
kennen,  daB  ihnen  Ihre  Anschauungen  ganzlich  unbekannt  sind.  Einem  jeden 
Menschen  drang'  sich  jetzt  wohl  angesichts  der  Greuel  der  Gedanke  auf : In 
welcher  Beziehung  steht  das  alles  zum  Christentum?  Und  da  ist  es  wahrlich 
kein  Verbrechen,  wenn  einmal  dieser  Gedanke  von  berufener  Stelle  in  seine 
Konsequenzen  verfolgt  wird.  Wenn  ich  mit  jemand  Streit  habe,  so  muB  ich 
um  zum  Frieden  zu  kommen,  mit  der  Kritik  bei  mir  selbst  beginnen  (wobei 
der  andere  sehr  wohl  in  viel  grofierem  Unrecht  stecken  kann  als  ich).  Aber 
beide  konnen  sich  aus  der  Befangenheit  in  ihrem  Ich  nur  erlosen  um  eines 
gemeinsamen  Hoheren  willen.  Es  ist  so  kein  Verrat  an  mir  selbst  und  meiner 
Sache,  wenn  ich  zunachst  sorgfaltig  mein  Gewissen  erforsche.  Und  daB  sich 
in  unserem  Vaterland  dieses  Gewissen  zuerst  meldet.  wie  es  jetzt  durch  Sie 
geschieht,  trotz  so  groBer  Schwierigkeiten,  das  rechnen  wir  uns  zur  nationalen 
Eh  re  an.  Mit  vorziiglicher  Hochachtung 

Dr.  S.,  Stabsarzt. 


(g 


ez 


Westen. 

. . . Ihre  Auffassung  von  Deutschlands  Mission,  von  Bismarckscher  Politik, 
das  ist  ja  so  meine  seit  Jahrzehnten  selbst  geschopfte  Oberzeugung,  daB  ich 
nur  Gott  bitte,  er  wolle  mich  den  Krieg  iiberleben  lassen,  damit  ich  einmal 
das  Gluck  habe,  mit  Ihnen  liber  diese  Punkte  zu  sprechen  . . . 

• . .Oberst  und  Regimentskommandeur. 


» 


Das  ganz  Eigenartige  und  Ergreifende  in  all  diesen  Briefen 
liegt  zweifellos  dann,  daB  aus  ihnen  keinerlei  personliche  Kriegs- 
miidigkeit  und  Schwache  spricht,  im  Gegenteil,  die  Verfasser 
gehoren  mit  ganzer  Seele  der  Pflicht  an,  die  ihnen  innerhalb 
dieser  Welttragodie  auferlegt  ist,  sie  sprechen  auch  kemeswegs 
die  Sprache  des  sogenannten  „Pazifismus“ ; die  Kriegseindriicke 
haben  wohl  allzu  bittere  Zweifel  an  der  Menschennatur  in  ihrer 
Seele  erregt  — jedenfalls  kommen  ihre  Worte  aus  einer  ganz 
anderen  Welt,  als  es  diejenige  hinter  der  Front  ist:  Es  ist,  als 
wenn  sie  uns  sagten : „Wir  stehen  jetzt  im  Dienste  der  militari- 


22  Vol.  m/2 


24 


schen  Kraft  und  Ehre  Deutschiands  und  werden  unerschiitter- 
lich  ausharren  — in  Euch  aber  muB  nun  eine  ganz  neue  Art  von 
Kraft  entstehen,  ein  Aufschwung  iiber  die  Tierheit  des  Volker- 
egoismus,  ein  Hinauswachsen  des  Opfergedankens  iiber  den 
blofien  Nationalhorizont.  Denn  weder  mit  der  Macht  der 
Waffen  nocb  mit  der  Technik  des  Verhandelns  allein  sind  die 
ungeheuren  Probleme  des  Tages  wirklich  zu  losen;  bringt  Ibr 
jene  neue  Kraft  nicht  auf,  nun,  so  zerbricht  eben  unsere  „christ- 
liche"  Kultur  an  ihrer  innersten  Unchristlichkeit  in  tausend 
Stiicke  und  wird  ein  Steinhaufen  werden  wie  Babel  und  Ninive !“ 
Wer  einen  solchen  beschworenden  Appell  an  unsere  Aufgabe 
nicht  aus  jenen  Briefen  heraushort,  wer  ihn  nicht  iiberhaupt  aus 
der  immer  ratloseren  Volkemot  heraushort,  fiir  den  gelten  wahr- 
Iich  die  Worte  im  Faust:  ,,Dein  Sinn  ist  zu,  dein  Herz  ist  tot!“ 

Leider  gibt  es  zurzeit  noch  weite  Kreise  unseres  Volkes,  die 
sich  mit  beangstigender  Verstocktheit  gegen  alle  solche  Er- 
wagungen  zur  Wehr  setzen.  Das  sind  eben  die  alldeutschen  und 
nationalistischen  Kreise  im  weitesten  Sinne,  die  durch  ihre 
Machtromantik  vollig  unfahig  geworden  zu  sein  scheinen,  die 
allein  realpolitischen  Schlufifolgerungen  aus  dem  schon  seit 
Monaten  zum  Stehen  gekommenen  Volkerschlachten  zu  ziehen, 
das  seinem  Wesen  nach,  namlich  wegen  der  Ebenbiirtigkeit  der 
streitenden  Krafte,  zum  Stehen  kommen  mufite  und  — wenn 
keine  neue  sittliche  Kraft  in  den  Volkern  durchbricht  — auch 
weiter  stehenbleiben  wird,  bis  alle  Beteiligten  Bankerott  ge- 
macht  haben  werden  und  als  Sieger  dann  der  gelten  kann,  der 
vier  Wochen  spater  Bankerott  macht,  als  die  anderen  . . . 

Jene  nationalistischen  Kreise  sind  auch  vollig  auBerstande, 
zu  begreifen,  dafi  die  ingrimmige,  jeden  Frieden  ablehnende 
Entschlossenheit  gerade  unserer  westlichen  Gegner  zu  einem 
sehr  grofien  Teil  eben  aus  der  Befiirchtung  entspringt,  dafi  jene 
nationalistischen  Elemente  den  einflufireichsten  Teil  Deutsch- 
iands reprasentieren,  dafi  der  Kanzler  ihnen  nur  miihsam  stand- 
halt  und  nur  mit  grofien  Zugestandnissen  an  ihre  Anspriiche  den 
Frieden  abschliefien  und  die  kiinftige  deutsche  Weltpolitik  werde 
durchfiihren  konnen.  Da  aber  nach  Meinung  jener  unserer  west- 


Fr.  W . Foerster  * Der  Weg 


25 


lichen  Gegner  ein  auf  solchem  Boden  mit  Deutschland  etwa 
geschlossener  Friede  nur  ein  Waffenstillstand  sein  werde,  inner- 
halb  dessen  das  unertragliche,  alle  Kulturarbeit  lahmende  Wett- 
riisten  in  verstarktem  MaBe  weitergehen  werde,  so  ist  dort  die 
unausrottbare  Meinung:  Jene  nationalistisch-alldeutsche  Sippe 
miisse  erst  durch  die  radikale  Niederzwingung  oder  Mattsetzung 
Deutschlands  endgiiltig  auch  in  den  Augen  des  deutschen  Volkes 
diskreditiert  und  als  weltpolitischer  Faktor  ausgeschaltet  werden. 
An  dieser  Entschlossenheit  nehmen  heute  auch  alle  diejenigen 
Kreise  des  englischen  Volkes  teil,  die  sonst  fur  einen  verniinf- 
tigen,  wahrhaft  europaischen  Frieden  durchaus  zu  haben  waren 
und  auch  jetzt  noch  zu  haben  sind.  Nun  kommen  natiirlich 
unsere  nationalistischen  Blatter  und  weisen  auf  jene  starre  Ent- 
schlossenheit unseres  englischen  Gegners  hin,  die  wir  doch 
zweifellos  mit  noch  unversohnlicherer  und  schonungsloserer 
Entschlossenheit  beantworten  miiBten  — sie  wollen  nicht  sehen, 
daB  es  eben  lhre  eigene  national-individualistische  Verstocktheit 
ist,  ihr  trotziges  Bekenntnis  zur  Weiterfiihrung  des  alten  euro- 
paischen Elends,  zur  bloB  machtpolitischen  Behandlung  der 
Menschheitsprobleme,  was  driiben  die  gleichen  Elemente  am 
Ruder  halt  und  auch  die  vemiinftiger  denkenden  Kreise  zu 
absoluter  Solidaritat  mit  dem  „Zerstorertyp“  treibt.  Das  beste 
Zeugms  dafiir,  daB  diese  meine  Deutung  der  volkerpsycholo- 
gischen  Wechselwirkung  der  Tatsachen  entspricht,  ist  wohl  in 
folgenden  Satzen  zu  finden,  mit  denen  der  „Temps“  in  einem 
Leitartikel  die  neuesten  machtpolitischen  Bekenntnisse  des 
ebenso  wohlmeinenden  wie  kurzsichtigen  Staatsmannes  Biilow 
bespricht,  dessen  schwere  Mifigriffe  und  Unterlassungen  so- 
viel  zu  der  gegenwartigen  Weltnot  beigetragen  haben.  Es 
heiBt  dort: 

,,Nach  24  Monaten  ohnmachtiger  Bcmiihungen  gesteht  Deutschland  ein, 
was  es  nehmen  will.  Wie  viel  ware  das  wohl  erst  gewesen,  wenn  Deutschland, 
nach  seinem  Plan,  binnen  sechs  Wochen  gesiegt  hatte?  . . . Nichts  konnte  uns 
gelegener  kommen,  als  dieses  politische  Gestandnis  eben  in  der  Stunde,  in  der 
unsere  Verbundeten  und  wir  unsere  wirtschaftlichen  und  militarischen  An- 
strengungen  verdoppeln  mussen,  um  Deutschland  mit  denselben  Waffen  zu 
schlagen,  mit  denen  es  uns  zu  schlagen  hofft.*‘ 


26 


Fr.  W.  Foerster  • Der  Weg 


Ahnte  uberhaupt  das  friedliebende  deutsche  Volk,  was  seit 
vielen  Jahren  alle  die  alldeutschen  und  nationalistischen  Artikel 
und  Reden  unserem  Volke  im  Ausland  geschadet,  wie  sie  die 
anderen  Nationen  gegen  uns  mobil  gemacht,  die  Neutralen  mit 
Mifitrauen  und  Arger  erfiillt  haben  und  wie  sie  auch  gegen- 
wartig  wieder  die  Moglichkeit  des  Friedens  immer  weiter  in  die 
Feme  riicken  — es  wiirde  ein  wahrer  Sturm  gegen  diese  Art  von 
,,Weltpolitikem“  durchs  Land  gehen.  Mit  diesen  alldeutschen 
Herren  wird  es  nach  dem  Kriege  eine  griindliche  Abrechnung 
geben,  da  wird  man  mit  unwiderleglichen  und  frappierenden 
Beweisen  an  den  Tag  bringen,  wieviel  schwere  Mitschuld  und 
Blutschuld  an  diesem  Weltkriege  jener  ganzen  alldeutsch-natio- 
nalistischen  Schriftstellerei  und  Rederei  zugeschrieben  werden 
muB.*)  Es  war  gewifi  sehr  zu  begriifien,  daB  die  ,, Alldeutschen 
Blatter**  selber  (20.  Mai  1916)  auf  einen  Artikel  der  „Neuen 
Ziircher  Zeitung**  vom  1.  Mai  d.  J.  aufmerksam  gemacht  haben, 
in  dem  wir  folgende  Charakterisierung  jener  alldeutschen  Schuld 
finden : 

Wahrend  in  England  doch  immerhin  eine  ganze  Reihe  von  Publilcationen 
erschienen  ist,  in  denen  die  Mitschuld  Englands  sehr  freimiitig  zugegeben 
wurde  (vgl.  u.  a.  Carpenters  Buch  „The  healing  of  nations**),  hat  man  sich  in 
Deutschland  leider  in  eine  schier  undurchdringliche  nationale  Selbstgerechtig- 
keit  hineingeredet,  als  konne  von  keiner,  wenn  auch  noch  so  geringer  Mitschuld 
Deutschlands  am  Weltkriege  irgendeine  Rede  sein.  Gegeniiber  dieser  falschen 
Selbstbeurteilung  des  deutschen  Volkes,  die  es  den  leitenden  Mannern  in 
Deutschland  schwer  genug  machen  wird,  ein  verniinftiges  Friedensangebot 
durchzusetzen,  muB  denn  doch  festgestellt  werden,  daB  in  Deutschland  wah- 
rend der  letzten  drei  Jahrzehnte  so  viel  laute  Weltmachtspropaganda  getrieben 
worden  ist,  daB  das  Vertrauen  des  Auslandes  auf  die  friedlichen  Absichten  des 
deutschen  Volkes  dadurch  schwer  erschiittert  werden  muBte. 

Hierher  gehort  vor  allem  das  unverantwortliche  Machtgerede  der  All- 
deutschen, deren  unertragliche  Tonart  dem  deutschen  Volke,  gerade  auch  im 
neutralen  Ausland,  eine  Unsumme  von  HaB  und  Abneigung  zugezogen  hat 
und  die  man  als  die  eigentlichen  Trager  der  deutschen  Mitschuld  am  Welt- 

*)  Die  Alldeutschen  riihmen  sich  gem*  dafi  sie  diesen  Krieg  stets  voraus- 
gesagt  hatten.  Ja,  sie  konnten  das,  denn  sie  und  ihresgleichen  in  den  andern 

Landern  haben  ihn  auch  herbeigezogen*  ja  herbeigesehnt,  wie  das  so  schon 
ausgesprochen  war  in  der  ersten  Kriegsnummer  der  Alldeutschen  Blatter. 
„Die  Stunde  haben  wir  ersehnt . . . nun  ist  sie  da.  Die  heilige  Stunde  . . 


Ft.  W . Foerster  ♦ Der  We° 


27 


krieg  bezeichnen  kann.  Im  April  1913  hielt  der  Admiral  von  Breusing  einen 
Vortrag  in  Basel,  in  dem  er  bemerkte : „Wir  sind  noch  nicht  so  weit,  um  eng- 
lische  Kolonien  nehmen  zu  konnen Und  General  v.  Bernhardi  gab  in  seinem 
Buche ,, Deutschland  und  der  nachste  Krieg**  seinem  Volke  den  Rat,  auf  kolo- 
nialem  Gebiete  irgendeinen  Streit  mit  England  oder  Frankreich  von  Zaune  zu 
brechen,  um  dadurch  den  unvermeidlichen  Krieg  in  Gang  zu  bringen.  Ein 
Rezensent  der  englischen  ,,  Fortnightly- Re  view**,  der  selber  Mitglied  der 
deutsch-englischen  Verstandigungsgesellschaft  war,  suchte  Bemhardis  Ansicht 
von  der  Unvermeidlichkeit  eines  Krieges  zwischen  den  beiden  Landern  zu 
widerlegen,  bemerkte  aber,  daB  man  doch  nicht  auBer  acht  lassen  diirfe,  daB 
in  jenem  Buche  „ein  Mann,  dessen  Meinung  von  Gewicht  ist,  uns  offen  er- 
zahlt,  daB  Deutschland  uns  in  dem  Augenblick  angreifen  wird,  in  dem  sich 
eine  gunstige  Gelegenheit  dafiir  bietet.  Wir  waren  „mad“,  wenn  wir  uns  diese 
Warnung  nicht  zu  Herzen  nahmen.** 

Die  ,,Kreuzzeitung‘\  der  diese  Rezension  zu  Gesicht  kam,  bekam  damals 
eine  Ahnung  davon,  was  im  Ausland  durch  solche  Schreibereien  angerichtet 
werde;  sie  bemerkte:  ,,Jener  Autor,  der  iiber  ein  Nachbarvolk  schreibt,  sollte 
sich  bewuBt  sein,  daB  er  fur  beide  Volker  schreibt  und  daB  er  zu  priifen  hat, 
ob  der  Nutzen  seines  Werkes  dem  Schaden,  den  er  auf  der  andern  Seite  seinem 
Volke  zuf  ugt,  entspricht Hier  ist  der  Kernpunkt  getroffen . Die  Kriegshetzer 
in  alien  Landern  haben  sich  nie  darum  gekiimmert,  wie  ihre  Kundgebungen 
im  Auslande  wirken  muBten.  Kam  dann  aber  das  feindliche  Echo,  so  hieB 
es:  „Man  sieht,  die  dort  driiben  wollen  den  Krieg,  lasset  uns  ihnen  zuvor- 
kommen  !**  Driiben  aber  berief  man  sich  wieder  auf  die  Hetzereien  der  Gegen- 
seite  und  sagte:  „Ein  Praventivkrieg  ist  die  einzige  Defensive,  die  uns  recht- 
zeitig  retten  kann!'* 

Was  hier  gesagt  wird,  das  ist  die  einstimmige  Ansicht  des 
neutralen  Auslandes  iiber  die  alldeutsche  Propaganda.*)  Diese 
Missionare  des  odesten  und  kulturlosesten  Machttreibens,  in 

*)  Die  obige  Zusammenstellung  der  N.  Z.  Z.  kann  ich  durch  folgende 
Exzerpte  aus  einer  eigenen  Sammlung  erganzen: 

Grenzboten  Nr.  48,  1895:  „Wir  lehren,  daB  das  deutsche  Volk  lediglich 
fur  sich  zu  sorgen  habe,  ohne  Riicksicht  auf  das  Wohl  anderer  Volker,  wir 
lehren,  dafi  wenn  das  Wohl  unseres  Volkes  einen  Eroberungskrieg,  die  Unter- 
jochung,  Verdrangung,  Vertilgung  anderer  Volker  fordem  sollte,  wir  uns  da- 
von durch  christliche  und  Humanitatsbedenken  nicht  diirften  zuriickschrecken 
lassen  — wir  haben  daher  auch  gegen  die  auBerste  Anspannung  der  Wehr- 
kraft  unseres  Volkes  nichts  einzuwenden,  vorausgesetzt,  daB  sie  in  absehbarer 
Zeit  einmal  zu  dem  Zwecke  verwendet  wird,  fur  den  sie  da  ist.** 

PreuB.  Jahrbiicher  1896:  „Mehr  Lohn  und  mehr  Geschutze**  (Verfasser 
R.  Martin,  aus  dem  Naumannschen  Kreise).  ,,Die  Gesamtheit  aller  Verhalt- 


28 


Fr.  W.  Foersier  • Der 


deren  Seele  die  besten  und  ruhmreichsten  Traditionen  des  deut- 
schen  Geistes  iiberhaupt  keine  Wurzel  gefafit  haben,  sie  scbalten 
auch  jetzt  wieder  in  ihren  utopischen  Annexionsforderungen  mit 
dem  teuren  Blute  des  deutschen  Volkes,  als  ob  es  Kanalwasser 
ware  — wahrlich,  es  wird  dringend  Zeit,  daB  sich  bei  uns 
eine  offentliche  Meinung  organisiert,  die  das  andersdenkende 
Deutschland  wuchtig  zu  Worte  bringt  und  dadurch  nicht  nur 
unserem  Reichskanzler,  dem  echt  deutschen  Manne,  eine  groBere 
Stiitze  gegenuber  jenem  ganzen  Treiben  gewahrt,  sondern  auch 
den  vemiinftigen  Elementen  im  Ausland  das  Vertrauen  auf  ein 
neues  „europaisch“  denkendes  Deutschland  gibt. 

In  ihrer  Juli-Nummer  schreiben  die  „Siiddeutschen  Monats- 
hefte“ : „Es  ist  ein  Gebot  der  Ehrlichkeit,  daB  wir  einmal  mit 
aller  Deutlichkeit  erklaren:  Wir  sind  fiir  Tirpitz  und  gegen 
KuIturpolitik.“  Und  der  neue  Rektor  der  Technischen  Hoch- 
schule  zu  Berlin  halt  eine  feierliche  Rede,  worin  er  erklart,  die 
Frage  unseres  Verhaltnisses  zu  England  sei  „eine  reine  Macht- 
frage“,  alle  politischen  Beziehungen  zwischen  den  Volkem 
kamen  letzten  Endes  auf  „Machtfragen“  hinaus.  Zum  SchluB 
wird  die  nationale  Bedeutung  des  Alldeutschen  Verbandes  ge- 
feiert.  Was  verlangt  man  eigentlich  vom  Auslande,  wenn  es 
immer  wieder  solche  Stimmen  und  leider  so  gut  wie  gar  keine 
autoritativen  Gegenstimmen  hort?  Was  niitzen  alle  feierlichen 
Proteste  gegen  den  Vorwurf,  die  deutsche  Kultur  sei  dem  M1I1- 
tarismus  verknechtet,  wenn  representative  Zeitschriften  und 
Akademiker  derartige  Bekenntnisse  zum  nackten  Machtprinzip 
in  die  Welt  schleudem  ? Kann  man  sich  noch  wundern,  wenn 

nisse  weist  das  deutsche  Volk  auf  den  Krieg,  den  groBen  Vater  alles  Cuten  . . . 
Den  hochsten  Gewinn  der  Eroberung  von  ElsaB-Lothringen  erblicke  ich  darinv 
daB  Frankreich  sich  mit  dieser  Abtretung  nie  aussohnen  kann,  Deutschland 
also  noch  in  Jahrhunderten  auf  das  aufierste  gewappnet  sein  muB.  Und  ein 
kriegerisches  Volk  verfailt  nicht  ...  In  die  Verwirrung  auf  dieser  Kugel  kann 
nur  durch  mehr  Geschiitze  die  wilnschenswerte  Klarheit  gebracht  werden/* 

Diese  Programme  haben  im  Ausland  die  weiteste  Beachtung  gefunden. 
Man  hat  auch  die  durchaus  begreiflichen  Konsequenzen  daraus  gezogen.  Ober 
diese  Dinge  soli  das  deutsche  Volk  nach  Friedensschlufi  griindlich  aufgeklart 
werden. 


29 


Fr.  W.  Foerster  » Der 


durch  solches  Gerede  von  unserer  Seite  nun  auch  driiben  der 
Partei  der  Vemiinftigen  jeder  Kredit  genommen  und  den  Ver- 
nichtungspolitikem  das  beste  Argument  geliefert  wird?  Und 
endlich:  Wie  denken  sich  denn  nur  jene  reinen  Machtpolitiker 
den  Ausgang  in  ihrem  Sinne?  Meinen  die  jene  Professoren  und 
Journalisten,  die  niemals  einen  konkreten  Eindruck  von  den 
Mitteln  des  englischen  Weltreiches  und  von  der  Bedeutung 
dieses  Weltreiches  fiir  unsere  eigene  industrielle  Entwicklung 
bekommen  haben,  meinen  sie  wirklich,  England  konne  so  ein- 
fach  „niedergerungen“  werden?  England  kann  in  Wirklichkeit 
so  wenig  niedergerungen  werden,  wie  Deutschland,  das  weiB 
jeder,  der  iiber  diese  Dinge  nicht  vom  Schreibtische  aus  urteilt 
— ein  wirklich  konsequenter  Machtkampf  miiBte  viele  Jahre 
dauern  und  konnte  dann  nur  mit  beiderseitigem  Zusammen- 
bruch  endigen.  Es  gehort  ein  geradezu  gemeingefahrlicher 
Mangel  an  wirklicher  weltwirtschaftlicher  und  realpolitischer 
Sachkenntnis  dazu,  um  das  nicht  zu  sehen  . . . 

Wer,  wie  der  Verfasser  dieser  Darlegungen,  Gelegenheit  hatte, 
im  neutralen  Ausland  die  neuere  englische  periodische  Literatur 
in  bezug  auf  die  Frage  eines  kiinftigen  Handelskrieges  zu  ver- 
folgen,  der  weiB,  daB  eine  sehr  groBe  Anzahl  von  einfluBreichen 
Soziologen  und  Politikern  in  England  durchaus  gegen  einen 
weiteren  Wirtschaftskrieg  nach  dem  Frieden  arbeitet  — wie  sich 
nun  die  englische  offentliche  Meinung  entscheiden  wird,  das 
wird  in  hohem  Grade  davon  abhangen,  ob  in  diesen  Fragen  bei 
uns  ein  wahrhaft  weltpolitisches  Denken  oder  nur  der  kurz- 
sichtigste  mitteleuropaische  Defensivkrampf  zum  Ausdruck  ge- 
langen  wird.  Die  Entwicklung  unserer  offentlichen  Meinung 
innerhalb  der  nachsten  Wochen  wird  da  den  Ausschlag  geben. 
In  einem  Brief,  den  der  Abgeordnete  fiir  Carlysle,  der  Hon. 
R.  D.  Denman,  im  Mai  von  der  Front  in  Flandern,  woerheute 
als  Hauptmann  der  Artillerie  dient,  an  seine  Wahler  richtete, 
heiBt  es : 

„SolI  der  Krieg  zu  einer  militarischen  Entscheidung  gebracht  werden* 
dann  miissen  wir  auf  weitere  18  Monate  Krieg  und  vielleicht  noch  mehr  gefafit 
sein.  Ein  Versuch,  das  Tempo  zu  forcieren,  konnte  fiir  uns  leicht  eine  Kata- 


30 


Fr.  W.  Foerster  ♦ Der 


strophe  bedeuten.  Personlich  hoHe  ich,  dafi  Europa  vorher  zur  Vernunft 
Itommen  und  durch  weise  Staatsmannskunst  einen  dauernderen  Frieden  er- 
ringen  moge,  als  lhn  irgendein  militarischer  Erfolg  je  bringen  konnte  . . . 


Wer  nicht  durch  den  Machtrausch  um  jede  Fahigkeit  zu 
objektiver  Wiirdigung  der  Sachlage  gebracht  ist,  der  mufi  sich 
doch  sagen,  dafi  dieser  Krieg  iiberhaupt  gar  nicht  durch  mili- 
tarische  Machtmittel  wirklich  entschieden  werden  kann  — es  sei 
denn  durch  Verbluten  auf  alien  Seiten.  Das  Selbstgefuhl  aller 
an  dieser  Schlachterei  Beteiligten  ist  so  leidenschaftlich  erregt, 
dafi  jeder  Teil  buchstablich  „bis  zum  letzten  Hauche“  kampfen 
wird,  ehe  er  sich  als  ,,besiegt“  erklaren  und  sich  die  Friedens- 
bedingungen  „diktieren“  lassen  wird.  Aber  auch  rein  diplo- 
matisch  ist  dieser  Streit  nicht  zu  losen,  solange  die  Kampfenden 
1m  Ernst  bei  dem  Vorsatz  bleiben,  sich  durch  Beraubung  oder 
Demiitigung  des  Gegners  reale  ,,Garantien“  zu  sichern,  statt 
diese  „Garantien“  in  ganz  neuen  europaischen  Abmachungen 
und  Ausgleichen  zu  suchen,  die  durch  das  Grauen  vor  einer 
Wiederholung  solcher  Dinge  und  durch  jenen  ganz  neuen  Geist 
des  gegenseitigen  Entgegenkommens  geweiht  sind,  der  allein 
den  Realitaten  der  Weltwirtschaft  und  den  Kulturtraditionen 
Europas  entspncht.  Unsere  Regierung  wiirde  gegeniiber  den 
nationalistischen  Treibereien  erst  dann  wirklich  stark  werden, 
wenn  sie  den  von  dorther  kommenden  utopischen  Forderungen 
nicht  blofi  mit  ruhiger  Abweisung,  sondem  mit  festem  Bekennt- 
nis  zu  einem  konstruktiven  europaischen  Programm  entgegen- 
treten  wiirde.  In  einem  solchen  Programm  miifite  ganz  offen  die 
Uberzeugung  vertreten  werden,  dafi  der  ungeheure  europaische 
Schaden  mit  all  seinen  wirtschaftlichen,  sozialen  und  moralischen 
Folgen  nur  einigermafien  geheilt  werden  konne,  wenn  nicht  jeder 
nur  fur  sich  selbst  „Garantien"  und  Entschadigungen  fordere, 
sondem  den  guten  Willen  kundgebe,  auch  den  anderen  in  diese 
gemeinsame  Schuld  und  Not  Verwickelten  nach  besten  Kraften 
die  Wiederaufrichtung  moglich  zu  machen.  Da  heute  jedes  Volk 
zugleich  Lieferant  und  Kunde  des  anderen  ist,  so  ware  eine 
solche  Stellungnahme  auch  das  allein  Realpolitische.  Ein  solcher 
Vorschlag  zu  solidarischer  Reparation  alles  angerichteten 


Ft • W.  Foerster  ♦ Dcr  Weg 


31 


Schadens  (statt  eines  endlosen  Streites  um  die  Entschadigungen, 
die  jeder  dem  andem  auferlegen  mochte)  scheint  etwas  Utopi- 
sches  zu  sein  und  wiirde  doch  allein  imstande  sein,  den  gegen- 
seitigen  guten  Willen,  ja  iiberhaupt  die  europaische  Gesinnung 
zu  erzeugen,  ohne  die  eine  dauerhafte  Beendigung  dieser  furcht- 
baren  Entzweiung  ganz  aussichtslos  ist. 

In  der  „Neuen  Ziircher  Zeitung"  haben  neben  dem  schon 
zitierten  Aufsatze  in  den  letzten  Wochen  eine  ganze  Reihe  von 
Autoren  iibereinstimmend  die  Uberzeugung  ausgesprochen,  daB 
man  bei  der  Debatte  iiber  die  Technik  des  Friedensschlusses  die 
psychologischen  und  moralischen  Vorbedingungen  viel  zu  sehr 
aufier  acht  lasse.  So  sagt  ein  ehemaliger  Diplomat  dort  (8.  Mai 

1916): 


M...  Wer  heute  emstlich  den  Fricden  wxinscht,  dcr  mu8  sich  daher  unbe- 
dingt  dem  Rufe  anschliefien,  daB  zunachst  einmal  der  moralische  Kampf 
zwischen  den  Regierungen  und  den  Vdlkem  eingestellt  werde.  Erst  wenn 
dieser  Kampf  aufgehort  hat,  wird  allmahlich  dasjenige  MindestmaB  von  Ver- 
trauen  wiederkehren  konnen,  das  die  wahre  Mpsychologische  Vorbedingung 
des  Weltfriedens“  bildet.  Denn  man  darf  sich  keinerlei  Illusionen  hinge  ben: 
So  wie  der  Krieg  seine  Entstehung  dem  gegenseitigen  Mifitrauen  verdankt,  so 
kann  der  wahre  Friede  nur  auf  gegenseitigem  Vertrauen  beruhen.  Solange 
man  also  das  Mifitrauen  stets  wieder  von  neuem  schiirt,  ist  auch  kein  Friede 
moglich.  Man  muB  Achtung  auch  vor  dem  Gegner  und  seinen  Beweggriinden 
bekunden,  wenn  man  wieder  mit  ihm  in  Verkehr  treten  soil.  Dieses  Vertrauen, 
diese  Achtung  abcr  wird  man  niemals  gewinnen,  wenn  man  den  eigenen  An- 
ted an  der  Weltschuld  immer  wieder  zu  vertuschen  und  den  Gegner  immer 
wieder  schlecht  zu  machen  sucht.  Vertrauen  erwirbt  sich  auf  der  Welt  nur 
der,  der  auch  bereit  ist,  Selbsterkenntnis  zu  iiben  und  der  diese  moralische 
Bereitschaft  auch  praktisch  betatigt." 


Auf  die  Herstellung  einer  soichen  moralischen  Atmosphare, 
ohne  die  es  bei  einer  derartigen  Verwicklung  der  Anspruche  und 
Interessen  iiberhaupt  keinen  Frieden  geben  kann,  sind  alle  meine 
in  diesem  Kapitel  zitierten  oder  abgedruckten  AuBerungen  ge- 
richtet  gewesen  — vor  allem  auch  die  Anregung,  die  Ursachen 
der  Volkerkatastrophe  nicht  immer  nur  bei  den  andem,  sondem 
auch  einmal  in  der  eigenen  Vergangenheit  und  im  eigenen  Wesen 
und  Auftreten  zu  suchen.  Das  unerwartete  Echo,  das  jene  Be- 
trachtungen  gefunden  haben,  laBt  mich  hoffen,  daB  ich  nicht 


32 


Fr.  W.  Foerster  » Der  Weg 


allein  stehe,  sondem  einer  bereits  weit  im  deutschen  Volke  ver- 
breiteten  Auffassung  Ausdruck  verliehen  habe.  Es  wird  aber 
Zeit,  daB  es  nicht  bei  brieflichen  Zustimmungen  bleibt,  wir 
brauchen  dringend  offene  Bekenntnisse ! Vor  einigen  Monaten 
ist  unter  dem  Titel  ..Deutsche  Kultur“  von  acht  Edinburger 
Professoren  ein  Sammelband  herausgegeben  worden,  worin  zur 
Bekampfung  tendenzidser  Verunglimpfungen  die  groBe  Kultur- 
leistung  Deutschlands  (und  gerade  auch  des  modemsten  Deutsch- 
lands !)  ans  Licht  gerlickt  wird.  Leider  hat  man  nichts  von  einer 
deutschen  Gegengabe  gehort.  Sollte  es  wirklich  immer  noch 
nicht  Zeit  sein,  daB  die  Trager  der  geistigen  und  religiosen 
Kultur  in  alien  kriegfiihrenden  Landem  endlich  mit  einer 
ruhigeren  und  nobleren  Schatzung  des  Gegners  und  mit  ernster 
nationaler  Selbstkritik  pffentlich  und  nachdriicklich  den  Anfang 
machen?  Das  wiirde  auch  fur  die  Bewahrung  und  Vertiefung 
der  moralischen  Kultur  innerhalb  des  eigenen  Volkes  von  segens- 
reichster  Bedeutung  werden.  Dasjenige  Volk,  das  in  diesem 
Riesenkampf  bis  zuletzt  verblendet  an  der  Machtidee  festhalten 
und  nur  von  ihr  erfullt  bleiben  wird,  das  wird  damit  auch  in  alle 
seine  inneren  Interessenkampfe  die  groben  und  kurzsichtigen 
Instinkte  eines  gewalttatigen  und  unvertraglichen  Egoismus  hin- 
emtragen  und  daran  schliefilich  zugrunde  gehen.  Dasjenige  Volk 
aber,  das  durch  die  erschtitternden  Erfahrungen  des  Krieges 
dazu  gefiihrt  werden  wird,  in  der  Idee  des  Rechtes,  des  Ver- 
standigungswillens,  die  einzig  gesunde  Weltpohtik  zu  erkennen 
— dieses  Volk  wird  aus  solcher  sittlichen  Erhebung  auch  die 
segensreichsten  Folgen  fiir  alle  seine  sozialen  und  wirtschaft- 
lichen  Konflikte  und  Probleme  gewinnen  und  dadurch  die 
Wunden  des  Krieges  tausendfach  an  sich  selbst  und  an  den 


anderen  wieder  gutmachen. 

Zweifellos  wird  durch  das  Weltgericht  dieses  Krieges  der 
blofie  Egoismus  als  „Staats raison"  gerade  dort  am  furchtbarsten 
ad  absurdum  gefiihrt,  wo  man  sein  Recht  bisher  am  zaghaftesten 
bestritten  hat  — namlich  in  den  Beziehungen  der  Volker.  Und 
diesem  Bankerott  gegeniiber  bedeutet  die  Botschaft  des  ,,fodera- 


Fr.  W.  Foerstcr  ♦ Der  W eg  33 

nicht  blofi  von  ihren  eigenen  Interessen  und  Rechten  erfiillen 
lafit  — das  ist  Anarchie  mit  unberechenbarem  Ausgang  — , son- 
dern  vor  allem  von  dem  Streben  nach  sittlicher  und  vemiinftiger 
Zusammenordnung  der  streitenden  Anspriiche,  nacb  dem  Im~ 
perium  der  Rechtsidee:  Weil  jeder  dieser  gewaltigen  und  von- 
einander  so  vielfaltig  abhangigen  Interessenkreise  nur  noch  im 
Reiche  der  justitia  und  der  aequitas  zu  seiner  gesicherten  Ent- 
faltung  kommen  kann.  Wie  dies  praktisch  ins  Leben  treten  soil, 
das  erfahrt  man  nicht  bei  den  Juristen,  sondern  in  der  Heiligen 
Schrift.  Abrahams  Worte  zu  Lot:  „Gehst  du  zur  Rechten,  so 
will  ich  zur  Linken  gehen“,  sind  die  erhabene  Ouvertiire  aller 
Kultur  und  aller  „menschlichen‘‘  Weltpolitik.  Heute  heiBt  es: 
Gehst  du  zur  Linken,  so  gehe  auch  ich  zur  Linken,  und  dann 
schlagen  wir  so  lange  aufeinander  los,  bis  zum  Schlusse  nur 
noch  zwei  groBe  Blutlachen  da  sind!  Dies  ist  die  Quintessenz 
der  politischen  Weisheit  des  Alldeutschen  Verbandes  — und  das 
Gegenteil  von  alien  deutschen  Gaben  und  Traditionen.  Die 
neue  deutsche  Jugend  wird  nicht  zweifeln,  welchen  Weg  sie  nach 
diesem  Kriege  zu  wahlen  hat! 


y"v'vv 


34 


Albert  Ehrenstcin  ♦ Dialog 


$(beri  Ghrensiein : 

DIALOG 

DICHTER 

Mein  Herz,  du  bist  zu  weltenwarm, 
zu  zitternd  jedem  Wind, 
der  irgend  einem  armen  Menschenarm 
Erstarren,  Lahmung  sinnt. 

Ich  bin  nicht  Gott,  ein  Dichter, 
und  schiittle  mein  Haupt. 

Alt  bist  du,  o Konigin. 

So  hat  Schonheit  keinen  Sinn? 

KONIGIN 

Wohl,  ich  war  das  Weib:  der  Zukunft  Gasse. 

Korper  dorren.  Verse  sterben, 
schwinden  hin  zu  neuen  Erben. 

Was  ist  Form  und  was  ist  Masse? 

BEIDE 

Blutsaulen,  Heersaulen  unverdrossen  vorwartseilen, 
rasch  zu  verrinnen  unterm  Gewolbe  der  Nacht. 
Blutumflossen  geboren, 
als  Leichen  in  Siimpfe  gefroren, 

mit  erhobenen  Handen  im  Winde  schwankend  wie  Schilf, 
wo  kein  „Hilf!“  hilft, 
schallt  keiner  Frage  Antwort. 

Sinnlos  Erstandene,  sinnloser  Zerriebene! 

0 Blut  auf  dem  Kreuzholz  der  Wiege  und  Bahre, 

wem  gehort  die  vorbeigetriebene, 

wozu  die  geschlachtete  Herde  der  Jahre? 


Hans  Gaihmann  ♦ Die  Niederlage 


35 


Sffans  Qatfimann : 

DIE  NIEDERLAGE 

EINE  ERZAHLUNG 

L S war  die  Zeit,  wo  die  Gasflammen  in  den  Restaurants  auf- 
* — 4 strahlen  und  Licht  aus  Spiegeln  und  Kristall  bricht.  Wo  der 
Schritt  der  heimkehrenden  Mutter  eiliger  wird.  Wo  das  junge 
verlangende  Leben  kiihner  ausschreitet  und  der  Himmel  dunkel 
iiber  aufzuckende  Bogenlampen  und  breite  Hauser  stiirzt.  Wo 
die  Augen  der  Hunde  anfangen  zu  funkeln,  und  Elend  im  Glanz 
der  Strassen  ertrinkt. 

Da  ging  ein  zwanzigjahriger  Junge  gedriickt  und  scheu  an 
den  Mauern  der  strahlenden  Hauser  entlang.  Sein  Herz  suchte 
nach  den  kleinen  Freuden  der  Vergangenheit,  und  die  Heimat 
strich  mit  Aehrenfeldern  und  ragenden  Waldern  wie  ein  Violipen- 
lied,  von  seiner  zarten  Schwester  gespielt,  durch  seinen  Sinn. 

Doch  larmend,  gewalttatig,  ungeheuer  brach  die  Gegenwart 
iiber  seine  Sanftmut.  Vorgesetzte  schrien  ihm  taglich  die  Luge 
ihres  Wesens  ins  Gesicht.  Kameraden  uberwaltigten  ihn  mit  ihrer 
zudringlichen  Gemeinheit.  Die  Musik,  die schmetternd  vor  ihnen 
herzog  und  iiber  so  viel  Herzensnote  den  Himmel  ihrer  frohen 
Klange  hangte,  zermiirbte  ihn.  Und  immer,  immer  wieder 
krampfte  sich  sein  Herz : Was  ist  das  Ziel  ? Was  ist  das  Ende—  ? 
Und  reckte  er  sich  auf,  durchgliiht  von  inniger  Liebe,  und  froh- 
locktees  in  ihm : Das  Ziel  ist  Sieg ! ist  Sieg ! — er  wusste  schmerz- 
lich,  im  nachsten  Augenblick  wiirde  ihn  ein  Wort,  ein  Wort,  das 
eine  Schlechtigkeit  ware,  wie  ein  Keulenschlag  niederstrecken, 
daBer  sich  hatte  hinwerfen  mogen,  das  Gesicht  auf  die  Erde, 
nichts  mehr  sehen,  nichts  mehr  horen  und  tun,  nur  sich  verzwei- 
feln  lassen.  War  so  sein  Versuch,  Fuss  zu  fassen  in  der  harten  Ge- 


36 


Hans  Gathmann  ♦ Die  Niederlage 


genwart,  gescheitert,  so  begann  in  ihm,  ohneseinen  Willen.lok- 
kend  und  siiB,  schwellend  und  iiberwaltigend,  die  Musik  der  Ver- 
gangenheit  und  hieB  ihn,  weiter  dasLeben  zutragen.  Zwischen 
schonem  Vergangenen  und  der  Pflicht  des  Tages  lebend,  die  ihn 
unerbitthch  zum  Dienst,  zum  Gehorsam,  zur  Kameradschaft- 
lichkeit  zwang,  fiihlte  er  immer  deutlicher,  wie  er  sich  verlor. 

Es  war  nichts  Wirkliches  mehr  in  ihm.  Alles  schien  ihm 
Traum.  Sein  Willen  war  gebeugt,  seine  Liebe,  die  er  in  alien 
lebendig  glaubte  und  gleich  groS  und  heilig,  ward  beschmutzt. 
Sein  Wesen,  das  fiihlte  er,  sollte  ausgeldscht,  sollte  in  eine  Form 
geprefit  werden,  er  sollte  zu  einer  Liige  gemacht  werden,  die 
vor  anderen  Menschen  prachtig  glanzte. 

„Ich  liebe  mein  Vaterland“  sagte  er  zu  sich,  „ich  bin  be- 
reit,  fiir  mein  Vaterland  zu  sterben.  So  muB  ich  das  alles  wohl 
ertragen“.  Aber  es  lieB  und  litt  ihn  nicht  in  dieser  stillen  Er- 
gebung.  , .Dieses  Leben“,  griibelteer,  ,,istdarauf  berechnet,  uns 
selbstaus  dem  BewuBtsein  zu  bringen.  Und  ich  will  mit  Bewufit- 
sein  lieben,  mit  BewuBtsein  sterben,  im  BewuBtsein  alles  dessen, 
was  in  der  Vergangenheit  schon  war,  und  weshalb  ich  das  Leben 
liebte.  Und  ich  will  mich  rein  halten,  rein  wie  ich  war,  und 
will  wissen  von  meiner  Schuld,  wissend  unter  ihr  leiden,  aber 
stark  sie  tragen  und . . siihnen.“  Wille  brach  in  ihm  auf,  wahr- 
haft  zu  sein,  fern  allem  Taumel,  aller  Massenbegeisterung. 

,,Die  Pflicht  driickt  mir  einen  Sabel  in  die  Hand.  Gut.  Ich 
schwinge  ihn.  Aber.  . ich  liebe.  . Feuerschliinde  schleudem 
Eisenhagel  auf  Menschenbriider  . . . Mein  Finger  wird  den 
Hahn  eines  Gewehres  losen,  und  ein  pochendes  Menschenherz 
wird  stocken  und  stille  werden  . . aber  ich  liebe  . . Ich  tote 
Leben.  . ich  tote  meinen  Bruder.  .aber  ich  liebe?.  . JalUnd  ich 
weiB,  dafi  diese  Liebe  nicht  sterben  darf,  daB  ich  mir,  daB  du 
dir,  Kamerad,  diese  Giebe  bewabren  muBt,  daB  du  weinen  muBt 
mit  mir  liber  den  gewollten  Tod  des  feindlichen  Bruders,  wenn 
die  Zukunft  milder  werden  soil  fiir  die  Menschen  und  Volker, 
und  sich  der  Dom  der  Liebe  mit  der  himmlischen  Kuppel  des 
Brudertums  herrlich  liber  die  zerrissenen  Lande  wolben  soil.  . 
Ich  liebe. 


Hans  Gathmann  • Die  Niederlage 


37 


Ich  bin  ein  Kind  der  Zeit.  . ich  liebe  die  Vergangenheit . . 
baue  ich  an  der  Zukunft,  indem  ich  tote,  vernichte,  was  ich 
liebe.  . ? Ichweine  iiber  den  getroffenen  Bruder  und  iiber  mich, 
dafi  ich  ihn  treffen  mufite.  .Und,  aus  diesen  Tranen,  Kamerad, 
begreifst  du  es  nicht,  aus  diesen  Tranen  bricht  die  Saat  der  Zu- 
kunft : ich  liebe . . und  ich  tote  nicht  mehr . . Ihr  entweiht  meme 
Liebe  durch  die  Blutgier  eurer  entfesselten  Herzen!  Die  knal- 
lende  Musik,  zu  der  eure  Tritte  wuchten,  macht  euch  erstarken . . 

Aber  ich  hore  das  Lied  meiner  Schwester  durch  den  Abend 
gehen  und  sehe  die  Mutter  alle,  die  vor  den  Kreuzen  knien 
und  sanft  iiberschwemmt  sind  von  Glaube  und  Hoffnung.  . 

Ihr  Schwerter  der  Gegenwart.  .schaffet  die  Zukunft  milde! 

Die  Zerrissenheit  seiner  Seele  triibte  das  Schauen  seiner 
Augen.  Er  ging  versunken,  bis  in  den  Kreis  seines  Blickes  etwas 
trat,  was  ihn  den  kampfenden  Gedanken  entnB. 

Hart  blieber  vor  einem  Laden  stehen,  in  dem,  lichtiiberstrahlt, 
weifies,  appetitliches  Backwerk  lag.  Er  trat  liber  die  Schwelle, 
er  wuBte  selbst  nicht  warum,  und  kaufte  sich  — die  junge  Ver- 
kauferin  lachelte  in  seine  Schwermut  — zwei  Lebkuchenmanner, 
von  denen  jeder  ein  groBes,  papiernes  Herz  auf  seinem  braunen 
Leibe  trug.  Wahrend  das  blonde  Fraulein  das  Geld  wechselte, 
fiel  ihm  ein,  warum  er  iiberhaupt  hier  eingetreten  war. 

Daheim  war  Kirchmefi.  Auf  einem  freien  Platze  drehte  sich 
hurtig  ein  Karussel,  Kinder  schwirrten  bunt  durcheinander, 
Buden  zum  Wiirfeln,  Schiefien,  Buden  mit  EBbarem  und  Lecke- 
reien  waren  aufgestellt.  Und  in  diesen  gab  es  genau  solche  Leb- 
kuchenmanner mit  bunten  Papierherzen.  Er  erinnerte  sich  der 
alten  Frau,  die  sie  feil  hielt  und  mit  zitternden  Handen  den 
Kindern  reichte.  Wie  oft  waren  seine  begehrlichen  Blicke  iiber 
ihren  beladenen  Tisch  gestrichen ! 

Und  er  sah  auch  wieder  den  alten  Schimmel,  der  den  ganzen 
langen  Tag  im  Kreise  ging  und  das  Karussel  drehte  und  mit  den 
grossen  guten  Augen  blinzelte.  Die  Freudigkeit  lauter  Kinder 
fuhr  neben  ihm  auf  hoIzernenPferdchen,  in  weichen  Schlitten . . 
glitzernde  Ketten,  Flitterglanz  und  Lampions  schwebten  heiter 
iiber  der  Freude.  Oft  griff  eine  Madchenhand  zage  nach  des 


38 


Hans  Gathmann  ♦ Die  Niederlagc 


Schimmels  Kopf,  oder  ein  blonder  Junge  streichelte  ihn  wahrend 
des  Fahrens. 

Er  wuBte  wieder:  wie  abends  die  Lampions,  die  bunten 
lieblichen  Wunder  fiir  die  Kinder,  rot  und  griin  aufgliihten, 
der  Flitter  glimmerte  und  gleiBte,  und  die  Orgel  mutiger 
brauste,  Miitter  standen  und  sahen  zu.  Vater  drohten  Uber- 
miitigen.  Der  weiBe  Schimmel  ging  im  Kreise,  und  sein  Fell 
war  wie  Seide  unter  dem  Glanz.  Der  Schimmel  wurde  nicht 
miide,  die  Freude  wurde  nicht  miide,  die  Freude  flammte  auf 
wie  die  Lampions  und  strahlte  rot  und  griin.  — Und  dann  das 
Feuerwerk:  Raketen  stiegen,  Leuchtkugeln  schwirrten  in  den 
sternblauen  Himmel. 

Doch  wie  er  sich  den  Platz  vorstellte,  im  Hintergrunde  den 
dunklen  Wald,  der  oft  unter  den  fallenden  Kugeln  in  weiBe 
Helle  getaucht  war,  sah  er  — wieder  stieg  eine  Leuchtkugel 
und  blendete  fallend  — : den  Feind..  Dichte  Kolonnen..  Offi- 
ziere  sprangen  von  erschopften  Pferden..  Gewehrfeuer  durch- 
schlug  die  Stille..  Wieder  wuchtete  Dunkel  weit  und  angstvoll.. 
Wieder  ein  greller  Flammenblitz..  Fern  grollten  Kanonen.. 
Fern  liefen  Bataillone  Sturm..  Fern  war  Bajonettangriff  und 
Nahmord..  maB  sich  Manneskraft  mit  Manneskraft..  urn- 
schlangen  sich  Leiber,  ringend,  und  fielen..  Wieder  stiegen 
Leuchtkugeln..  Naher  kam  die  Wut  der  Geschiitze.. 

Da  schreckte  ihn  die  Stimme  des  Frauleins  auf.  ,,Stimmts  ?“ 
fragte  sie  leise,  auf  das  schon  langst  abgezahlte  Geld  deutend. 
Er  zwang  seine  abwesenden  Blicke,  zuriickzukehren  und  auf 
dem  blanken,  flachen  Teller  vor  ihm  zu  ruhen. 

Dann  ging  er,  die  beiden  sorgsam  eingepackten  Lebkuchen- 
manner  in  der  Hand,  auf  die  tosende  Strasse  zuriick. 

Die  Menschen  schwammen  vor  seinem  Blick  wie  in  einem 
Nebel.  Signale  der  Fahrzeuge  trafen  ihn  hart.  Er  rifi  sich 
plotzlich  zusammen.  Schleuderte  seine  Hand  an  die  Miitze. 
Ein  Offizier.  Sein  Korper  zuckte  in  einem  Ruck  aus  seiner 
schlaffen  Haltung  straff  auf..  und  tneb  welter  in  dem  Strom 
der  Passanten. 

Mechanisch  zog  er  die  Uhr.  Wahrscheinlich  kam  jetzt  da- 


Hans  Gaihmann  ♦ Die  Niederlage 


39 


heim  der  Vater  aus  dem  Geschaft.  Die  Schwester  fiel  ihm  um 
den  Hals  und  er  brummte  etwas  Zartliches.  Dann  saBen  sie 
am  Tisch.  Er  spiirte,  wie  sie  am  Essen  wiirgten.  Dann  spielte 
die  Schwester. 

Sie  spielte,  daB  alle  engen  Raume  versanken  und  in  schim- 
memden  Weiten  sich  die  begliickte  Seele  erging..  daB  Feier- 
tag  wurde..  daB  alles  Triibe  tief  versank..  Wiesen,  von  bunten 
Schmetterlingen  suchend  iiberflattert,  dehnten  sich  an  den 
ruhigen  Weiden  eines  FluBes.  In  den  Biischen  lag  Sonnen- 
gold.  Friedliche  Ruhe  stieg  aus  den  kleinen  Hiitten.  Kinder 
spielten  im  Sand  und  Kiihe  trabten  gemachlich  zur  saftigen 

Weide. 

Wie  konnte  sie  jubeln!  Freudig  sprangen  blaue  Hiigel  aus 
fallendem  Nebel.  Das  Leben  sanfter  Dorfer  an  stillen  Hangen 
ward  wach.  Ein  Saer  schritt  hinter  rastlosen  Stieren.  Eine 
Lerche,  eine  Lerche  flog  jauchzende  Bahnen  und  ein  Kinder- 
herz  traumte  ihr  wunderbar  nach..  Knospen  brachen  auf  an 
stammigen  Rosenstocken,  Fenster  offneten  sich  und  helle  Ge- 
sichter  tauchten  sich  in  die  Wonne  des  Tages.. 

Ja,  die  Schwester!  Wie  er  sie  liebte.  Oft  trieb  es  ihn,  wenn 
sie  spielte,  aufzustehen  und  sanft  iiber  ihre  weichen  Haare  zu 
streichen.  Innig,  dankbar..  Und  sie  jubelte  ihre  tiefste  Freude 
aus,  daB  alle  mit  tieferem  Glanz  in  den  Augen  sich  ansahen 
und  ein  unerklarliches  Wohlgefiihl,  das  bereit  ist  zu  weinen, 
bereit  ist  zu  frohlocken  und  nicht  weifi  warum,  ihre  Herzen 
umschlang..  Die  Schwester.. 

Plotzlich  stieg  ein  feiner  Geruch  in  seine  Nase,  deren  Fliigel 
sich  dehnten.  Behende  trat  vor  sein  Auge  das  Bild  wirren, 
lieblichen  Kraushaares  iiber  einer  zarten  Madchenstirn. 

„Nahe  an  mir  sind  weiche  Madchenhaare  vorbeigestrichen“, 
dachte  er  und  kehrte  um,  um  unter  den  eilenden  Menschen 
das  Geschopf  zu  finden,  dessen  Haargeruch  ihn  beunruhigte. 
Wahrend  er  spahte  und  schneller  schritt,  jagten  sich  Vorstel- 
lungen  in  seinem  Hirn  und,  umschwebt  noch  von  dem  liebli- 
chen Geruch  der  Haare,  presste  er  seine  Gedanken  in  halb- 
laute  Worte  und  murmelte: 


23  VoL  IH/2 


40 


Hans  Gathmann  ♦ Die  Niederlage 


„Wie  plotzlich  wacht  langst  Vergessenes  auf,  Kindheitstage 
sind  wieder  da.  Das  Spiel  in  einem  Garten.  Die  Jagd  hinter 
der  gelenkigen  Katze. 

Sonne  bricht  durch  bunte  Flurfenster  und  tanzt  auf  ge- 
scheuerten  Fliesen  mit  den  gepeitschten  Kreiseln.  Und  tanzte 
auf  deinem  Haar,  Schwester,  in  dem  ich  oft  mein  Gesicht  ver- 
grub..  dessen  feinen  Duft  ich  jetzt  wieder  roch..“ 

Da  erspahte  er  sie. 

In  schwebender  Anmut  schritt  sie  vor  ihm  durch  die  Flut 
des  Lichtes.  Sie  musste  es  sein.  Zart  floB  Seide  um  ihre  zarten 
Schultern.  Der  Gang  ihrer  FiiBe  wurde  zum  Tanz  vor  semen 
brennenden  Augen.  Mit  einem  Schritt  war  er  ihr  nahe. 

,,Miide  vom  Spiel,  ach  wie  oft  faBten  wir  uns  an  den  Han- 
den.  Setzten  uns  auf  die  Treppe  nahe  den  unersteiglichen 
Fenstern,  die  auf  die  Geheimnisse  dunkler  Hofe  niederblickten. 
Du  konntest  Marchen  erzahlen,  Schwester,  Marchen,  so  bunt 
wie  dein  Herz.“ 

Er  roch  ihre  Haare,  so  nahe  war  er  ihr.  Ihr  Gesicht,  das 
sie  einmal  kurz  umwandte,  erweckte  in  ihm  jenen  siiBen,  bang- 
lichen  Schauer,  wie  er  ihn  als  Kind  beim  Eintritt  in  hohe 
Kirchen  gespurt.  Seine  Brust  wogte,  in  seinen  Ohren  brauste 
ungestiim  das  Meer  seines  Blutes.  Er  biickte  sich  einmal  1m 
Gedrange,  sein  Gesicht  riihrte  schauernd  die  kiihle  Seide,  die 
eng  die  Zartheit  ihrer  Hiiften  umspannte.  Dann  schritt  er 
unentwegt  neben  ihr,  seltsam  begliickt. 

,,Nun  habe  ich  dich  wieder“,  dachte  er,  ,,Sinn  meines 
Wesens,  du  tiefe,  tiefe  Friedlichkeit,  nun  bist  du  wieder  da. 
Wie  ruhig  bin  ich  geworden  im  GleichmaB  deiner  Schritte, 
Madchen,  wie  ruhig  schreite  ich  neben  der  geruhigen  Ge~ 
sammeltheit  deines  sicheren  Wesens.  Wie  fern  ist  mir  die 
Angst  des  weiten  Kasernenhofes.  Was  ich  entbehrte,  kostlich 
besitzt  es  dein  traumendes  Dasem.  Du  bhckst  mcht  rechts, 
mcht  links.  Du  gehst..  und  grofi  ist  dein  Ziel  vor  meinen 
Augen.  Wie  schreite  ich  neben  dir,  von  dir  getragen  fast,  wie 
wachse  ich  in  dir.,  und  welche  Gemeinschaft  birgt  der  Schlag 
unserer  gleichen  Herzen. .“ 


Hans  Gathmann  * Die  Niederlage 


41 


Hitze  iiberflog  seinen  Korper.  Er  fiihlte  sich  miide,  da  er 
einen  Ruheplatz  auf  seiner  Flucht  gefunden.  Der  Atem  der 
Heimatstube  umschwebte  ihn.  Und,  ihr  ganz  nahe,  legte  er 
wahrend  des  Schreitens  seinen  Arm  leise  um  ihre  Schulter. 
Fliisterte,  oder  wollte  fliistern  — aber  es  erstarb  auf  seinen 
trockenen  Lippen  — : Schwester.. 

Ein  Augenblick  wahrte  die  Seligkeit.  — Der  nachste  tat 
ihm  weh. 

Fremde  wurden  aufmerksam.  Das  Madchen  rifi  sich  in  der 
Sekunde,  in  der  es  beriihrt  wurde,  mit  einem  leisen  Aufschrei 
von  ihm  los.  Ihre  Augen  redeten  Verachtung,  ihr  glattes  Ge- 
sicht  zog  sich  in  weinerliche  Falten.  Uber  den  jungen  Soldaten 
kam  plotzlich  das  Gefiihl  einer  bitteren  Ausgestofienheit  und 
Fremdheit.  Er  horte  Worte..  wie  von  fern.,  aufgeregte  Worte 
iiber  sich..  iiber  sein  Tun.,  das  niemand  verstand.. 

Ein  Schutzmann  fafite  derb  seinen  Arm,  als  es  aussahr,  als 
wollte  er  nochmals  auf  das  Madchen  eindringen.  Er  liefi  sich 
fiihren,  die  Augen  seines  riickwarts  gewandten  Gesichts  hingen 
hell  iiber  dem  Madchen. 

Fortgerissen  sah  er  plotzlich  gestaute  Menschen  sich  mahlich 
verlaufen ; nur  ein  dicker  Herr  redete  merkwiirdig  eifrig  auf 
das  betroffene  Madchen  ein. 

Hart  wandte  er  sich  ab.  Schlofi  die  Augen.  Dann,  wie  er- 
wacht,  unbefangen  um  sich  blickend,  ging  er  aufrecht  durch 
den  lauten  Abend,  ein  ungewohnliches,  tiefes  Lacheln  um 
seinen  Mund. 


n{ene  Scfickefe : 

GEBETE 

On  den  fjafiriausenden  fiaben 
die  OKenfcfien  gebetei : fei  fiiff,  dewaft, 
aff  die  Oferzen  und  die  Ofdnde,  die  ficfi  gaben, 
fie  begruben  die  dewaft. 

Oft  der  OCamp  f um  date  zwifchen 
dir  und  mir 

vor  den  fietien,  vor  den  H ifcfien , 

ORenfcfientier, 

nicfit  urfcfiwer  und  voffer  drauen 
und  der  Zorn  des  oftofzen  vor  dem  Gauen 
und  die  cfcbmacb  des  cfcHwacben  und  die  Hot 
armer  Sftrmen,  Hod  im  Oeucfiten, 

Hod  im  Ofeffien,  und  das  eWeifi  und  Hot 
einer  Giebe  nocb  im  OCronenfeucfiten 
fpiegefnder  cfafone,  ift  nicfit  jeder  cfcfifag 
unfrer  Oferzen  alfer:  OCdmpfe,  ofiege, 

Qjldrfcfie,  di) unden,  ffluf-  und  Hiederfliege, 

Quafen,  Tieber,  flubef,  beff  und  dunfcfer  Hag  ? 

Ofeifge  Hi  ere,  wie  erjcfi eint  i fir  grofi  und  gut 
traumfiafi  wandefnd  durcfi  den  ffebef  ORenfcfienbfut ! 


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? \ n 


Rene  Schickde  ♦ Gebete 


43 


HYMNE  AN  MITRA  UND  VARONNA,  BESCHUTZER 

DER  HEILIGEN  DICHTER 

(NACH  DER  ATHARVA-VEDA) 

Lachelnde  Meister  der  heiligen  Regeln, 

Alle  meine  Sinne 
Beten  euch  an. 

Kluge  Cotter, 

Die  ihr  die  Ungeweihten 
Weit  von  euch  entfernt, 

Ihr,  die  ihr  Satyavan  beschtitztet 
In  den  Schlachten. 

Erloset  uns  von  a Hem  Ubel. 

Kluge  Gotten 
Die  ihr  die  Ungeweihten 
Weit  von  euch  entfernt 
Und  Satyavan  beschiitztet 
In  den  Schlachten, 

Die  ihr  die  Menschen  anfiihrt 
So  wie  Indra  seine  Rosse 
Zu  dem  Flammenopfer, 

Das  er  selber  sich  bereitet, 

Erloset  uns  von  allem  Ubel. 

Gotter,  deren  Wagen 

Uber  die  sichere  StraBe  fliegt 

Und  mit  immer  straffen  Ziigeln, 

Die  ihr  die  traurigen  Kampfer 
Doch  zum  letzten  Ziel  entfiihrt, 

Hort,  euch  ruf  ich, 

Mitra  und  Varonna, 

Euch  werf  ich  mich  zu  FiiBen : 

Erloset  uns  von  allem  Ubel! 


DER  UNBEFLECKTE 

(EURIPIDES,  HIPPOLYTOS) 

Schonste  unter  alien  Jungfrauen, 
die  den  Olymp  bewohnen, 

Geliebte,  Artemis! 

hier  diesen  Kranz 

hab  ich  gepfliickt 

auf  einer  unberiihrten  Wiese, 

kein  Huf  hat  sie  gestreift, 

es  wagte  nie  ein  Hirt, 

die  Herde  herzutreiben, 

allein  die  Friihlingsbiene 

kommt  hierher, 

und  die  Scham  befruchtet  sie 

mit  ihrem  Tau. 

Der  allein, 

der  von  der  Natur 

alle  Dinge  gleicherweise  lernte, 

darf  diese  Blumen  pfliicken, 

den  Schlechten  ist  es  nicht  erlaubt. 

Siifie  Geliebte, 

empfang  von  meiner  frommen  Hand 

die  Krone  auf  dein  goldnes  Haar! 

Ich,  ja  ich 

darf  sie  dir  reichen: 

ich  begleite  dich,  ich  spreche  mit  dir, 

ich  hore  deine  Stimme, 

obwohl  ich  deine  Ztige  nicht  erkenne, 

und  ich  werde  mein  Leben  beenden, 

so  einfach,  wie  ich  es  begann. 


Rene  Schickele  ♦ Gebete 


45 


GELOBT ! 

(HEIL.  AUGUSTIN) 

Gelobt  sei  Gott,  unser  Herr 
mit  aller  Kreatur, 

vor  allem  mit  unserm  Bruder  Sonne: 
schon  ist  er  und  iiberflieCt  von  Glanz, 
er  ist  dein  Zeichen,  Herr. 

Gelobt  sei  der  Herr 

fur  unsere  Schwester  Mond  und  die  Sterne. 
Du  hast  sie  hell  und  schon  gemacht. 

Gelobt  sei  der  Herr 

fiir  unsern  Bruder  Wind, 

fiir  die  Luft  voll  Wolken  und  Licht 

und  alle  Jahreszeiten, 

in  denen  die  Kreatur  gedeiht. 

Gelobt  sei  der  Herr 
fiir  unsre  Schwester  Wasser: 
niitzlich  ist  sie  und  bescheiden, 
kostbar  und  rein. 

Gelobt  sei  der  Herr 
fiir  unsern  Bruder  Feuer. 

Er  ist  schon  und  angenehm,  voll  Kraft, 
rasch,  und  er  leuchtet  in  den  Finsternissen. 

Gelobt  sei  der  Herr 
fur  unsre  Mutter  Erde, 
die  uns  nahrt  und  tragt. 

Sie  schenkt  uns  die  Friichte,  die  Graser 
und  die  farbigen  Blumen. 

Gelobt  sei  der  Herr 
fiir  unsere  Schwester  Tod, 
in  deren  Umarmung 
der  irdische  Leib  vergeht. 

Ihre  Augen  fiihren  in  den  Himmel. 


46 


Rene  Schtckele  ♦ Gebete 


GLORIOSA 

(XIII.  Jahrh .) 

Gegriifit,  ruhmvolle  Jungfrau, 
du  himmlischer  Stem 
und  Tau  der  Erde, 
gegriifit  deine  perlenreine, 
sonneniiberstrahlende 

frdhliche  Jungfrauschaft ! 

O ewiger  Frieden. 

0 Hoffnung  aller  Schuldigen, 

O Ruhm  der  Erlosten, 

0 Ende  des  Todes  und  Lebensweg, 
das  dreifach  getiirmte 
Konigreich  der  Engel 
endet  nie  das  Lied  von  deinem  Lob. 

0 Zweig  voll  Bliiten, 

Gottes  Hand  entsprossen, 

0 Strahl  vom  wirklichen  Licht, 

0 Lebensbaum  voll  Friichte 
an  der  schimmemden  Kiiste, 
wegweisender  Blick 
im  abendlichen  Wald. 

0 Blumengarten,  dessen  Duft 
so  siifi  zu  atmen  alien  Kranken, 

0 Brunnen  der  Reinheit, 
aus  dem  Magdalena 


Rent  Schickde  * Gebete 


47 


madchenhafte  Glieder  streckt, 

Du  bist  der  wilde  Rosenbusch, 

den  Mose  in  den  Flammen  griinen  sah, 

das  wollene  FlieB, 

das  der  Tau  nicht  trocknen  lieB, 

und  das  in  Gideon  gedieh. 

O kluge  Jungfrau, 

die  der  Konig  des  Ruhms 

mit  den  schonsten  Dingen 

des  Himmels  behing, 

siiBe  Madchenmutter,  Heil  der  Welt, 

Geliebte  und  Herrin  aller  Engel, 

schenk  uns  den  ewigen  Frieden 

der  heimgekehrten  Liebe! 


48 


Rene  Schickele  • Gebete 


‘Warum  fcdwebt  der  Rapf  nicdt  auf 
grofi  auf  ‘Fefsenzedn, 
rufi  und  fie  fit  : 

,,‘TJlan  fad  den  Veto  (can 
in  feinem  Rfute  untergedn. 

‘IJlan  fad  den  Scdwan 

ein  trubes  Gicdt  im  ofturm  verwedn. 

Man  fad  das  Gamm  fled  ganz  verfieren. 

‘ Ulan  fad  die  Martyrer  vor  wifden  ‘C ieren . 

Rocd  der  Red  (can  iff  auferfanden, 
man  fad  den  cfcbwan  im  ‘Bfauen  fanden, 
es  fand  das  Gamm  zu  do  ties  ‘Fufen  din, 
die  Mdrtyrer,  fie  jubifieren  ! 

fJcb,  der  icd  affes  (cann 

in  unfers  fJferren  Cdrifi  Sinn 

und  das  dedwert  des  fHimmefs  dute : 

(debt,  dedneedtete  ! icd  werf  es  in  der  Zeiten 
Riefenfcdafen,  debt!  ejedt!  meine  fflrme  breiten 
fflrmeen  von  Sngefn  uber  eucd, 
die  foffen  euern  fherrn  und  idren  fHunden  wedren, 

O Giebe,  Giebe:  wute! 

*Der  <rPapft  fand  auf,  und  fo  if  doit  mit  eucd. 
cfein  ‘Wort  if  medr  afs  dunderttaufend  ‘Reiter  dffieb, 

<Sr,  der  das  toffe  ‘Pacd  der  ‘Wecdsfer  aus  dem  ‘Cempef  trieb, 
<Sr  fitt  an  euerm  dffafi,  (Sr  mufi  eucd  fegen  febren." 

Rer  Rapst  bfeibt  stumm.  — ‘Ifnd  dott  ? 

( Vor  dem  doden  OCreuz  verfuedt 
cfatan  idn  umfonf  mit  einem  ‘Wunder. 


Andre  Suaris  * Vber  Charles  Peguy 


49 


&ndre  Saares: 

UBER  CHARLES  PEGUY 

Andre  Saares  fiat  eine  R eiAe  von  RampAfeten gegen  ReutscR* 
[and  gescArieben  ; woza  icA  be  mermen  mdcAte:  Gin  RampAfet  ist  eme 
[RerariscAe  Gattung  wie  das  OdyU,  der  Roman,  die  ByriA.  Gine 
[RerariscAe  Gattung,  nicAt  em  ArRiscAer  Regriff.  Saaris  war  von  je 
ein  gfdubiger  Roman  e.  Gs  fief  sic6  erwarten , dafi  er  die  Getegenheii 
nicAt  versdumen  werde,  das  Romanentum  zar  wicAtigsten  Angele- 
genAeit  der  RlenscAAeR  zu  macAen  ; seine  Argument e tiberrascAen 
ebenso  wenig  toie  seine  Byrismen.  Gr  verteidigt  ein  cfystem,  das 
er  mit  grofiem  talent  in  ztoei  OaArzeAnten  aufgebaut  Rat.  Rabei 
gescAieAt  es,  daft  er  aucA  Renan  verteidigt,  and  nicAt  nar,  xoeif  Renan 
ein  RicAter  war,  and  wei[  er  iAn  nicAt  ganz  an  die  ReutscAen  aus • 
liefern  wi([  Gr  verteidigt  den  spdten  Wagner,  den  Wagner  des 
„Hlristanu  and  des  „Rarzh>a[‘ , die  er  fdr  das  Romanentum  in 
AnspracA  nhnmt.  cJysteme  zwingen  za  sofcAen  ‘Vergewaftigungen . 
Raneben  fdQt  er  es  sicA  nicAt  neAmen,  RlenscRen  zu  scRitdem.  On 
der  ReiAe  seiner  cftreitscAriften  ist  ein  RacA  fiber  CAarles  Rtguy 
erscAienen , worm  er  den  *Coten  (eben  Idfit,  wie  er  war.  [Hugo  Rail 
Aat  cfteffen  daraas  ins  ReutscAe  dbertragen.  Ra  Rdguy  eme  ganze 
Generation  geformt  Aat,  ist  es  nicAt  unwicRtig  za  wissen,  was  er 
war.  Oder  die  — nicAt  tendenzidsen,  sondem  wesentlicAen  AuszUge, 
die  [Hugo  RaU  aus  dem  RucA  gemacAt  Aat. 

I 

Er  hatte  Bauernblut  in  den  Adem.  Seine  Vater  waren  Winzer 
in  der  Beauce : er  selbst  konnte  recht  artig  reden  vom  Wein ; aber 
er  konnte  keinen  trinken.  Seine  Mutter  kam  vom  Bourbonnais; 
durch  sie  war  er  der  letzte  einer  ganzen  Generation  von  Holz- 
fallern.  Er  hat  viel  zugehauen  und  viel  Breschen  geschlagen,  aber 
nicht  mit  der  Axt,  und  er  hat  mehr  Liigen  zersplittert,  als  Geholz. 

II. 

Er  war  immer  im  Kriege.  Er  war  ein  Soldat.  Krieg  machte 
er  der  Sorbonne,  die  ihm  als  erstem  faul  erschien.  Krieg  machte 


50  A vdre  Suaris  * Ober  Charles  Peguy 


er  den  Politikern  jeder  Ordnung.  Krieg  den  Teutonikern  der 
verschiedensten  Schulen  und  Parteien;  einer  falschen  Justiz  und 
einer  verkehrten  Gleichheit;  Krieg  gleicherweise  einer  iiblen 
Finanz  und  einem  iiblen  Proletariat;  einer  todlichen  Geldwirt- 
schaft  und  einer  bekenntnislosen  Arbeit ; Krieg  den  Ubergriffen 
eines  Materialismus,  der  sich  riihmte,  das  Gluck  der  Armen  im 
Geiste  zu  sein  und  die  Sanktionierung  eines  Lebens  ohne  Herz 
und  Opfersinn.  Er  war  der  geborene  Feldprediger  der  Republik, 
sozusagen  ihr  stetes  Gewissen. 

Menschen  seines  Schlages : immer  tippelnd  und  in  Eile,  unter- 
wegs  von  friih  bis  spat,  finden  keine  Zeit,  mit  selbstgefalliger 
Miene.aber  destogeheimnisvollerihren  Schnurrbart  zu  zwirbeln. 
Sie  sind  die  unentwegbaren  Soldaten  der  Tat.  Man  triibe  uns 
das  Bild  Peguys  nicht ! Man  lasse  die  iiberschwenglichen  Hymnen 
und  den  beriihmten  Weihrauch,  der  weder  aufrichtige  Trauer 
iiber  den  Verlust,  noch  Bliitenwedel  aus  Smyrna  ist.  P^guy  war 
nicht  der  erste  Schriftsteller  der  Nation,  er  war  nicht  der  beste 
Poet  seiner  Zeit.  Aber  er  war  Peguy,  grofi  durch  seine  Nach- 
driicklichkeit,  grofi  durch  sein  Gewissen  und  grofi  durch  seinen 
Charakter.  Er  war  der  erste  unter  den  Soldaten,  die  schreiben, 
und  unter  den  Handwerkem,  die  denken.  Es  gibt  nicht  viele 
Menschen,  die  mehr  Konsequenz  zogen  aus  ihrer  Zeit,  als  er. 
Er  hatte  Schuler  und  Anhanger.  Sie  standen  zu  ihm  wie  Pfarr- 
kinder  zu  ihrem  Geistlichen.  Er  legte  ihnen  den  Text  der  Ereig- 
nisse  aus  und  zeigte  ihnen,  wohin  die  Dinge  tneben.  Er  war 
Fiihrer,  Haupt  einer  Schule  und  sein  eigener  Kanzlist.  Nicht 
zuletzt:  Er  hat  Genie  bewiesen,  und  zwar  mehr  als  einmal. 

III. 

Peguy  war  Zeit  seines  Lebens  religios.  Glaubte  er?  Oder  wie 
hat  er  geglaubt?  Und  an  was?  Unglaubigkeit  war  ihm  uner- 
traghch.  Zum  Leben  brauchte  er  einen  Glauben.  In  seinen 
Augen  war  der  Glaube  das  Fundament  der  Gerechtigkeit.  Sein 
Begriff  von  Religion  und  Kirche  hatte  nichts  mit  schmarotzen- 
den  und  noch  weniger  mit  eingefleischten  Priestem  zu  tun.  Er 
stand  sich  in  Glaubensdingen  besser  mit  Analphabeten  als  mit 


Andre  Suaris  * Vber  Charles  Piguy 


51 


Pharisaem  und  Duckmausem.  Der  grofite  und  geistigste  Katho- 
lik,  den  ich  unter  den  heutigen  kenne,  sagte  mir  eines  Tags : 
„Was  ist  das  also  mit  Peguy?  Was  will  er?  Seine  Kinder  sind 
nicht  einmal  getauft,  und  er  empfiehlt  sie  dem  Schutze  der 
heiligen  Jungfrau.  Das  ist  mir  unverstandlich.”  Peguy  war  nicht 
so  sehr  aus  Rom,  als  aus  Orleans  und  aus  Paris.  Er  hatte  etwas 
von  jenen  alten  Franzosen,  die  sich,  vor  der  Reformation  und 
dem  tridentinischen  Konzil,  den  direkten  Kontakt  mit  Gott  und 
Jesus  Christus  wahrten.  Nirgends  zeigt  sich  dieses  Wesen  deut- 
licher  als  im  Fall  der  Jeanne  d’Arc.  Sie  verweigert  den  Gehor- 
sam.  Hatte  sie  gehorcht,  so  hatte  sie  nichts  vollbracht.  Den 
einzigen  Tag,  wo  sie  ihren  Gehorsam  beweisen  sollte,  verweigerte 
sie  ihn.  Und  sie  starb  den  Feuertod,  indem  sie  sich  selbst  die 
Strafe  ihrer  Ketzerei  erteilte,  dieses  sehr  sublime  junge Madchen . 

Man  bilde  sich  nicht  ein,  Jeanne  d’Arc  sei  fur  Peguy  ein  lite- 
rarisches  Sujet.  Jeanne  d'Arc  ist  sein  Lebenswerk,  seine  Auf- 
gabe,  seine  Mission.  Er  betrachtete  sich  gesandt  und  geboren 
fur  Jeanne  d’Arc,  wie  Joinville  fur  den  heiligen  Ludwig.  Sein 
erstes  Buch,  mit  25  Jahren,  ist  eine  Jeanne  d’Arc.  Er  gestand 
mir,  dafi  er  sein  ganzes  Leben  iiber  Jeanne  d’Arc  zu  schreiben 
gedenke,  sollte  er  hundert  Jahre  alt  werden.  Zwanzig  und  selbst 
dreifiig  andere  Bande  schreckten  ihn  nicht.  Er  widmete  alles 
insgeheim  Jeanne  d'Arc.  Er  ubersetzte  alles  in  Jeanne  d’Arc, 
steigerte  es  in  eine  hohere  Real  i tat.  Jeanne  d’Arc  war  fur  P^guy 
zuletzt  das  passionierte  Frankreich  in  seiner  hochsten  Gegen- 
wart.  Der  wahre  Christ  lebt  unaufhorlich  in  der  Passion  Jesu- 
Christi.  Peguy  ward  nicht  miide  zu  leben  in  der  Passion  unserer 
lieben  streitbaren  Frau  von  Orleans. 

All  seine  anderen  Werke,  seine  Pamphlete,  Abhandlungen, 
seine  Reden  an  sich  selbst  und  iiber  sich  selbst,  sind  nur  die 
Kampfe  und  Scharmiitzel  der  heiligen  Jeanne  im  20.  Jahrhundert. 

Tief  religios,  war  er  der  geborene  Haretiker.  Die  Haresie  ist 
das  Leben  der  Religion.  Der  Glaube  ist  es,  der  die  Ketzer  macht. 
In  einer  toten  Religion  gibt  es  keine  Haretiker  mehr.  In  Wahrheit, 
Peguy  war  der  Ketzer  aller  seiner  Religionen,  nur  einer  nicht: 
Ketzer  der  sozialistischen  Doktrin ; Ketzer  der  Sorbonne;  Ketzer 


52 


Andre  Snarls  * Uber  Charles  Peguy 


der  Biicherdruckerei,  wo  ihm  soviel  Liebe  fur  schone  Bucher  und 
Lettern  in  zwei,  drei  Fallen  durch  sorglose  Parteinahme  beschmutzt 
worden  war;  sogar  Ketzer  der  Kirche,  da  er  schheBlich  ja  nach 
eigener  Fa?on  Christ  sein  konnte,  und  man  streitet  sich  noch, 
ob  dieser  grofie  Katholik  wirklich  Kathohk  war  oder  nicht. 

Er  ist  Freund  und  Patron  tiichtiger  Arbeit. 

Geboren  unter  Leuten  des  Handwerks,  bei  denen  er  viel  Zeit  ver- 
bracht  hat,  kennt  und  hebt  er  liber  alles  den  guten  Handwerker. 
Verachtet  er  den  schlechten,  der  Material  und  Werk  verdirbt. 
Wer  ohne  Uberzeugung  ist,  ist  fiir  ihn  der  schlechte  Arbeiter. 

Peguy  gebrauchte  gerne  das  Wort:  ,,Wer  kein  Gewissen  hat 
bei  seinem  Handwerk,  ist  nur  ein  Burger.  Wahrend  der  Burger, 
der  gut  macht,  was  er  anfangt,  und  der  es  immer  besser  machen 
will,  gelten  mag  als  tiichtiger  Mann.“  Da  hat  man  den  Inbegriff 
der  Moral  Frankreichs  und  des  f ranzosischen  Ideals  der  Egalite : 
sie  besteht  im  Gewissen  und  im  Talent : vollendete  Handwerker 
oder  groBe  Kiinstler,  vollendete  Soldaten  oder  groBe  Feldherrn : 
hier  sind  alle  sich  gleich  in  der  Noblesse,  mit  der  sie  leben  und 
mit  der  sie  sterben : sie  wissen,  was  sie  tun,  und  sie  wollen  gerade 
das  tun : sie  verstehen  einander,  beurteilen  einander  und  nehmen 
Urteil  an,  in  vollkommener  Freiheit,  vollkommener  Geltung,  alle 
gleich  vor  dem  Gebaude,  das  sie  bauen,  sei  es  erne  Kathedrale, 
die  Prosa  oder  das  Vaterland.  Anders  gibt  es  keine  Republik. 

IV. 

Er  hatte  die  Idee,  daB  seine  Prosa,  so  gut  sie  auch  sei,  seine 
Verse  nicht  erreiche.  Er  wagte  nicht  den  alten  Glauben  an  die 
Gattungen  und  an  eine  Hierarchie  innerhalb  der  Werke  aufzu- 
geben.  Ein  Roman  konnte  sich  seiner  Auffassung  nach  nicht 
messen  mit  einer  Epopoe,  die  Komodie  nicht  mit  den  tragischen 
Meisterwerken.  DaB  ein  Prosabuch  das  gelungenste  Drama  sein 
konnte,  hatte  er  niemals  zugestanden.  Es  ist  wohl  wahr,  dafi 
mancher  gelungene  Vers  bei  ihm  besser  ist,  als  seine  Prosa:  aber 
er  hat  sehr  viel  gute  Prosa  und  wenig  gute  Verse. 

Um  auf  den  Grund  zu  gehen,  mochte  ich  von  Peguy  wie  von 
uns  heutigen  alien  sagen,  seine  Leistung  liege  in  der  Form,  die 


Andre  Suarls  • Vber  Charles  Piguy  53 


die  Form  unserer  Zeit  ist  und  unsere  eigenste  Schopfung : nam- 
lich  weder  Prosa  noch  Vers,  sondem  beides  zugleich. 

Diese  neue  Form,  die  sich  mit  jedem  neuen  Poeten  verandert 
und  die  sich  deshalb  so  gliihend  dem  Genius  anvermahlt,  ist  die 
starkste  Schopfung  der  franzosischen  Kunst  seit  der  Prosa  des 
siebzehnten  Jahrhunderts.  In  Rousseau  und  Chateaubriand  wird 
sie  geboren.  Mit  Baudelaire  wird  sie  sich  bewuBt.  In  Flaubert 
ist  sie  schon  ein  wundersames  Ausdrucksmittel.  Rimbaud  hat 
aus  ihr  das  bisher  unerhorte  Instrument  gebaut,  jene  groBe 
klingende  Bratsche,  auf  der  er  jene  Fragmente  spielte:  heiliger 
Fieberwahn,  tapp>end  und  blind  das  Genie  erstickend. 

P6guy  ist  der  Soldat  im  Kriege,  und  jedes  seiner  Bucher  ist 
seine  Schlacht.  Seinem  Genie  in  der  Aufdroselung  und  im 
Selbstgesprach,  seiner  moralischen  Zahigkeit  und  der  Glut  seines 
Gewissens  bot  sich  als  freiester  Tummelplatz  das  Pamphlet.  Hier 
ist  er  sehr  am  Platze : seine  Bonhomie,  seine  altmeisterliche  Art 
zu  denken,  sein  priesterlicher  Schwung,  selbst  in  der  ausfallig- 
sten  Invektive,  geben  seinen  Satiren  einen  seltenen  Geschmack. 
Auch  kennzeichnet  ihn,  daB  er  Menschen  nicht  von  Ideen  trennt. 
In  der  Politik  sind  ohne  weiteres  Ideen  ohne  Vertreter  nicht 
denkbar.  Viele  Liigen  verschwinden,  wenn  man  deren  Urheber 
mit  diesem  Prinzip  einschwefelt.  P^guy  kann  sehr  hart  sein, 
wenn  er  anklagt  und  sich  emport.  Er  hat  den  groBen  Zug.  Er 
fiihrt  starke  Beweggriinde  und  machtige  Ideen  ins  Feld  gegen 
kleine  Leute.  Er  scheint  in  keinem  Verhaltnis  zu  stehen  zu 
seinen  mittelmaBigen  Gegnem.  Es  ist  ein  Zug  von  GroBe,  der 
den  Sinn  und  das  Merkmal  hat,  daB  hier  jemand  den  Knirpsen 
groBe  MaBe  anlegt.  — Man  ist  nicht  Franzose,  wenn  man  keinen 
Geist  hat.  Das  machtigste  Genie,  wenn  es  nicht  spirituell  ist,  ist 
weniger  franzosisch  als  irgendwer.  Dies  Geschenk  kommt  von 
Athen  und  Paris.  Shakespeare,  wenn  er  soviel  Witz  hat,  hat  ihn 
nur,  weil  er  ganz  lebhaft  Kelte  ist.  Eine  Seite  Montaigne  oder 
Pascal  enthalt  mehr  Geist,  als  alle  deutschen  Bucher  zusammen- 
genommen.  Conti  hat  so  viel  Geist,  daB  man  gar  nicht  mehr 
auf  sein  Genie  achtet.  Peguy  hatte  Geist : er  war  voll  einer  dorf- 
lichen  Malice. 


54 


Andre  Suaris  ♦ Vber  Charles  Peguy 


Fur  Leute,  die  Uberzeugungen  haben,  ist  zuviel  Geist  eine 
Gefahr.  Sehr  viel  Geist  haben,  heifit  iiber  den  Ideen  stehen,  und 
auch  mit  ihnen  nur  spielen.  SchlieBlich  spielt  man  auch  mit  sich 
selbst  nur.  Solcher  Art  HeiBt  Geist  haben : in  souveraner  Weise 
frei  sein.  Wer  Souveran  ist,  hat  immer  Verdacht  um  sich.  Bis 
dahin  konnte  Peguy  nicht  gehen : er  hatte  einen  Plan,  innerhalb 


des  Geistes  sogar. 


V. 


Peguy  hat  gelebt : tapfer  und  frei . Er  ist  nie  ausgewichen  vor 
den  Parteien,  nicht  einmal  vor  seiner  eigenen.  Er  hat  sich  nie 
verpflichtet  gefiihlt,  auch  seinen  Anhangem  nicht.  Die  „Cahiers“ 
hatten  immer  Hunger,  und  er  suchte  allseits  ein  Linsengericht 
fur  sie : aber  er  ist  nie,  auch  nur  einen  Finger  breit,  vom  Recht 
der  Erstgeburt  abgewichen,  vom  Rechte,  frei  zu  sein.  Je  mehr 
man  Franzose  ist,  desto  weniger  gehort  man  zu  einer  Partei.  Je 
freier  man  wird,  desto  weniger  kann  man  Theologebleiben.  Und 
in  dem  MaBe,  wie  man  franzosischer  wird,  wird  man  mensch- 
licher.  Man  gilt  dann  fur  undankbar. 

Indem  Peguy  sich  von  der  Partei  befreite,  hat  er  sich  wohl  auch 
von  der  Moral  befreit,  die  ebenfalls  eine  Partei  ist.  Man  hat  keine 
Moral  notig,  wenn  man  ganz  Gewissen  ist.  Man  hat  damit 
Fesseln  genug. 

Die  Moral  ist  ein  Aberglaube  wie  irgend  ein  anderer.  Die 
Deutschen  riihmen  sich,  die  moralischsten  Leute  zu  sein.  Aber 
nichts  ist  wichtig,  als  die  Freiheit.  Nichts  ist  rein,  als  die  innere 
Freiheit.  Nichts  ist  fruchtbar,  wie  das  Wagnis,  zu  dem  die  Frei- 
heit fiihrt.  Sich  frei  machen  ist  die  einzige  Moral.  Frei  sein  auf 
eigene  Rechnung  und  Gefahr,  voila  un  homme.  Man  ist  nicht 
frei,  wenn  man  es  nur  auf  Schaden  und  Kosten  eines  andem  ist. 
Weil  man  namlich  ein  Gewissen  hat.  Die  Deutschen,  die  mora- 
lisch  sind  und  kein  Gewissen  haben,  konnen  die  wahre  Freiheit 
nicht  einmal  verstehen.  Die  hochste  Freiheit  besteht  darin,  daB 
man  sich  opfert,  und  zwar  einer  wahrhaft  groBen  Sache,  die  man 
jedem  Interesse  vorzieht.  Es  gibt  keine  Freiheit,  die  hoher  steht, 
als  die  Freiheit  der  Heroen  und  der  Heiligen,  es  sei  denn  die 
Freiheit  des  Kiinstlers. 


Alfred  H.  Fried  ♦ Die  Cholera 


55 


F2>ffred  Of.  Fried: 

DIE  CHOLERA 


*Der  folgende  imagmdre  Worirag  isf  der  im  (flossenteif  ange * 
zeigien  ‘Brofcfifire  $ If  red  ZK.  Frieds  entnommen:  ,/Vom  Weft Grieg 


zum  tyeltfriederi* • <Sr  mag  afs  Gpifog  zu  einer 


tf 

ew/ssen 


ZKriegs 

[iteralur  getien,  die  zum  5 fade  faji  fchon  der  ^ erg  an gen  fieri  an 
geddrt. 


Die  Volksseuchen,  die  die  MenscHen  von  Zeit  zu  Zeit  heim- 
suchen  und  sie  in  grofien  Massen  hinraffen,  werden  noch  immer 
kurzsichtig  als  ein  LJbel  beklagt.  Von  einem  hoheren  Gesichts- 
punkte  aus  wird  man  jedoch  leicht  erkennen,  dafi  dieses  Ubel 
auch  seine  Vorteile  hat,  ja,  dafi  die  Vorteile  dabei  iiberwiegen. 
Wer  nicht  nur  das  Schicksal  des  einzelnen,  sondem  auch  das  der 
Gesamtheit  im  Auge  behalt,  wird  nicht  im  Zweifel  dariiber  sein, 
dafi  sich  auch  dieses  scheinbare  Ubel,  so  wie  manches  andere 
dafiir  gehaltene,  in  das  Ganze  der  Weltordnung  einfiigt,  in  ihr 
regelnd  und  forderlich  wirkt. 

Die  Menschheit,  die  die  Neigung  zur  Entartung  besitzt,  be- 
darf  der  Zuchtruten,  die  die  Ausschreitungen  des  ichsiichtigen 
Emzelwesens  zum  Vorteile  der  Gesamtheit  wieder  ausgleichen. 
Die  wirksamsten  jener  Zuchtruten  und  Regelmittel  smd  gerade 
die  grofien  Volksseuchen,  weil  sie  mehr  als  jedes  andere  Mittel 
dieser  Art  die  grofie  Masse  der  Menschen  erfassen  und  daher 
am  umfassendsten  ihre  regelnde  und  erneuernde  Wirkung  aus- 
iiben  konnen. 

Unter  diesen  Volksseuchen  nimmt  die  Cholera  deshalb  eine 
ganz  besondere  Stellung  ein,  weil  sie  so  ziemlich  die  einzige 
Volksseuche  ist,  deren  wir  uns  in  dem  verderbten  alten  Europa 
noch  erfreuen  diirfen.  Pest  und  Aussatz,  die  im  Mittelalter  und 
bis  in  die  Neuzeit  hinein  bei  uns  eine  so  hervorragende  Rolle 


24  Vol.  m/2 


56 


Alfred  H.  Fried  ♦ Die  Cholera 


spielten  und  so  befruchtend  auf  die  Kultur  jener  Tage  einge- 
wirkt  haben,  kommen  als  Massenseuchen  nicht  mehr  in  Betracht. 
Ebensowenig  wie  das  gelbe  Fieber,  das  unseren  Breiten  iiber- 
haupt  vorenthalten  blieb.  Aus  diesem  Grunde  will  ich  mich  hier 
besonders  mit  der  Cholera  befassen. 

Gewifi,  die  Cholera  ist,  an  sich  betrachtet,  ein  Ubel,  erne 
Himmelsplage.  Aber  schon  unser  groBer  Dichter  bezeichnet  die 
Wirkung  dieser  Himmelsplagen  als  „furchtbar“,aber  „gut“.  Und 
es  gehort  in  der  Tat  ein  hoher  Grad  von  Kurzsichtigkeit  dazu, 
bei  einem  Ubel  nur  immer  die  eine  Seite  zu  betrachten  und  nicht 
auch  die  andere,  immer  nur  das  Mittel  in  seiner  Schreckhaftig- 
keit  ins  Auge  zu  fassen  und  nicht  auch  dessen  heilsame  Wirkung. 
Von  jenem  falschen  Gesichtspunkt  gehen  die  Bestrebungen  von 
Leuten  aus,  die  in  der  Cholera  nur  das  Schreckhche,  das  Grauen- 
hafte  sehen,  den  grofien  Endzweck  aber  nicht  zu  erkennen  ver- 
mogen  und  deshalb  in  unsinniger  Weise  diese  letzte  Zuchtrute, 
die  uns  noch  geblieben,  ganz  auszurotten  versuchen  wollen. 
Dieses  Treiben  ist  auBerst  gefahrlich.  Denn  wiirde  ihnen  ihre 
Vornahme  gelingen,  dann  wiirden  wir  den  letzten  Regeler  ver- 
lieren,  der  unsere  Volkskraft  erhalt,  und  das  groBe  Kulturleben 
Europas  ware  bald  fur  immer  erloschen  unter  den  ungezahmten 
Trieben  einer  genufisiichtigen  und  eitlen  Gesellschaft.  Gliick- 
licherweise  setzen  sich  jene  Personen  mit  der  Vernunft  des  Welt- 
geschehens  in  Widerspruch,  und  ihre  Bemiihungen  werden  da- 
her  Utopie  bleiben.  Es  smd  Ideologen,  die  sich  von  dem  Boden 
der  Tatsachen  entfernen,  wenn  sie  meinen,  dab  sie  den  Men- 
schen  ,,ewiges  Leben"  bereiten  konnten,  sobald  sie  sie  von  der 
Cholera  befreit  haben.  In  dieser  Welt,  wo  alles  sterben  muB, 
gibt  es  kein  ewiges  Leben.  Der  Kampf  gegen  die  Cholera  ist 
daher  ein  Traum,  und  nicht  einmal  em  schoner.  Wir  danken 
jedenfalls  fiir  eine  Welt,  wo  dieTriebe  zum  Wohlleben  unein- 
geschrankt  herrschen,  und  die  Menschheit  notwendigerweise  zur 
Tierheit  herabsinken  miiBte.  ,,Etwas  hoffen,  fiirchten  und 
sorgen  muB  der  Mensch  stets  fiir  den  kommenden  Morgen", 
konnen  wir  auch  hier  mit  dem  Dichter  sagen.  Er  wollte  damit 
andeuten,  daB  eine  Menschheit,  der  die  Cholera,  die  letzte 


Alfred  H.  Fried  * Die  Cholera  57 

Kulturseuche,  noch  genommen  werden  wiirde,  die  also  ohne 
Hoffnungen,  Furcht  und  Sorgen  von  einem  Tage  zum  andern 
hindammem  sollte,  keine  Menschheit  mehr  ware. 

Stellen  Sie  sich  eine  solche  Welt  nur  emmal  vor,  meine  Damen 
und  Herren.  Wiirde  die  Furchtlosigkeit  nicht  alle  Triebe  aus- 
schalten,  die  das  Werk  unseres  Kulturlebens  geschaffen  haben? 
Wiirde  sie  nicht  alle  Bande  der  Ordnung  losen  und  alles  zer- 
storen,  was  uns  heute  wert  und  teuer  ist?  In  einer  Welt,  wo  die 
Menschen  fur  den  kommenden  Morgen  nichts  zu  fiirchten 
hatten,  wiirde  die  Familie  nicht  mehr  bestehen  konnen,  denn  sie 
beruht  auf  dem  Wunsche  der  Eltern,  den  Kindern  die  Furcht 
und  Sorge  der  Zukunft  zu  ersparen.  Mit  der  Lockerung  oder 
gar  dem  volligen  Versagen  der  Familienbande  wiirde  aber  der 
Staat  zerfallen,  dessen  feste  Grundlage  die  Familie  bildet.  Und 
mit  dem  Staate  wiirde  die  Menschheit  von  hinnen  gehen.  Sie 
erkennen  schon  hieraus,  dafi  die  Cholera  den  Grundstein  der 
sozialen  Ordnung  bildet,  und  dafi  jene,  die  die  Cholera  iiber- 
winden  wollen,  in  frevelhafter  Weise  an  dieser  Ordnung  riitteln, 
daher  im  hochsten  Grade  gefahrlich  wirken.  Sie  wollen  das 
Familienleben  untergraben,  die  Stiitze  des  Staates  erschiittern 
und  damit  jene  grauenhaften  Zustande  des  Urmenschentums 
zuriickrufen,  die  keine  Kultur  kannten.  Sie  werden  zugeben,  dafi 
es  etwas  Gemeingefahrlicheres  als  jene  Bestrebungen  gar  nicht 
geben  kann.  Nein,  rufen  wir,  die  wir  es  mit  der  Menschheit  gut 
meinen,  die  Cholera  mufi  dem  Volke  erhalten  bleiben,  und  wenn 
wir  sie  nicht  schon  hatten,  miifite  sie  erfunden  werden ! 

Gewifi  mag  es  schrecklich  sein,  seine  Liebsten  unter  den  qual- 
vollen  Erscheinungen  dieser  Krankheit  hinsinken  zu  sehen,  mit 
einer  Plotzlichkeit,  die  das  Schreckhafte  noch  vermehrt,  die 
Kinder  der  Eltern,  die  Frau  des  Gatten,  die  Eltern  der  Kinder 
beraubt  zu  sehen,  dabei  zu  wissen,  dafi  die  noch  Lebenden  jede 
Minute  dasselbe  Schicksal  treffen  konne.  Els  wird  niemandem 
einfallen,  die  Entsetzen  einer  solchen  Seuche  schon  zu  finden. 
Aber  hier  ist  auch  der  menschlichen  Betatigung  ein  wichtiges 
Feld  eingeraumt.  Der  Mensch  kann  den  Tod  nicht  aus  der  Welt 
schaffen;  doch  kann  er  ihn  mildern.  Er  kann  dem  unter  qualen- 


58 


Alfred  H.  Fried  * Die  Cholera 


den  Schrecken  Sterbenden  das  Leid  abkiirzen,  es  ihm  durch  Be- 
taubungsmittel  ertraglich  macben.  Hier  kann  der  Mensch  seine 
Menschlichkeit  zeigen,  sein  edles  Herz  bekunden,  das  ihn  von 
der  Tierwelt  unterscheidet.  Vermenschlichen  wir  die  Cholera, 
und  wir  werden  ein  groBes,  unserer  Zeit  wiirdiges  Kulturwerk 
vollbringen.  Aber  seien  wir  stets  eingedenk,  daB  der  Mensch 
doch  nicht  nur  zum  Vergniigen  auf  der  Welt  ist.  Eine  giitige 
Natur  hat  ihm  Schmerz  und  Qual  mit  auf  den  Lebensweg  ge- 
geben,  damit  er  aus  dem  Widerpart  der  Empfindungen  erst  recht 
die  Wonnen  des  Lebens  genieBe.  Er  wird  das  giitige  Walten  der 
Natur  auch  daran  erkennen,  daB  der  Choleratod  ein  rascher  ist. 
Nur  Unverstand  vermochte  die  Natur  als  grausam  hinzustellen. 
Sie  iibt  in  Wirklichkeit  Barmherzigkeit.  Ewig  kann  der  Mensch 
nicht  leben,  in  der  Regel  ist  ihm  langes  Siechtum  beschieden. 
Nun  kommt  die  Cholera,  die  ihm  den  Tod,  dem  er  ohnehin  nicht 
entgangen  ware,  in  abgekiirzter  Form  bringt.  Els  ist  doch  Un- 
sinn,  immer  nur  das  Leid  und  die  Qual  sehen  zu  wollen  und 
nicht  zu  erkennen,  welcher  Gewinn  dabei  trotz  alledem  auch  fur 
das  Einzelwesen  herauskommt,  ganz  abgesehen  von  den  Vor- 
teilen,  die  der  Gesamtheit  zuteil  werden.  Erkennt  man  aber 
diesen  Gewinn,  so  wird  man  zugeben  miissen,  daB  es  keinen 
schoneren  Tod  geben  kann,  als  den  Choleratod  wahrend  einer 
das  Volk  erneuemden  Seuche.  Es  ist  ein  Tod  fur  die  Gesamt- 
heit, die  opfervolle  Hingabe  des  einzelnen  fur  die  Menschheit, 
wie  die  Dichter  aller  Zeiten  und  Lander  ihn  preisen.  „Das  Leben 
ist  der  Giiter  hochstes  nicht!** 

Bei  alien  Vorteilen,  die  uns  die  Cholera  bietet  und  bei  aller 
Einsicht  ihrer  Wichtigkeit  fiir  die  Entwicklung  der  Menschheit 
konnen  wir  natUrlich  nicht  wiinschen,  daB  die  Seuchen  ununter- 
brochen  andauern.  Wir  brauchen  Zwischenzeiten,  wahrend  wel- 
chen  wir  uns  all  der  durch  die  Seuchen  errungenen  Vorteile  er- 
freuen  konnen.  Wir  erstreben  ja  die  Cholera  nicht  um  ihrer 
Schrecken  willen,  sondern  um  der  heilsamen  Folgen,  die  diese 
Schrecken  mit  sich  bringen.  So  ist  uns  auch  die  Seuche  nur  ein 
Ubergang  zur  seuchenfreien  Zeit.  Wir  sehnen  die  Seuche  herbei, 
um  sie  los  zu  werden.  In  diesem  ewigen  Wechsel  liegt  ihre  Be- 


A Ifred  H . Fried  * Die  Cholera 


59 


deutung.  Auch  in  der  Zwischenzeit  wird  die  Cholera  befreiend 
und  emeuemd  wirken,  denn  die  drohende  Gefahr  ihrer  Wieder- 
kehr  wird  die  Menschen  aufriitteln.  Deshalb  geht  es  nicht  an, 
die  ewige  Seuchenfreiheit  herbeizusehnen.  Indem  wir  der  Ge- 
fahr der  Seuche  bewufit  sind  und  uns  auf  sie  vorbereiten,  ziigeln 
wir  die  Wucherungen  des  Lasters,  hemmen  wir  die  Entwicklung 
des  Materialismus,  geniefien  wir  schon  die  wohltuende  Macht 
der  Zuchtrute,  ohne  die  Zuchtrute  selbst  zu  fiihlen. 

In  dieser  Zeit  der  Erwartung  geniefien  wir  schon  die  Vorteile 
der  Einrichtung.  Die  Erwartung  ist  es,  die  die  Furcht  wachhalt 
und  den  Kampf  gegen  die  Cholera  ermutigt.  Das  heifit,  nicht 
den  Kampf  zu  ihrer  Ausrottung,  sondem  den  zur  moglichst 
langen  Erstreckung  der  Zwischenraume.  Dieser  Kampf  be- 
fruchtet  das  geistige  Leben,  regt  die  Ideen  an  und  setzt  die 
Hande  in  Bewegung  zur  Erzeugung  all  der  vorbeugenden  und 
lindemden  Mittel.  Tausende  finden  Arbeit  durch  diesen  Kampf 
gegen  die  drohende  Seuche.  Es  kommt  daher  Geld  in  unge- 
heuren  Massen  unter  die  Leute,  Millionen  und  aber  Millionen 
werden  ausgegeben,  die  die  Volkswirtschaft  befruchten,  da  sie 
im  Lande  bleiben.  Wir  bauen  Spitaler,  errichten  Barackcn, 
fiihren  Wasserleitungen  aus  entfernten  Gebirgen  bis  in  unsere 
Stadte,  errichten  wohlausgekliigelte  umfangreiche  Kanalisations- 
netze,  stellen  teure  Filteranlagen  her,  erzeugen  in  grofienMengen 
die  bewahrten  Entkeimungsmittel ; wir  errichten  Lehrstiihle  fiir 
Bakteriologie  und  Gesundheitslehre  an  unseren  Uni versitaten , 
bilden  Arzte,  Krankenpfleger  und  Entkeimungstechniker  aus, 
kurz,  es  kommt  ein  Streben  und  Ringen  zum  Durchbruch,  das 
die  Gesamtheit  erhalt,  und  angesichts  der  Drohungen  des  Todes 
schaffen,  starken  und  erhohen  wir  das  Leben.  Immer  eindring- 
licher  und  verstandlicher  wird  die  Lehre : „Wenn  du  das  Leben 
willst,  bereite  den  Tod  vor”. 

Betrachten  wir  nun  die  heilsamen  Einfliisse  der  Cholera  auf 
das  Leben  der  Gesellschaft . Da  ist  vor  alien  Dingen  das  grofie 
und  wichtige  Gebiet  der  offentlichen  Gesundheitspflege.  Wir 
wissen  heute,  welche  Rolle  die  Reinlichkeit  im  Leben  des  Men- 
schen spielt  und  berechnen  den  Kulturgrad  eines  Volkes  nach 


60 


Alfred  H.  Fried  ♦ Die  Cholera 


dessen  Verbrauch  an  Seife.  Gewifi  freuen  wir  uns,  wenn  wir  uns 
dabei  sagen  konnen,  dafi  gerade  unser  Volk  In  diesem  Konsum 
an  der  Spitze  steht.  Aber  da  miissen  wir  uns  auch  befriedigend 
sagen,  daB  die  volkstiimliche  Korperpflege,  das  offentliche  Bade- 
wesen  noch  sehr  im  Argen  liegen  wiirde,  daB  nur  wenige  sich 
waschen  wiirden,  das  Relnhchkeitsbediirfnis  in  keinem  Falle  so 
ausgebildet  ware,  wenn  nicht  die  dauernde  Gefahr  der  groBen 
Seuche  drohend  iiber  unseren  Hauptern  schwebte. 

Bekannt  ist  ferner,  daB  diejenigen  am  leichtesten  das  Opfer 
der  Seuche  werden,  die  nicht  die  geeignete  korperliche  Wider- 
standskraft  besitzen.  Diejenigen,  die  unterernahrt  sind,  deren 
Korperhaushalt  durch  Mangel  oder  Ausschweifungen  in  Un- 
ordnung  geraten  ist,  sind  die  vorherbestimmten  Opfer.  Was  ist 
die  Folge  davon  ? Die  stets  drohende  Gefahr  der  Cholera  treibt 
die  Menschen  an,  ihren  Korper  widerstandsfahig  zu  machen, 
ihm  die  richtige  Ernahrung  zuzufiihren.  Um  dies  durchfiihren 
zu  konnen,  miissen  sie  Fleifi  und  Tatkraft  an  den  Tag  legen,  um 
im  Kampfe  ums  Dasein  sich  die  Moglichkeit  einer 
Ernahrung  und  durch  sie  die  notige  Widerstandskraft  zu  er- 
ringen.  So  sehen  wir  hier  die  Seuche  nicht  nur  als  emen  wirt- 
schaftlichen  Beweger  hochsterBedeutung,  denn  der  FleiB  des  em- 
zelnen  Menschen  hebt  die  gesamte  Wirtschaft,  sondern  auch  als 
emen  unentbehrlichen  Hauptpunkt  der  Gesundheit.  Die  Cholera 
ist  es  gerade,  der  wir  unseren  erhohten  Gesundheitszustand  ver- 
danken.  Diejenigen  Volker,  die  haufiger  an  der  Cholera  zu 
leiden  haben,  sind  nicht  nur  die  gesiindesten,  sie  sind  es  auch, 
die  wirtschaftlich  und  kulturell  am  hochsten  stehen;  wahrend 
jene,  die  sie  sich  vom  Leibe  zu  halten  suchen,  sich  im  Verfall 
befmden  und  zum  Untergang  bestimmt  sind. 

Und  nun  die  sittlichen  Werte,  wie  werden  diese  durch  die 
Cholera  gesteigert?  Sehen  wir  doch  hin,  wie  in  Zeiten  der 
Seuche  alle  Eitelkeiten  und  Kleinlichkeiten  verschwinden,  wie 
alle  Unterschiede  des  Glaubens,  des  Volkstums,  der  Geburt,  des 
Ranges,  des  Besitzes,  des  Geschlechtes  und  des  Alters  aufhoren, 
und  jeder,  nur  als  Mensch  unter  Menschen  sich  fiihlend,  ledig- 
lich  darauf  bedacht  ist,  an  den  Werken  zur  Bekampfung  der 


Alfred  H.  Fried  ♦ Die  Cholera 


61 


Seuche  und  zu  ihrer  Linderung  mitzuwirken.  Nur  in  solcher 
Zeit  sieht  man  den  Sinn  fur  Gemeinsamkeit,  die  Opferfreudig- 
keit,  die  Hingebungsfahigkeit,  die  wahre  Rehgiositat  der  Men- 
schen  sich  entfalten  und  reiche  Bliiten  tragen.  Man  hat  diese 
Eigenschaften  auch  dem  Kriege  zugeschrieben.  Diejenigen,  die 
das  tun,  haben  nur  zum  Teil  recht.  Der  Krieg  ist  nicht  mehr 
imstande,  im  gleichen  Mafie  wohltuend  zu  wirken  wie  die 
Cholera.  Schon  weil  er  viel  zu  selten  geworden  ist.  Dann  aber, 
weil  er  einen  grofien  Teil  der  Menschheit  von  den  Wohltaten, 
die  er  erzeugt,  von  vomherein  ausschliefit.  So  kommen  fur  die 
Auslese  und  Forderung  im  Kriege  nur  die  Manner  in  Betracht, 
und  auch  da  nur  die  im  wehrfahigen  Alter  stehenden.  Die 
Cholera  geht  auf  die  Gesamtheit  der  Menschen,  sie  macht  keinen 
Unterschied  zwischen  Mann  und  Frau,  zwischen  Saugling, 
Jiingling  und  Greis,  zwischen  Hochgestellten  und  Niedrigen. 
Sie  erfafit  sie  alle.  Sie  ist  das  Allheilmittel  der  Menschheit.  Und 
wahrend  es  im  Kriege  auch  bei  den  Teilnehmern  noch  immer 
einen  groBen  Bruchteil  gibt,  der  nicht  unmittelbar  an  den 
Kampfen  beteiligt  ist,  sondem  hinter  der  Front  wirkt,  gibt  es  bei 
der  Cholera  diese  Unterschiede  nicht.  Da  stehen  alle  an  der 
Front.  Beim  Kriege  kommen  die  durch  ihn  gezeitigten  Vorteile 
auch  noch  dem  gegen  uns  kampfenden  Feinde  zugute.  Diese 
Unzutraglichkeit  fallt  bei  der  Cholera  weg.  Els  ist  moghch,  sie 
allein  im  eigenen  Lande  wiiten  zu  lassen  und  so  den  Nachbar 
ihrer  Vorteile  zu  berauben.  Sie  ist  daher  nicht  nur  das  groBte, 
allgemeinste,  sondern  auch  das  nationalste  Zuchtmittel  der 

Menschheit. 

Aber  trotzdem  wirkt  sie  auch,  innerhalb  verniinftiger  Grenzen, 
volkerverbindend,  fordert  sie  — weit  entfemt,  zu  Traumereien 


Anlafi 


zu 


geben 


auch  die  Verstandigung  von  Volk  zu  Volk,  von 


Staat  zu  Staat.  Wir  wissen  namlich,  daB  sich  die  Seuche  allmah- 
lich  von  Land  zu  Land  fortzupflanzen  pflegt.  So  ist  man  auf  den 
Gedanken  gekommen,  die  Beobachtung  ihrer  Entwicklung,  die 
Vorbereitungen  zu  ihrer  Bekampfung  durch  zwischenstaatliche 
Einrichtungen  und  MaBnahmen  zu  erleichtern.  Wir  wissen,  daB 
der  Beste  nicht  seuchenfrei  leben  kann,  wenn  es  dem  bosen 


62 


Alfred.  H.  Fried  • Die  Cholera 


Nachbar  nicht  gefallt.  Das  hat  uns  aber  gelehrt,  den  bosen 
Nachbar  zu  iiberwinden  und  aus  ihm  einen  guten  zu  machen. 
So  fiihrt  die  Cholera  die  Menschen  auf  einen  Weg  der  briider- 
lichen  Zusammenarbeit. 

Wir  haben  schon  angedeutet,  welche  Forderung  die  Cholera 
der  Wissenschaft  zuteil  werden  lafit,  als  wir  von  der  Entwicklung 
der  Gesundheitslehre  sprachen.  Els  soli  aber  nicht  unerwahnt 
bleiben,  dafi  sie  es  ist,  der  wir  den  grofien  Aufschwung  der 
Naturwissenschaften  im  19.  Jahrhundert  verdanken.  Auf  der 
Suche  nach  ihren  Ursachen  sind  unsere  Gelehrten  immer  tiefer 
in  die  Geheimnisse  des  Alls  eingedrungen.  Die  Drohungen  und 
Note  der  Seuche  waren  es,  die  zu  einem  immer  vollkommeneren 
Ausbau  der  Mikroskopie  gefiihrt  und  uns  so  die  jahrtausende- 
lang  verborgene  Welt  des  unendlich  Kleinen  erschlossen  haben. 
Die  Cholera  fiihrte  so  die  Wissenschaft  zur  Elntdeckung  zahl- 
reicher  anderer  Krankheitserreger  und  damit  die  Heilkunde  zu 
einer  friiher  ungeahnten  Bliite,  die  Biologie  zur  Liiftung  der 
geheimsten  Vorgange  des  Lebens. 

Aber  nicht  nur  die  Naturwissenschaften  und  die  Heilkunde 
hat  die  Cholera  belebt  und  gefordert.  In  der  steten  Sorge  um  die 
uns  durch  sie  bedrangende  Gefahr  verfolgen  wir  die  Spuren  der 
Seuche  durch  die  ganze  Welt.  Der  einfachste  Mann,  dessen 
Kenntnis  von  der  Welt  sonst  fiber  die  engen  Grenzen  seiner 
Heimat  nicht  hinausreichen  wiirde,  lemt  auf  diese  Weise,  sich 
auf  dem  Erdball  auskennen.  So  fordert  die  Cholera  auch  unser 
Wissen  von  der  Erde,  die  Wissenschaft  der  Geographic.  Und 
„wenn  Wissen  Macht  ist,  so  ist  das  Wissen  von  der  Welt  Welt- 
macht“,  wie  ein  Verleger  von  Atlanten  und  Landkarten  weise 
behauptet.*) 

Ich  sehe  eine  Frage  auf  den  Lippen  meiner  verehrten  Horer 
und  Horerinnen.  Wie  steht  es  mit  dem  EinfluC  der  Cholera  auf 
die  Kunst  ? Hier  konnen  wir  allerdings  nicht  so  befriedigend  die 
Antwort  geben.  Doch  lafit  uns  die  Allbewegerin  auch  hier  nicht 

*)  DaB  auch  der  Krieg  das  geographische  Wissen  fordert,  hat  Ludwig 
Bauer  (Wien)  in  der  ..Frankfurter  Zeitung"  (15.  Dez.  1914)  iiberzeugend 
dargelegt.  Dies  sei  neidlos  zugegeben.  Der  Verf. 


Alfred  H.  Fried  * Die  Cholera  63 

ganz  im  Stich.  Gewifi,  so  befruchtend  wie  die  groBen  Seuchen 
des  Mittelalters  auf  die  Kunst  gewirkt  haben,  wirkt  die  Cholera 
nicht.  Zu  den  Zeiten,  als  die  Pest  noch  unsere  Lander  heim- 
suchte,  bliihte  das  Zeitalter  der  Wiedergeburt,  schufen  die 
groBen  Meister  des  Quattrocento  und  des  Cinquecento.  Wer 
steht  nicht  bewundernd  vor  den  Pestgemalden  eines  Rubens  und 
anderer,  vor  den  herrlichen  Pestsaulen  in  unseren  Stadten,  die 
aus  Dankbarkeit  fiir  das  Verschwinden  der  Seuche  von  frommen 
Kiinstlem  errichtet  wurden  ? Wahrend  einer  Pestzeit  in  Neapel 
hat  das  Meisterwerk  der  Weltliteratur,  Boccaccios  Dekameron, 
seinen  Ausgang  genommen.  Die  Cholera  kann  nicht  mehr  in 
solchem  Umfange  auf  die  Kunst  belebend  einwirken,  in  einer 
Zeit,  die  mehr  der  Entwicklung  der  Wissenschaft  und  Technik 
zustrebt  als  der  kiinstlerischen  Entfaltung.  Aber  der  in  der  jiing- 
sten  Gegenwart  sich  so  sehr  entwickelnde  Zweig  der  Graber- 
kunst  findet  in  der  Cholera,  indem  sie  die  Todesfalle  mehrt, 
einen  Anspom.  Auch  die  Baukunst  findet  in  ihr  eine  Forderin, 
wenn  das  Beispiel  der  Dankkapellen  fur  erloschene  Epidemien, 
wie  wir  ein  solches  in  der  Cholerakapelle  bei  Baden  nachst  Wien 
besitzen,  Nachahmung  fande.  In  Bertha  von  Suttners  Welt- 
roman  „Die  Waffen  nieder !“  finden  wir  in  dem  Kapitel  „Die 
Cholerawoche  von  Grumitz"  in  ergreifender  Weise  das  Wiiten 
der  Seuche  geschildert.  Im  allgemeinen  hat  sich  die  heutige 
Literatur  noch  wenig  dieses  dankbaren  Themas  angenommen. 
Es  ist  jedoch  zu  hoffen,  daB  nach  dem  Ende  des  Weltkrieges 
namentlich  unsere  Lyriker  in  ihr  einen  dankbaren  Stoff  finden 
werden.  Das  langst  erwartete  „Lied  von  der  Cholera"  wird  auch 
noch  seinen  Sanger  finden. 

So  sehen  wir  denn,  meine  verehrten  Horer  und  Horerinnen, 
dieses  sogenannte  Ubel  auf  alien  Gebieten  menschlicher  Betati- 
gung  befruchtend  und  befreiend  wirken,  sehen  wir,  wie  die  Kul- 
tur  durch  sie  Anregung  empfangt,  die  Wirtschaft  und  der  gesell- 
schaftliche  Fortschritt  Forderung  finden  und  wie,  nicht  zuletzt, 
die  sittlichen  Triebe  der  Menschheit  durch  sie  zur  Entfaltung 
gebracht  werden.  Technik,  Wissenschaft,  Kunst,  Handel,  Ge- 
werbe,  Gesundheit,  das  innere  Ich  des  Menschen,  alles  dies  wird 


64 


Alfred  H.  Fried  * Die  Cholera 


hoher  entwickelt  durch  ihren  segensreichen  Einflufi!  Wie  schal 
ware  das  Leben  ohne  Cholera!  Wie  wenig  lebenswert  ware  es, 
wenn  jene  Erfolg  hatten,  die  sich  unterfangen,  der  giitigen  Natur 
in  ihrWalten  zu  pfuschen,  und  uns  ganzlich  von  dieserSeuche 
befreien  wollen. 

Ohne  Cholera  wiirde  die  Menschheit  in  Marasmus  verfallen. 
Hatten  wir  die  Cholera  nicht,  die  Menschheit  befande  sich  noch 
auf  der  Tierstufe;  sie  wiirde  mit  ihrem  Erloschen  wieder  zur 
Tierheit  herabsinken.  Nein,  in  einer  solchen  Welt  mochte  man 
nicht  leben.  Der  Cholera  verdanken  wir  unseren  Aufstieg,  ihr 
werden  wir  unsere  weiteren  Fortschritte  verdanken.  Sie  ist  das 
groBe  Schicksal,  von  dem  der  Dichter  sagt,  dafi  es  den  Menschen 
erhebt,  indem  es  den  Menschen  zermalmt. 


Willy  Kiistcrs  ♦ Mdancholie  des  Soldo. ten 


65 


Cliffy  (JQisters: 

MELANCHOLIE  DES  SOLDATEN 

Verblichner  Abend  Schwermut  schlingt  sich  grau 
Um  meine  friihgefurchten  Schlafenflachen ; 

Erbebend  seh  ich  meine  Hande  feucht  vom  Tau 
Der  Seelennote  aus  des  Fleisches  Schwachen. 

Mem  weher  Kopf!  Das  Denken  ist  zerbrochen. 

Es  weitet  wilde  Ebene  trostlos  sich  und  leer. 

Ein  grauer  Vogel  zieht  die  Seele  iibers  Meer 
Zu  Schadelstatten  und  gebleichten  Knochen. 

O dafi  kein  Trost  in  dieser  Wirrnis  blieb! 

Mit  bosem  Wahn,  getneben,  ohne  Trieb 

Bin  ich  verdammt,  der  Jugend  Lust  zu  tauschen. 

Will  denn  der  Quell  der  Not  sich  nie  erschopfen? 

Ich  hor  des  Todesengels  schwarze  Schwingen  rauschen. 
Er  spiegelt  sich  in  meinen  blankgeputzten  Knopfen. 


S.  D.  Steinberg  ♦ Gesicht 


of.  (D.  Steinberg : 

GESICHT 

In  einer  Wiese  stehst  du,  ganz  im  Schmerz  ertrunken. 
Die  Sonnenkugel  liegt  gesunken 

Am  Rand  der  Welt. 

Du  stehst  hineingestellt 
In  ihre  rote  Scheibe; 

Auf  deinem  demutsvollen  Leibe, 

Auf  deine  Hande,  iiber  dein  Gesicht 
Rinnt  wie  ergliihter  Flu8  ihr  blutig  Licht. 

Mir  ist,  als  standest  du  entkleidet  in  dieser  Glut  ; 

Und  durch  dein  Fleisch  hindurch  seh  ich  dein  Blut 
Als  wie  in  unsichtbaren  Rohren  — steigen  — sinken. 
Dein  unruhvolles  Herz  wachst  auf  im  Trinken, 

Erfiillt  den  Korper,  wachst  aus  ihm  heraus 
Und  schwillt  und  rundet  sich  und  dehnt  sich  aus. 

Verdrangt  die  Sonne,  lodert  rot  in  Flammen, 

Verzuckt,  erlischt  — und  fallt  in  Nichts  zusammen . 

Und  auch  die  Sonne  steht  nicht  mehr  am  Grat. 

- Tut  es  so  weh,  was  ich  dir  tat? 

Hab  ich  dein  Tiefstes  aufgeriihrt? 

Schwer  ist  der  Weg,  der  Mensch  zum  Menschen  fiihrt. 


Glossen 


67 


GLOSSEN 


<S/n  eRei<£siagsausf<Aufi  fur 
auswdrfige  Sflngefegenfieiten. 

Stiirmisch  pocht  das  deutsche  Volk 
an  die  heilige  Pforte  des  Tempels,  wor- 
in  die  Diplomaten  die  Geschicke  der 
Nation  weben.  Els  begehrt  nichfc  nur 
EinlaB  zum  Schauen,  sondem  auch 
tatige  Mitarbeit  am  diplomatischen 
Werk,  Mitarbeit  und  Aufsicht.  Eine 
Instanz  soil  geschaffen  werden,  wel- 
che  diese  Betatigung  des  Volkes  an 
den  auswartigen  Angelegenheiten  liber- 
nehmen  kann.  Man  spricht  von  einem 
standigen  parlamentarischen  AusschuB. 

Nun,  dieser  AusschuB  miiBte  jeden- 
falls  etwas  anderes  sein,  als  der  heute 
bereits  bestehende  BundesratsausschuB 
fur  auswartige  Angelegenheiten,  wo 
Bayern  zwar  den  Vorsitz  fiihrt,  der  aber 
nur  da  zu  sein  scheint,  um  der  Reichs- 
regierung  bei  den  seltenen  Gelegen- 
heiten,  wo  er  zusammentritt,  eine  gute 
Zensur  zu  erteilen. 

Versuchen  wir,  uns  ein  praktisches 
Bild  von  einem  solchen  parlamentari- 
schen AusschuB  zu  machen.  Bisher 
wurden  bekanntlich  im  Reichstage  die 
auswartigen  Angelegenheiten,  schon 
mit  Riicksicht  auf  das  Ausland,  meist 
sehr  oberflachlich  behandelt.  Die 
eigentliche  Stelle  dafur  ist  heute  die 
groBe,  aus  28  Mitgliedern  bestehende 
Budgetkommission.  Der  Staatssekre- 
tar  des  Auswartigen  Amtes  und  sein 


Stab  geben  hier  gewiinschte  und  nicht- 
gewiinschte,  meist  vertrauliche  Auf- 
klarungen  bei  der  Beratung  iiber  den 
Etat  des  auswartigen  Amtes.  Auch 
werden  manchmal  den  begliickten  Ab- 
geordneten  einzelne  Berichte  oder  viel- 
mehr  Teile  aus  den  Berichten  unserer 
auswartigen  Vertreter  zur  Kenntnis  ge- 
bracht.  Ein  Recht  der  Kommission  auf 
Vorlage  von  Akten  und  Zeugnissen,  auf 
Anstellung  einer  Enquete  oder  ahn- 
liches  gibt  es  nicht.  Wohl  entspinnen 
sich  ab  und  zu  eingehendere  Diskus- 
sionen  zwischen  den  Vertretem  des 
Amtes  und  des  Volkes.  Zu  praktischen 
Ergebnissen  fiihren  sie  selten.  Irgend- 
einen  EinfluBauf  die  Fiihrung  der  gros- 
sen  auswartigen  Politik  haben  diese  Er- 
orterungen  aber  auf  keinen  Fall.  Sie 
konnen  dies  schon  deswegen  nicht,  weil 
sie  stets  post  festum  kommen  und  ge- 
wohnlich  nur  einmal  im  Jahre  statt- 
finden.  Auch  fehlt  den  Abgeordneten 
jedes  Material,  um  die  auswartigen 
Vorgange  ernsthaft  beurteilen  zu  kon- 
nen. Denn  das,  was  sie  aus  der  Presse 
erfahren,  entspricht  auch  nur  selten  der 
Wirklichkeit  oder  ist  von  amtlicher 
Stelle  in  dem  Sinne  beeinfluBt,  wie  es 
dem  Leiter  der  auswartigen  Politik  im 
Augenblick  gerade  passend  erscheint. 

Hier  muB  zuerst  der  Hebei  angesetzt 
werden.  Um  Mitglieder  eines  aus- 
wartigen Ausschusses  eingehend  auf 
dem  Laufenden  zu  erhalten , muB  dieser 


68 


Glosscn 


dguemd  tagen.  Dabei  ist  es  nicht  aus- 
geschlossen,  daB  er  durch  seinen  Vor- 
stand  die  tagliche  Beriihrung  mit  dem 
Auswartigen  Amte  aufrecht  erhalt.  Er 
selbst  sollte  aber  mindestens  einmal  im 
Monat  in  Berlin  zusammenkommen. 

Zu  Mitgliedern  dieses  Ausschusses 
mlifiten  die  einzelnen  Parteien  des 
Reichstages  besonders  solche  Abgeord- 
nete  wahlen,  welche  infolge  ihres  Auf- 
enthaltes,  ihrer  Studien  oder  Bezieh- 
ungen  Auslandserfahrungen  gesammelt 
und  daher  in  der  Lage  sind,  die  poli- 
tische  undsozialeStruktur,  Geschichte, 
Denkweise  und  Stimmung  fremder 
Volker  richtig  zu  wiirdigen.  Solchen 
Abgeordneten  wird  es  viel  leichter 
fallen,  das  vom  Auswartigen  Amte  dar- 
gebotene  Material  kritisch  zu  beur- 
teilen  und  unseren  oft  in  Kastengeist 
und  Standesdiinkel  befangenen  Diplo- 
maten  die  Augen  zu  offnen.  Falls  der 
heutige  Reichstag  derartig  qualifizierte 
Personlichkeiten  in  genugender  Anzahl 
noch  nicht  besitzen  sollte,  so  wird  ge- 
rade  die  Mitarbeit  im  Ausschufi  und 


Um  einen  niitzhchen  EinfluB  auf  die 
Fiihrung  der  auswartigen  Pohtik  aus- 
zuiiben,  darf  der  AusschuB  keinen  nur 
informatorischen  Charakter  tragen, 
wenn  er  auch  umgekehrt  nicht  die  Be- 
fugnis  haben  soli,  Anordnungen  oder 
Befehle  zu  erteilen.  Die  Art  seiner 
Tatigkeit  ist  am  besten  als  eine  berat- 
schlagende  zu  bezeichnen,  indem  der 
auswartige  Staatssekretar  und  der  Aus- 
schuB in  voller  Kenntnis  der  Sachlage 
wichtigen  auslandischen  Fragen  gegen- 
iiber  gemeinsam  Stellung  zu  nehmen 
versuchen.  Die  letzte  Entscheidung 
und  Verantwortlichkeit  mufi  auf  jeden 
Fall  der  Minister  tragen. 

Allerdings  darf  man  sich  dabei  nicht 
verhehlen,  dafi  bei  unseren  heutigen 
politischen  Verhaltnissen  diese  Verant- 
wortlichkeit rein  auf  dem  Papiere  steht 
und  ein  leeres  Wort  bedeutet.  Umdies 
zu  andern,  miiBten  wir  im  Reich  den 
Boden  des  Scheinkonstitutionalismus 
verlassen  und  in  demokratischere  Bah- 
nen  einlenken  mit  verantwortlichen 
Reichsmmistern. 


die  dabei  erworbenen  Kenntnisse  die-  Bei  den  Beratschlagungen  kann  es 
sem  Mangel  schnell  abhelfen.  Nach-  sich  natiirlich  nicht  darum  handeln, 
dem  das  Volk  die  Wichtigkeit  der  aus-  daB  die  Volksvertreter  sich  in  den  Gang 
wartigen  Politik  fur  das  ganze  Staats-  jeder  einzelnen  diplomatischen  Ver- 
leben  durch  diesen  Krieg  erkannt  hat,  handlung  oder  Besprechnung  ein- 
wird  es  hoffenthch  bei  der  Wahl  seiner  mischen.  Was  aber  verlangt  werden 
Vertreter  in  Zukunft  mehr  darauf  muB,  ist,  dafi  der  auswartige  Lenker 
achten,  solche  Manner  in  den  Reichs-  vor  Eintritt  in  Verhandlungen  mit 
tag  zu  senden,  welche  zur  Losung  aus-  fremden  Regierungen  dem  AusschuB 
landischer  Probleme  besonders  geeig-  die  Richtlinien  genau  darlegt,  denen  er 
net  sind.  zu  folgen  gedenkt,  damit  dieser  Stel- 

Die  Zahl  der  Mitglieder  sollte  weder  lung  dazu  nehmen  kann.  Auch  ware 
zu  groB,  noch  zu  klein  sein,  damit  einer-  dem  AusschuB  von  jeder  Veranderung 
seits  ernsthaft  gearbeitet  werden  kann,  in  den  Beziehungen  zu  fremden  Staa- 
anderseits  geniigend  KraftezurBildung  ten  Kenntnis  zu  geben,  schon  damit  er 
von  (Jnterkommissionen  zur  Verfugung  in  der  Lage  ist,  festzustellen,  ob  dieser 
stehen.  20  Mitglieder  sollten  geniigen.  Umschwung  der  eigenen  oder  der 


>• 


Glossen 


69 


fremden  Regierung  zur  Last  zu  legen 
ist. 

Ober  vertrauliche  Mitteilungen  hat- 
ten  die  Mitglieder  des  Ausschusses 
selbstverstandlich  Stillschweigen  zu 
beobachten.  IndieserBeziehungkennt 
die  Regierung  z.  B.  von  den  militari- 
schen  Kommissionsverhandlungen  her 
die  Verschwiegenheit  unserer  Volks- 
vertreter.  Es  wird  aber  darauf  zu  ach- 
ten  sein,  daB  nicht  etwa  nach  heutiger 
Diplomatensitte  jedes  eingegangene 
chiffrierteTelegramm  als  groBes  Staats- 
geheimnis  behandelt  werde.  Wirkliche 

heutigen 

Die  Di- 


meistens 


Geheimnisse  gibt  es  in  der 
Zeit  nur  noch  recht  wenige. 
plomatengeheimnisse  sind 
„secrets  de  Polichinelle‘\ 

Ein  Hauptpostulat  ware  ferner,  daB 
der  AusschuB  das  Recht  bekommt, 
nicht  nur  die  Vorlage  von  Akten  und 
anderen  Zeugnissen  zu  verlangen,  son- 
dern  daB  er  auch  befugt  ist,  von  unsern 
auswartigen  Vertretern  Berichte  iiber 
besondere  Fragen  einzuholen.  Er 
miiBte  auch  das  Recht  haben,  unsere 
Auslandsvertreter  in  seine  Mitte  zu 
rufen  und  anzuhoren.  Dies  ware  auch 
aus  einem  andern  Grunde  sehr  nutz- 
bringend.  Die  Volks vertreter  hatten 
dadurch  Gelegenheit,  in  personliche 
Beziehungen  mit  unsern  Auslands- 
beamten  zu  kommen  und  sich  ein 
eigenes  Urteil  liber  deren  Fahigkeiten 
zu  bilden.  Sie  konnten  auf  Grund 
dieser  Personalkenntnisse  ihren  Ein- 
flufi  bei  Besetzung  der  Auslandsposten 
zum  Ausdruck  bringen.  Heute  er- 
folgen  diese  Ernennungen  oft  weniger 
nach  rein  sachlichen  Gesichtspunkten, 
als  vielmehr  nach  Familien-,  Korps- 
und  Regimentsbeziehungen.  Im  Inter- 
esse  der  Allgemeinheit  ist  es  daher 


dringend  erforderlich,  daB  der  Aus- 
schufi  gerade  bei  der  Wahl  unserer  aus- 
wartigen Vertreter  einWort  mitzureden 
hat.  Schon  heute  bekanntlich  wird  jede 
Ernennung  eines  Konsuls  vor  den  Bun- 
desratsausschuB  fiir  auswartige  Ange- 
legenheiten  gebracht.  Warum  soli 
nicht  auch  die  Volksvertretung  ein  ahn- 
liches  Recht  erhalten,  von  dem  sie  aber 
hoffentlich  bessern  Gebrauch  zu  ma- 
chen  verstehen  wird  als  heute  der 
Bundesrat?  Gerade  da  von,  daB  im 
AusschuB  der  richtige  Mann  auf  dem 
richtigen  Posten  steht,  hangt,  wie  wir 
alle  heute  wissen,  das  Wohl  und  Wehe 
Tausender  ab. 

Wenn  man  dagegen  einwenden 
wollte,  daB  dies  eine  Einmischung  in 
die  Rechte  der  Exekutive  sei,  so  ist  dar- 
auf zu  erwidern,  dafi  es  sich  nur  um 
eine  Abwehr  der  Legislative  handeln 
wiirde  gegen  unberechtigte  Ein- 
mischung unverantwortlicher  Faktoren 
in  die  Geschafte  eben  dieser  Exekutive. 
Im  Grunde  wird  es  sicher  der  Regie- 
rung  nur  angenehm  sein  konnen,  wenn 
ihr  hierdurch  ein  Teil  ihrer  Verant- 
wortlichkeit  dem  Lande  gegeniiber  ab- 
genommen  wird. 

Die  Kenntnisse,  welche  unsere 
Volksvertreter  sich  iiber  die  tatsach- 
liche  diplomatische  Lage  und  iiber  die 
im  auswartigen  Dienste  wirkenden 
Personlichkeiten  erwerben.werden  dem 
ReichstagsausschuB  erst  die  Moglich- 
keit  geben,  mit  Autoritiit  der  Regierung 
und  dem  Lande  gegeniiber  seine 
Stimme  geltend  zu  machen.  Denn 
Kenntnisse  sind  Macht,  ohne  Kennt- 
nisse sanke  der  AusschuB  zu  einem 
blofien  Schatten  herab,  wie  die  heutige 
Budgetkommission  in  auswartigen 
Fragen. 


70 


Glossen 


Auch  d er  Geist  der  diplomatischen 
Berichterstattung  wiirdc  sich  von 
Grund  auf  andern,  wcnn  unsera  Aus- 
land  avert  re  ter  wiiBten,  daB  ihre  Be- 
richte  vor  die  Kontrolle  kenntnis- 
reicher  Vollcsvertreter  kommen.  Heute 
wird  diese  Berichterstattung  haufig 
stark  beeinfluBt  durch  personliche 
Motive.  Man  kennt  die  Ansichten  der 
Zen t rale  und  hoherer  Stellen.  Man 
will  vorwarts  kommen.  Da  heiBt  es  oft 
vorsichtig  sein,  urn  nach  oben  nicht  an- 
zustoBen.  Kommt  es  doch  leider  sogar 
vor,  daB  der  Beamte  im  Auslande  von 
der  Berliner  Zentrale  einen  Wink  be- 
kommt,  lieber  in  dieseroder  jener  Rich- 
tung  zu  berichten.  So  werden  viel- 
fach  mehr  bureaukratische  oder  dy- 
nastische  Interessen  gefordert ; das 
Volkswohl  tritt  zuriick. 


Gber  die  auswartige  Politik  des 
Reiches  hatte  der  AusschuB  in  be- 
stimmten  Zeitraumen,  mindestens  je- 
doch  zweimal  im  Jahre,  dem  Reichstag 
einen  ausfuhriichen  Bericht  vorzu- 
legen.  Die  Kenntnisse  der  Volksver- 
treter  in  auswartigen  Fragen  wiirden 
dadurcherheblicherweitert.  Auch  dies 
konnte  der  Regierung  nur  angenehm 
sein,  da  ein  unterrichteter  Reichstag  ihr 
weniger  fruchtlose  Kritik  entgegen- 
setzen  wird.  Und  schlieBlich  konnte 
auch  die  Presse  aus  diesen  Berichten 
wert volte  Informationen  schopfen  und 
mit  mehr  Sachkunde  als  bisher  die 
offentliche  Meinung  unterrichten,  was 
zur  Zerstreuung  von  MiBtrauen  und 
zur  Aufklarung  von  MiBverstandnissen 
im  In-  und  Auslande  viel  beitragen 

wiirde.  Chis  dfpfomaticus. 


&ciuafismus 

Alle  kiinftige  Rede,  Aussprache,  Li- 
teratur,  Mitteiiung  fiirs  Leben  wird 
nicht  mehr  psychologisch  sein,  sie  wird 
metaphysisch  sein.  Ubersetzt  ins  Vo- 
kabular  unserer  Realitat,  der  Realitat 
von  Wesen  der  groBen  Menschen- 
gemeinschaft,  heiBt  das:  sie  wird 
ethisch  sein.  Unsere  Ohren,  die  trotz 
der  Mordjahre  in  eine  neue  Zeit 
hinein  horchen,  werden  anderes  nicht 
mehr  zulassen. 

Der  Weg,  den  wir  in  die  Ewigkeit 
nehmen,  muB  durch  die  Jetzigkeit 
gehen.  Der  Leib  des  Menschen  ist 
nur  einmalig,  aber  diese  Einmaligkeit 
ist  sein  hochster  Wert.  Je  tiefer  und 
vollkommener  wir  einmalig  sind,  urn 
so  gemeinsamer  sind  wir  alien.  Je 
eindeutiger  wir  uns  entscheiden,  um 


so  unendlicher  ist  unser  Handlungs- 
bereich.  Nur  wenn  wir  unser  Leben, 
das  eines  menschlichep  Wesens,  ganz 
auf  der  Erde  durchsetzen,  werden  wir 
auch  geistiges  Wesen  sein.  Der  Eremit 
und  der  (sogenannte)  Asket  sind 
Spezialitaten.  Sie  betrachten  das  Gei- 
stige  als  Sonderexistenz,  wie  Kinder 
das  Licht  durch  ein  Kaleidoskop  an- 
schauen;  sie  sind  Verwirrer,  denn  sie 
lenken  das  menschliche  Denken  vom 
Geist  ab,  und  der  Betrachtung  eines 
Betrachters  zu;  zuletzt,  sie  verwirk- 
lichen  nicht,  sondern  traumen  nur  die 
Verwirklichung.  Jede  Lehre,  die  allein 
auf  die  bloBe  „Vermeidung  des  Sund- 
haften*'  ausgeht  — kann  sehr  groB 
sein,  sie  ist  aber  nur  eine  Lehre  der 
schonen  Haltung,  des  Symbolischen 
und  des  Niveaus.  Nichts  ist  ruchloser 


Glossen 


71 


als  Exklusivitat,  und  nichts  grausamer 
als  Isolation.  Nur  die  Lehre,  und 
einzig  sie,  hat  Sinn  fur  den  Menschen, 
deren  Wort  uns  ein  Zeichen  auf  den 
Weg  setzt  gegen  unsere  Frage:  Was 
sollen  wir  tun? 

Was  wir  nicht  tun  sollen,  wissen 
wir  heute  mehr  als  je. 

Aber  nie  kann  eine  Antwort  auf 
diese  Frage  heifien : Abwarten  I — Sie 
mu6,  im  Gegen teil,  auf  bestimmteste 
Einzelheit  gebracht,  heiBen : Handeln ! 
Und : Selbst  handeln  1 Und : Ge- 
meinsam  handeln ! Zu  fordem  ist 
noch  mehr;  die  Bestimmung:  Wann 
handeln,  wie  handeln,  wohin  handeln. 

Wenn  wir  handeln,  begehen  wir  oft 
Unrecht.  Es  ist  falsch,  darum  vom 
Handeln  abzulassen.  Unsere  Ver~ 
einzelung,  die  des  Nichthandelnden, 
begeht  viel  grofieres  Unrecht.  Jeder 
weiB  das  aus  seinem  praktischen 
Leben.  Nur  das  Schlimmste  sei  er- 
wahnt:  der  Vereinzelte  will  nicht 
^gestort*1  werden.  Es  ist  uns  aber 
gegeben,  oft  Unrecht  zu  begehen, 
wenn  es  aus  Giite  geschieht  und  fur 
die  Gerechtigkeit.  Ohne  Giite  und 
ohne  das  Ziel  der  Gerechtigkeit  gibt 
es  kein  Handeln;  was  man,  falschiich, 
so  nennt,  ist  nur  die  automatische, 
wieder  in  sich  zuriickschnappende  Be- 
wegungeinesangestoBenen  Uhrwerkes. 
Wirkliches  Handeln  ist  aber  stets : 
Handeln  fur  den  Geist.  Und  was  ist 
,,Vermeiden  des  Siindhaften"  anderes 
als  Schmuck;  Dekoration  des  Ethi- 
schen;  Kunstgewerblichkeit  des  Ge- 
meinschaftslebensl  Es  ist  weder  see- 
lische  noch  geistige  Gesinnung,  das 
Bose  aus  dem  Leben  ( — um  einen  fur 
die  Besitzidee  bezeichnenden  Maler- 
ausdruck  zu  gebrauchen  — ) „auszu- 


sparen“.  Es  ist  nur  bequem.  Es  ist  — 
erbarmlich  schauerlichster  aller  Zu- 
stande  — zufriedenstellend ! Kennen 
wir  nicht  jene  hohen,  hellen  und 
jammerhaft  oden  Laboratorien,  Bier- 
hauser,  Kaufpalaste,  in  denen  das 
Storende,  Unangenehme  und  soge- 
nannte  Unklinstlerischeausgespart  und 
vermieden  wurde  ? Sie  sind  die  Kron- 
zeugen  der  Monumentalitat  aus  Men- 
schenangst.  So  fuhrt  auch  die  Ver- 
meidung  des  Siindhaften  zu  einer 
leerhallenden  Architektonik  des  Le- 
bens.  Und  es  bleibt  im  erhabensten 
Falle,  daB  der  Betrachter,  welcher 
menschenfliichtend  im  chaotisch  echo- 
werfenden  Mittelsaal  seines  siind- 
losen  Monumentalhauses  sitzt,  sich 
von  Stinde  frei  glaubt.  Wahrend 
drauBen  rings  um  die  Unschuldsburg 
das  Bose  an  die  Mauem  schaumt. 

Nicht  Vermeidung  des  Bosen  gilt 
es,  sondern  Widerstand  gegen  das 
Bose. 

Aber  der  Widerstand  gegen  das 
Bose  ist  nur  ein  geringer  Kreisaus- 
schnitt  des  Lebens,  und  schon  langst 
einbegriffen  im  groBen  Umkreis  des 
Handelns.  Wer  handelt,  fur  den  Geist 
handelt,  der  iebt  auch  zugleich  stets 
im  Widerstand  gegen  das  Bose. 

Entriickte  und  Ekstatiker  preisen 
die  Zeitlosigkeit.  MiBtraut  ihnen! 
Denn  der  Zeitlose  weiB  nur  vom  Ich, 
nicht  mehr  vom  Anderen.  Er  weiB 
nicht  von  Gut  und  Bose,  nicht  von 
Recht  und  Unrecht.  Er  weiB  nicht 
von  Werten.  Aber  die  Werte  sind 
gottliche  Stundenzeiger  fur  den  Men- 
schen.  Der  Zeitlose  will  uns  glauben 
machen,  er  sei  in  Gott  eingegangen. 
Aber  das  kann  man  nicht.  Und  er 
beliigt  sich  und  uns  um  einer  Aus- 


n voi.  m/a 


72 


Glosscn 


flucht  willen.  Man  kann  nur,  in  der 
groBten  Stunde  des  Lebens,  zum 
eigenen  BewuBtsein  von  der  Existenz 
Gottes  kommen.  Abcr  diese  Stunde 
gibt  unverlierbar  die  gottlichen  Weg- 
weiser,  die  Werte,  in  die  Hand  des 
Menschen.  Dagegen  die  Zeitlosigkeit 
der  Mystiker  ist  nur  eine  Entschuldi- 
gung  fiir  die  Beschaftigung  mit  der 
rein  psychologist: Hen  Verfassung  des 
Menschen,  seiner  elementenmaBigen. 
Die  eitle,  unausgefiillte,  alles  gleich- 
setzende  — entwertende  — Wider- 
standslosigkeit  des  Psychologischen 
gegeniiber  der  metaphysischen  Exi- 
stenz des  Menschen  wird  immer  in 
Zeiten  der  Krise  sichtbar.  Vielmehr 
diese  Sichtbarkeit  rtf  die  Krise. 

Hcilig  sei  uns  die  Zeit.  Die  er- 
habcnste  Forderung  vor  uns  selbst 
heifit:  Jetzt!  Entzeitlichung  heifit 
Aufschub.  Aller  Aufschub  entmenscht 
uns.  Nicht  Vertrostung  tut  heute 


Not,  sondern  Trostung.  Nur  wenn 
wir  geben,  aktiv  lieben  aus  dem  Geiste, 
wenn  wir  handeln : konnen  wir  trosten. 
Nichts  bleibt  uns  iibrig,  als  in  die 
Welt  einzugreifen. 

Der  Aufschub,  die  leeren  Ver- 
sprechungen,  brennen  der  Menschheit 
die  tiefsten  Wunden.  Nur  die  ewige 
und  stets  von  neuem  wundertragende 
Entscheidung  des  Augenblicks,  der 
Mut  zum  unbedingten  „Gleich  Jetzt f‘ 
kann  uns  heilen.  Nicht  einmal  be- 
greifen  werden  wir  die  Ewigkeit,  noch 
weniger  in  ihr  leben,  ohne  das  Gegen- 
maB  des  Jetzt.  Aber  gerade  das 
auBerste,  beschrankteste,  unmittel- 
barste  und  gliihendste  Jetzt  ist  das 
Sprungbrett,  das  uns  im  Sturm- 
schwung  in  die  Ewigkeit  tragt,  und 
selbst,  unter  dem  Anprall  unserer 
FiiBe,  in  Triimmer  fliegt. 

Badwig  ‘Rubmer. 


tfb'mm  dem  OCreuz . 

Ein  Mensch,  zermartert  vom  Wusten 
der  Tage,  in  Notwehr  feindselig  gegen 
alles  um  sich  und  gegen  das  eigene 
Herz,  fltichtete  ins  Gebirge,  fliichtete 
vor  dem  Gebirge  zuriick  in  vertraute 
Umklammerung  des  kleinlich  Promp- 
ten,  erlebte  dieses  Buch,  konnte  wieder 
weinen,  schlug  an  seine  Brust  und 
kniete:  — „Gott,  sei  mir  Sunder 
gnadig!“ 

Franz  Jungs  Dichtung  „Opferung“ 
(im  Verlag  der  Wochenschrift  }fDie 
tflfrtiori*,  Berlin-Wilmersdorf)  hat  jenes 
Leuchten  von  innen,  mit  dem  sich 
jede  wertvolle  Schopfung  beweist, 
jenes  kristallisch  eindringliche  Leuch- 


ten, das  die  Seelen  sich  erschiittert  auf 
sich  selbst  besinnen  laBt.  Weil  sie  ein 
Bekenntnis  ist,  rein  wie  der  Schild,  in 
dem  der  Unerbittliche  sich  spiegelt, 
noch  gliihend  von  der  kostlichen  Miih- 
sal  urns  letzte,  eigene  Hier-stehe-ich, 
mit  keinem  voreiligen  Stigma  bestemt, 
miindend  in  den  groBen  goldenen 
Ozean,  wo  Menschen welle  zu  Men- 
schenwelle  in  ewiger  Umarmung  halt. 
Dabei  nicht  blind  oder  hart  vor  eitel 
Askese,  sondern  gleitend  in  einer  fast 
schon  uberirdischen  Freude,  von  man- 
chem  AuBenwege  und  manchem  ab- 
seitigen  Rasten  einen  zartbunten  Kranz 
und  ein  allgiitiges  Lacheln  mit  hiniiber 
nehmend  in  den  weiten,  noch  kaum 


Glossen 


73 


iibersehbaren  Plan,  in  dem  das  end- 
giiltige,  entscbeidende  Werk  der  Ver- 
heifiung  sich  leistcn  will.  Eine  vor- 
bildliche  Dichtung  — vorbildlich  nicht 
fur  das  Was  des  Lebens:  man  kann  eine 
ganz  entgegengesetzte  Skala  der  Leiden 
und  Gliicklichkeiten,  der  Motivierun- 
gen  und  Endurteile  aufbauen,  aber 
im  hochsten  Grade  vorbildlich  fur  das 

! Wie:  fiir  das  Eine,  das  not  tut,  den 

Grund,  ohne  den  alles  Schmutz  wird 
und  Liige  und  Verlust,  vorbildlich 
fur  die  Frommigkeit,  mit  der  das 
Dasein  gesichtet  werden  muli.  Das 
Wort  Frommigkeit  bekommt  von  sol- 

- cher  Dichtung  seine  schwere  Verant- 

wortung  und  Bedeutsamkeit  wieder 

t und  eine  neue,  zum  reifsten  bereite 

" Jugend.  Nimm  Dein  Kreuz  auf  Dich 

c und  folge  mir  nach ! Aber  mit  cDeinem 

- Kreuze  — Du  Bruder  mein!  — Ich 

mochte  noch  verkiinden,  dafi  ich 
„Opferung“  als  das  vollkommenste, 
schlichteste,  wahrhaftigste  von  den 
Buchern  des  Franz  Jung  fiihle  (die  alle 
schlicht  und  wahrhaftig  sind).  Dafi 
eine  Musik  darin  ist,  die  im  Blute 
bleibt  . . . im  Blute  Bliiten  aufers'ehen, 

: im  Blute  Glockchen  schwingen  lafit . . . 


Als  ob  der  Dichter  in  einer  glasernen 
Kugel  nachtlich  iiber  aller  Welt  schwe- 
bend  einmal  so  nahe  seines  Herzens 
unbeirrtesten  Ton  erhascht  hatte,  wie 
man  ihn  nur  in  der  Stunde  horen  darf, 
die  man  mit  dem  ganzen  Leben  zu 
zahlen  entschlossen  ist.  Nichts  wird 
abgetuscht,  nichts  nachgestickt  — der 
ganze  Passions  - und  Heils  - Weg  noch 
einmal  von  Anbeginn  zu  Anbeginn 
durchschritten,  erhobenen  . . . fast 
erhobenen,  nicht  stolzen,  gliickselig 
halb  geneigten  Hauptes...  wie  lau- 
schend  auf  eine  bestarkende,  innere 
Harmonie...  mit  einem  beinah  tan- 
zerischen,  priesterlich  tanzerischen, 
sicheren  Schritt...,  der  im  Aller- 
heiligsten  mit  den  grofien  Schwingen 
einer  Bachschen  Orgel  sich  giirtend 
jetzt  schon  den  rechten  Fufi  auf  die 
Stiege  stellt,  die  eines  Mondstrahls 
aufierster  Schnee  uns  griifit  . . . Eine 
grofie  Beichte  vor  Gott. 

Eine  grofie  Himmelfahrt  . . . mit  Dir 
Du  Bruder  mein  — wenn  Du  ftem 
Kreuz  sehen  willst  und  heben  und 
behalten!...  Eine  Stufe  zur  Er- 
losung. 

Wax  ZKerrmann**Keifie. 


QZoetenleben. 

Auf  Grund  der  Ermittlungen,  die 
wir  geglaubt  haben  veranstalten  zu 
sollen,  konnen  wir  sagen,  dafi  dieser 
Poet  eine  verhaltnismafiig  mangelhafte, 
d.  h.  diirftige  Erziehung  genofi,  und 
wir  glauben  uns  daher  berechtigt,  Fra- 
gen  aufzuwerfen,  wie  folgende:  Woher 
schdpfte  er  das  unerlafiliche  bifichen 
Bildung,  welches  nach  unserem  Dafiir- 
halten  ein  Poet  notwendigerweise  be- 


sitzen  mufi?  Die  Antwort  lautet:  Es 
gibt  ja  Lesesale,  voll  Lesestoff,  in  der 
Welt.  Zum  Teil  liegen  diese  Lese- 
zimmer  ja  sogar  im  Griinen,  derart,  dafi 
der  emsige  Leser,  wenn  er  am  offenen 
Fenster  sitzt,  noch  eine  Augen-  und 
Ohrenfreude  mithat,  wofiir  er  Gott 
dankt.  Aufierdem  haben  wir  gefalligst 
Stadtbibliotheken,  die  jedem  jungen 
und  unbescholtenen  Menschen  zugang- 
lich  sind  und  zum  Vorteil  gereichen. 
Der  Poet,  den  wir  hier  im  Auge  haben, 


74 


Gloss  en 


scheint  friih  schon  eincn  gewissen  Bil- 
dungsdurst  heftig  bewiesen  undfreund- 
HcH  an  den  Tag  gelegt  zu  haben,  was 
selbstverstandlich  durchaus  anerken- 
nenswert  is*.  Wir  schenken  einem  Ge- 
riicht,  das  uns  zu  Ohren  gekommen  ist 
und  das  besagte,  dafi  unser  Cegenstand 
hier  eine  Zeitlang  SfraBen  gefegt  und 
gereinigt  haben  soil,  deshalb  keinerlei 
Glauben,  weil  wir  wissen,  daB  da  eher 
Dichtung  und  Phantasie  als  Wahrheit 
und  Wirklichkeit  mitspielen.  Bespro- 
chener  war  vielmehr  zu  seinem  absolut 
nicht  geringen  Nutzen  zeitweilig  in  der 
Abteilung  fur  Inseratenwesen  einer  be- 
deutenden  Verlagsanstalt  tatig,  womit 
wir  deutlich  dartun,  daB  es  sich  in 
diesem  Poetenleben  mehr  um  sorgsame 
und  saubere  Schreib-  als  um  Arbeit 
mit  dem  StraBenbesen  handelte.  Die 
feinsinnige,  spitzige,  zarte  Schreib- 
feder,  welche  iiber  das  Blatt  Papier 
grazios  und  behend  hinschweift,  um 
allerlei  niedliche,  zierliche  Zahlen  und 
Satze  zu  zeichnen,  spielte  in  dem  Da- 
sein,  das  uns  interessiert,  von  jeher  eine 
ausschlaggebende  Rolle.  Hammer- 
schlage  und  Axthiebe  sind  und  waren 
hier  so  gut  wie  ganzlich  ausgeschlossen. 
Mit  Nageln  hat  Reflektant  oder  Mittel- 
punkt  dieser  Zeilen  nur  immer  inso- 
weit  irgend  etwas  zu  tun  gehabt,  als  er 
etwa  ein  Bild  an  die  Wand  seines  Zim- 
mers nagelte  und  heftete,  woraus  der 
SchluB  gezogen  werden  darf,  daB  er 
weder  jemals  schlosserte  noch  jemals 
schreinerte,  was  iibrigens  durchaus 
weiter  nicht  ilbel  gewesen  ware.  Wir 
und  solche,  die  ahnlich  denken  wie  wir, 
stehen  auf  dem  Standpunkt,  daB  jeg- 
liche  fleiBig  begonnene  und  mit  festem 
Willen  weitergetragene  Arbeit  den 
adelt,  der  sie  verrich*et.  Ob  nun  eine 


Speditionsfirma  oder  eine  Bankanstalt 
allerersten  Ranges  oder  eine  stille,  ver- 
borgene  Rechtsanwaltei  (Advokatur) 
hier  in  Betracht  und  ins  Cewicht  fallt, 
mehr  oder  weniger  bedeutsam  am 
Dichterleben  mitwirkte  oder  nicht : 
dieses  zu  priifen  muB  doch  wohl  zu- 
nachst  vollig  nebensachlich  sein,  und 
es  konnen  uns  diese  Dinge  vorlaufig 
merklich  kuhl  lassen.  Wir  haben  uns 
hier  mehr  um  innere  als  um  auBere 
Beziehungen  zu  kiimmern  und  mehr 
mit  Merkwurdigkeiten  als  mit  Ober- 
flachlichkeiten  zu  beschaftigen.  Inneres 
weist  zwar  unserer  Meinung  nach 
immer  auch  auf  AuBeres  hin,  wie  denn 
z.  B.  eine  Regierung  innere  so  gut  wie 
auBere  Angelegenheiten  zu  behandeln 
hat  und  umgekehrt. 

Uns  geniigt  einstweilcn  die  Tatsache 
sehr,  daB  wir  in  der  angenehmen  Lagfe 
sind,  mit  nicht  wieder  umzustiirzender 
und  wegzufegender  Bestimmtheit  fest- 
stellen  zu  konnen,  daB  Gegenstandant 
oder  Zielscheibe  Handelsbeflissener 
war  und  daB  er  als  solcher  stets  bemiiht 
war,  feinste  Zeugnisse  sowohl  wie  beste 
Empfehlungen  einzuheimsen.  Neben- 
bei  scheint  er  schon  sehr  friih  ange- 
fangen  zu  haben,  auf  kleine  Streifen 
Papier  Gedichte  zu  schreiben.  Er  saB 
in  allerlei  geheizten  oder  ungeheizten 
Zimmern,  Gelassen  und  Gemachem, 
bei  jederlei  Wetter,  zu  jeder  Tages-  und 
Jahreszeit,  um  sich  seinen  Phantasien 
mit  mehr  oder  weniger  Genugtuung  in 
der  denkbar  auBersten  Weltentlegen- 
heit,  zeitweise  wenigstens,  zu  iiber- 
lassen.  Zu  bemerken  ist  hiebei,  daB 
wir  uns  jedes  Urteiles  iiber  den  Poeten 
entschlossen  sind  zu  enthalten.  Wir 
teilen  einfach  hiibsch  mit,  was  uns  ge- 
lungen  ist  in  Erfahrung  zu  bringen. 


dosstn 


75 


Fest  steht  immerhin,  daB  es  dem 
Poeten  beliebte,  iiberaus  eigensinnig 
zu  verfahren.  Warum  tat  er  das?  Hm ! 

Wenn  sich  bewahrheiten  sollte,  was 
einige  Leute  behauptet  haben  und  noch 
immer  behaupten,  namlich,  daB  unser 
Held  und  jugendllcher  Liebhaber  zu 
einer  Zeit,  wo  er  als  Hotter  und  pflicht- 
eifriger  Hilfsbuchhalter  auf  einem 
Transport -Versicherungsinsti  tut  be- 
schaftigt  war,  auf  FlieB-  oder  Losch- 
papier,  wie  man  es  fur  dicke  Folianten- 
biicher  und  Hauptbiicher  verwendet, 
die  Kopfe  seiner  Herren  Bureau- 
kollegen  beziehungsweise  Herren  Vor- 
gesetzten  abzeichnete,  gleichsam  eine 
bochinteressante  Bildergalerie  produ- 
zierend,  so  mag  das  ja  an  sich  gewiB 
ganz  nett  und  spaBhaft  sein.  Fiirkenn- 
zeichnend  konnen  wir  indessen  der- 
artige  Obungen  kaum  halten.  Hoch- 
stens  kann  das  beweisen,  daB  der  junge 
Mann  hin  und  wieder  nicht  besonders 
stark  durch  seine  Obliegenheiten  be- 
ansprucht  war,  was  man  ja  geneigt 
sein  kann  zu  bedauern.  Es  wird  mit- 
geteilt,  daB  einer  der  Herren,  deren 
Bildnisse  der  Poet  anfertigte,  dem- 
selben  bei  Gelegenheit  gesagt  haben 
soil:  „Ei  ei,  Sie  haben  Talent.  Gehen 
Sie  doch  zwecks  weiterer  Ausbildung 
nach  Miinchen.  Hier  im  Bureau  sind 
derlei  Kunstleistungen  unpassend. 
Zeichnerische  Begabung  muB  hier  ja 
verkiimmern  und  die  Taten  eines  zu- 
kunftigen  Genies  sind  hier  nicht  am 
Platz."  Auf  diese  satirische  und  spot- 
tische  Bemerkung  soil  laut  Aussage  der 
hier  Beschriebene  erwidert  haben : „Ich 
kann  unmoglich  glauben,  daB  ich  der 
geborene  Maler  bin,  wie  Sie  meinen. 
Es  scheint  mir  eher,  daB  ich  starke  An- 
iagen  und  eine  ganz  gehorige  Ader  zum 


Schriftsteller  habe.  Ich  danke  Ihnen 
herzlich  fiir  Ihren  so  aufrichtig  und 
ehrlich  empfundenen  und  gemeinten 
Wink,  nach  Miinchen  zu  gehen.  Ehe 
ich  jedoch  nach  Miinchen  ginge,  spa- 
zierte  und  ginge  ich  weit  lieber  in  den 
Kaukasus,  wo  ich  Abenteuer  anzu- 
treffen  hoffen  konnte,  wie  doch  wohl 
son st  nirgends/* 

Im  Zeugnis,  welches  ihm  anlaBlich 
seines  Austrittes  aus  dem  Hilfsbuch- 
halterposten  ausgehandigt,  wurde,  ste- 
hen  unseres  Wissens  die  beziehungs- 
reichen  und  anspielungsgesattigten 
Worte:  „Er  hat  sich  als  hochst  brauch- 
bar,  ehrlich,  fleiBig,  pflichttreu  und 
talentvoll  erwiesen,  und  er  begibt  sich 
auf  durchaus  eigenen  Wunsch  in  ange- 
messene  Entfernung.  Sein  Wirken  auf 
Loschpapier  wird  uns  immer  unver- 
geBlich  bleiben.  Seine  kiinstlerischen 
Leistungen  haben  uns  entziickt,  und 
wir  bedauern  daher  seinen  schleunigen 
Austritt.  Wir  fiihlten  uns  genotigt,  ihn . 
flehentlich  zu  ersuchen,  uns  zu  ver- 
lassen,  damit  er  seine  feine,  zarte  Be- 
gabung nicht  ganzlich  ruiniere.  Indem 
wir  ihn  baten,  spazieren  zu  gehen, 
wiinschten  wir  ihm  auf  seine  zukiinf- 
tige  beschwerliche  Laufbahn  alles  er- 
denkliche  Gliick,  und  indem  er  sich 
entschliefit,  Abschied  von  uns  zu  neh- 
men,  sind  wir  mit  ihm  so  zufrieden, 
wie  wir  es  gar  nicht  sagen  konnen.  Die 
Buchhaltung  hat  er  jederzeit  so  ge- 
fiihrt,  wie  wir  vermuten  mufiten,  daB 
er  sie  fiihren  werde.  Sein  Betragen  gab 
im  allgemeinen  zu  weiter  keinen  als  nur 
zu  ^inigen  winzig  kleinen  Bedenken 

AnlaB/* 

Uns  scheint,  daB  in  diesem  Poeten- 
leben  ein  ungewohnlich  haufiger  Stel- 
len-  sowohl  wie  Ortswechsel  stattge- 


76 


Glossen 


funden  hat,  und  wir  wollen  gerne  be- 
kennen,  daB  wir  das  einigermaBen  be- 
greifen,  weil  wir  notwcndigerweise  ein- 
sehen  und  zugeben  miissen,  daB  eine 
junge  Seele,  welche  sich  berufen  fiihlt, 
zu  dichten,  dcr  Freiheit  und  der  Be- 
weglichkeit  bedarf.  Es  erscheint  uns 
ganz  klar,  daB  sich  ein  Poet  unter  alien 
Umstanden  zu  befreien,  zu  entfalten 
suchen  muB;  denn  ohne  Freiheit  gibt 
es  sicherlich  auch  keine  Entfaltung; 
und  eine  menschliche  Entwicklung 
lauft  nicht  ohne  Situationen  ab,  die  den 
Bildner  derselben  mitunter  in  ein 
schlechtes  Licht  stellen.  Wir  behaup- 
ten,  daB  wir  dies  ohne  weitere  Urn- 
schweife  anerkennen,  wiewohl  uns 
manches  eigenthch  noch  unklar  sein 
mufi. 

Auf  dem  Zentralstellenvermittlungs- 
bureau  war  Traktant,  wie  wir  zu  wissen 
glauben  diirfen,  eine  nachgerade  satt- 
sam  bekannte  Bewerberfigur.  Seine 
Erscheinung  und  seine  Personlichkeit 
lockten  daselbst  regelmafiig  eine  Art 
ironisches  Lacheln  hervor. 

,,Ist  es  wahr,  dafi  Sie  Gedichte 
schreiben?4*  fragte  man  ihn. 

,,Jat  ich  glaube  es  fast/4  gab  er  sanft 
und  gutmiitig  und  demutvoll  zur  Ant- 
wort.  Es  ist  klar,  daB  eine  solche  zarte 
Antwort  allgemein  belachelt  werden 
muBte,  was  denn  auch  tatsachlich  statt- 
fand.  Der  Poet  scheint  da  und  dort 
auch  als  Vorleser  bei  hohen  Damen 
stark  in  Betracht  gefailen  und  beliebt 
gewesen  zu  sein.  Er  las  Selbstgedich- 
tetes  so  gut  wie  anderes  mit  einem  An- 
stand  und  mit  einer  Zungenfertigkeit 
vor,  die,  wenn  nicht  Staunen  und  Be- 
wunderung,  so  doch  wenigstens  Zu- 
friedenheit  und  Vergniigen  erregten. 
Das  Essen,  das  er  aB,  war  dagegen 


mehr  schmal  und  dunn  als  iippig  und 
reichlich,  und  eher  ungeniigend  als  be- 
friedigend.  Auf  diese  Tatsache  ist  je- 
doch  unseres  Ermessens  nach  kein  allzu 
hohes  Gewicht  zu  legen.  Es  ist  ziem- 
lich  gleichgiiltig,  ob  ein  Poet  nur  eine 
Suppe  mit  Wurst  oder  ob  er  g&nze 
Speisekarten  voll  wegifit;  Hauptsache 
ist,  wenn  ihm  gute  Gedichte  entstehen, 
und  die  entstehen  und  entschliipfen 
ihm  bei  zarter  und  magerer  Kost  besser 
als  bei  irgendwelcher  andem.  davon 
sind  wir  fest  iiberzeugt.  Einem  Poeten 
steht  es  wohl  an,  schlank  zu  sem,  er  soli 
einen  durchgeistigten  Anblick  gewah- 
ren;  man  soil  ihm  aus  betrachtlicher 
Entfernung  schon  ansehen  konnen,  daB 
er  sich  verhaltnismaBig  mehr  mit  tage- 
langem  Denken  als  mit  stundenlangem 
materiellen  Schwelgen  abgibt.  Dick- 
leibige  Dichter  sind  etwas  wie  ein  Ding 
der  Unmoglichkeit.  Dichten  heiBt 
nicht  dick  werden,  sondern  heiflt  fasten 
und  entbehren.  Von  dieser  Auffassung 
auch  nur  einen  Schuh  oder  eine  Hand 
breit  abzuweichen,  soil  fur  uns  ausge- 
schlossen  sein,  und  es  soil  niemandem 
gelingen,  uns  irgend  welche  andere 
Den  kart  aufzuzwingen  oder  abzu- 
notigen. 

Obrigens  diirften  den  Poeten  von 
Zeit  zu  Zeit  wohlhabende  und  frei- 
gebige  Leute  zum  Essen  eingeladen 
haben,  was  wir  aber  allerdings  hoch- 
stens  nur  vermuten  konnen.  Diesbe- 
ziighche  Beweise  herbeizuschaffen,  war 
uns  leider  nicht  moglich,  so  sehr  wir 
uns  darum  Miihe  gegeben  haben. 

Soviel  uns  gelungen  ist  auszukund- 
schaften,  und  soweit  wir  giiicklicher- 
weise  haben  zu  Kenntnis  gelangen  kon- 
nen, war  er  aufierst  sparsam,  haushalte- 
risch,  ja  in  mancher  Hinsicht  sogar  ein 


i 


Glosscn 


77 


wenig  geizig.  Auslagen,  Kosten  und 
Spesen  hatte  er  erstaunlich  wenig. 
Schneidern  und  Arzten  gab  er  jahraus 
jahrein  fast  so  viel  zu  verdienen  wie 
nichts.  Da  er  ein  ausgesprochener 
Freund  von  Wanderungen  war,  so  sah 
man  ihn  vielfach  mit  Schuhmachern 
verkehren,  denen  er  die  Aufgabe  uber- 
trug,  das  zerrissene  und  zerlocherte 
Schuhwerk  auszubessern.  Was  die 
Kleider  betrifft,  so  trug  er  meistens  ge- 
schenkte  Anziige,  und  zu  Medizinern 
zu  springen  hatte  er  keine  zwingende 
Ursache,  weil  es  ihm  an  Gesundheit 
nicht  fehlte  und  er  nicht  das  geringste 
(Jbelbefinden  aufzuweisen  hatte,  was 
fur  ihn  natiirlich  von  grofiem  Vorteil 
war.  Er  ersparte  damit  ebensogut  Geld 
wie  Zeit.  Der  Arzt  freilich  vermochte 
ihn  nicht  zu  loben,  aber  wir  erinnern 
hier  an  den  alten  Spruch,  welcher 
lautet:  Man  kann  es  mit  dem  besten 
Willen  nicht  jedermann  recht  machen. 
Irgendwie  und  -wo  stoBt  der  vorziig- 
lichste  Mensch  an. 

Wie  er  zur  Politik  stand,  wollen  wir 
ununtersucht  lassen ; ebenso  wenig 
sollen  wir  ausmitteln  oder  nur  anfragen 
wollen,  ob  er  fleiBig  zur  Kirche  ging 
oder  nicht.  Das  Alltagliche,  Natiir- 
liche,  Nii'zliche,  Dienliche  und  Prak- 
tische  war  es,  das  ihm  nahe  lag.  Er 
scheint  das  von  seinem  Vater  geerbt  zu 
haben.  Vom  Vater  ging  jedenfalls  unter 
anderem  auch  eine  Spur  und  Portion 
Ironie  auf  ihn  iiber,  die  ihm  nachlief 
und  ihm  treulich  anhing  wiedem  Herrn 
oder  der  Herrin  das  folgsame  Hiind- 
chen,  das  nicht  aufhdrt,  folgsam  und 
anhanglich  zu  sein,  obschon  es  viel- 
leicht  manchmal  Schlage  kriegt. 

Wenn  wir  uns  nicht  irren,  so  arbeitete 
er  einmal  acht  Tage  lang  im  Kontor 


eines  Elektrizitatswerkes.  Nach  Ver- 
lauf  dieser  kurzen  Zeit  beschied  ihn 
der  Herr  Direk-  or  auf  das  Direktions- 
zimmer  und  setzte  ihm  mi?*  kurzen 
Worten  auseinander,  dafi  in  hohen  und 
vornehmen  Industriebetrieben,  welche 
auf  nur  allerfeinsten  Voraussetzungen 
beruhen,  Menschen  unmoglich  ge- 
duldet  werden  konnen,  von  denen  es 
erstens  heifit,  daB  sie  dichten  und  von 
denen  es  zweitens  verlautet,  daB  sie 
Umgang  mit  Leuten  pflegen,  die  nicht 
zur  bessern  und  besten  Klasse  zahlen. 

Der  Poet  hatte  namlich  hin  und 
wieder  Umgang  mit  nicht  sonderlich 
sauberen  Elementen.  Er  war  in  dieser 
Hinsicht  nicht  immer  sehr  klug,  aber 
er  war  menschlich. 

An  Etablissementen  und  Handels- 
hausern,  in  denen  er  zu  seinem  mehr 
oder  weniger  starken  und  grofien 
Nutzen  tatig  war,  sind  ferner  zu 
nennen : eine  an  der  schaumenden  und 
blauen  Aare  gelegene  Bierbrauerei,  eine 
Hilfs-  oder  Spar-  und  Leihkasse,  eben- 
falls  umgeben  von  reizender  Architek- 
tur  und  Landschaft,  eine  Nahmaschi- 
nenfabrik,  wo  er  sich  ganz  prachtig  be- 
wahrte,  eine  Strumpfbandweberei,  wo 
er  den  Schatz  seiner  Kenntnisse  nicht 
ganz  unwesentlich  vermehrte. 

Es  handelt  sich  also  demnach  in  die- 
sem  fast  kleinlichen  und,  wie  wir  sagen 
mochten,  proletarischen  Poetenleben 
hauptsachlich  um  Arbeit  in  allerhand 
Schreibstuben  und  Bureaus,  um  man- 
cherlei  Stellenwechsel,  also  um  etwas 
durchaus  Alltagliches  und  Gewohn- 
liches,  sozusagen  um  Zweierlei:  um 
Bureauarbeit  und  um  Landschaft,  um 
ein  Stellenbekleiden  und  ein  Stellen- 
preisgeben,  um  ein  Herumwandern  in 
der  freien  Natur  und  um  ein  Sitzen, 


V 


Glossen 


Schreiben  und  Festkleben  an  kauf- 
mannischen  Schreibtischen,  die  man 
Pulte  nennt,  um  cine  Freiheit  sowohl 
wie  um  eine  Gefangenschaft,  um  eine 
Ungebundenheit  sowohl  wie  um  eine 
Fessel,  um  Not,  Bediirfnis,  Sparsam- 
keit  sowohl  wie  um  uppiges  Ver- 
schwenden  und  kostliche  Geniisse,  um 
Arbeit  sowohl  wie  um  Vergniigen,  um 
saure  Pflichterfullung  sowohl  wie  um 
vergnugliches  Schlendem,  Vagabun- 
dieren  und  Spazieren.  Aus  diesen  und 
Shnlichen  Oingen  empfing  der  Poet 
seinen  poetischen  Grund  und  Boden. 
Die  Jahreszeiten,  die  Liebe,  die  Musik, 
die  Phantasie,  Stadt  und  Land  und  die 


Malerei,  die  Gefiihle,  die  Gedankenv 
das  Leben  und  die  wachsende  Bildung 
gaben  seiner  Poesie  die  Nahrung,  deren 
sie  zu  ihrem  Gedeihen  bedurfte.  So 
lebte  er  hin.  Was  aus  ihm  wurde,  wie 
es  ihm  sp&ter  erging,  entzieht  sich  un- 
serer  Kenntnis.  Weitere  Spuren  ver- 
mochten  wir  einstweilen  nicht  zu  ent- 
decken.  Vielleicht  gelingt  uns  das  ein 
anderes  Mai.  Wir  wollen  sehen,  und 
sobald  wir  irgend  etwas  Neues  aus- 
(indig  gemacht  haben,  soli  es  mit  Ver- 
gniigen  mitgeteilt  sein.  Natiirlich 
miissen  wir  dabei  in  erster  Linie  ein 
Interesse  voraussetzen  dQrfen. 

\ Robert  Walker. 


do  (dot  im  TeUd. 

So  ich  einst  nach  Haus  komm  — gehe 
ich  durch  unsre  Gasse, 

geh  durch  unsre  Gasse  hin,  langsam 
und  stille, 

werde  wiedersehn  den  Gehsteig,  alle 
Fenster,  alle, 

wird  jemand  reden,  bleibe  ich  stumm. 

Dann  aber  erblick  ich,  dann  aber 
erblick  ich 

ein  seltsam  Ding.  Trockne  vor  Sehn- 
sucht  ein, 

bis  ich  sie  wiederseh,  bis  ich  sie  wie- 
derseh, 

und  zu  ihr  sage:  Hauschen  mein,  Herd 
mein,  Nestchen  . . . ! 

Auf  jedem  Stiifchen,  ach  wie  ich 
schrumpfe, 

das  wird  eine  Schlachti  Und  wacker 
entgegen ! 


Kommt  mir  die  herrliche  Fraue  ent- 
gegen, 

stiirz  ich  dahin  ins  Gras,  ins  tiefe 
Gras  hin. 

Dahin  ins  tiefe  Gras  — wenn  ich  nach 
Haus  komm, 

setz  ich  mich  zur  Frau,  lafi  von  ihr 
den  Blick  nicht  durch  drei  Tage. 

Nachts  werd  ich  still  bei  ihr  schlafen. 
Morgens 

herrlich,  ach,  herrlich  werden  ihre 
Hande  auf  der  Decke  sein. 

Sag  ihnen  alles.  Und  werde  rein  sein. 
Steh  auf  dann, 

begieBe  die  Fensterblumen.  Finde 
unter  ihren  Blattchen 

griines,  gesegnetes  Leben.  Werde  sein 
wie  ein  Bauer  und  Hirte. 

*Frd)ta  dr  dm  etc 
(Deutsch  von  Oito  *Pic£). 


Glossen 


79 


Flotizen, 

Jakob  Hegner  in  Hellerau  verschickt 
wieder  ein  Buch  von  Theodor  ‘Ddubhr : 
„Der  ncuc  Standpunkt**.  Elf  Essais 
uber  junge  Kunst,  uberschrieben : Si- 
multanitat,  Unser  Erbteil,  Munch, 
Barlach,  Matisse,  Henri  Rousseau, 
Chagall,  Marc,  Picasso,  Futuristen, 
Expressionismus.  Einige  davon  haben 
in  den  „Weissen  Blattern44  gestanden. 

Daublers  Art,  Kunst  zu  schauen: 
die  immer  gleiche  Land  sc  ha  ft  im  wech- 
selnden  Licht,  darin  Kiinstler  wie  eine 
grosse  farbige  Blume,  die  wandert,  oder 
breit  ausladend,  in  dichter  Fillle  ver- 
zweigt,  fest  und  rund,  wie  ein  Baum. 
Nie  hat  es  — auch  nicht  in  den  „Sa- 
lons"  der  Dichter  wie  Gautier  und 
Baudelaire  — eine  weniger  „kritische“ 
Betrachtung  von  Kunst  und  Kiinstlern 
gegeben.  Manchmal,  wenn  er  etwa 
von  Rousseau  sprichtoder  von  Chagall, 
erzahlt  er  die  schonsten  Marchen. 
Jedoch  ganz  und  gar  nicht  nur  „bei 
Gelegenheit  von  Rousseau,  von  Cha- 
gall so  wie  Andr4  Gide  friiher  ,,bei 
Gelegenheit*’  dieses  oder  jenes  Buches 
Visionen  skizzierte,  denen  er  die  Be*- 
zeichnung  „Vorw8nde"  gab.  Rousseau 
und  Chagall  sind  fur  Daubler  nicht 
Vorwand,  sie  sind  eine  Ecke  seiner 
eigenen  verschleiert  ilppigen  Natur,  die 
sie,  Rousseau  und  Chagall,  ihm  ent- 
hiillen.  Da  geschieht  die  schone  Ver- 
wandlung  des  Ich  nnd  Du  in  die  hohere 
Einheit  Bild,  das  nun  von  dieses  Be- 
trachters  Gnaden,  doch  ganz  in  der 
eigenen  ungeteilten  Pracht  besteht. 
Die  Romantiker  haben  ahnliches  ver- 
sucht.  Aber  ihnen  fehlten  fast  alle 
Voraussetzungen  zum  Gelingen  solcher 


Kommunion : die  Vertrautheit  mit  dem 
Handwerk,das  briiderliche  Zusammen- 
und  Mitleben  in  Iangen  Jahren, 
Wachen  und  Schlafen  in  Ateliers,  ge- 
mein  same  Fahrten,  Arbeiten  zu  zweit 
im  selbem  Geist,  und  vielleicht,  viel- 
leicht  auch  die  adequate  Kunst.  Sie 
waren  um  vieles  alter  oder  jiinger,  als 
diebildende  Kunst,  die  sie  vorfanden. 
Sie  logen,  wo  sie  ein  Bildwerk  mit 
Worten  entzaubem  wollten,  sie  mubten 
vergewaltigen,  um  zu  lieben. 

In  Daubler, 

einem  Balzac  des  Verses, 
voll  uberstromenden  Reichtums,  un- 
ban  digen  Fleisses, 
ungleich, 

vulkanisch  und  mondsiichtig,  weit- 
schweifig  und  prazis,  rund  und 
eclrig,  zart  und  hart, 

Seite  auf  Seite  haufend,  Buch  auf 
Buch, 

wie  die  Tage  kommen, 

lebt,  fern  und  nah,  unsere  ganze  Zeit. 

* 

Alfred  9f.  Fried  hat  in  eincr  Bro- 
schiire,  die  bei  Orell  Fiissli  (Zurich) 
erschienen  ist  und  2 Franken  kostet, 
zwanzig  Kriegsaufsatze  zusammenge- 
stellt:  „Vom  Weltkrieg  zum  Welt- 
frieden**.  Hier  eine  Reihe  von  Zitaten 
aus  den  verschiedenen  Aufsatzen. 

Aus  dem  ersten:  „Operieren  oder 
behandeln?41,  der  zwei  Monate  vor 
Kriegsausbruch  erschien: 

„Els  ist  vielleicht  einer  der  gcfahr- 
lichsten  Augenblicke  in  der  geschicht- 
lichen  Entwicklung  unseres  Erdteils, 
den  wir  durchleben.  Gefihrlich,  weil 
die  Verzweiflung  die  Entscheidung 
bringen  kann,  und  die  Stimme  der 
Vemunft  in  solchen  Augenblicken  an 


80 


Glossen 


Macht  verlicrt.  Das  durch  einen  Krieg 
aus  seiner  unhaltbaren  Lage  befreite 
Europa  kdnnte  den  Gewaltwahnsinn 
uberwunden,  aber  selbst  aufgehort 
haben  zu  bestehen  und  das  wohl- 
vorbereitete  Opfer  werden  der  vom 
Osten  anriickenden  jungen  Kulturen 
und  der  Vasall  der  verjiingten  alten 
Kuitur  des  jenseitsseeischen  Westens. 
Wir  wollen  aber  Europa  soretten,  daB 
es  erhalten  bleibt,  und  deshalb  rniissen 
wir  in  dieser  gefahrlichen  Stunde  unsere 
Krafte  einsetzen,  um  die  Verzweifeln- 
den  vor  Verzweiflungsschritten  zuriick- 
zuhalten.  Nicbt  operieren,  behandeln 
rniissen  wir  das  Obel.  Wo  friiher  der 
einzelne  Staat  mit  seinem  Gegner  einen 
Streit  auskampfen  konnte,  sieht  er  sich 
jetzt  der  Verantwortung  gegeniiber, 
einen  Weltbrand  zu  entziinden.  Die 
schonen  Zeiten  sind  fiir  immer  vorbei, 
wo  man  seine  eigenen  Kriege  gefiihrt 
hat.  Ein  jeder,  der  heute  das  Macht- 
wort  ausspricht,  das  die  Gewaltmittel 
in  Bewegung  setzt,  verpflichtet  die 
gesamte  Staatenfamilie  zu  diesem 
Kampf.44 

Der  zweite  Aufsatz  1st  der  erste  nach 
Kriegsausbruch  veroffentlichte.  Er 
heiBt : „Der  Krieg4'  und  beginnt  tapfer 
mit  den  Worten : „Die  Friedensarbeit 
wird  fortgesetzt!44  Dann  heiBt  es  wei- 
ter : „Auch  dieser  Krieg  wird  zum  Frie- 
den  fiihren.  Aber  daB  es  kein  Friede 
der  alten  Art  werde,  mit  Landerver- 
teilung  blofi  und  Kriegsentschadigung, 
sondern  ein  wirklicher  Friede,  der  das 
Verhaltnis  der  Staaten  zueinander  auf 
eine  neue,  gesicherte  Grundlage  stellt, 
dafiir  rniissen  wir  uns  rechtzeitig  ein- 
setzen.  Es  ware  Wahnsinn,  wenn  all 
dieses  Blut  vergossen  werden  wiirde, 
um  einen  Zustand  neu  zu  besiegeln. 


der  in  erneutem  Wettriisten,  in  erneu- 
ter  MiBgunst  und  Anarchie  der  Weis- 
heit  letzten  SchluB  sahe  wie  bisher. 
Nein!  Eine  neue  Welt  mufi  erstehen 
aus  diesem  Kriege,  die  mit  der  alten 
nichts  mehr  gemein  hat.  Dieser  erste 
Weltkrieg  muB  zu  dem  notwendigen 
Weltfrieden  fiihren. 

Eine  Probe  auf  die  Richtigkeit  unse- 
rer  Lehre  bildet  dieser  Krieg  heute 
schon.  Er  weist  die  Formen  und  Zei- 
chen  auf,  die  wir  vorher  verkiindet 
haben.  Er  be  weist  in  seiner  Art  die 
engen  Zusammenhange  der  Mensch- 
heit,  auf  denen  wir  unsere  Lehre  auf- 
bauten.  Dieser  Weltkrieg  ist  an  sich 
der  Beweis  eines  vorhandenen,  aber 
noch  nicht  erkannten  Weltzusammen- 
hanges.  Es  ist  eine  eigentiimlich  an- 
mutende  Erscheinung  zu  sehen,  daB 
alle  die  Volker,  die  sich  heute  blutig 
zerfleischen,  dies  um  des  gleichen 
Zieles  wegen  tun.  Es  ist  die  Einig- 
keit  mitten  in  der  Zwietracht.  Alle 
fiihren  den  Krieg  um  ihre  Sicherheit. 
Da  die  fortwahrenden  gegenseitigen 
Bedrohungen,  die  bisher  herrschende 
Unsicherheit,  das  Ergebnis  der  zwi- 
schenstaatlichen  Anarchie  waren,  unter 
der  Europa  litt,  da  die  Sicherheit  nur 
das  Ergebnis  einer  zwisehenstaatlichen 
Ordnung  sein  kann,  so  tobt  dieser 
Weltkrieg  um  kein  anderes  Ziel  als 
jenes,  das  die  Grundlage  der  pazifi- 
stischen  Bewegung  bildet.44 

Nach  einem  halben  Jahr  Krieg  rich- 
tet  Fried  einen  tflufruf  an  die  geistigen 
* T&firer  alter  Wationen,  der  im  Satze 
gipfelt,:  „Seid  die  Briickenkopfe,  die 
intakt  erhalten  bleiben  rniissen,  damit 
die  Briicken,  die  heute  allerorten  ge- 
sprengt  wurden,  wieder  hergestellt 
werden  konnen.44 


V 


Glossen 


Am  ersten  Jahrestag  des  Krieges  wird 
an  einige  Vorgange  erinnert,  die  sich 
in  dem  Vierteljahr  vor  den  verhang- 
nisvollen  Julitagen  von  1914  zugetra- 
gen  haben.  Die  Leporelloliste  von 
aufrichtigen  Taten  und  Heucheleien 
enthalt  unter  andern  ahnlichen  folgende 
Daten : 

22.  April.  Ober  2000  sozialistische 
Frauen  verschiedener  Lander  veran- 
stalteten  eine  Massenkundgebung  in 
Berlin  for  den  Weltfrieden. 

26.  April.  Der  mexikanisch-ameri- 
kanische  Konflikt,  der  zum  Krieg  aus- 
zuarten  drohte  (Bombardement  von 
Tampico,  Einnahme  von  Veracruz), 
wird  durch  Annahme  der  von  den 
A-B-C-Staaten  angebotenen  Vermitt- 
lung  seitens  der  Union  friedlich  bei- 
gelegt. 

26.  April.  Das  Exekutiv-Komitee 

der  Inter parlamentarischen  Union  lafit 
durch  einen  SonderausschuB  die  Frage 
behandeln,  wie  dem  Wettriisten  der 
GroBmachte  ein  Ende  bercitet  werden 
soil. 

29.  April.  Im  HaushaltsausschuB 
des  deutschen  Reichstags  erklart  Mini- 
sterialdirektor  Dr.  Kriege,  daB  Deutsch- 
land dem  Schiedsgerichtsgedanken 
durchaus  nicht  feindlich  gegenuber- 
stehe. 

7.  Mai.  Sir  Edward  Grey  entwirft 
im  englischen  Unterhause  die  Bedin- 
gungen,  unter  welchen  die  britische 
Regierung  bereit  sei,  Vorschlage  be- 
zliglich  der  Unverletzlichkeit  des  Pri- 
vateigentums  zur  See  in  Erwagung  zu 
ziehen. 

8.  Mai.  Jahresversammlungderbri- 
tischen  Abteilung  des  kirchlichen 
Komitees  zur  Pflege  freundschaftlicher 
Beziehungen  zwischen  GroBbritannien 


und  Deutschland  in  London.  Anwe- 
send:  Erzbischof  von  Canterbury,  Kar- 
dinal  Bourne,  Fiirst  Lichnowsky,  Bi- 
schof  von  Hereford  und  andere.  Erz- 
bischof  von  Canterbury : „Konig  Georg 
und  Kaiser  Wilhelm  haben  groBes  In- 
teressefor  dieBewegung“.  D.Lahusen 
freut  sich,  „dafi  die  MiBverstandnisse 
zwischen  England  und  Deutschland 
nicht  mehr  bestehen.  Beide  Lander 
verstehen  sichjetzt  besser  als  je  zuvor44. 

15.  Mai.  Abg.  Wendel  ruft  im  deut- 
schen Reichstag  am  SchluB  seiner 
Rede:  „Vive  la  France!44 

1 6.  Mai.  Vorlesungdesfranzdsischen 
Gelehrten  Boutroux  an  der  Berliner 
Universitat. 

17.  Mai.  Englische  Kriegsschiffe 
festlich  empfangen  in  Triest  und  Fiume. 

19.  Mai.  Gegenbesuch  des  oster- 
reichischen  Gesch waders  in  Malta. 

20.  Mai.  Auf  dem  Bankett  zu  Ehren 
der  auswartigen  Presse  in  London,  dem 
auch  die  Botschafter  von  Frankreich, 
RuBland,  Deutschland,  Osterreich- 
Ungarn  beiwohnen,  sagt  Sir  Edward 
Grey:  „Fiir  den  europaischen  Frieden 
ware  es  notwendig,  daB  die  Nationen 
einander  Kredit  for  guten  Willen  und 
gute  Absichten  geben.44 

20.  Mai.  Hundert  englische  Arbei- 
ter  in  Berlin.  BegriiBungsreden  durch 
Staatssekretar  a.  D.  Dr.  Dernburg 
und  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  von  Bottiger. 
„ . . . Wir  wollen  die  Wohlfahrt  unse- 
res Vaterlandes,  und  Wohlfahrt  kann 
nur  im  Frieden  gedeihen.  Undenkbar 
erscheint  uns  der  Gedanke  an  einen 
Krieg  zwischen  England  und  Deutsch- 
land. . 

24.  Mai.  Expose  des  russischen 
Ministers  des  AuBern  Sasanow:  „Die 
Tripleentente  ...  sei  immer  bereit, 


V 


82 


Glossen 


mit  dem  Dreibund  zur  Erhaltung  des 
Friedens  zusammenzuarbeiten.44  — 
„ . . . Die  unniitze  Polemik  der  deut- 
schen  und  russischen  Blatter  moge  auf- 
horen. . . “ 

26.  Mai.  Ansprache  des  Papstes  in 
einem  geheimen  Konsistorium.  „ . . .Die 
Zeit  verlange  jetzt  mehr  als  je  nach 
Frieden.  . . . Es  seien  ernste,  angese- 
hene  Manner  an  der  Arbeit,  die  die 
Sache  der  Nationen  und  der  mensch- 
lichen  Gesellsehaft  im  Auge  hatten  und 
die  . . . daran  arbeiten,  die  Kritgsgreuel 
zu  vermeiden.44 

Ende  Mai.  Das  Endergebnis  der 
unter  der  Parole  der  Wiedereinfiihrung 
der  dreijahrigen  Dienstzeit  ausgeschrie- 
benen  franzosischen  Wahlen  ergibteine 
iiberwiegende  Mehrheit  fiir  die  deutsch- 
franzosische  Verstan  digun  g. 

30.  Mai.  Zweite  Konferenzdeutsch- 
franzosischer  Parlamentarier  in  Basel. 
Annahme  eines  Beschlusses,  in  einer 
deutschen  und  einer  franzosischen 
Stadt  am  gleichen  Tage  Konferenzen 
fiir  die  franco-deutsche  Verstandigung 
zu  veranstalten. 

I . Juni.  In  Paris  erscheint  eine  neue 
Monatsschrift  ,.Amitie  franco-etran- 
gere44  mit  der  Aufgabe,  die  guten  Be- 
ziehungen  Frankreichs  mit  dem  Aus- 
lande,  namentlich  mit  Deutschland,  zu 
fordern.  Mitarbeiter  u.  a.  Anatole 
France,  Boutroux,  Sembat. 

3.  Juni.  Die  Universitat  Oxford  er- 
nennt  den  deutschen  Botschafter  Lich- 
nowsky  zum  Ehrendoktor. 

8.  Juni.  VI.  Internationaler  Han- 
delskammerkongreB  zu  Paris. 

9.  Juni.  Der  osterreichische  Volker- 
rechtsgelehrte  Hofrat  Prof.  Lammasch 
wird  in  Oxford  zum  Ehrendoktor  pro- 
moviert. 


21.  Juni.  Besuch  der  englischen 
Flotte  in  Kiel. 

22.  Juni.  Der  deutsche  Verein  Ber- 
liner Kaufleute  und  Industrieller  Cast 
der  Londoner  Handelskammer. 

22.  Juni.  Eroffnung  der  deutschen 
Abteilung  auf  der  Lyoner  Stadte-Aus- 
stellung.  Anwesend  der  Militargou- 
vemeur  und  der  Prafekt  von  Lyon, 
mehrere  franzosische  Generale,  Ver- 
treter  der  deutschen  und  franzftsischen 
Presse. 

30.  Juni.  Unter  dem  Vorsitz  von 
Lloyd  George  findet  im  Londoner 
Savoy-Hotel  ein  Festmahl  zu  Ehren 
der  Entente  cordiale  statt.  Baron 
d’Estournelles  halt  eine  Rede  iiber  die 
Aufgaben  der  Entente.  Sie  hatte  viele 
als  „unvermeidlich14  angesehene  Kriege 
verhindert.  Ein  beispielloses  Erzieh- 
ungswerk  wird  sie  fiir  die  ganze  Welt. 
Die  Milliardenlast  der  Riistungen  ver- 
mochte  sie  noch  nicht  zu  erleichtem. 
Warum  ? Weil  angeblich  noch  ein  un- 
vermeidbarer  Krieg  vor  uns  liegt,  der 
deutsch-franzosische  Krieg  oder  der 
englisch-deutsche  Krieg  oder  der  rus- 
sisch-deutsche  Krieg  oder  gar  alle  drei 
auf  einmal.  Wir  miissen  mit  dieser 
neuesten  Gefahr,  die  sich  wiirdig  ihren 
Vorgangern  anschlieBt,  ebenfalls  ein 
Ende  machen.  Die  Entente  cordiale 
war  ein  Anfang,  sie  war  die  Inangriff- 
nahme  einer  neuen  Politik.  Nunmehr 
miissen  die  wiederversohnten  Staaten 
Frankreich  und  England  mit  RuBland, 
mit  den  Vereinigten  Staaten,  mit  der 
groBen  Mehrheit  der  wirklich  friedlie- 
benden  Staaten  der  alten  und  der  neuen 
Welt  handeln,  Deutschland  den  Beweis 
zu  erbringen,  dafi  es  auch  in  seinem 
Interesse  liegt,  mit  dem  Marchen  vom 
unvermeidlichen  Krieg  durch  gegen- 


Glossett 


83 


seitigzugewahrendesEntgegenkommen 
Schlufi  zu  machen.  Die  Politik  der 
Entente  cordiale  ware  uns  ein  verfehl- 
tes  Beginnen,  eine  Enttauschung,  wenn 
tie  nicht  zur  Politik  der  ganzen  zivili- 
sierten  Welt  wird.44 

Reichhaltig  war  das  Programm  der 
organisierten  Friedensarbeit  fiir  die 
n&chsten  Wochen.  Die  groBen  Inter- 
nationalen  Hatten  Kongresse  in  Aus- 
ticht  genommen,  um  sich  gegen  den 
Krieg  zu  organisieren.  In  Liittich  sollte 
der  internationale  katholische  Friedens- 
kongreB,  in  Wien  der  internationale 
SozialistenkongreB,  in  Frankfurt  der 
internationale  Freimaurer  - Friedens- 
kongreB  stattfinden.  Die  evangelischen 
Kirchen-Pazifisten  gaben  sich  ein  Stell- 
dichein  in  Konstanz.  Die  XIX.  Kon~ 
ferenz  der  Interparlamentarischen 
Union  sollte  in  Stockholm,  der  XXI. 
Weltfriedentkongrefi  in  Wien  stattfin- 
den.  Graf  Berchtold  hatte  bereits  das 
Ehrenprasidium  dafiir  iibemommen. 

Gleichzeitig  mit  dieter  Sammlung 
bringt  der  VerlagOrell  Fiiflli  eine  Neu- 
auflage  von  Frieds  bekannter  Schrift 
liber  den  „revolutionaren  Pazifismus'4 
heraus.  Sie  tragt  den  Titel:  „Die 
Grundlagen  des  ursachlichen  Pazi- 
fitmus44. 

CD ie  Ginricfxtung  der  inter  nation 
nafen  flgentur  fdr  die  OCriegsgefan * 

Cenen*)  in  Genf  war  im  August  1914 
escheiden  ; zwdlf  Personen  arbeiteten 
in  drei  kleinen  Raumen.  „Jedermann 

•)  Diete  Angabcn  findcn  sich  in  eincm 
Aufutz  von  Guillaume  Fatio:  ,tDie  philan- 
thropiachen  Werke  der  Schweiz  wahrend  des 
Krieges**,  den  das  Septemberheft  der  schonen 
Monatschrift  t3chweizerUnd4<  veroffentlicht. 


legte  selbst  Hand  an,  schrieb  einen 
Brief,  schickte  ein  Telegramm  ab  oder 
empfing  einen  Besucher. 

Die  ersten  Listen  trafen  am  7.  Sep- 
tember 1914  aus  Deutschland  ein. 
Wenige  Tage  spater  kam  ein  ahnliches 
Dokument  aus  einem  Spital  der  Stadt 
Lyon.  Von  da  ab  wurden  die  Gefan- 
genenlisten,  diese  von  den  offiziellen 
Auskunftsttellen  hergestellten  unent- 
behrlichen  Dokumente,  durch  die  na- 
tionalen  Gesellschaften  des  Roten 
Kreuzes  der  Gefangenenagentur  in 
Gen(  regelmaBig  zugesandt.  Dieter 
dienen  sie  alt  Grundlage  fiir  ihre 
ganze  Arbeit. 

Am  12.  Oktober  1914  installierte 
sich  die  «Agence  des  prisonniers*  in 
dem  geraumigen  Museum  Rath,  das 
ihr  von  der  Stadt  Genf  zur  Verfugung 
gestellt  wurde.  Dort  verteilte  man  die 
Arbeit  unter  verschiedene  Depar- 
tements. 

Wahrend  des  ertten  Kriegswinters 
waren  iiber  tausend  Mitarbeiter  auf 
der  Agence  tatig:  Manner,  Frauen, 
junge  und  alte  Leute,  Genfer  und 
Schweizer  aus  andern  Kantonen,  end- 
lich  sogar  Fremde  — jeder  trug  durch 
seine  mitunter  recht  schwierige  Arbeit 
zum  Erfolg  eines  Untemehmens  bei, 
das  betrachtiiche  Dimensionen  an- 
genommen  hatte.  An  der  Spitze  dieter 
ganzen  Organisation  steht  Herr  Gustave 
Ador,  der  ein  groBes  administratives 
Talent  an  den  Tag  gelegt  hat.  Diesem 
Manne  ist  es  auch  gelungen,  die  deli- 
katesten  Unterhandlungen  mit  zahl- 
reichen  Behorden  zu  einem  gunstigen 
AbschluB  zu  bringen. 

Das  System  des  „Zettelkatalogs44 
wurde  fiir  alle  gegebenen  oder  ver- 
langten  Auskunfte  von  Anfang  an  an- 


84 


Glossen 


gewendet:  kein  anderes  hatte  sich  fur 
eine  derartige  Arbeit  besser  geeignet. 

Im  ErdgeschoB  des  Gebaudes  be- 
finden  sich  die  Zettel  der  Alliierten 
(weisse  fiir  die  Anfragen,  grilne  fur 
die  Auskiinfte),  im  ersten  Stockwerke 
diejenigen  der  Zentralmachte  (weiB 
und  rosa  fiir  die  Deutschen,  lila  fiir 
die  andern  Nationalitaten). 

Die  nachstehenden  Zahlen  geben 
AufschluB  iiber  die  Tatigkeit  des 
Bureaus: 

Franzosische,  englische,  belgische  Zet- 
tel 2 000  000  Stuck 


Deutsche  Zettel 
Zettel  betreffend  Zi- 


1000  000 


If 


vilpersonen  im  be- 

setzten  Gebiet  300  000  „ 

Tagliche  Post: 

Einlaufende  Briefe  und  Karten 

1500  bis  1 800  Stiick 

Versandte  Briefe 
und  Karten  3000  „ 4000  „ 

Den  Gefangenen  iibermittelte  Betrage 

Fr.  1994000 

Pakete  in  Transit  fiir  die  Kriegs- 
gefangenen  30  665  33 1 Stiick 

Von  Genf abgehende 

Pakete  776  505  „ 

Bis  zum  30.  Juni  1 91 6 

gebrauchte  Druck- 

sachen  der  Agentur  6 750  000  „ 
Den  Familien  erteilte  Aus- 

kiinfte  470  399 

Beim  Empfangsdienst  erhal- 
tene  Besuche  78  713 

Gegenwartig  wird  die  Arbeit,  die 
nicht  mehr  den  Umfang  der  ersten 

Monate  aufweist,  von  350  bis  400 

Personen  besorgt,  von  denen  ungefahr 
100  bezahit  sind. 

Auf  Wunsch  des  Genfer  Komitees 
hat  das  danische  Rote  Kreuz  von  An- 


fang  an  eine  Filiale  der  Agentur  er- 
richtet  fiir  den  ostlichen  Kriegsschau- 
platz,  das  ist  fiir  Deutschland  und 
RuBland.  Das  Rote  Kreuz  von  Oster- 
reich-Ungarn  und  das  von  Serbien 
und  RuBland  haben  sich  direkt  ver- 
standigt  wegen  Obermittlung  der  Aus- 
kiinfte und  Aufstellung  der  Listen. 
Das  gleiche  geschah  beim  Eintritt 
Italiens  in  den  Krieg:  das  Rote  Kreuz 
von  Wien  und  das  von  Rom  korre- 
spondieren  direkt  miteinander.  Die 
Tatigkeit  der  Genfer  Agentur,  die  sich 
anfanglich  auf  den  westlichen  Knegs- 
schauplatz,  das  heifit  Frankreich,  BeL 
gien,  England  und  Deutschland  be- 
schrankte,  erstreckt  sich  jetzt  auch 
auf  die  Tiirkei  und  Bulgarien,  sowie 
alle  andern  entfernteren  Kriegsschau- 
platze. 

Trotzdem  die  Agentur  keine  Taxen- 
freiheit  fiir  Telegramme  genoB,  hat  sie 
eine  sehr  grofie  Anzahl  von  Depeschen 
abgesandt:  an  die  Lagerkom  man  dan- 
ten,  Chefarzte  der  Lazarette,  urn  Nach- 
richten  von  Verwundeten  oder  Gefan- 
genen zu  erhalten,  um  Mannschaften 
zu  befragen,  die  den  gleichen  Re- 
gimentern  angehorten  wie  die  Ver- 
mifiten,  deren  Familien  ohne  Nach- 
richten  waren. 

Zu  diesen  naturgemaB  summarischen 
und  unvollstandigen  Auskiinften  ge- 
sellte  sich  nach  und  nach  ein  ganzes 
System  brieflicherSpezialuntersuchun- 
gen. 

Das  Komitee  hat  oft  protestieren 
miissen  gegen  die  Nichtbeachtung  der 
Vorschriften  der  Genfer  Konvention 
in  bezug  auf  das  arztliche  und  Sani- 
tatspersonal,  das  ungerechterweise  in 
Konzentrationslagern  gefangen  gehal- 
ten  wurde;  es  hat  erreicht,  daB  einige 


Wt 


Glossen 


85 


tausend  Sanitatspersonen  wieder  in 
ihre  Heimat  zurilckkehren  durften. 
Wir  erwahnen  nur  nebenbei  seine 
Scbritte  zugunsten  jeweiliger  kurzer 
Waffenstillstande  (wenn  die  Notwen- 
digkeiten  des  Kampfes  dies  zulassen), 
um  die  Verwundeten  aufzuheben  und 
die  Toten,  nach  ihrer  Identifizierung, 
zu  beerdigen.  Ferner  erinnern  wir  an 
die  Proteste  gegen  die  Behandlung 
der  armenischen  Bevolkerung  und  die 
Repressalienlager  in  Deutschland;  an 
die  unablassigenSchritte  des  Komitees, 
um  fur  die  Zivilbevolkerung  der  Nord- 
departemente  Frankreichs  dieMoglich- 
keit  der  Korrespondenz  mit  ihren  auBer- 
halb  jener  Gebiete  befindlichen  Ver- 
wandten  zu  erwirken. 

Die  Schwer verwundeten. 

Nach  langen  Verhandlungen,  die 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland 
durch  Vermittlung  des  Internationalen 
Komitees  stattfanden,  wurde  das 
schweizerische  Rote  Kreuz  beauftragt, 
den  Transport  der  Schwerverwundeten 
von  einer  Grenze  zur  andern  vermit- 
tels  schweizerischer  Sanitatsztige  zu 
organisieren. 

Am  2 . Marz  1915,  um  9 Uhr  abends, 
traf  in  Genf,  von  Lyon  kommend,  der 
erste  Zug  deutscher  Schwerverwun- 
deter  ein,  wahrend  der  erste  Zug  fran- 
zosischer  Schwerverwun deter  am  fol- 
genden  Morgen  um  4 Uhr  von  Kon- 
stanz ankam.  Auf  diese  Weise  wurden 
anfangs  Marz  2650  Schwerverwundete 
heimgeschafft.  Vier  Monate  spater 
wiederholte  sich  der  Austausch;  vom 

10.  bis  zum  29.  Juli  fuhren  18  fran- 

zosische  und  1 1 deutsche  Ziige  durch 
das  schweizerische  Gebiet ; sie  brachten 


8906  Schwerverletzte  ihrer  Heimat 
wieder. 

Internierung  von  Verwundeten  und 

Kranken  in  der  Schweiz. 

Dank  der  Initiative  des  Herrn  Gustav 
Ador,  dem  der  Heilige  Stuhl  seine 
wertvolleUnterstiitzunglieh,  kam  end- 
lich  die  Internierung  der  Verwundeten 
und  Kranken  in  der  Schweiz  zustande. 
Trotzdem  dieses  Projekt  vom  ersten 
Tage  an  die  beste  Aufnahme  beim 
franzosischen  Kriegsminister  gefunden 
hatte  und  sogleich  von  der  schwei- 
zerischen  Regierung  angenommen 
wurde,  vergingen  zehn  Monate,  ehe 
das  endgiiltige  Abkommen  zum  Ab- 
schluB  kam,  auf  Grund  dessen  heute 
diese  Kranken  in  unserm  Lande  be- 
herbergt  sind. 

Die  Internierung  der  kranken  Ge- 
fangenen,  die  sich  anfanglich  auf  Fran- 
zosen  und  Deutsche  beschrankte, 
dehnte  sich  im  Lauf  der  letzten  Mo- 
nate auch  auf  Englander  und  Belgier 
aus,  die  in  eine  groBe  Anzahl  von 
schweizerischen  Ortschaften  verteilt 
wurden. 

Heimschaffung  der  Zivilinternierten. 

Die  Zivilinternierten  nehmen  unter 
den  Kriegsopfern  eine  besondere 
Stellung  ein ; es  gibt  fiir  sie  keinerlei 
internationale  Konvention. 

„Die  Zivilpersonen14,  schreibt  Dr. 
Ferriere,  „die  arme  Herde  von  Frauen, 
Kindern,Greisen,Unfahigen,  Kranken, 
aus  alien  Klassen  der  Gesellschaft  her- 
vorgegangen  und  alle  ins  gleiche  Un- 
gliick  gebracht,  Arbeiter,  Kaufleute, 
Bauer n,  armselige  Gestalten,  Leute 
ohne  Ausweis,  sowie  auch  Rentner, 


Glossen 


Be&mte  usw.  — alle,  wer  sie  auch 
seien,  jeglicher  Verteidigung  unfahig 
gegcn  das  MiBgeschick,  das  sie  ohne 
Unterschied  erreichte,  sie  werden  alle 
von  heute  auf  morgen  dem  eindringen- 
den  Feinde  ausgeliefert,  — herrenlose 
Wesen,  oder  sie  fliehen  auf  den  Land- 
straBen  einer  dunklen  Zukunft  ent- 
gegen/4 

Einem  Genfer,  Herrn  Edouard  Au- 
d£oud,  gelang  es,  unter  dem  Eindruck 
ail  dieses  Jammers  den  Bundespr&siden- 
ten  von  der  Notwendigkeit  zu  iiber- 
zeugen,  diesen  Ungliicklichen  Hilfe  zu 
leisten.  Die  Schweiz  bot  ihre  Dienste 
Deutschland,  Frankreich  und  Oster- 
reich  an,  um  diesen  unschuldigen 
Opfern  des  Krieges  ihre  Heimat  wieder- 
zugeben.  Die  Einigung  betreffs  der 
Frauen  und  Kinder  kam  bald  zustande, 
dagegen  bedurfte  es  langer  Unterhand- 
lungen  wegen  der  dienstfahi  gen  Manner. 
Man  gab  schliefilich  zu,  dafi  Manner 
unter  I 7 Jahren  und  solche  liber  60 
Jahren  in  ihre  Heimat  zuriickkehren 
diirften.  Spater  lieB  man  auch  einige 
kampfunfahige  Kranke  zuriickkehren 
und  strebte  im  allgemeinen  damach, 
die  Internierungsbedingungen  der  Zi- 
vilpersonen  zu  verbessem. 

Mit  einem  ErlaB  vom  22.  September 
1914  beschlofi  der  Bundesrat  die  Er- 
richtung  eines  Bureaus  fiir  die  Heim- 
schaffung  von  Zivilinternierten,  unter 
der  Direktion  des  Herrn  Professor 
Rothlisberger  in  Bern,  Ober  1 00  000 

internierte  Franzosen,  Deutsche  und 
Osterreicher  wurden  dank  diesem  Bu- 
reau durch  die  Schweiz  heimgeschafft. 
In  dieser  Zahl  waren  nicht  nur  die 
eigentlichen  Intemierten  inbegriffen, 
sondern  auch  die  Evakuierten  der 


aus  ihren  Wohnorten  entfemt  worden 
sind. 

DieserHeimbefdrderungsdienst  hatte 
eine  auBerordentliche  Arbeit  zu  be- 
waltigen:  Organisation  der  Tran  sport e, 
Aufstellung  der  Namenlisten,  Emah- 
rung  und  Verpflegung  wahrend  der 
Reise,  Identifizierung  der  Nationalist 
und  Herstellung  des  Kontaktes  mit 
den  Familien  der  Evakuierten. 

Es  war  ein  Riesenwerk.  Man  kann 
sogar  sagen,  daB  der  Durchgang  der 
Intemierten  eines  der  bittersten  Er- 
eignisse  war  in  dieser  Schreckens- 
periode!  Wahrend  einigen  Monaten 
kamen  1 000  Evakuierte  pro  Tag  nach 
Genf;  wahrend  zwei  Tagen  gab  es 
deren  bis  zu  1 300. 

Endlich  mufite  man  auch  fur  Be- 
kleidung  sorgen,  denn  die  Evakuierten 
und  Intemierten  waren  oft  des  Not- 
wendigsten  entbloBt,  und  was  sie  be- 
saBen,  taugte  nicht  viel.  Viele  Klei- 
dungsstiicke  wurden  durch  Privat- 
personen  beschafft;  es  liefen  ungefahr 
1 25  Pakete  taglich  ein.  Mit  diesen 
Bekleidungsstiicken  konnte  man  der 
schlimmsten  Not  steuern,  den  Armsten 
helfen. 

Die  Ernahrung  und  Bekleidung 

der  Gefangenen. 

Schon  zu  Beginn  des  Krieges  war 
Herr  Max  Dollfus,  einer  der  Mit- 
arbeiter  an  der  ^Agence  des  prison- 
niers iiberrascht  iiber  die  bittere 
Situation,  in  der  sich,  nach  den  Briefen 
zu  schlieBen,  viele  Kriegsgefangene 
befinden  muBten.  Er  beschloB,  eine 
Hilfsaktion  zu  organisieren,  und  schon 
im  November  1914  iiberlieBen  ihm 


Departemente  Nordfrankreichs , die  die  schweizerische  Postverwaltung  und 


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Glossen 


87 


die  Zolldirektion  fortab  alle  unbestell- 
baren  Pakete.  Unter  diesen  sind  zu 
verstehen  alle  diejenigen  Sendungen, 
die  aus  irgend  einem  Grunde  (unge- 
niigende  Adresse  usw.)  weder  ihre  Be- 
stimmung  erreichen,  noch  dem  Ab- 
sender  zuriickgesandt  werden  konnen. 
Bis  dahin  wurden  solche  Pakete  ver- 
kauft  und  der  Erlos  fiel  der  Zollver- 
waltung  zu.  Sie  verzichtete  nun  auf 
diese  Einnahme  und  wetteiferte  so  mit 
der  schweizerischen  Postverwaltung, 
ein  neues  Liebeswerk  zu  ermoglichen. 

Sendungen  von  50,  lOOoder  150 

Paketen  treffen  nun  in  der  Agence  ein ; 
dort  wird  ihr  Inhalt  sortiert  und  in  gro- 
Gen  Schranken  aufgestapelt,  Strumpfe, 
Leibchen,Hemden,  Tabak,  Schokolade 
usw.  Dann  werden  Original  pakete  her- 
gestellt  mit  Dingen,  die  den  Kriegs- 
gefangenen  am  unentbehrlichsten  sind. 
Erfolgtein  Hilferuf,  sogehtauch  schon 
ein  Paket  fur  den  Bedrangten  ab.  900 
Pakete  wurden  wahrend  des  ersten 
Monates  abgeliefert. 

Herr  Dollfus  hatte  sich  anfanglich 
mit  einer  Genfer  Firma  iiber  die  Her- 
stellung  von  Lebensmittelpaketen  ver- 
standigt.  Als  er  dann  im  November 
1915  vom  Hilfsbureau  fiir  Kriegsge- 
fangene  nach  Bern  berufen  wurde,  um 
dort  die  Verabreichung  des  Brotcs  zu 
orgamsieren,  hatte  er  bemerkt,  daG 
Brot  von  guter  Qualitat  das  notwen- 
digste  Nahrungsmittel  ist,  so  daG  er 
von  da  an  seine  Unterstutzung  vor- 
zugsweise  in  Form  von  Brotabonne- 
ments  k 2 Kilogramm  per  Woche  ab- 
sandte. 

Auch  andere  Institutionen  beschaf- 
tigten  sich  mit  der  Ernahrung  der  Ge- 
fangenen.  Die  „Brotversorgung  der 
Kriegsgefangenen  der  Konferenzen 


von  Saint-Vincent  de  Paul"  versendet 
fiir  Fr.  5.50  per  Monat  einem  Ge- 
fangenen  2 Kilogramm  doppelt  ge- 
backenes  Spezialbrot  jede  Woche.  Die 
Zahl  der  Abonnenten  betrug  85  im 
ersten  Monat,  stieg  auf  250  im  fol- 
genden  Monat  und  auf  400  im  dritten ; 
heute  iibersteigt  sie  3800.  Gewisse 
Familien  abonnieren  sich  fiir  doppelte 
und  dreifache  Rationen  zu  Fr.  1 1 und 
I 6.50  per  Monat.  Es  gibt  vermogliche 
Abonnenten,  die  ihr  Brot  unter  den 
weniger  begiinstigten  Kameraden  ver- 
teilen;  fiir  Unbemittelte  besteht  die 
unentgeltliche  Verteilung. 

Frau  Julia  Medwed  griindete  schon 
im  Jahre  1914  ein  ahnliches  Liebes- 
werk; sie  richtete  auf  Veranlassung 
eines  franzosischen,  in  Ingolstadt  inter- 
nierten  Arztes  einen  Aufruf  an  das 
Publikum  underhieltUnterstiitzungen, 
die  es  der  Unternchmung  erlaubten, 
20  Kilogramm  Brot  per  Tag  zu  ver- 
senden.  Nach  und  nach  stiegen  die 
Sendungen  auf  8000  Kilogramm 

monatlich.  Was  die  Sendungen  an  die 
einzelnen  Gefangenen  anbetrifft,  so  ist 
es  unmoglich,  eine  genaue  Zahlung 
vorzunehmen,  aber  man  kann  sich 
einen  Begriff  davon  machen,  wenn 
man  feststellt,  daG  bis  heute  von  der 
Schweiz  aus  nahezu  drei  Millionen 
Pakete  durch  die  Post  versandt  worden 
sind,  mit  ungefahr  5 Millionen  Kilo- 
gramm Brot,  welche  fiir  die  kriegs- 
gefangenen Franzosen,  Englander  und 
Russen  in  Deutschland  besti  m mt  waren . 
Dabei  sind  die  sehr  groGen  Eilfracht- 
sendungen  gar  nicht  mitgezahlt.  Es 
muG  beigefiigt  werden,  das  viele  Aus- 
landerkolonien  in  der  Schweiz  fiir  den 
Unterhalt  ihrer  gefangenen  Landsleute 
gesorgt  haben. 


26  Vol.  in/2 


88 


Glossen 


Die  schweizerische  Post. 

Die  Haager  Konvention  von  1 907 

und  diejenige  des  Weltpostvereins, 
welche  die  Portofreiheit  fiir  Kriegsge- 
fangene  bestimmten,  haben  denselben 
ausdriicklich  das  Recht  zuerkannt, 
Nachrichten  mit  ihren  Familien  kosten- 
los  auszutauschen.  Da  die  direkten 
Beziehungen  zwischen  den  Krieg- 
fiihrenden  aufgehort  haben,  anerbot 
sich  die  Schweiz  als  Vermittlerin  zwi- 
schen einigen  dieser  Staaten.  So  wurden 
kurz  nach  Ausbruch  des  Krieges  Ver- 
einbarungen  getroffen  mit  Deutsch- 
land und  Frankreich  und  spater  mit 
Osterreich-Ungarn,  der  Tiirkei  und 
Italien.  Gleichzeitig  sicherte  die  hol- 
landische  Post  den  Dienst  zwischen 
England  und  Deutschland,  die  schwe- 
dische  Post  zwischen  Deutschland  und 
RuCland, die  rumanische  Post  zwischen 
Osterreich,  RuBland  undSerbien.  Die 
Schweiz  hat  ohne  Zweifel  die  weitaus 
grosste  Arbeit  iibernommen. 

Wir  geben  einige  Daten,  die  den 
Umfang  dieses  Dienstes  beweisen. 
Durch  die  Schweiz  gingen  etwa  140 
Millionen  Briefe  und  Karten  an  die 
Adresse  der  Gefangenen  (60  Millionen 
an  die  Gefangenen  in  Deutschland,  59 
Millionen  an  die  Gefangenen  in  Frank- 
reich und  seinen  Kolonien).  Dieschwei- 
zerischen  Postanstalten  erhielten  und 
versandten  8 Millionen  kleine,  nicht 
eingeschriebene  Pakete  von  einem  Kilo- 
gramm  Maximalgewicht.  Die  schwei- 
zerische Postverwaltung  hat  femer 
4,5  Millionen  Mandate  von  zusammen 
65  Millionen  Franken  gewechselt  und 
befordert.  Im  verflossenen  Monat  Juli 


betrug  der  Durchschnitt  taglich 

355  748  Briefe  und  Karten,  25  439 

kleine  Pakete,  46  827  groflere  Kolis, 
5639  Mandate  im  Betrage  von  76  41  9 
Franken.  Diese  Riesenarbeit  wurde 
vom  Personal  der  schweizerischen  Post 
bewaltigt,  unterstiitzt  durch  Freiwillige, 
die  unermiidlich  mitwirkten. 

Hilfeleistung  an  die  Serben,  Belgier, 

Polen,  Armenier  usw. 

Das  Schweizervolk  hat  die  Aufrufe 
zugunsten  der  vom  Kriege  schwer 
heimgesuchten  kleinen  Lander,  wie 
Belgien,  Polen,  Serbien  und  Armenien, 
teilnahmsvoll  entgegengenommen.  Das 
Mitleid  und  die  Nachstenliebe  unseres 
Volkes,  das  so  sehr  an  seinem  heimat- 
lichen  Boden  hangt,  wandte  sich 
gerade  diesen  Heimatlosen  aufopfernd 
zu.  In  alien  Kantonen  bildeten  sich 
Komitees,  die  sich  bemiihen,  Getreide, 
Reis,  kondensierte  Milch,  Konserven 
und  Kleidungsstiicke  nach  Serbien  ge- 
langen  zu  lassen  fiir  die  zwei  oderdrei 
Millionen  Einwohner,  die  noch  in 
jenem  Lande  geblieben  sind. 

Das  tragische  Schicksal  Belgiens 
wurde  in  der  Schweiz  tief  empfunden. 
Seit  Oktober  1914  hat  man  in  alien 
Kreisen  der  Bevolkerung  den  Wunsch 
und  den  Willen  geauBert,  den  Familien, 
die  ihrer  Heimat  entrissen,  oft  ganz 
ohne  Existenzmittel  waren,  tatkraftige 
Sympathie  zu  bezeigen.  In  vieien 
Kantonen  bildeten  sich  Komitees ; Lau- 
sanne wurde  der  Zentralsitz.  Ober  2000 
Belgier  sind  untergebracht  worden, 
besonders  in  der  sprachver  wand  ten 
Westschweiz.44 


Rene  Schickele  ♦ Die  Pflicht  zur  Demokratic 


89 


Q{ene  ofchicfcefe  .* 

DIE  PFLICHT  ZUR  DEMOKRATIE 


„FlenscA[icAe  ‘Beirachiungen  zur  Fo(Hid“ . ‘Verfasser : (Franz 
Blei.  (Verleger:  Georg  Flatter  in  FluncAen.  366  Seiten,  von 
denen  nicAt  a((es  gesagt  wdre,  wenn  man  s/e  gescAeit  nennie. 
(Flag  aucA  der  erste  Gindrucd  der  der  GescAeiiAeit  sein.  c FacAe 
des  Fempos,  des  geraden  und  rascAen  ^lOegs  vom  Ginfatt  zur 
Formulierung.  Fiber  selbst  wenn  der  Ginfatt  nur  gescfieit  war, 
die  Form  ulierun g ist  bereits  (Fug,  soil  Aeiflen : nacAdendlicA  ; nacA 
einem  Fundblicd  fiir  einen  besiimmten,  nicAt  wittdurlicA  gewaAften 
Fundi  entscAfossen,  von  wo  das  beAandefte  Objedt  in  den  Flngeln 
zu  bewegen  ist.  FlicA  interessiert  am  meisten  das  (Kapitel  uber 
‘ Vemodratie . 

Blei  und  ich,  wir  sind  uns  einig:  ,,Demokratie  ist  keine 
Regierungsform.  Weder  Partei,  noch  Politik,  noch  Staatsver- 
fassung.  Sie  ist  menschliches  Verhalten,  das  sich  emmal  poli- 
tisch  in  drei  Worten  ausdriickte:  Freiheit,  Gleichheit,  Briider- 
Iichkeit.“ 

Blei  schlagt  vor,  die  umgekehrte  Reihenfolge  anzunehmen. 
Die  Griinde,  die  er  dafiir  nennt,  sind  morahscher  Art,  wie  er 
fast  zu  gern  aus  der  politischen  und  historischen  Betrach- 
tung  in  eine  moralkasuistische  Bewertung  umschlagt  — welche 
Eigentiimlichkeit  ihm  mit  den  gottlosen  Enzyklopadisten  der 
vorrevolutionaren  Zeit  gemein  ist.  Zur  Historic  iibergehend, 
stellt  er  am  Schluss  des  Aufsatzes  fest : 

,,Ein  ganzes  Jahrhundert  nach  der  Revolution  glaubte,  die 
Gleichheit  und  Freiheit  zu  realisieren,  und  daB  die  Bruderhch- 
keit  sich  dann  als  Effekt  von  selbst  einstellen  wiirde.  Ein  Jahr- 
hundert und  mehr  schuf  biirgerliche  Freiheiten  und  gesetzhche 


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Rene  Schickele  * Die  Pfltcht  zur  Demokratie 


Gleichheiten,  indem  es  das  biirgerlich-politische  Vertragsver- 
haltnis  der  Menschen  anderte : freier  Arbeitsvertrag,  freie  Ziigig- 
keit,  freier  Wettbewerb,  freie  Forschung,  freie  Berufswahl,  freie 
Liebe,  freie  Presse,  — dafi  Freiheiten  nicht  die  Freiheit  be- 
deuten,  bewies  diese  „freie“  Zeit  an  sich  selber,  ja  sie  bevvies  sogar, 
dafi  Freiheiten  nicht  einmal  Freiheiten  sind,  sondern  nur  poli- 
zierte  Interessen.  Denn  jede  dieser  Freiheiten  braucht  den 
Zwang  von  ein  paar  Dutzend  Gesetzen  und  Polizisten,  die  sie 
garantieren.  Es  sind  Freiheiten,  die  gewissermafien  befolgt  wer- 
den  miissen.  Aus  diesen  die  Menschen  isolierenden  Freiheiten 
ergab  sich  die  Briiderlichkeit  nicht  nur  nicht,  sondern  sie  ver- 
kiimmerte  in  den  Vereinsbruder,  den  Kegelbruder,  den  Partei- 
bruder  oder  das  Genossentum  wirtschaftlicher  Interessengrup- 
pen.  Die  Briiderlichkeit  wurde  unmenschlich,  indem  sie  sich 
partikularisierte  in  Zirkeln,  Verbanden,  Parteien,  Klassen,  denen 
Interessen,  Wiinsche  und  Absichten  em  Gemeinsames  gaben, 
in  dem  sich  die  Vereinigten  als  ,,Briider“  gegen  andere  fanden, 
die  ihnen  nicht  einmal  feindliche  Briider  waren,  sondern  Gegner. 
In  den  Bruderschaften  hat  sich  jeder  Sinn  der  menschlichen 
Briiderlichkeit  aufgehoben.  Es  gibt  heute  Freiheiten,  Gleich- 
heiten  und  Briiderlichkeiten  — alles  in  der  Mehrzahl,  die  aber 
aufhebt,  was  nur  in  der  Einzahl  existiert  oder  iiberhaupt  nicht 
ist.  Die  Demokratie  ist  die  Briiderlichkeit  der  nur  in  Gott  glei- 

chen  und  der  Freiheit  sich  bewufiten  Menschen." 

Wenn  wir,  Blei  und  ich,  einig  waren,  dafi  die  Demokratie 
beileibe  nicht  eme  Regierungsform  sei,  so  hatte  ich,  im  weitern 
Verlauf  der  Auseinandersetzung  mit  der  Histone  — wenn  diese 
schon  herhalten  muB  — daraus  eine  wenn  nicht  entgegengesetzte, 
so  doch  in  einer  ganz  andern  Kurve  Iaufende  Gedankenfolge 
entwickelt,  die  nicht  bei  dem  politischen  Nihilismus  angelangt 
ware,  mit  dem  Blei  sich  zufrieden  zu  geben  scheint.  Die  Freiheit, 
Gleichheit  und  Briiderlichkeit,  nach  Bleis  Definierung,  besafien 
zum  Beispiel  die  russischen  Bauern  auch  schon  vor  der  Auf- 
hebung  der  Leibeigenschaft  im  hochsten  Mafie.  Das  ware  aber, 
denke  ich,  kein  Grund  gewesen,  sie  in  der  Leibeigenschaft  zu 
erhalten.  Obwoh!  es  Ideologen  gibt,  die  auch  diesen  Schlufi  ge- 


Rene  Schickele  ♦ Die  Pfltcht  zur  Demokratie 


91 


zogen  haben.  Wohingegen  der  moralisch  folgernde  Tolstoi 
ausfiihrte : 

,,Etwa  vor  dreifiig  Jabren  hatte  Henry  George  ein  nicht  nur 
verstandiges,  sondern  auch  durchaus  durchfiihrbares  Projekt 
der  Aufhebung  des  Grundeigentums  vorgeschlagen  . . . Wenn 
aber  in  Amerika  und  in  England  dieses  Projekt  nicht  angenom- 
men  wird,  so  ist  noch  viel  weniger  Hoffnung  vorhanden,  dafi  es 
in  monarchischen  Staaten  wie  Deutschland,  Osterreich  und 
Rufiland  akzeptiert  werden  sollte.  Bei  uns  in  RuBland  befinden 
sich  kolossale  Landerstrecken  im  Besitze  von  Pnvatpersonen, 
als  auch  des  Kaisers  und  der  kaiserlichen  Familie,  und  daher 
ist  keine  Hoffnung  vorhanden,  dafi  diese  Menschen,  die  sich 
ohne  das  Recht  am  Boden  so  hilflos  fiihlen  wie  junge  Vogel 
aufierhalb  ihres  Nestes,  diesem  ihrem  Recht  entsagen  oder  auch 
nur  daran  riitteln  liefien ; s/e  werden  fur  dieses  ‘Recht  bis  zu 
ikren  fetzten  OCrdften  damp  fen. 

Und  daher  wird,  sofange  sick  die  Qewaft  auf  seiten  einer 
aus  Grundbesitzern  bestehenden  Regierung  befindet,  eine  Auf- 
hebung des  Grundeigentums  nicht  stattfinden  konnen." 

Hier  ist  bereits  vom  Grundeigentum  die  Rede,  nicht  mehr 
von  Leibeigenschaft.  Els  wird  festgestellt,  dafi  es  zur  Anderung 
der  Gewalt  bedarf,  also  einer  politischen  Handlung,  die  allein 
die  Menschheit  von  der  moralischen  Tatsache  ihrer  Freiheit 
entbinden  kann. 

Die  Vorschlage  Tolstois,  so  weit  zu  gelangen,  sind  bekannt. 
Er  ging  bis  zum  Aufiersten.  In  einer  andern  Flugschrift  — 


„Patriotismus  und  Regierung" 


erklarte  er: 


„Wenn  das  Fehlen  der  Regierung  nun  wirklich  der  Anarchie 
im  negativen,  die  Unordnung  bedeutenden  Sinne  des  Wortes 
(welches  das  iibrigens  gar  nicht  bedeutet)  gleichkame,  so  konnte 
auch  dann  keine  Ordnungslosigkeit  der  Anarchie  schlimmer  als 
die  Lage  sein,  in  welche  die  Regierungen  ihre  Volker  schon  ge- 
bracht  haben,  oder  zu  welcher  sie  dieselben  fiihren." 

Schlimmstenfalls,  sage  ich  zu  Blei,  werden  radikalepolitische 
Mafinahmen,  wie  er  sieaufzahlt,  und  aufderen  Unzulanglichkeit 
er  hinweist,  wenn  nicht  zu  einer  wahrhaften  Neuordnung,  will 


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92  Rene  Schickele  ♦ Die  Pflicht  zur  Demokratte 

sagen:  zur  Ordnung  hinfiihren,  dann  gewifi  zu  einer  immer 
grofieren  Unordnung,  aus  der  die  Menschheit  sich  schliefilich 
nur  noch  durch  einen  Gewaltakt  retten  kann  und  retten  wird, 
da  sie  zu  allem  bereit  ist,  nur  nicht  dazu  unterzugehn. 

Jede  grofie  gemeinsame  Anstrengung,  die,  mit  oder  ohne 
Wissen  derer,  die  sie  tun,  durch  die  politische  und  wirtschaft- 
liche  Befreiung  von  Volksteilen,  durch  Entrechtung  der  Herr- 
schenden  das  ‘Prcbfem  des  Qfiicfcs  zuspitzt,  nenne  ich  emen 
Fortschritt.  Denn  so  gewifi  das  Gluck  nicht  in  materiellen  Gii- 
tern  hegt,  so  gewifi  ist  die  Sklaverei  in  jeder  Form  das  grofie 
Hindernis,  womit  der  Teufel  der  Masse  der  Menschen  den 
Weg  zum  innern  Licht,  zur  wahren  Freiheit  verrammelt. 

Und  der  Teufel  weifi,  warum  er  sich  an  die  Masse  halt  und 
die  ,,Auserwahlten“  nebenbei  laufen  lafit,  wie  er  es  nicht  hin- 
dem  kann. 

Er  weifi,  dafi  die  Auserwahlten,  weil  sie  gute  Menschen 
sind,  niemals  gliicklich  sein  konnen,  well  sie  die  Ausnahme 
bilden,  und  dafi  sie  sich  deshalb  lieber  kreuzigen  lassen,  als 
sich  mit  dieser  unmenschlichen  Einsamkeit  abzufinden. 

,,Christus  als  Politiker“ : ein  Buch,  das  zu  schreiben  ware. 
Es  hatte  mit  der  Bergpredigt  zu  beginnen  und  zu  schliefien 
mit  der  Bergpredigt.  Dazwischen  ware  aufzuzeigen  das  Hm 
und  Her  der  politischen  Aktion:,von  der  Disputation  mit  den 
Schriftgelehrten  bis  zur  Weigerung,  das  Wunder  zu  tun,  das 
ihm  am  Kreuz  von  einem  aus  der  Masse  zugemutet  wurde: 
,,Wenn  du  Gottes  Sohn  bist,  so  steige  herab“.  Hatte  Christus 
das  Wunder  getan,  ware  er  vor  seinen  Henkern  vom  Kreuz 
gestiegen,  so  hatte  er  mit  dem  freien  Willen  des  Menschen  den 
Sinn  der  Welt  vernichtet.  Er  hatte  die  ewige  Sklaverei  iiber 
die  Menschheit  verhangt.  Er  hatte  sich,  er  hatte  Gott  ver- 
tiert.  Was  ist  das,  dieses  unheimlich  pathetische:  ,,des  Men- 
schen Sohn“,  der  sich  doch  Gottes  Sohn  nennt  zugleich  — was, 
wenn  nicht  die  Vergottlichung  des  Menschen  durch  die  Be- 
riihrung  des  sich  menschlich  zu  ihm  niederneigenden  Erlosers  ? 
Die  ,, Auserwahlten"  kannten  Gott  von  je.  Deshalb  mmmt 
auch  das  Neue  Testament  die  Gerechten  der  alten  Zeit  von 


? der  allgemeinen  Verderbnis  aus.  Der  Masse,  der  Mehrheit  ward 

1 der  Erldser  geboren.  Fiir  die  Auserwahlten  konnte  er  nur  die 

Besfatigung  sein,  die  sie,  die  Starken  in  der  Erkenntnis,  ent- 
behren  konnen,  wie  sie  sie  Jahrhunderte  lang  entbehrt  haben, 
ohne  darum  schwach  geworden  zu  sein. 

Es  ist  eine  zweifelhafte  Sache  um  den  Einzelnen,  Auser- 
wahlten. Als  ich  in  Benares  an  den  bekranzten  Scheiterhaufen 
vorbeifuhr,  auf  denen  die  festlichen  Toten  in  den  unendlich 
blauen  Himmel  rauchten,  sagte,  angesichts  der  Tempel  und 
Fratzen,  der  Ruderer:  „Die  Masse  betet  zu  den  Gotzen.  Aber 
der  Bramahne  tragt  Gott  im  Herzen. “ Damit  mag  der  Bra- 
mahne  sich  begniigen,  der  ein  Damagoge  ist,  der  Christ  muB 
die  Masse  befreien  wollen,  denn  er  glaubt  an  die  Freiheit  des 
Willens  im  Menschen,  in  jedem,  und  das  heiBt  iiberhaupt 
gfauben.  Und  gfauben  heiBt  woffen.  Wollen,  daB  der  Mensch 
glaube.  Die  Inquisition  strafie  den  Menschen  dafiir,  daB  er 
nicht  glaubte.  Es  ist  kein  Zufall,  daB  diese  lacherlichen  Ver- 
suche,  durch  leibliche  Vernichtung  zu  iiberzeugen,  von  Spanien 
ausgingen,  das  eine  christlich  geschminkte  Provinz  Nord- 
afrikas  war. 

Wiinschen,  wollen,  daB  der  Mensch  glaube,  heiBt : wiinschen, 
wollen,  daB  er  glauben  konne,  selbst,  wenn  er  nicht  ein  Auser- 
wahlter,  das  heifit  ein  — sehr  selten  nur  aus  eigner  Kraft  — Em- 
porgehobener  ist.  Aber  die  meisten  Menschen  lafit  die  leibliche, 
die  geistige  Not  gar  nicht  zur  Besinnung  kommen.  Sie  fronen. 
Und  vertrauen  ihr  Seelenheil  irgend  einer  Form  der  Gebet- 
miihle  an.  Aus  Mangel  an  Zeit.  Aus  Ermiidung.  Aus  Angst 
und  Aberglaube.  Aus  Not,  aus  Not. 

Der  Mensch  wird  mit  der  Pflicht  zur  Demokratie  geboren. 
Er  lebt  als  Verrater  an  seinen  Briidern  oder  als  Mitkampfer 
fiir  das  Gluck  der  Menschen.  Es  gibt  keine  andere  Wahl  fiir 
ihn.  Wir  alle  erreichen  mit  Sicherheit  nur  eins,  den  Tod  — ob 
Durchgang  oder  Ende,  wer  weiB  es?  Aber  wir  miissen,  wenn 
unser  Glaube  nicht  starker  ist,  so  doch  an  dieser  geringsten 
Vorstellung  der  Ewigkeit  hangen:  der  Ewigkeit  unserer  Werke, 
alles  dessen,  was  im  geringsten  von  uns  auf  andere  gewirkt  hat. 


94  Rene  Schickele  * Die  Pflicht  zur  Demokratie 

Und  die  Gemeinschaft  der  Menschen  ist  so  eng,  daB  jede  eines 
jeden  auf  alle  wirkt. 

Wir  glauben  zuversichtlich  an  den  Sieg  der  guten  Werke 
im  langen  Kampf,  den  die  Geschlechter  leben.  Nur  der  gute 
Mensch  ist  gliicklich.  Die  Menschheit  aber  will  das  Gluck.  Sie 
wird  es  erkampfen,  koste  es,  was  es  wolle,  dauere  es  noch  so 
lang.  DaB  sie  in  der  Welt  gliicklich  werde,  ist  der  Sinn  der 
Menschheit.  Anders  ware  sie  nicht  eine  Schopfung  Gottes,  son- 
dern  desTeufels.  Dies  aber  behaupten  in  der  Christenheit  nicht 
einmal  die  Asketen. 

Der  Mensch  wird  mit  der  Pflicht  zur  Demokratie  geboren. 
Sie  heiBt : Restlose  Parteinahme,  unablassiger  Kampf  fiir  die 
Befreiung  von  Armen  und  Kopfen  zur  gliickhaften  Anschauung 
der  Welt  und  zur  Betatigung  der  Giite,  gebend  und  nehmend, 
in  der  herrlichen  Gemeinschaft  der  Menschen. 

Zwar  kann  der  beste  Zweck  ein  schlechtes  Mittel  nicht  gut 
machen.  Aber  es  ist  nicht  gesagt,  daB  ein  schlechtes  Mittel  dem 
guten  Zweck  nicht  zugute  komme. 

In  diesem  Sinn  konnte  einKrieg,  diese  aufgebliihteTeufels- 
saat,  sich  am  schrecklichsten  Abend  mit  dem  Regenbogen  der 
Botschaft  iiberziehen,  die  eine  neue,  bessere  Zeit  verbiirgt, 
kann  die  Revolution,  dieser  bose  Ausbruch  der  gerechten 
Ungeduld,  eines  der  Tore  zerschlagen,  hinter  denen  das  Bose 
mit  groBer  Wissenschaft  verwaltet  wird. 

Nein,  Demokratie  ist  gewiss  keine  Regierungsform . Aber, 
frage  ich,  ist  es  unsere  Aufgabe,  den  Darius  zu  belehren,  daB 
sein  Volk  „in  Gott  frei“  sein  und  er  trotzdem  ein  Tyrann 
bleiben  konne?  Das  versichern  die  unzahligen  Wegelagerer 
unter  den  Padagogen,  die  alles  in  ihre  Taschen  stopfen,  was 
auf  dem  Weg  zwischen  ihrer  proletarischen  Herkunft  und 
dem  vergotterten  Herrenhaus  sie  an  sich  bringen  konnen. 
Auch  der  Tyrann  wurde  mit  der  Pflicht  zur  Demokratie 
geboren.  Er  ist  einzig  darnach  zu  beurteilen  und  zu  be~ 
handeln,  wie  er  dieser  Pflicht  geniigte,  hinter  der  uner- 
bittlich  das  Kreuz  steht,  woran  Gottes  Sohn  in  den  Nageln 
verblutet. 


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Rene  Schickele  * Die  Pflicht  zur  Demokratie  95 


Ich  glaube  an  die  Vergeltung  aller  Leiden,  und  nenne  sie  die 
Rache.  Ich  glaube  an  die  Kraft,  die  solches  Werk  bereitet,  das 
ist  der  Hafi.  Ich  kenne  den  Preis  dieser  Kampfe:  die  Liebe. 
t Solche  Rache,  solchen  Hafi,  solche  Liebe  teile  ich  weder  mit 

dem  Militar,  noch  mit  dem  Kaufmann,  noch  mit  dem  „Nichts- 
als-Klassenkampfer“.  Aber  mit  Ihnen,  Blei.  Wir  vertreten 
keine  „Intere$sen“,  sondern  den  freien  Menschen,  den  ewigen 
Menschen  von  morgen.  Auch  Sie,  Blei.  Trotzdem  Sie  nach 
der  Tiara  mit  einem  Wohlbehagen  schielen,  das  mir  ein  wenig 
zu  unverbindlich  scheint,  wahrend  es  Unschuldige  zu  Traume- 
reien  und  den  philosophischen  Applikationen  verfiihren  konnte, 
die  zu  den  verstaubten  Geduldspielen  des  dekorativen  Symbo- 
lismus  gehoren.  Ich  will  nicht,  dafi  wir  eine  Bande  libertiner 
Chorknaben  und  Sakristane  bilden  und  in  die  Rocke  ebenso 
gearteter,  wenn  auch  noch  nicht  immer  getaufter  Damen  beich- 
ten,  die  fiir  ihre  so  begreifliche  Unruhe  metaphysische  Griinde 
suchen.  Ich  will  nicht,  dafi  wir  uns  mit  der  Geste  der  Beschei- 
denheit  und  Mord  und  Totschlag  zum  Trotz  in  ein  Floten- 
konzert  vergraben,  worin  wir  unsre  anmutigeren  Gefiihle  zu 
Schaum  schlagen.  Ich  will  aber  auch  nicht,  dass  wir  uns  hyste- 
risch  auf  das  Postament  Zwinglis  hinauf  schwingen,  der,  die 
Heihge  Schrift  auf  ein  Henkerschwert  stiitzend,  gebieterisch 
den  Sonnenquai  hinunterblickt.  Und  ich  will  auch  nicht,  dafi 
wir  zu  einer  Heilsarmee  von  kleinen  Rentnern  werden.  Das 
alles  wollen  auch  Sie  nicht.  Deshalb  haben  Sie  Ihre  „Mensch- 
lichen  Betrachtungen  zur  Politik**  geschrieben.  Nur  erkenne 
ich  manchmal  bei  Ihnen  die  gefahrliche  Tendenz,  aus  Ekel  an 
der  Unzulanglichkeit  des  Gestern  und  Heute  in  das  Vorgestern 
zu  fliichten  und  aus  diesem  Hintergrund  die  „innere“  Civitas 
Dei  zu  dekretieren.  Ich  will  sie  nicht  nur  innen,  die  Civitas 
Dei,  ich  will  sie  auch  aufien.  Ich  will  sie  sichtbar  fiir  alle,  fiir 
alle  bewohnbar.  Wenn  moglich  gleich.  Und  wenn  nicht  gleich, 
dann  morgen,  aber  so,  als  ob  wir  schon  heute,  in  unserm 
Heute  sie  beziehen  sollten.  Sie  stimmen  zu,  Blei.  Dann  schrei- 
ben  Sie  schnell  ein  zweites,  noch  viel  niitzlicheres  Buch: 
..Politische  Betrachtungen  zur  Menschlichkeit.“ 


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96 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


tfranz  £Z Wei : 

DER  GEIZIGE 

KOM0DIE  nach  moli£re  in  vier  akten 

PERSONEN: 

De  r Geizige 
Joachim,  sein  Sohn 
Luise,  seine  Tochter 
Heinrich,  Selcretar  beim  Geizigen 
Marianne,  des  Joachim  Geliebte 
Simon,  ein  Geldverleiher 
Die  Schuwitsch,  eine  Gelegenheitsmacherin 

Jakob,  Diener  beim  Geizigen 
Laurenz,  Koch  und  Gartfier  beim  Geizigen 
Ein  Regierungskommissarius 
Babette,  Amme  der  Luise 

Spielt  zu  Breslau  kurz  vor  Ausbruch  des  dritten  schlesischen  Krieg». 
In  einem  Gartenzimmer  im  Hause  des  Geizigen,  vom  Morgen 
bis  zum  Abend  eines  Tages. 

ERSTER  AKT. 

ERSTE  SZENE. 

Luise.  Babette. 

Babette:  Kind,  du  hast  ordentlich  f rische  Backen  bekommen 
in  den  vier  Wochen  zu  Potsdam!  Halt  preuBische  Luft. 

Luise:  1st  die  gute  Muhme  auch  arm,  geht’s  doch  froh  zu 
in  ihrem  Haus. 

Babette:  Bei  uns  ist’s  umgekehrt.  Gott  helf  es! 

Lu  i s e : Wie  steht’s  ? 

Babette:  Und  wird  schlimmer  um  jeden  Tag. 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige  97 


^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ~ ^ ^ ^ _-.  + ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ * J:  + ^ ^ 


Luise:  Schlimmer?  Kann’s  denn  noch? 

Babette:  Jetzt  hat  Euer  Vater  noch  einen  Heifer,  einen 
Sekretarius  wie  er  sich  nennt, — der  wahre  Teufel,  sag  ich  Euch ! 
Das  ist  ein  Tanz!  War,  weiB  Gott,  an  dem  Alten  schon  mehr 
als  zuviel. 

Luise:  Der  Konig  soli  wieder  Krieg  bereiten,  sagt  man, 
gegen  die  Kaiserin  in  Wien. 

Babette:  Krieg  wieder?  Noch  nichtgenug?  Die  arme  Frau. 
Luise : Da  renvoyiert  man  was  nicht  hingehort,  schickt  alles 
Fremde,  wo  es  herkam.  War  gem  noch  blieben  bei  der  Muhme. 
Und  muBt’  so  heim.  Ah,  was  ein  Heim. 

Babette:  Ich  hab  dir  keinen  Trost,  mein  Kind. 

Luise:  Ich  weiB,  Amme,  du  meinst  es  gut.  Und  wiiBtest 
du,  wie  von  anderm  voll  mir  das  Herz  noch  ist,  du  hiilfest. 

Babette:  Das  Herz  voll,  sagst?  Dann  bist  verliebt,  Luis- 
chen!  Nicht? 

Luise:  Verliebt  — gar  kein  Wort  dafiir,  Amme!  Verstorben 
in  Liebe!  Ganz. 

Babette:  Kam  auf  einmal  iiber  dich.  Und  darf  man’s 
wissen,  wer  meinem  Luischen  das  angetan  hat? 

Luise:  Lafi  mich  allein  damit,  Babette. 

Babette:  So  schhmm  ist’s?  Mein  Luischen!  (Ab.) 

* 

ZWEITE  SZENE. 

Luise  (allein). 

Luise  (packt  aus  einer  Reiseschachtel  eine  Haube) : TVug  ich  beim 

Abschied.  Wie  lang  her,  mein  Gott!  Zwei  Wochen  und  ist  mir 
eine  Ewigkeit.  Die  Zittenadel  bog  er  schief  beim  letzten  KuB. 
So  blieb  es.  Kein  Zeichen  von  ihm  seither.  Nichts.  Und  wie 
verschwunden.  Sind  so  die  Manner?  Ah,  Heinrich!  Warum 
kamst  in  mein  Leben  und  bliebst  nicht?  Warum  gingst? 

* 


98 


Franz  Blet  * Der  Geizige 


DRITTE  SZENE. 

Luise.  Heinrich. 

Luise:  Heinrich! 

Heinrich:  FaBt  Euch,  Luise,  und  verratet  mich  nicht.  Ich 
mufite  fort  vor  zwei  Wochen  aus  Potsdam  und  hierher  zu  Eurem 
Vater.  Bin  sein  Sekretar.  Els  gab  kein  ander  Mittel,  Euch  nah 
zu  sein,  Luise.  Kein  anderes,  das  uns  zu  unserm  Gliicke  bringt. 
Seufzer?  Bereut  Ihr  schon,  jetzt  schon,  daB  Ihr  mir  Eure  Liebe 

gestanden  habt? 

Luise:  Heinrich!  Wie  sollt  ich,  wozu  so  siiBe  Macht  mich 
zwingt,  bereuen?  Lieb  ich  Euch  nicht  mehr  als  ich  sollte? 

Heinrich:  Und  Seufzer,  Luise? 

Lu  ise:  MuB  ich  nicht  fiirchten?  Den  Vater,  die  Leute? 
Und  mehr  als  alles  das,  daB  Ihr  mein  allzustarkes  Lieben  mit 
weniger  Liebe  vergeltet? 

Heinrich:  Nur  mit  meinem  Leben  wird  sie  enden. 

Luise:  Worte  aller  Manner,  nicht? 

Heinrich:  Dann  wart  die  Taten,  Madchen! 

Luise:  Ich  glaube  deinem  Herzen,  Geliebter! 

Heinrich:  Meine  Luise. 

Luise:  Du  muBt  mich  vor  mir  selber  schiitzen,  Heinrich. 
Gott ! Du  immer  nah  und  ein  Fremder  doch  — Seligkeit  und 
Qual  — es  stiirzt  aus  mir,  Heinrich  — du,  schone  mich! 

Heinrich:  Meine  Braut.  Auf  rechtem  Weg  sollst  du  mein 
Weib  werden,  ich  schwor  es  dir,  Luise. 

Luise:  Und  der  Vater? 

Heinrich:  So  wie  er  ist,  und  dir,  dem  Bruder  und  alien 
das  Leben  zur  Qual  macht,  zwingt  er  mich  zur  Maske,  die  ich 
vor  ihm  trage,  und  in  der  ich  ihm  gleichen  muB,  soli  ich  seine 
Gunst  behalten  und  wissen  um  seine  Plane.  Erschrick  dariiber 
nicht,  Luise,  wie  ich  mich  verstelle,  — du  weiBt,  wofiir  ich  es 
tue.  Er  ist  ein  Teufel  — 

Luise:  Heinrich! 

Heinrich:  Verzeih.  Ein  Narr,  ein  boser  Narr  und  ich 
der  Narrheit  Sekretar,  verstellter  Teufel  wie  er  der  echte. 


Franz  Bid  * Der  Geizige 


99 

Grausen  der  Menschheit.  Doch  mir  durch  wichtigen  Dienst 
verpflichtet. 

Luise:  Weifi  Joachim  um  dich  — um  uns? 

Heinrich:  Mit  beiden  kann  ich’s  nicht  halten.  Beider 
Vertrauen  kann  ich  nicht  zugleich  haben.  Joachim  ist  ein  gutes 
Kind,  der  Vater  — da  kommt  der  Bruder  durch  den  Garten. 
Vielleicht  sprichst  du  mit  ihm,  Luise.  (Ab.) 

* 

VIERTE  SZENE. 

Luise.  Joachim. 

Joachim:  DaB  du  nur  wieder  da  bist,  Schwester!  Ich  allein 
in  dieses  Hauses  Holle,  kaum  ertrag  ich’s,  ertriig  ich’s,  ware 
nicht  — kannst  du  ein  Geheimnis  wahren,  Schwester? 

Luise:  Was  ist’s  denn? 

Joachim:  Ganz  ungeheuer  vieles,  Luise,  eingewickelt  in 
ein  einziges  Wort:  ich  liebe. 

Luise:  Liebst? 

Joachim:  Du  wirst  sie Schwester  nennen,  siehst  du  sie  zum 
erstenmal.  Gottes  schonstes  Geschopf.  Holdestes ! Aber  da  ist 
einer,  der  mich  mit  dem  Namen  Sohn,  den  er  mir  gibt,  zu 
seinem  Sklaven  machen  will  und  mich  wie  einen  Sklaven  halt. 
Der  Vater  — Wort,  das,  suB  sonst,  meine  Lippen  bitter  macht 
als  war’s  ein  Gift!  — Bin  ich  ein  Hund,  daB  er  mich  an  der 
Kette  seines  Geizes  halt?  Ich  sag  dir  alles,  Schwester.  Marianne 
ist  ein  armes  Ding,  ganz  arm,  bei  ihrer  Mutter.  Nie  wird  dazu 
der  Vater  sein  Ja  sagen. 

Luise:  Das  wird  er  nie. 

Joachim:  Schwesterchen,  du  liebst  nicht,  du  kennst  diese 
Gewalt  nicht,  die  Liebe  iiber  unsere  Herzen  ausiibt  — sprich 
nicht  verstandig,  Schwester,  wenn  du  mich  nicht  toten  willst ! 

Luise:  Ah,  meine  Verstandigkeit  — Sahest  du  in  mein 
Herz  — 

Joachim:  Gute,  hast  Mitleid  — 

Luise:  Arm  ist  sie,  sagst  du? 


100 


Franz  Bid  • Der  Geiztge 


Joachim:  Schon!  Schtin!  Ein  Engel  des  Himmels,  Luise! 
Luise:  Liebst  sie? 

Joachim:  Ich  liebe  sie!  Und  kann  ihrer  Armut  nicht 
helfen.  WeiG,  wie  kiimmerlich  zu  leben  Not  sie  und  die  Mutter 
zwingt  — und  kann  nicht  helfen,  ich,  des  Reichsten  dieser 
Stadt  Sohn,  und  des  Armsten  zugleich.  Wie  leben  wir, 
Schwester!  Wie  leben  wir!  Es  ist  eme  Schmach. 

Luise:  War  Mutter  noch  am  Leben! 

Joachim:  Kannst  du  helfen,  Schwester?  Mit  dem  Vater 
sprechen?  Ihn  ausholen?  Ich  seh  deinem  Gesicht  die  Antwort 
an,  die  du  von  lhm  erwartest.  Dann  bleibt  nichts  als  — Krieg 
gibt’s  wieder,  Madchen,  ich  geh  zu  den  Soldaten  und  such 
den  Tod. 

(Man  hort  den  Geizigen  schelten.) 

Luise:  Der  Vater!  Komm,  nicht  jetzt  ihn  sehen.  (Ab  mit 

Joachim.) 

* 

FUNFTE  SZENE. 

DerGeizige.  Jakob. 

Geiziger:  Aus  meinem  Haus  und  auf  der Stelle!  Halunke! 
Galgenvogel!  Erzspitzbube! 

Jakob:  Der  Leibhaftige,  bei  der  Mutter  Gottes! 
Geiziger:  Was  redst  du  da?  Du  Hundsfott? 

Jakob:  Warum  jagen  mich  der  Herr  weg,  frag  ich,  warum? 
Geiziger:  Den  Stock  zur  Antwort,  Galgenstrick!  Zu 

Schanden  schlag  ich  dich! 

Jakob:  Was  hab’  ich  denn  getan  ? 

Geiziger;  DaB  du  noch  da  bist,  das  hast  du  getan! 
Jakob:  Hier  soil  ich  warten,  ist  Befehl  Eures  Herrn  Sohns. 
Geiziger:  Wart  auf  der  StraBe,  nicht  1m  Haus!  Schild- 

wache,  was?  Gucken  und  spitzen  und  aufpassen,  was  vorgeht, 
wo  man  steht,  was  man  denkt,  ha?  Ich  will  keinen  Spion  um 
mich  haben!  Augen,  die  mir  alle  Winkel  abstobern,  ob’s  was 
zu  stehlen  gibt!  Diebsvolk! 


Franz  BUi  ♦ Der  Gctztge 


101 


Jakob:  Euch  was  stehlen ! Das  Gott  erbarm ! Das  konnte 
nichteinmal  der  Teufel  selber!  Ihr  sperrt  ja  harte  Brotrinde  eln! 

Geiziger:  Ich  sperr  ein  was  mir  pafit,  versteht  Er!  Alles 
sperr  ich  ein ! Das  bifichen  Habe,  der  bittern  Not  zu  steuern, 
mufi  man  beisammen  halten.  Er  bringt  wohl  noch  gar  unter 
die  Leute,  bei  mir  sei  Geld  versteckt,  was? 

Jakob:  Geld  versteckt  ? 

Geiziger:  Nein,  Schuft!  Ich  hab  kein  Geld  und  so  auch 
keins  zum  Verstecken!  Ich  frag  dich  nur,  ob  du’s  nicht  schon 
herum  erzahlt  hast,  ich  hatte  welches? 

Jakob ; Und  hattet  Ihr  auch  Geld  — uns  hiilf  es  doch  nichts. 

Geiziger:  Halt  dein  Maul!  Und  fort! 

Jakob:  Ich  geh  ja  schon! 

Geiziger:  Nimmst  nichts  mit?  Fort!  Zeig  deine  Hande, 

beide! 

Jakob:  Da! 

Geiziger:  Und  in  denTaschen?  (Durchsucht  ihn.)  Nur  ge- 
niacht  in  solcher  Menge,  urn  Gestohlnes  drin  zu  verstecken, 
Bedien  ten  pack!  Spitzbubenpack.  (Zieht  einen  Knochen  aus  der  Tasche 
Jakobs.)  Ha!  Sag  ich’s  nicht?  Wem  stahlst  du  den  Knochen? 

Jakob:  Wenn  Ihr  es  schon  wissen  wollt,  — vielleicht  dem 
Tyras. 

Geiziger:  Du  schamloser  Dieb ! Mir  den  Hund  bestehlen ! 

Jakob:  Der  Teufel  hoi  ihn! 

Geiziger:  Meinen  Hund? 

Jakob:  Den  Geiz!  (Lauft  ab.) 

Geiziger:  Schuft!  Schurke!  Ich  will  dir!  — Ah,  sollst  es 
auf  dem  Gewissen  schwer  haben,  wenn  du  mir  noch  mehr 
gestohlen  hast!  — Diebsvolk  alle  zusammen!  Und  zwischen 
ihm,  ich,  der  gute  wehrlose  Mensch,  Herr  seiner  sauer  erwor- 
benen  Habe,  Herr?  Gelachter!  Herr!  In  die  Erde  mufi  man 
sein  Gut  vergraben,  sich  draufleger>  wie  ein  heiliger  Leichen- 
stein,  der  es  vor  Schandung  bewahrt,  und  bewahrt’s  doch  nicht. 
Stiehlt  der  anfallende  Strafienrauber,  der  nachtlich  einschlei- 
chende  Dieb  nicht,  der  Diener  im  Hause  nicht,  so  tut  es  einer, 
der  sich  den  Diener  des  Staates  nennt,  und  nimmt  dir  weg 


Franz  Blei  • Der  Geizige 


102 


was  dein  ist,  und  sagt  es  sei  sein  Recht!  Gestern  war  es  die 
Kaiserin,  heut  ist  es  der  Konig.  Das  kommt  und  geht,  und  weg 
ist  weg.  Aber  ich,  ich  bleibe,  und  will  mit  dem  was  mein  ist 
bleiben,  verstanden?  „Her  mit  deinem  Gold!“  sagt  der  groBe 
Rauber,  „ich  geb  dir  Papier  dafiir.“  Ha!  Das  Papier!  Ich  kenn 
das  Papier!  Ich  hab  es  selber  fabriziert!  WeiB  was  es  wert  ist. 
Ich  habdamit  die  Finanzen  ihrer  apostolischen  Majestat  in  Wien 
ruiniert  und  denen  meines  neuen  Herrn  in  Potsdam  geholfen. 
Und  den  meinen.  — Aber  was  mein  ist,  soil  es  auch  bleiben! 
Lieber  ins  Stockhaus,  wenn  ich  es  behalte,  als  es  hergeben  und 
frei  sein ! Frei ! Arm  und  frei  — Gelachter ! — Dafi  mir  Heinrich, 
bevor  es  alle  wufiten,  vom  kommenden  Kriege  sagte,  das  dank 
ich  ihm.  Meine  achtzehntausend  goldenen  Dukaten  wanderten 
in  die  Erde.  Das  dank  ich  ihm.  Ohne  zu  danken  verpflichtet. 
Denn  er  weiB  nichts,  weiB  mchts  von  den  achtzehntausend. 

* 

SECHSTE  SZENE. 

Der  Geizige.  Joachim. 

Geiziger  (erblickt  Joachim,  der  aus  der  Tiire  trat):  Was  glbt  es? 

Schleichst  herum,  mich  auszuhorchen?  Lang  schon  so? 

Joachim:  Eben  trat  ich  ein.  Such  die  Schwester.  Sie  ist 
zuriick  aus  Potsdam. 

Geiziger:  Hast  gehort? 

Joachim:  Was,  Vater? 

Geiziger:  Was  es  Miihe  macht,  heut  Geld  aufzutreiben, 
sprach  ich  so  zu  mir  selber.  Und  daB  einer  gut  daran  ist,  der 
ein  paar  tausend  Taler  im  Hause  hat.  DaB  du  mich  nur  nicht 
miBverstehst  und  dir  gar  einbildest,  ich  hatte  sie  im  Hause. 
Nichts  ist  da,  nichts! 

Joachim:  Kummerte  ich  mich  je  um  Eure  Angelegenheiten, 
Vater? 

Geiziger:  Wollte  Gott,  ich  hatte  ein  paar  Taler  im  Hause! 


Franz  Blei  ♦ Der  Geiztge 


103 


Joachim:  Man  weiS  doch,  Vater,  dafi  Ihr  nicht  iiber 
schlechte  Zeiten  zu  klagen  braucht.  Man  weifi  doch,  Ihr  seid 
reich. 

Geiziger:  Reich?  Ich  reich?  Welcher  Narr  redet  so 
dummes  Zeug?  Sieh  mich  an,  sieh  das  Haus  an,  — ist  das 
eines  Reichen  Haus?  Lumpen  und  Gauner  streuen  Geriichte! 
Und  meine  eigenen  Kinder  verbreiten  sie,  verbiinden  sieh 
gegen  mich,  den  Vater! 

Joachim:  Deshalb  schon  Euer  Feind  — ? 

Geiziger:  Den  Hals  wird  man  mir  eines  Tages  durchschnei- 
den,  weil  man  meint,  bei  mir  stecke  es  voll  Geld.  Raubgesin- 
del  Iockt  dein  einfaltiges  Gerede  von  meinem  Reichtum  mir 
an  den  Leib ! Ich  reich ! Man  konnt  es  wohl  glauben,  wenn 
man  euch  sieht,  dich  und  deine  Schwester.  Das  schreit  zum 
Himmel.  Ein  Vermogen  tragst  du  auf  deinem  nichtsnutzigen 
Leibe.  Seidene  Striimpfe  hat  der  Herr  an ! Silberschnallen  an 
den  Schuhen!  Und  aus  Sammet  den  Rock.  Und  Spitzen! 
Spitzen ! Als  ob  er  der  Graf  Kaunitz  ware ! Und  ist  nichts  als 
dieses  armen  Vaters  leichtsinniger  Sohn!  Zu  Grunde  richtest 
du  mich ! Pltinderst  mich  aus ! 

Joachim:  Ich  Euch? 

Geiziger:  Woher  nimmst  du  das  Geld,  so  sinnlosen  Auf- 
wand  zu  treiben  ? 

Joachim:  Wenn  Ihr  es  wissen  wollt : ich  spiele.  Und  spiele 
mit  Gluck.  Von  Euch,  Vater,  ist  an  all  dem  was  Ihr  Aufwand 
zu  nennen  liebt,  nicht  fiir  einen  Groschen,  den  der  Puder  im 
Haar  kostet. 

Geiziger:  Wenn  du  Gluck  im  Spiel  hast,  verleih  den  Ge- 
winst  auf  Zinsen,  damit  du  eines  Tages  was  hast.  Puder  im 
Haar!  Geld  fiir  Penicken  ausgeben,  wenn  man  selbstgewach- 
senes  Haar  hat,  das  nichts  kostet.  Mein  dtinner  Scheitel  brauchte 


eher  solchen  Schutz  und  ich  entbehre  ihn,  weil  ich 


nicht 


mit  Gluck  spiele  wie  Er,  der  junge  Herr  Graf!  Ich  sage  dir, 
du  endest  auf  dem  Galgen!  Bleib!  Ich  hab  mit  dir  zu  reden. 
Setz  dich.  Nicht  hier.  Willst  du  mir  meine  Borse  ziehn,  weil 
du  so  nah  kommst? 


27  Vol.  m/2 


104 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


Joachim:  Ihr  wiinscht,  Vater? 

Geiziger:  Ich  hab  mit  dir  vom  Heiraten  zu  sprechen. 

Joachim:  Vater! 

Geiziger:  Macht  dir  das  Wort  angst?  Sag,  kennst  du  ein 
Madchen,  das  Marianne  heiBt  ? Ich  meine  nur,  weil  sie  mit 
ihrer  Mutter  in  der  Nachbarschaft  wohnt,  und  du  von  ihr  ge- 
hort  ha  ben  konntest. 

Joachim:  Ich  kenne  das  Madchen,  Vater. 

Geiziger:  Und  wie  findest  du  sie? 

Joachim:  Bei  Gott,  ein  entziickendes  Geschopf. 

Geiziger:  Und  ihre  Sitten?  Benehmen? 

Joachim:  Holde  Sanftmut. 

Geiziger:  Du  meinst  also,  daB  ein  solches  Madchen  es 
wohl  verdiene,  daB  man  es  ins  Auge  faBt  ? 

Joachim:  Gliicklich  der  Mann,  der  Marianne  zum  Weibe 

nimmt ! 

Geiziger:  Und  daB  sie  eine  gute  Hausfrau  abgeben  wird? 

Joachim:  Die  Sonne  im  Hause! 

Geiziger:  Hat  nur  eine  Schwierigkeit.  Sie  wird,  fiircht 
ich,  nicht  viel  Vermogen  haben,  wie  man  es  wohl  verlangen  kann. 

Joachim:  Was  kommt  es  hier  auf  Geld  an,  bei  diesem 
Himmelsgeschopf ! 

Geiziger:  Redensarten ! Auch  die  Himmelsgeschopfe  stellen 
irdische  Anspriiche  von  allerlei  Art  und  kosten  Geld.  Man 
miisste  sehen,  das  Fehlende  auf  irgendeine  andere  Weise  herein- 
zubekommen. 

Joachim:  Die  geringste  Sorge  ware  mir’s. 

Geiziger:  Dass  du  so  denkst,  freut  mich.  Freut  mich 
durchaus.  Denn  der  Friede  im  Hause  geht  mir  iiber  alles. 
Dich  gegen  diese  Heirat  zu  wissen,  hatte  mich  verdrossen. 
Und  dieses  liebliche  Geschopf  hat  mein  Herz  gewonnen. 

Joachim  (freudig):  Vater,  Ihr  wollt  — 

Geiziger:  Ja.  Ich  will  Marianne  heiraten. 

Joachim:  Ihrsagt? 

Geizige  r:  Dafi  ich  Marianne  heiraten  werde. 

Joachim  (springt  auf,  schwankt,  lehnt  sich  an  die  Wand) : 0 Gott. . . 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


105 


Geizige  r : Was  ist  denn  ? 

Joachim:  Mir  ist  nicht  wohl. 

Geiziger:  Trink  in  der  Kiiche  ein  Glas  frisches  Wasser. 

Joachim  (geht  rasch  ab). 

* 

SIEBENTE  SZENE. 

Der  Geizige  (allein). 

Geiziger:  Ja-  Das  ist  das  einzige  Bedenken.  Das  Mad- 
chen  hat  nichts-  Und  hat  nie  was  gehabt,  dafi  sie  hatte  halten 
und  haben  lernen  konnen.  So  was  lebt  leicht  in  den  Tag  und 
hat  kein  Morgen.  Denkt  nicht.  Sorgt  nicht.  Hat  ein  niedliches 
Larvchen,  Wohl.  Wohl.  Sind’s  Narrenpossen,  die  mich  an  das 
Madchen  denken  machen  ? Nicht  so.  Nicht  so.  Aber  eine  im 
Hause  haben,  ein  Weib  im  Hause,  mein  Weib,  meines,  sich 
sorgend  um  Gleiches  wie  ich,  helfend  meiner  Sorge  mit  der 
ihren,  teilend,  mitteilend  — es  ware  schon.  Eine  haben,  die  mit 
gleichen  Augen  wie  ich  in  den  Gartenwinkel  schaut,  wo  es 
liegt  ...  wo  der  Schatz  liegt  . . . (Ruft  in  den  Garten:)  Was  machst 
du  dir  da  zu  schaffen,  Luise?  Hab  zu  reden  mit  dir!  — 
Den  Buben  unter  die  Soldaten  und  das  Madchen  unter  die 
Haube-  Ich  allein  mit  meinem  Weibe,  so  war  es  das  Rechte, 
war  Marianne  die  Rechte.  (Luise  tritt  ein :)  Ich  hab  mit  dir  zu 
reden. 

* 

ACHTE  SZENE. 

Der  Geizige.  Luise. 

Luise:  Ihr  wiinscht,  Vater? 

Geiziger:  Wo  du  in  Potsdam  warst,  hab  ich  es  iiberlegt 
und  beschlossen.  Es  ist  Zeit,  dass  du  heiratest.  Kurz  und  gut, 
ich  habe  einen  Mann  fiir  dich  ausgesucht. 

Luise:  Ihr  habt  — 

Geiziger:  Keinen  Dank  dafiir  — Braucht  es  nicht.  Ist 
meine  Pflicht  als  Vater,  das  Wohl  meiner  Kinder  zu  bedenken. 
Du  bekommst  einen  reifen,  klugen  und  gesetzten  Mann.  Nicht 


1 06  Franz  Blei  • Der  Geizige 


alter  als  fiinfzig.  Witwer  ohne  Kinder.  Und  reich.  Du  wirst 
das  beste  Leben  bei  ihm  haben. 

Luise:  Ich  will  mich  noch  gar  nicbt  verheiraten,  Vater, 
mit  Eurer  Erlaubnis. 

Geiziger:  Aber  ich  will  es,  mit  ohne  Ihrer  Erlaubnis. 
Hab  nicht  Zeit  und  Lust,  ein  Madchen  auszuhiiten.  Und  die 
Manner  sind  rar  geworden,  die  was  sind  undtaugen.  Wir  gehen 
schlimmen  Zeiten  entgegen.  Da  werden  die  wenigen  noch  rarer 
werden. 

Luise  (steht  auf) : Ich  bitte  Euch,  mich  zu  entschuldigen, 
Vater.  Ich  werde  den  Herrn  nicht  heiraten. 

Geiziger:  Und  wirst  ihn  noch  heut  abend  heiraten,  mein 
Fraulein  Zieraffe. 

Luise:  Nie  werdet  Ihr  mich  dazu  bringen! 

Geiziger:  1st  alles  bestellt  und  abgemacht. 

Luise:  Lieber  mich  toten  als  dies. 

Geiziger:  Hat  man  je  eine  Tochter  mit  ihrem  Vater  so 
sprechen  horen.  Gott  wird  dich  strafen  fur  deine  Siinde.  Ich 
suche  den  allervortrefflichsten  Mann,  der  dich  nimmt,  ohne 
Riicksicht  darauf,  daB  ich  armer  Mann  dir  nichts  mitgeben 
kann,  als  eine  vortreffliche  Erziehung,  die  mich  weiB  Gott  Geld 
genug  gekostet  hat,  und  sie  kommt  da  und,  lieber  sterben  — 

Da  frag  ich  die  Welt  — Da  ist  Heinrich.  Ihn  frag  ich.  Er  soil 
Schiedsnchter  in  der  Sache  sein. 

Luise:  Gut.  Er  soli  Schiedsrichter  sein. 

Geiziger:  Und  wirst  dich  seinem  Spruch  unterwerfen? 

Luise:  Tue  was  er  sagt.  Vollig. 

* 

NEUNTE  SZENE. 

DieVorigen.  Heinrich. 

Geiziger:  Wer  hat  recht,  Sekretarius,  ich  oder  meine 
Tochter? 

Heinrich:  Wer  anders  sonst  als  Ihr? 

Geiziger:  WiBt  Ihr,  wovon  wir  sprachen  ? 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


107 


Heinrich:  Wovon  auch  immer,  Ihr  konnt  gar  nicht  unrecht 
haben,  Herr. 

Geiziger  (zu  Luise):  Horst?  Els  ist  das:  Ich  will  ihr  heut 
abend  einen  ebenso  klugen  wie  reichen  Mann,  einen  alten  Ge- 
schaftsfreund  von  mir,  zum  Gemahl  geben.  Sagt  mir  der  Fratz 
ins  Gesicht,  sie  stiirbe  lieber!  Was  sagt  Ihr  dazu? 

Heinrich:  Ich? 

Geiziger:  Sagt  Ihr  dazu! 

Heinrich:  Da8  ich  ganz  Eurer  Meinung  bin.  Ihr  habt 
recht,  nur  hat  auch  Demoiselle  Luise  — 

Geiziger:  Mein  Freund  Simon  ist  die  allerbeste  Partie. 
Aus  seiner  ersten  Ehe  ohne  Kinder.  Keine  Verwandte,  die  sich 
lastig  machen  konnen.  VermogeninsicherstenWerten.  Konnte 
sie  es  besser  treffen,  sprecht  ? 

Heinrich:  Ihr  habt  recht  durchaus.  Fraulein  Luise  meint 
wohl  nur,  die  Sache  drange  nicht  so,  und  dafi  sie  wohl  auf  ihre 
Neigung  mit  der  Zeit  kommen  werde  — 

Geiziger:  Die  Gelegenheit  fahren  lassen?  Beim  Schopf 
muB  man  sie  greifen!  Gibt’s  solche  Manner  denn  viele?  Und 
er,  bedenkt!  Er  nimmt  sie  ohne  roten  Heller  Mitgift! 

Heinrich:  Ohne  Mitgift? 

Geiziger:  Ohne  Mitgift! 

Heinrich:  Da  sag  ich  nichts  mehr.  Das  iiberzeugt. 

Geiziger:  Was  ich  dabei  erspare,  Mensch! 

Heinrich:  Da  bleibt  nichts  andres.  Man  muB  sich  erge- 
ben.  Eure  Tochter  konnte  ja  sagen,  heiraten  sei  eine  emste 
Sache,  wobei  es  sich  um  ein  ganzes  Leben  handle. 

Geiziger:  Ohne  Mitgift! 

Heinrich:  Ganz  recht.  Das  entscheidet  alles.  Natiirlich 
gibt  es  Leute,  die  sagen,  auf  die  Neigung  der  Tochter  miisse 
Riicksicht  genommen  werden,  und  Ungleichheit  des  Alters, 
Temperamentes  und  Geschmackes  konnte  fatale  Folgen  in  der 
Ehe  haben.  — 

Geiziger:  Ohne  Mitgift ! 

Heinrich:  Dagegen  gibt’s  kein  Argument,  ich  weiB.  Aller- 
dings  gibt  es  seltsame  Vater,  die  auf  das  Gliick  ihrer  Tochter 


hoheren  Wert  legen,  als  auf  das  Geld,  das  sie  bezaklen  miifiten, 
und  die  ihr  Kind  nicht  in  eigenen  Interessen  opfem  mochten, 
da  das  Gliick  der  Ehe  ihnen  wichtiger  — 

Geiziger:  Ohne  Mitgift! 

Heinrich:  Das  schlagt  jeden  Einwand  nieder. 

Geiziger:  Wer  ist  da  drauBen?  Was  bellt  der  Hund  im 
Garten?  Bin  im  Augenblick  wieder  da.  (Ab  in  den  Garten.) 

* 


ZEHNTE  SZENE. 

Heinrich.  Luise. 

Luise:  Was  tun,  Heinrich? 

Heinrich:  Wir  miissen  eine  List  finden,  Geliebte. 

Luise:  Bis  heut  abend? 

Heinrich:  Du  mufit  Aufschub  verlangen.  Dich  krank 
stellen.  Oder  — 

Luise:  Oder? 

Heinrich:  Das  AuBerste.  Wir  fliehen.  (Der  Geizige  kommt 

zuriick.) 

* 


ELFTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Der  Geizige. 

Geiziger:  Soldaten  zogen  am  Gartenzaun  voriiber.  Bellt 
das  Vieh  und  schreckt  mich  auf  den  Tod. 

Heinrich  (zu  Luise):  Eine  Tochter  muB  gehorchen.  Hat 
nicht  zu  fragen,  wie  der  Brautigam  aussieht,  wenn  Klugheit 
der  Eltern  gewahlt  hat.  Ohne  Mitgift  — bedenkt! 

Geiziger:  Ihr  seid  auBer  mir  der  einzige  verniinftige 

Mensch,  den  ich  kenne,  Sekretarius. 

Heinrich:  Ah,  verzeiht,  dafi  ich  mich  hinreiBen  lieB,  so 
mit  Ihrer  Tochter,  der  Demoiselle  Luise  zu  sprechen. 

Geiziger:  Was  denn  ? Was  denn  ? Sagt  ihr  es  nur  ordent- 
lich.  Ich  geb  Euch  unbeschrankte  Gewalt  iiber  sie.  Setzt  ihr 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


109 


den  Kopf  zurecht.  Horst  du  ? Heinrich  hat  alle  Autoritat,  die 
der  Himmel  mir  iiber  dich  verliehen  hat.  du  gehorchst  ihm, 
als  ob  er  dein  Vater  ware. 

Heinrich:  Horst  Du  es,  Demoiselle  Luise?  (Luise  ab.) 

* 

zwOlfte  szene. 

Der  Geizige.  Heinrich. 

Geiziger:  Ihr  tut  mir  einen  groGen  Dienst,  Heinrich,  geht 
Ihr  dem  storrigen  Ding  nach  und  redet  ihm  ins  Gewissen.  Es 
liegt  mir  viel  daran,  mein  lieber  Sekretarius. 

Heinrich  : Ich  glaube,  man  wird  ihr  die  Ziigel  stramm 
ziehen  miissen. 

Geiziger:  Tut  das,  tut  das.  Ihr  findet  das  rechte  Wort 
besser  als  der  Vater,  den  Liebe  zu  seinem  Kinde  noch  schwach 
machen  konnte.  Und  Ihr  wisst  auch,  daB  Geschafte  mich  dran- 
gen.  Keine  viele  Zeit  lassen,  diesem  einen  nachzugehen.  Ich 
muG  auf  die  Borse.  Der  Konig  mag  den  Krieg  gewinnen.  Ich 
muG  ihn  verdienen.  Als  Ihr  mir  vor  zweien  Wochen  die  Nach- 
richt  brachtet,  daB  es  wieder  losginge,  war  mir  die  Botschaft 
so  neu  nicht,  wie  ich  Euch  aus  Griinden  wichtiger  Geschafte 
sagte.  WuGte  es  langst.  Langst.  Mein  Weizen  war  schon  lang 
in  Bliiten  sozusagen.  Ich  brachte  ihn  ein.  Ich  kann  meinem 
Konig  dienen,  wie  zuvor  dem.  Ich  bin  geriistet.  Habt  mir  auf 
das  Haus  acht.  Ich  schenk  Euch  viel  Vertrauen.  Und  stramm 
die  Ziigel  bei  der  da  drinnen.  Wie  Ihr  sagtet.  (Ab). 

Heinrich  (allein):  Fiirwahr,  ein  vaterlandisch  Herz  wie  ein 
vaterliches  tragst  du  im  Busen,  boses  Tier! 

Vor  ha  n g. 


110 


Franz  Bid  ♦ Der  Gdzige 


Z WE  I TER  AKT. 

ERSTE  SZENE. 

Joachim.  Jakob. 

Joachim  (rasch  von  links):  Find  dich  nirgends.  Hier  hiefi  ich 
dich  warten. 

Jakob:  Und  stand  auch  hier.  Und  hier  hat  mich  Euer  Herr 
Vater  verpriigelt  und  mich  dann  aus  dem  Hause  hinausge- 
schmissen 

Joachim:  Wie  steht  dieSache?  Els  drangt  mehr  als  je. 
Mein  Vater  — es  ist  nicht  zu  sagen  vor  Scham  und  Wut  — 
er  ist  mein  Nebenbuhler  bei  Marianne.  Will  sie  heiraten ! 

Jakob:  Er  ist  ganz  toll  geworden? 

Joachim:  Gottes  Strafe  fur  meine  Siinden  mufi  es  sein, 
dafi  er  ihm  den  Gedanken  einblies. 

Jakob:  Und  Ihr  sagtet  ihm  nichts  von  Eurer  Liebe,  gna- 
diger  Herr? 

Joachim:  Das  noch!  Das  noch!  Er  darf  keinen  Verdacht 
auf  mich  haben,  sonst  geht  alles  ungliicklich.  Der  eigene  Vater 
— es  ist  grauenvoll  und  unerhort!  — Was  fiir  Antwort? 

Jakob:  Das  voraus,  Herr,  damit  Ihr  auf  alles  gefafit  seid; 
wer  borgen  will,  Herr,  ist  iibel  dran,  und  doppelt  so,  wenn  er 
sich  Halsabschneidern  in  die  Hande  geben  mufi  wie  Ihr,  Herr. 

Joachim:  Kein  Geld  also?  Dann  ist’s  aus! 

Jakob:  Noch  nicht,  gnadiger  Herr.  Dem  guten  Simon  hat 
Euer  Gesicht,  das  ich  ihm  von  weitem  zeigte,  gefallen.  Er  sagt, 
er  wolle  tun,  was  er  kann. 

Joachim:  Schafft  mir  die  fiinftausend  Taler? 

Jakob:  Mit  Bedingungen ! Mit  Bedingungen! 

Joachim:  Hat  er  dich  mit  seinem  Geldgeber  reden  lassen? 

Jakob:  So  einfach  ist  das  nicht,  wie  Ihr  es  denkt.  Der 
Geldgeber  gibt  sich  noch  mehr  Miihe,  im  Verborgenen  zu 
bliihen  als  Ihr  selber,  gnadiger  Herr.  Seinen  Namen  will  mir 
der  Simon  nicht  nennen.  Aber  heute  treffe  er  mit  ihm  zu- 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


II 


sammen,  sagte  Simon,  und  kam  die  Auskunft  gut  aus  dem 
Munde  des  dunlden  Ehrenmannes,  dann  war  das  Geld  bereit 
fiir  Euch. 

Joachim:  War  s so! 

Jakob:  Da  sind  die  Bedingungen,  die  mir  der  Herr  Simon 
diktiert  hat  auf  dem  Papier.  Ich  les  es  Euch:  „Vorausgesetzt, 
dafi  der  Geldgeber  geniigende  Sicherheit  findet,  der  Entnehmer 
groBjahrig  und  aus  guter  Familie  ist,  deren  Vermdgen  solide, 
groB,  gesichert,  schuldenfrei,  wird  ein  genauer  Vertrag  — “ 

Joachim:  Selbstverstandliches ! Formalien!  Was  weiter! 

Jakob:  ,,Der  Geldgeber  wiinscht  sein  Geld  nur  mit  fiinf 
Prozent  zu  verzinsen,  um  sein  Gewissen  mit  keinerlei  Vorwurf 
zu  belasten.“ 

Joachim:  Nur  fiinf  Prozent?  Was  ein  weifier  Rabe  von 
Simon ! 

Jakob:  Es  kommt  noch.  „Aber  da  besagter  Geldgeber  die 
Summe  nicht  selber  besitzt  und  da  er,  um  dem  Entlehner  ge- 
fallig  zu  sein,  sie  selber  von  einem  Dritten  zu  fiinfundzwanzig 
Prozent  ausleihen  muB,  so  ist  es  selbstverstandlich,  daB  be- 
sagter Entlehner  auch  diese  Zinsen  bezahlt,  unbeschadet  der 
iibrigen  fiinf 

Joachim : Was  Teufel  ein  Jude!  Ein  Armenier!  Das  macht 
ja  dreiBig  vom  Hundert ! 

Jakob:  s ist  zu  uberlegen,  Herr. 

Joachim:  Kann  Not  uberlegen ? Ich  muB  das  Geld  haben . 
MuB  ja  zu  allem  Ja  sagen,  und  schnitte  mir  der  Kerl  ein  Ohr 

ab. 

Jakob:  Das  sagte  ich  auch. 

Joachim:  Was  weiter? 

Jakob:  Ein  kleiner  Artikel  noch,  das  Ohr  betreffend:  „Von 
den  verlangten  fiinftausend  wird  der  Geldgeber  nur  dreitausend 
in  barem  Gelde  zahlen  konnen.  Fiir  den  Rest  gibt  er  Effekten, 
die  das  Doppelte  von  zweitausend  Talern  wert  sind.  Namlich : 
einen  Posten  gesteppter  Decken,  hundert  Stuck.  Einen  Posten 
Haarwickler,  zweitausend  Stuck  in  vier  Kisten  wohlverpackt.” 

Joachim:  Was  Teufel  tu  ich  — 


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112 


Franz  Bid  * Der  Gdzige 


Jakob:  ,,Em  echtes  Bologneser  Hiindchen,  als  Prasent  fiir 
eine  Dame  geeignet.  Ein  Schachbrett  zum  Zeitvertreib  aus 
Bein.  Ein  Krokodil,  mit  Heu  ausgestopft,  an  die  Zimmerdecke 
zu  hangen.  Zebn  Stiick  auseinandergenommene  Kachelofen. 
Tausend  Stiick  Kochtopfe  in  alien  GroBen.“ 

Joachim:  Das  er  stiickweis  darin  siede! 

Jakob:  ,,Vier  alte  Flinten  aus  dem  letzten  Kriege.  Ein 
Betthimmel  aus  rosafarbenem  — 

Joachim:  Kann  der  Schurke  denn  nicht  mit  den  wahn- 
witzigen  Zinsen  zufneden  sein?  MuB  er  mir  auch  noch  statt 
Geld  den  alten  Trodel  aufhangen?  Keine  fiinfzig  Taler  kriegen 
wir  fiir  den  ganzen  Schwindel. 

Jakob:  Und  miissen  ihn  fiir  zweitausend  nehmen  und  mit 
dreifiig  vom  Hundert  verzmsen.  Ihr  kauft  teuer  ein  und  ver- 
kauft  billig.  Das  ist  ein  schlechter  Handel,  den  Ihr  bei  Eurem 
Vater  nicht  gelernt  habt,  gnadiger  Herr. 

Joachim:  Kann  ich  anders?  Ist  der  Vater  nicht  schuld? 
Ich  unterschreib.  Gib  her  denWisch!  (Links  ab,  Jakob  ihm  nach.) 

* 

ZWE1TE  SZENE. 

Der  Geizige  (mit)  Simon  (aus  dem  Garten). 

Geiziger:  Ihr  irrt,  irrt  durchaus,  wenn  Ihr  Reichtum  bei 
mir  vermutet,  Simon.  Mitgift!  Mitgift!  Mehr  als  sie  wiegen 
Schonheit,  Tugend,  Erziehung  — alles  das  hat  meine  Tochter 
mehr  als  eine.  Und  bedenkt,  Ihr  seid  nicht  der  Jiingste  mehr, 
lieber  Simon,  und  der  Schonste,  wie  sich  ihn  ein  junges  Ding 
vermeint,  wohl  auch  nicht.  So  plagt  mich  nicht  mit  Mitgift. 

Simon:  Ihr  gabt  den  Gedanken  an  diese  Ehe  mit  Eurer 
Luise  mehr  als  er  mir  kam.  Doch  gefiel  er  mir.  Aber  ich  iiber- 
leg’s  noch.  Kann  warten.  Manner  werden  rar,  und  gar  die  ein 
Madchen  ohne  Mitgift  nehmen. 

Geiziger:  Ihr  wiBt:  nach  meinem  — Ich  leb  nicht  ewig. 


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Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


113 


Simon:  Hundert  Jahre.  Also  habt  I hr  noch  gut  vierzig  vor 
Euch.  Das  ist  mir  zu  lang  zu  warten.  Wer  weifi,  erleb  ich’s. 
Und  Ihr  wollt  doch  nicht,  dafi  ich  Euch  einen  friihen  — 

Geiziger:  Sagt  bitte  das  Wort  nicht.  Gut.  Gut.  Uber- 
legt’s.  Ich  drang  nicht.  Luise  hatte  ich  gem  als  ernes  guten 
Mannes  Weib  gesehen,  wie  sie  es  verdient.  Ihr  kommt  noch 
darauf  zuriick.  Sie  liebt  Euch. 

Simon:  Sagt  Ihr?  — Wer  liebt  uns?  Alles  flucht  uns. 
Warum?  Wir  nehmen  die  Sorgen  aller  auf  uns,  und  man 
flucht  uns. 

Geiziger:  WeiC  Gott,  Ihr  sprecht  wahr!  So  ist  die  Welt! 

Simon:  Wer  von  seinen  Schulden  lebt,  lebt  gliicklich.  Und 
wir?  Uns  beschimpft  man.  Das  bekommt  uns  schlecht.  Wir 
armen  guten  Menschen,  die  helfen,  wir  sind  in  keiner  guten 
Gesundheit. 

Geiziger:  Kann  nicht  klagen. 

Simon:  Wir  haben’s  in  der  Leber.  Im  Magen.  In  derGalle. 

Geiziger:  Ein  Geschaft  hattet  Ihr  mit  mir,  sagtet  Ihr? 
Und  ist? 

Simon:  Und  schlechten  Schlaf.  So  denkt  man,  es  war  gut, 
ein  Weib  zu  nehmen. 

Geiziger:  Luise  liebt  Euch,  wie  ich  schonsagte.  Uberdenkt’s. 

Simon:  Uberdenkt  die  Mitgift. 

Geiziger:  Was  fur  ein  Geschaft  — 

Simon:  Eine  Kleinigkeit.  Fur  Euch  eine  Bagatelle.  Fiinf- 
tausend  Taler.  Der  Schuldner  zahlt  Euch,  gebt  Ihr  sie,  fiinfi- 
zehn  vom  Hundert.  Auch  zwanzig. 

Geiziger:  Und  Euer  Profit? 

Simon:  Was  wird  er  schon  sein  ? Man  sieht,  daC  man  lebt. 

Zehn. 

Geiziger:  Und  gebt  ihm  von  meinen  fiinftausend  in 
bar  die  Halfte. 

Simon:  Eine  Kleinigkeit  in  Waren.  Soil  der  Leichtsinn 
lernen,  wie  schwer  der  Handel  ist. 

Geiziger  (ist  aufgestanden  und  in  die  Gartentiir  getreten,  schaut 
in  den  Garten).  * 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


DRITTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Joachim. 

Joachim  (kommt  von  links,  ohne  daB  ihn  der  Geizige  sieht,  wohl 
aber  erblickt  ihn  Simon). 

Simon:  Sieh,  sieh!  Hat’s  der  junge  Herr  aber  eilig.  Und 
wer  hat  Euch  denn  gesagt,  dafi  es  hier  ist,  wo  ich  das  Geld 
fur  Euch  hole? 

Geiziger  (tritt  zuriick,  zu  Simon):  Wie? 

Simon:  Das  ist  der  Junker,  der  die  bewuBten  Fiinftausend 
borgen  mochte. 

Geiziger:  Was?  Mein  Sohn  geht  zu  Wucherern? 

Simon:  Wucherer?  Der  Sohn?  Ah  sooo!  (Zum  Geizigen.) 
Ich  iiberlasse  Euch  das  Geschaft.  (Ab.) 

* 

VIERTE  SZENE. 

Der  Geizige.  Joachim. 

Joachim:  Solche  Geschafte  macht  Ihr,  Vater? 

Geiziger:  Durch  solche  Anleihen  willst  du  dich  also  zu- 
grunde  richten? 

Joachim:  Mit  solchen  Einkiinften  mehrt  Ihr  Euren  Reich- 
tum,  Vater. 

Geiziger:  Und  wagst  es,  mir  nach  dem Vorgefallenennoch 
ins  Gesicht  zu  sehen? 

Joachim:  Und  denke  meiner  armen  Mutter  — 

Geiziger:  Schamst  dich  gar  nicht,  zu  solchen  ehrlosen 
Mitteln  zu  greifen,  dich  in  solche  wucherische  Schulden  zu 
stiirzen  und  das  Geld  deiner  armen  Eltern  zu  vergeuden,  das 
sie  im  SchweiBe  lhrer  ehrlichen  Arbeit  sieh  verdient  haben? 

Joachim:  Ehrliche  Arbeit!  Taler  auf  Taler  haufen  durch 
Wuchergeschafte  und  nennen’s  ehrliche  Arbeit!  Schmach  und 

Schande ! 

Geiziger:  Mir aus  den Augen ! Lump ! Mir aus den Augen ! 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


115 


Joachim:  Ihr  stehlt  das  Geld,  das  Ihr  nicht  gebraucht, 
schmaht  den  einen  Lump,  der  es  zu  Ieihen  nimmt,  weil  er  es 
notig  hat  und  weil  Ihr  ihn  in  Armut  verkommen  la8t. 

Geiziger:  Hat  man  das  erhort!  Straft  Gott  solche  Rede 
nicht  mit  seinem  Blitz?  Du  sollst  Vater  und  Mutter  — Mir 
aus  den  Augen ! 

Joachim:  Das  Grauen  stofit  mich  weg  von  Euch,  Vater! 
(Ab.) 


FONFTE  szene. 

Der  Geizige  (allein). 

Geiziger:  Liiderlich,  liiderlich-  Mein  Gott,  wofiir  hab  ich 
das  verdient?  — Liiderlich.  Ich  mufi  ein  Auge  auf  ihn  haben. 
— Es  ist  schwiil  hier  innen.  (Er  stoBt  ein  Fenster  auf.) 

* 

SECHSTE  SZENE. 

Der  Geizige.  Babette  (von  links). 

Geiziger  (fahrt  herum):  Was  ist?  Was  das  Geschleiche  und 
Gehorche? 

Babette:  Die  Madame  Schuwitsch  ware  da  und  hatte  den 
gnadigen  Herrn  zu  sprechen.  Sei  herbestellt. 

Geiziger:  Warum  sagst  das  nicht  gleich?  Warum  stehst 
erst  und  horchst?  Soli  eintreten.  Und  bring  mir  ein  Glas 
Wasser. 

Babette  («b).  * 

SIEBENTE  SZENE. 

Der  Geizige  (allein). 

Geiziger  (schaut  in  den  Garten):  Fiele  es  nicht  auf,  liefi  ich 
mein  Bett  in  der  Hundehiitte  aufschlagen.  Die  Nachte  sind 
zu  erbarmlich  mit  ihrer  Angst  und  dem  ans  Fenster  springen. 
Aber  Tyras  ist  ein  guter  Wachter.  Weniger  Fressen,  damit  er 
scharfer  wird.  * 


I ! 6 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


ACHTE  SZENE. 


Der  Geizige.  Madame  Schuwitsch  (tritt  ein). 


Geiziger  (fahrt  herum):  Steht  Ihr  schon  lange  da? 

Schuwitsch:  Wie?  Ihr  miiBt  lauter  reden,  mein  Gehor 
ist  etwas  klein.  Wie  sagtet  Ihr? 

Geiziger:  Gott  sei  Dank.  Alle  urn  einen  miiBten  stocktaub 
sein.  Und  blind.  Dann  hatte  man  Ruhe. 

Schuwitsch:  Wie  gut  Ihr  ausseht!  Wie  die  Gesundheit 
selber. 

Geiziger:  Kann  nicht  klagen. 

Schuwitsch:  Frisch  wie  ein  Jungling. 

Geiziger:  Wirklich? 

Schuwitsch:  In  Eurem  Leben  wart  Ihr  nicht  so  jung, 
Herr  Baron,  ich  kenne  Leute  von  fiinfundzwanzig,  die  alter 
sind  als  Ihr. 

Geiziger:  Meine  Sechzig  machen  mir  allerdings  nicht 
das  geringste  zu  schaflen. 

Schuwitsch:  Was  ist  auch  Sechzig!  Das  beste  Mannes- 
alter  beginnt  da. 

Geiziger:  Wahr,  wahr.  Aber  zwanzig  weniger  ware  mir 
lieber,  glaub  ich. 

Schuwitsch:  Was  will  das  sagen  ! (Hascht  nach  seiner  Hand.) 

Geizige  r:  Holla!  An  meine  Borse? 

Schuwitsch:  Eure  Lebenslinie.  Seht,  die  Lime  da.  Gott, 
Gott,  was  hat  der  junge  Mann  eine  Lebenslinie.  Man  wird 
Euch  totschlagen  miissen,  sag  ich  Euch,  Ihr  werdet  noch 
Kinder  und  Kindeskinder  begraben. 

Geiziger:  Ausnehmend  zu  horen. 

Babette  (von  rechts,  bringt  eine  Karaffe  mit  Wasser,  stellt  sie  vor 
den  Geizigen.  Ab). 


Geiziger  (schenkt  sich  Wasser  ein,  holt  ein  kleines  Stuck  Brot  aus 
der  Tasche,  taucht  es  in  das  Wasser  und  ifit ) : Sie  gestatten,  daB  ich 

mein  Vesperbrot  zu  mir  nehme.  — Wie  steht  es  mit  unserer 
gewissen  Angelegenheit? 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


117 


Schuwitsch:  Welche  Frage!  Fange  ich  je  was  an,  das  ich 
nicht  zum  guten  Ende  schaffe?  Es  gibt  keine  Partie,  die  ich 
nicht  in  kurzer  Zeit  zustande  bringe.  Und  wenn  es  sein  miiBte, 
den  Papst  mit  dem  GroBtiirken  zu  verheiraten.  Ich  hab  es  also 
der  Mutter  Mariannes  auseinandergesetzt,  welches  Gliick  ihrer 
Tochter  bevorsteht. 

Geiziger:  Und  was  hat  sie  geantwortet? 

Schuwitsch:  Welche  Frage!  Mit  Freuden  war  sie  ein- 
verstanden.  Mit  Freuden!  Heut  abend,  sagte  sie,  soil  ich  die 
Tochter  abholen  und  zu  Euch  bringen,  damit  der  Ehevertrag 
unterzeichnet  wird. 

Geiziger:  Schon.  Schon.  Habt  Ihr  auch  iiber  die  Mit- 
gift  mit  der  Mutter  gesprochen?  Sie  muB,  und  das  habt  Ihr 
der  Alten  hoffentlich  klar  gemacht,  sie  muB  sich  etwas  ab- 
zwacken,  etwas  Ubriges  tun  bei  solcher  Gelegenheit.  SchiieBlich 
heiratet  man  doch  kein  Madchen,  das  nichts  mitbringt. 

Schuwitsch:  Ich  versteh  immer,  daB  sie  nichts  mitbringt. 
Aber  sie  bringt  doch  mit.  Achttausend  Taler  Rente  jahrlich 
bringt  sie  mit! 

Geiziger:  Was?  Achttausend  Rente?  Zapperlot. 

Schuwitsch:  Aber  freilich.  Erstens  ist  sie  in  bezug  auf 
das  Essen  hochst  emfach  und  sparsam  erzogen.  Das  Kind  lebt 
von  Milch  und  Brot,  Salat  und  Obst.  Auf  einen  reichgedeckten 
Tisch,  wie  ihn  andere  Frauen  verlangen,  wird  sie  nie  Anspruch 
machen.  Das  macht  im  Jahr  tausend  Taler  aus. 

Geiziger:  Wieso,  erlaubt  — 

Schuwitsch:  Ferner  halt  Marianne  nur  auf  einfache, 
saubere,  bescheidene  Kleidung.  Nach  Putz  und  groBartigen 
Toiletten,  Schmuck  und  luxuriosen  Mobeln  steht  ihr  der  Sinn 
gar  nicht.  Das  macht  mindestens  3000  Taler  im  Jahr. 

Geiziger:  Dreitausend  — 

Schuwitsch:  Und  dann:  Sie  geht  leidenschaftlich  gem  zu 
FuB,  nichts  da  mit  Reiten  und  Fahren.  Macht  zweitausend 
im  Jahr.  Und  ferner:  Sie  hafit  das  Spiel,  ganz  im  Gegensatz 
zu  alien  unsern  Damen.  Ich  kenne  manche,  die  im  Trente  et 
Quarante  jahrlich  an  die  zehntausend  Taler  verloren  hat.  Rech- 


I 1 8 Franz  Bid  ♦ Der  Geizige 


nen  wir  davon  nur  den  fiinften  Teil,  so  erspart  sie  Euch  damit 
zweitausend  Taler,  macht  zusammen  mit  dem  in  Essen,  Klei- 
dern,  ZufuBgehen,  ersparten  sechstausend  Talem  im  Jahr 
sage  und  schreibe  achttausend,  die  sie  Euch  als  hiibsche 
jahrliche  Rente  mit  in  die  Ehe  bringt.  Keine  Mitgift,  ich 
bitt  Euch! 

Geiziger:  Alles  nicht  iibel.  Sehr  zufrieden.  Aber  das  ist, 
erlaubt,  doch  kein  reeller  barer  Wert,  diese  achttausend. 

Schuwitsch:  Nichts  Reelles?  Kein  Wert?  Niichternheit, 
Bescheidenheit,  HaB  gegen  das  Spiel,  — nichts  Reelles? 

Geiziger:  Ich  gebe  keine  Quittung  iiber  etwas,  das  ich 
nicht  bar  in  die  Hand  bekommen  habe.  Eure  achttausend 
Taler  Mitgift  sind  ein  Scherz,  meine  liebe  Madame  Schu- 
witsch. 

Schuwitsch:  Ja  ja,  es  gibt  ja  auBer  den  achttausend  wohl 
sonst  noch  einiges.  Ich  habe  mir  sagen  lassen,  es  sollen  da  so 
gewisse  Aussichten  auf  bestimmte  Liegenschaften  bestehen, 
welche  die  Mutter  irgendwo  hat. 

Geiziger:  MuB  ich  erst  sehen.  Vielleicht  sind  sie  auf  dem 
Mond. 

Schuwitsch:  Naher,  viel  naher. 

Geiziger:  Aber  es  ist  da  noch  was,  was  mich  beunruhigt. 
Das  Madchen  ist  noch  jung,  und  junge  Leute  lieben  nur  ihres- 
gleichen.  Ich  fiirchte,  ein  Mann  in  meinem  Alter  ist  vielleicht 
nicht  ganz  nach  ihrem  Geschmack,  und  das  konnte  in  der  Ehe 
so  kleine  Unannehmlichkeiten  hervorrufen,  die  wieder  nicht 
nach  meinem  Geschmack  sind. 

Schuwitsch:  Da  kennt  I hr  Marianne  schlecht.  Das  ist 
ja  geradezu  eine  Eigenschaft  von  ihr,  — sie  kann  die  jungen 
Manner  nicht  ausstehen  Sie  mag  nur  alte  Herren. 

Geiziger:  Die  Mutter  oder  die  Tochter? 

Schuwitsch:  Die  Tochter.  Ich  wollte,  Ihr  hattet  sie 
liber  diesen  Punkt  reden  horen ! Sie  ist  entziickt,  hingerissen, 
wenn  sie  einen  schonen  Greis  sieht.  Je  alter,  um  so  lieber  ist 
er  ihr. 


Franz  Blet  * Der  Geizige 


119 


Geiziger:  Wirklich? 

•-  Schuwitsch:  Ich  rate,  macht  Euch  um  Gotteswillen  nicht 

~ jiinger  als  Ihr  seid.  Setzt  Eure  Brille  auf.  Ein  Sechziger  muB 

v es  sein,  sagte  sie,  und  wie  oft!  Mindestens  ein  Sechziger!  Was 

sagt  ihr,  voriges  Jahr  brach  sie  mit  einem  Brautigam,  weil  sich 
herausstellte,  dafi  er  erst  sechsundfiinfzig  Jahre  alt  war. 

Geiziger:  Nur  deshalb? 

Schuwitsch:  Sie  ist  einmal  so. 

Geiziger:  Das  freut  mich  ja  auBerordentlich.  Und  ich 
verstehe  diese  Neigung  vollkommen.  Wenn  ich  eine  Frau  ware, 
wiirde  ich  mich  auch  nur  an  die  alteren  Manner  halten. 

Schuwitsch:  Das  sag  ich  ja  immer.  Die  jungen  Herren! 
Das  Gott  erbarm!  Wer  soli  sich  in  diese  Rotznasen  verlieben? 
Ich  verstehe  nicht,  was  manche  in  denen  findet. 

Geiziger:  Und  ist  das  Frauenzimmer  doch  oft  wie  ver- 
sessen  darauf.  Ganz  ratselhaft. 

c Schuwitsch:  Sind  denn  das  Manner?  Neben  einem  Mann 

wie  Ihr  einer  seid!  Das  nenn  ich  einen  Mann!  So  muB  einer 
>r  gebaut  sein,  damit  man  sich  in  ihn  verlieben  kann. 

Geiziger:  Findet  Ihr? 

Schuwitsch:  Zum  Malen  seid  Ihr!  Konnt  gar  nicht 
l schoner  aussehen!  Ich  bitt  Euch,  geht  einmal  ein  biBchen.  — 

*.  Das  nenn  ich  einen  gut  gewachsenen,  frei  und  sicher  auftreten- 

den  Mann!  Der  verspricht ! Jawohl,  der  verspricht!  Da  merkt 
..  man  nichts  von  Beschwerden  oder  dergleichen. 

r Geiziger:  Hab  auch  keine  besonderen,  Gott  sei  es  gedankt. 

Nur  der  Husten  plagt  mich  manchmal. 

- Schuwitsch:  Das  macht  doch  gar  nichts.  Der  Husten  steht 

Euch  reizend!  Ihr  hustet  mit  Grazie  gewissermaBen.  Es  liegt 
ein  eigener  Reiz  in  Eurem  Husten. 

Geiziger:  Marianne  hat  mich  noch  nicht  gesehen? 

Schuwitsch:  Nur  so  von  weitem.  Aber  wir  haben  sehr 
viel  von  Euch  gesprochen.  Nachtelang.  Ich  habe  ihr  Schilde- 
, rungen  von  Euch  gegeben,  die  der  Kleinen  ganz  heiB  gemacht 

haben.  Im  Vertrauen:  Sie  konnte  nicht  einschlafen  dariiber. 


28  Vol.  m/2 


Franz  Blei 


Der  Geizige 


Geiziger:  Dafxir  dank  ich  Euch  auch  schon,  Madame 
Schuwitsch. 

Schuwitsch:  Und  da  hatt  ich  bei  der Gelegenheit,  weil  wir 
so  hiibsch  miteinander  plaudern,  hatt  ich  auch  ein  kleines  An- 
liegen,  erne  Bitte  an  den  gnadigen  Herrn  Brautigam.  Ich  habe 
da  namlich  einen  Prozefi  und  ich  fiirchte,  ihn  zu  verlieren,  weil 
ich  kein  Geld  nicht  habe.  Wenn  der  gnadige  Herr  Brautigam 
mir  da  helfen  wollten,  ihn  zu  gewmnen.  Es  geht  um  keinen 
Pappenstiel.  Nein,  wie  sich  das  Mariannerl  freuen  wird,  Euch 
zu  sehen!  Ganz  verriickt  wird  sie  werden! 

Geiziger:  Glaubt  Ihr?  Das  freut  mich.  Freut  mich  fur 
das  Madchen. 

Schuwitsch:  Der  Prozefi  ist  fur  mich  von  der  allergroBten 
Wichtigkeit.  Einfach  ruiniert  bin  ich,  verlier  ich  ihn.  Nur  eine 
Kleinigkeit  vom  Herrn  Brautigam,  und  die  Sache  war  in  Ord- 
nung.  Ich  wollte,  Ihr  hattet  die  Kleine  gesehen,  mit  welchem 
Entziicken  sie  mir  zuhorte,  wenn  ich  von  Euch  sprach.  Die 
Freude  glanzte  ihr  nur  so  aus  den  Augen,  als  ich  ihr  Eure 
Eigenschaften  aufzahlte. 

Geiziger:  Damit  habt  Ihr  mir  einen  Gefallen  erwiesen, 
und  bin  Euch  dankbar.  In  der  Tat. 

Schuwitsch:  Und  ich  Euch,  gnadiger  Herr,  wenn  Ihr 
mir  in  der  Prozefisache  helft. 

Geiziger:  Und  nun  mufi  ich  auf  die  Borse.  Geschafte  von 
hochster  Wichtigkeit.  — 

Schuwitsch:  Ihr  wiirdet  mir  aus  grofiter  Not  helfen. 

Geiziger:  Seht,  so  geht  es  immer.  Man  hat  doch  nicht 
ein  bifichen  Ruhe,  sich  von  angenehmen  Dingen  zu  unterhalten. 
Ja,  das  Leben  hat  eine  rauhe  Hand. 

Schuwitsch:  Ich  wiirde  Euch  gewifi  nicht  belastigen,  war 
ich  nicht  durch  die  schlimmste  Not  gezwungen. 

Geiziger:  Zum  Abend  also  Marianne.  Ich  bin  erwartet. 
Auf  Wiedersehen.  (Ab.) 

Schuwitsch  (allein) : Dafi  dich  das  kalte  Fieber  zu  alien 
Teufeln  schaffe,  verdammter  Hund! 

* 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


121 


NEUNTE  SZENE. 


cnu 

eine  rauhe  Hand“, 


Schuwitsch.  Jakob. 

Jakob:  Ich  seh  es  Euch  an,  Schuwitschin,  Ihr  seid  mit  dem 
Herm  Brautigam  nicht  auf  Eure  Rechnung  gekommen.  Hatt 
ich  Euch  gleich  sagen  konnen.  Hier  im  Hause  ist  das  Geld 
verflucht  teuer. 

Schuwitsch:  „Geschafte“,  ,,Auf  die  Borse“.  „Leben  hat 

so  hohnt  der  alte  Affe  ein  ehrliches 
Weibsstiick,  dem  es  weifi  Gott  schwer  genug  wurde,  sich  um 
seinen  ekligen  Brauthandel  zu  kiimmern. 

Jakob:  Aber  an  Lob  fur  Euch  hat  er  es  doch  nicht  fehlen 
lassen?  Und  an  seiner  Freundschaft  und  Dankbarkeit?  Nur 
die  Hand  macht  er  nicht  auf.  Gegen  das  Wort  „geben“  hat 
der  eine  solche  Abscheu,  daB  er  nie  sagt : Ich  gebe  Euch  die 
Hand,  sondern  ich  leihe  Euch  die  Hand. 

Schuwitsch:  Ist  das  noch  ein  Christenmensch ? 

J akob:  Man  diirfte  verrecken,  ohne  daB  er  sich  riihrt.  Sein 
Eingeweide  gibt  er  dir  lieber  als  einen  Groschen.  Wie  war 
es,  Schuwitschin,  Ihr  tatet,  was  ich  Euch  vorhin  schon  sagte: 
Ihr  schlagt  Euch  auf  die  andere  Partei?  Ist  da  schon  auch 
nicht  in  barem  zu  holen,  so  trifft  es  doch  den  Alten.  Ich  hab 
so  meine  Planchen. 

Schuwitsch:  WeiB  Gott,  das  pafite  mir,  dem  Affen  einen 
Possen  zu  spielen.  Was  hast  fur  ein  Planchen?  Erzahl. 

Jakob:  Hier  nicht.  Ich  miiBt  es  in  Eure  tauben  Ohren 
briillen,  und  da  konnten  es  noch  andre  horen.  Ich  komm  zu 
Euch. 

Schu  wi  tsc  h:  Wird  es  ihn  auch  richtig  treffen,  dein 
Planchen? 

Jakob:  Ich  sag  Euch,  mitten  ins  Herz.  Kommt. 

(Ab  mit  Schuwitsch.) 


Vor  ha  n g. 


Franz  Blei  ♦ Der  Gtizige 


DRITTER  AKT. 


ERSTE  SZENE. 

Madame  Schuwitsch  (kommt  mit)  Marianne. 

Marianne:  Ich  hab  so  Angst,  Schuwitschin. 

Schuwitsch:  Angst?  Wovor  denn  Angst,  mein  Taubchen ? 

Marianne:  I hr  fragt  noch!  Konnt  I hr  Euch  das  Grauen 
eines  Menschen  nicht  vorstellen,  der  im  nachsten  Augenblick 
vom  Leben  zum  Tod  exekutiert  werden  soil? 

Schuwitsch:  Ja  ja,  mein  Lammchen,  ich  denk  mir  schon, 
dafi  der  alte  Herr  kein  Henker  ist,  von  dem  du  einen  ange- 
nehmen  Tod  erwarten  konntest,  und  dafi  dir  ein  anderer  junger, 
blonder,  von  dem  du  mir  erzahlt  hast,  lieber  ware,  dafi  er  dir 
dein  Leben  nahme. 

Marianne:  Joachim  meint  Ihr?  — Er  kam  zu  uns  oft  ins 
Haus,  und  ich  mufi  Euch  gestehen,  mein  Herz  blieb  nicht  un- 
geriihrt  von  ihm. 

Schuwitsch:  Und  hast  dich  gar  nicht  gekiimmert,  heraus- 
zukriegen,  wer  und  was  und  wo  er  ist  ? 

Marianne:  Wie  sollt  ich!  Wir  arme  Leut!  Was  kiimmert’s 
ein  armes  Ding  wie  mich?  Gliicklich,  ihn  lieben  zu  konnen 
und  von  ihm  sich  geliebt  wissen,  das  ist  schon  mehr  als  genug. 
Und  nun  soil  ich  — versteht  doch,  wie  furchtbar  mir  das  nun 
sein  mufi! 

Schuwitsch:  Mein  Kind,  die  jungen  Blondkopfe  wie  dein 
Joachim  sind  ja  sehr  scharmant  und  verstehen  es,  sich  recht  an- 
genehm  zu  machen.  Aber  meist  sind  sie  arm  wie  Kirchenmause. 
Drum  sag  ich  dir,  nimm  den  Alten,  der  dir  Geld  hinterlafit. 
Heiratest  ihn  doch  nur  auf  Abbruch.  Und  dann  — der  Blond- 
kopf.  Nicht  besser  so? 

Marianne:  Geht,  den  Tod  eines  Menschen  nur  darum 
wiinschen,  um  gliicklich  zu  werden,  das  ist  nicht  christlich. 

Schuwitsch:  Du  heiratest  den  Alten  nur  unter  der  Be- 
dingung,  dafi  er  dich  zur  Witwe  macht.  Das  mufi  in  den  Kon- 


t 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


123 


trakt  aufgenommen  werden.  In  drei  Monaten  muB  er  spate- 
stens  tot  sein.  In  der  Zeit  hat  dir  dein  Herr  Gemahl  kein  Haar 
gekriimmt,  sag  ich  dir,  und  dein  Joachim  bekommt  dich. 

Marianne:  Wie  Ihr  red’t! 

Schuwitsch:  Da  kommt  er  schon  selber.  Erschrick  nicht 
zu  sehr. 

* 

ZWEITE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Der  Geizige. 

Geiziger:  Nehmt  mir  es  nicht  libel,  schone  Demoiselle, 
daB  ich  mit  der  Brille  auf  der  Nase  vor  sie  trete.  Ich  weiB 
wohl,  dafi  Eure  Reize  auch  ohne  das  deutlich  sind  und  man 
kein  Glas  braucht,  um  sie  zu  merken.  Aber  auch  die  Sterne 
sieht  man  durch  Glaser  an,  nicht?  Und  daB  Ihr  ein  Stern  seid, 
der  schonste  — Schuwitschin,  sie  scheint  mir  nicht  erfreut  zu 
sein,  mich  zu  sehen,  die  Demoiselle. 

Schuwitsch:  Son  jung  Ding!  Es  schamt  sich  halt  zu 
zeigen,  was  es  fiihlt.  Klopft  ihr  das  Herz  vor  Freude  im  Hals. 
Nicht,  Mariannel?  So  plotzlich  dem  Geliebten  gegeniiber  — 
Ihr  versteht. 

Geiziger:  Vorbereitungen,  notige,  zu  treffen,  muB  ich 
Euch  vorerst  lassen,  schonste  Marianne.  Meiner  Tochter  Luise 
lassen,  die  hier  kommt.  GroBe  Tochter,  ja  ja.  Unkraut  wachst 
rasch.  (Ab.) 

* 

DRITTE  SZENE. 

Marianne.  Schuwitsch.  Luise. 

Luise:  Demoiselle,  Ihr  habt  getan,  was  eigentlich  meine 
Pflicht  gewesen  ware.  Ich  hatt  dem  Euren  mit  meinem  Besuch 
zuvorkommen  sollen. 

Schuwitsch:  Das  arme  Ding  — 

Marianne:  Aber  das  ist  ja  fiirchterlich ! Das  ertrag  ich 
nicht ! 


1 


124  Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


Schuwitsch:  Was  soli  ich  — Nun  sprecht  das  miteinan- 
der  ab.  (Ab.) 

Luise:  Arme  Marianne! 

Marianne:  Ihrsagtdas?  Seine  Tochter? 

Luise:  Ich  kenne  Euren  Kummer,  Marianne.  Und  konnt 
ich  ihn  aufheben,  ich  tat's. 

Marianne:  Ein  siiBer  Trost,  die  Teilnahme  einer  Dame 
wie  Euch  zu  besitzen.  Ich  bitt  Euch,  bewahrt  sie  mir,  diese 
groBherzige  Freundschaft,  die  mir  mein  grausames  Geschick 
erleichtern  wird.  Ihr  denkt  nicht  schlecht  von  mir? 

Luise:  Ihr  liebt  einen  andern  — warum  dann  dies  mit  dem 

Vater  ? 

Marianne:  Meine  Mutter  — ich  kann  ihr  den  Schmerz 
nicht  antun,  daB  ich  mich  iiber  all  das  hinwegsetze,  was  einzu- 
halten  mein  Geschlecht  mich  zwingt.  Mutter  lebt  nur  fur  mich, 
hat  immer  nur  fiir  mich  gelebt.  Ich  kann  ihr  den  Kummer 
nicht  antun.  Es  wiirde  ihr  Tod  sein. 

Luise:  Und  der  Euch  liebt,  Marianne,  und  den  Ihr  liebt, 
sprach  er  nicht  mit  Eurer  Mutter? 

Maianne:  Sprach  s.  1st  hoffnungslos.  Und  arm.  So  arm 
wie  wir  selber.  Aber  — das  kann  ich  nicht!  Kann  ich  nicht! 
Verzeiht  mir,  aber  ich  kann  Euren  Vater  nicht  ehelichen ! Lieber 
soli  alles  den  Tod  finden. 

Lu  ise  (zu  sich):  Sag  ich’s  ihr?  Heinrich  verbot  es.  (Laut:) 
Kommt  zu  mir.  Hier  sind  wir  nicht  mehr  allein.  Ich  hor  den 
Vater.  (Ab  mit  Marianne.) 

* 


VIERTE  SZENE. 


Der  Geizige.  Lauren z.  Jakob.  B a b et t e (folgen  lhm). 

Geiziger:  Kommt  alle  her.  Nehmt  meine  Befehle  fiir  nach- 
her.  Ihr  helft  mir,  Sekretarius,  daB  mir  nichts  Wichtiges  ent- 
fallt.  Du,  Babette,  sorgst  dafiir,  daB  alles  sauber  ist.  Gib 
acht,  mir  das  Mobel  nicht  zu  stark  zu  reiben  und  abzunutzen. 
Und  was  zerschlagen  wird  an  Geschirr,  das  zieh  ich  dir  vom 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


125 


Lohn  ab.  Du  lean  ns  t gehn.  (Babette  ab.)  Jakob,  Galgenstrick. 
Du  schenkst  ein.  Aber  nur  wenn  jemand  Durst  hat  und  nicht 
so  wie  manche  Liimmel  von  Lakaien,  die  die  Leute  formlich 
mit  ihrer  Flasche  uberfallen  und  zur  Trunksucht  zwingen. 
Wartest  auch,  bis  man  ein  paarmal  gebeten  hat.  Und  sorgst 
dafiir,  dafi  immer  viel  Wasser  da  ist. 

Jakob:  Der  pure  Wein  steigt  nur  zu  Kopf.  Soil  ich  die 
Livree  anziehn? 

Geiziger:  Erst  wenn  die  Gaste  da  sind.  Und  mach  sie 
mir  nicht  schmutzig. 

Jakob:  Es  ist  nur,  sie  hat  am  Aufschlag  einen  groBen 
Olfleck. 

Geiziger:  Da  haltst  du  beim  Servieren  den  Hut  vor. 

Jakob:  Und  hinten  hat  die  Hose  ein  Loch.  Man  sieht,  mit 
Respekt  zu  melden  — 

Geiziger:  Halt’s  Maul!  Diese  Seite  kehrst  du  immer  ge- 
schickt  gegen  die  Wand  und  prasentierst  den  Leuten  die  Vor- 
derseite.  Abgetreten!  (Jakob  ab.)  Laurenz. 

Laurenz:  Was  bin  ich  heut,  Koch  oder  Gartner,  gnadiger 
Herr? 

Geiziger:  Du  muBt  heut  ein  Souper  herrichten,  Laurenz. 

Laurenz:  Ein  Souper?  Gottes  Wunder! 

Geiziger:  Wirst  du  was  Ordentliches  kochen? 

Laurenz:  Wenn  der  gnadige  Herr  mir  das  Geld  zum  Ein- 
kaufen  gibt  — 

Geiziger:  Kocht  man  mit  Geld?  Immer  Geld!  Nichts 
als  Geld! 

Heinrich:  Unverschamt ! Als  ob  es  ein  Kunststiick  ware, 
mit  Geld  was  Leckeres  herzustellen ! Das  trifft  der  Diimmste. 
Mit  wenigem,  mit  Nichts  ein  gutes  Essen  machen,  das  ist  die 
Kunst. 

Geiziger:  Was  ich  immer  sagte. 

Laurenz:  Da  miissen  mir  der  Herr  Sekretarius  schon 
das  Geheimnis  verraten,  oder  gleich  selber  das  Amt  iiber- 
nehmen,  mit  nichts  ein  Souper  herzustellen.  Wieviel  Gaste 
sind’s  denn? 


126 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


Geiziger:  Da  ist  die  Demoiselle  Braut  Marianne,  der  Herr 
Simon,  der  andere  Brautigam.  Der  ersten  Mutter  denk  ich, 
macht  drei  Gaste.  Du  kochst  fiir  vier.  Wo  vier  satt  werden, 
werden  s auch  sieben. 

Sekretarius:  Einfachste  Sache. 

Laurenz:  Nicht  fiir  einen  Koch!  — Da  braucht’s  dazu 
vier  grofie  Schiisseln  und  fiinf  Zwischengerichte,  Suppe,  Vor- 
speisen  — 

Geiziger:  Damit  fiittere  ich  ganz  Breslau! 

Laurenz:  Braten  — 

Geiziger:  Du  hast  es  auf  mein  Vermogen  abgesehen, 
Schurke ! 

Laurenz:  Gefliigel  — 

Geiziger:  Dafi  dich  die  Pest!  Gefliigel! 

Heinrich:  Will  Er  die  Gaste  denn  umbringen?  Zu  Tode 
fiittern?  Das  ist  ja  kein  Essen  mehr,  ist  eine  Mordergrube! 

Geiziger:  Mir  aus  der  Seele! 

Heinrich:  Man  ifit,  um  zu  leben,  lebt  nicht,  um  zu  essen. 

Geiziger:  Wie  wahr,  wie  weise!  Man  soil  leben,  um  zu 
essen,  — nein,  wie  war’s?  Schreibt  mir  den  wundervollen  Spruch 
auf.  Ich  will  lhn  in  goldenen  Lettern,  ich  will  ihn  in  Lettern 
iiber  dem  Kamin  im  Speisezimmer  anbringen  lassen. 

Heinrich:  Ich  werd’s  besorgen.  Und  um  das  Souper  — 
das  lafit  meine  Sorge  sein! 

Geiziger:  Wir  geben  Gerichte,  die  nicht  viel  kosten  und 
rasch  satt  machen.  Fettgekochte  Bohnen,  Kastamen  — 

Heinrich:  Lafit  mich  nur  machen. 

Laurenz:  Die  Kiiche  tret  ich  Euch  gern  ab. 

Geiziger:  Halt’s  Maul!  Du  kochst,  was  dir  der  Herr  Se- 
kretarius befiehlt,  verstanden? 

Laurenz:  Das  wird  ein  grofiartiges  Souper  werden.  Mir 
lauft  schon  das  Wasser  im  Munde  zusammen.  All  meiner  Leb- 
tage  werd  ich  der  Hochzeitstafel  Eures  Herrn  Sekretarius  ge- 
denken.  (Ab.) 

* 


Franz  Bid  ♦ Der  Gdzige 


127 


FONFTE  szene. 

Der  Geizige.  Heinrich.  Joachim. 

G e i z i g e r : Und  du,  mein  schoner  Herr  Sohn  und  Schulden- 
macher,  dem  ich  das  von  vorhin  verzeihen  will,  — dafi  du  dir’s 
nicht  einfallen  lafit,  ein  saures  Gesicht  zu  schneiden. 

Joachim:  Wie  sollt  ich? 

Geiziger:  Du  lieber  Gott!  Als  ob  ich  nicht  wiiBte,  wie 
Kinder  denken,  deren  Vater  sich  wieder  verheiraten  will,  und 
was  fur  Augen  sie  ihrer  Stiefmutter  machen!  Wenn  ich  deine 
Streiche  vergessen  soli  und  du  Wert  darauf  legst,  daB  ich 
sie  vergesse,  so  empfehl  ich  dir,  dieser  Dame  ein  freund- 
lich  Gesicht  zu  zeigen  und  sie  so  gut  zu  empfangen  wie  irgend 
moglich. 

Joachim:  Mich  dariiber  zu  freuen,  daB  sie  meine  Stief- 
mutter werden  soli,  das,  Vater,  kann  ich  Euch  nicht  ver- 
sprechen.  Aber  was  den  guten  Empfang  und  das  freund- 
liche  Gesicht  angeht,  so  versprech  ich  Euch  unbedingten 
Gehorsam. 

Geiziger:  Das  ist  nicht  mehr  als  verniinftig  von  dir. 

Joachim:  Ihr  werdet  Euch  nicht  zu  beklagen  haben, 
Vater. 

Geiziger  (zu  Heinrich):  Holt  mir  Luise  und  die  Demoiselle. 
(Heinrich  ab.)  (Zu  Joachim:)  DaB  Kinder  nie  begreifen  lernen, 
wie  Eltern  nur  zu  ihrem  Gliick  da  sind.  Da  denkst  du,  Joachim, 
ich  seh  dir’s  an,  du  hast  einen  Feind  in  mir,  und  bin  dein 


bester  Freund,  um  dich  mich  sorgend  und  miihend  und 


dein 


Vater  mit  einem  Wort.  Geb  dir  eine  Mutter  ins  Haus!  Ist’s 
das  nicht,  was  ich  mehr,  was  sag  ich!  ausschlieBlich  nur  be- 
denke,  wenn  ich  mich  wieder  verheirate?  Meinst,  es  sei,  daB 
ich  ein  Weib  habe?  Seh  ich  aus  wie  ein  Freier?  Euch  wieder 
eine  Mutter  zu  geben,  das  ist  der  einzige  Gedanke,  der  mich 
leitet. 

Babette  (kommt  und  ziindet,  da  es  dammert,  Kerzen  in  einigen 
Leuchtern  an). 


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Franz  Blei 


Der  Geizige 


Geiziger:  Schon  dunkel?  (Er  geht  an  die  Tiir  in  den  Garten; 
zu  sich:)  Ob  man  nicht  des  nachts  im  Garten  Windlichter  brennte? 
Treibt  sich  allerlei  Gesindel  in  den  Gassen.  (Kommt  wieder  vor.) 
Das  ist  mein  einziger  Gedanke,  Joachim.  Wie  ich  sagte. 


* 

SECHSTE  SZENE. 

Die  Vorigen  (oHne  Babette).  Luise.  Marianne.  Heinrich. 

Geiziger  (zu  Marianne):  Und  das  ist  mein  Sohn  Joachim,  der 
Euch  seine  Referenz  erweisen  will. 

Mari  anne  (halt  sich  an  Luise):  Himmel,  Er! 

Heinrich  (leise  zu  ihr):  Fafit  Euch! 

Geiziger:  GroBe  Kinder,  ja  ja,  wie  gesagt,  Unkraut  wachst 
schnell.  Aber  ich  werde  sie  beide  in  kurzer  Zeit  los  sein. 

Joachim  (zu  Marianne):  Ein  wenig  iiberrascht,  als  mir  mein 
Vater  vorhin  seinen  EntschluB  mitteilte,  — verzeiht,  mein 
Fraulein. 

Marianne  (verwirrt):  Ganz  unerwartet,  dies  Zusammen- 
treffen  — 

Joachim:  Mein  Vater  konnte  keine  schonere  Wahl  treffen. 
Aber  den  Titel  Stiefmutter  kann  ich  Euch  nicht  wiinschen. 
Els  wiirde  mir  schwer  fallen,  ich  gesteh  es,  Euch  so  anzureden. 
Das  klingt  nicht  polit.  Aber  Ihr  werdet  mich  verstehen.  DaB 
ich  iiber  diese  Heirat  nicht  entziickt  bin,  nicht  sein  kann,  wird 
Euch  nicht  wundern,  Fraulein.  Ist  sie  nicht  ganz  gegen  alle 
meine  Interessen?  So  mufi  ich  Euch,  mit  Erlaubnis  meines 
Vaters  sagen,  dafi,  kam  es  auf  mich  an,  diese  Heirat  nicht  statt- 
finden  wiirde. 

Geiziger:  So  begriifiest  du,  wen  du  kiinftig  deine  Mutter 
nennen  sollst? 

Marianne:  Antwort  ich  nicht  dasselbe?  Ich  Euch  Stief- 
sohn  nennen?  Wiinschte  ich  das  je?  Es  tate  mir  sehr  leid, 
Euch  Kummer  zu  bereiten,  und  wenn  ich  mich  nicht  durch 
eine  hohere  Gewalt  dazu  gezwungen  sahe,  ich  wiirde  nie  in 
eine  Heirat  willigen,  die  Euch  miBfallt,  Joachim. 


Franz  Blci  ♦ Der  Geizige 


129 


Geiziger:  Ganz  recht  so!  Grob  wiedergeben,  was  grob 
herkam.  Ich  bitte  Euch  um  Verzeihung,  Demoiselle,  fiir  die 
Unverschamtheiten  meines  Sohnes,  der  nicht  versteht,  was  er 
spricht  und  dessen  Herz  seinem  Vater  entfremdet  ist.  Gott 
allein  weifi,  wofiir  diese  Strafe. 

Marianne:  Er  hat  mich  nicht  beleidigt.  Ich  bin  ihm  dank- 
bar,  dafi  er  mir  gleich  seine  wahren  Gefiihle  zu  erkennen  gab. 
Hatte  er  anders  gesprochen,  ich  wiirde  ihn  weniger  achten. 

Geiziger:  Eure  Giite  entschuldigt  seine  Fehler.  Er  wird 
sich  bessern.  Die  Zeit  wird  ihn  verniinftiger  machen. 

Joachim:  Ich  schwore  Euch,  Fraulein,  hierin  werden  sich 
meine  Gefiihle  niemals  andern.  Dessen  ruf  ich  Gott  zum  Zeugen. 

Geiziger:  Welche  Frechheit! 

Joachim:  Soli  ich  verleugnen  was  ich  fiihle? 

Geiziger:  Immer  noch?  Wirst  du  gleich  anders  reden! 

Joachim:  Da  Ihr  es  wiinscht,  Vater,  will  ich  anders  reden. 
Erlaubt  mir,  Marianne,  dafi  ich  an  meines  Vaters  Statt  zu  Euch 
spreche  und  Euch  gestehe,  dafi  ich  nie  auf  der  Welt  ein 
Schoneres  sah  als  Euch.  Kein  groBeres  Gluck  kenne,  als  Euch 
zu  gefallen  und  Euer  Gemahl  zu  heifien  Seligkeit  ware,  allem 
auf  Erden  vorzuziehen.  Das  Gliick,  Euch  zu  besitzen,  ware  das 
herrlichste  Los,  das  einem  Sterblichen  zufallen  konnte.  Kein 
Hindernis  — 

Geiziger:  Es  geniigt,  geniigt,  Joachim! 

Joachim:  Ich  spreche  ja  nur  an  Eurer  Stelle. 

Geiziger:  Brauche  keinen  Dolmetscher. 

* 

SIEBENTE  SZENE. 

Die  Vorigen.  Babette. 

Babette:  Gnadiger  Herr,  da  ist  ein  Mann,  der  Euch  zu 
sprechen  wiinscht. 

Geiziger:  Bin  jetzt  nicht  zu  sprechen. 

Babette:  Er  sagt,  er  bringe  Geld. 

Geizige  r : Einen  Augenbhck ! (Ab  mit  Babette.) 

* 


130 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


ACHTE  SZENE. 

Marianne.  Joachim.  Heinrich.  Luise. 

Joachim:  Marianne,  mein  boser  Stern  hat  es  so  gefiigt. 
Was  wollt  Ihr  tun  ? 

Marianne:  Joachim  — hilf  mir! 

Joachim:  Nichts  als  dies?  Keine  hilfreiche  Giite?  Keine 
Liebe,  die  zum  Handeln  treibt? 

Marianne:  Ich  fiige  mich  in  alles,  Joachim,  was  Ihr  be- 
schliefit.  Wifit  Ihr  es  nicht  langst? 

Joachim:  Ah,  was  laBt  du  mir  iibrig,  wenn  ich  mich  auf 
das  beschranken  soil,  was  die  strenge  Ehre  und  die  Vorurteile 
der  Sitte  gestatten! 

M ananne:  Luise! 

Luise:  Ich  sprech  fur  dich  — und  mich,  Marianne.  Ein  Ver- 
such,  noch  ein  letzter,  daB  Ehre  und  Sitte  nicht  leiden.  Hilft 
auch  der  nicht,  dann  hat  nichts  davon  mehr  Gewalt  iiber  uns. 

Mari  anne  (stiirzt  ihr  an  den  Hals):  Schwester! 

Heinrich  (zu  Joachim):  Euer  Jakob  schwur  es  mir  in  die 
Hand,  er  brachte  den  Alten  herum  bevor  es  zu  spat  sei.  Er  tut 
es  ganz  sicher. 

Joachim:  Hofft  Ihr,  Heinrich? 

Heinrich:  Ist’s  nichts,  dann  werden  die  Freunde  einander 
durchhelfen.  Nicht  so,  Joachim?  (Streckt  ihm  die  Hand  hin.) 

Joachim  (schlagt  in  die  Hand  ein):  Komme  was  immer!  Auf 

Leben  und  Tod! 

Heinrich  (Iacheind):  Hitzkopf! 

Marianne:  Mir  ist  das  Herz  freier. 

Joachim  (kiifit  ihr  die  Hand):  Gehebte! 

* 

NEUNTE  SZENE. 

DieVorigen.  DerGeizige. 

Geiziger:  Was  das?  Mein  Sohn  kiifit  seiner  zukiinftigen 
Stiefmutter  die  Hand?  Und  sie  hat  nichts  dagegen  einzu- 


Franz  BUi  ♦ Der  Geizige 


131 


wenden  ? Sollteda  etwas  dah inter  stecken  ? (Ruft :)  Achim,  ich 
hab  mit  dir  zu  sprechen. 

Luise:  Dann  wollen  wir  inzwischen  in  den  Garten  gehen. 

Geiziger:  Warum  in  den  Garten?  Was  willst  im  Garten? 
Es  wird  Nacht.  Els  ist  f eucht  im  Garten.  Geht  auf  deine  Kammer. 

(Luise  und  Marianne  ab.) 

Heinrich:  Wiinscht  Ihr  mich,  gnadiger  Herr? 

Geiziger:  Nicht  im  Augenblick,  Herr  Sekretarius.  Ihr 
verspracht,  Euch  um  die  Kiiche  zu  kiimmern. 

Heinrich:  Das  wird  besorgt.  (Ab.) 

* 

ZEHNTE  SZENE. 

Der  Geizige.  Joachim. 

Geiziger:  Also  von  der  Stiefmutter  abgesehen,  wie  gefallt 

dir  das  Madchen?  (Er  hscbt  wahrend  des  Folgenden  alle  LicKter  bis 
auf  eines  aus.) 

Joachim:  Gefallt? 

Geiziger:  Ihr  Benehmen,  ihre  Haltung,  ihre  Schonheit 
und  so  weiter.  — So  viel  Verschwenden ! 

Joachim:  Um  die  Wahrheit  zu  sagen,  und  Ihr  es  wissen 
wollt,  — ich  hab  sie  nicht  so  gefunden,  wie  ich  mir  dachte.  Ihr 
Benehmen  ist  kokett,  ihre  Haltung  ungeschickt,  ihre  Schonheit 
nicht  iibermaBig,  und  was  den  Geist  betrifft,  ist,  dtinkt  mich, 
keine  Spur  davon.  Ich  will  sie  Euch  nicht  verleiden  damit, 
Vater,  denn  schlieBlich  ist  mir  eine  Stiefmutter  so  lieb  wie  die 
andere. 

Geiziger:  Du  hast  ihr  doch  vorhin  gesagt  — 

Joachim:  Schmeicheleien,  in  Eurem  Namen,  nichts  weiter. 
Euch  zu  Gefallen,  Vater. 

Geiziger:  Marianne  gefallt  dir  also  nicht. 

Joachim:  Ganz  und  gar  nicht.  Aber  sie  soil  auch  nicht 
meine,  sondern  Eure  Frau  werden,  Vater. 

Geiziger:  Also  sie  gefallt  dir  nicht.  Schade.  Els  stdrt  einen 
Plan,  der  mir  in  den  Sinn  kam.  Stort  ihn  nicht  nur,  erledigt 


132 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


ihn.  Vorhin,  wie  ich  sie  so  ansah,  da  muBte  ich  doch  iiber  mein 
Alter  neben  dieser  Jugend  denken.  Man  wird  lachen  iiber  mich, 
wenn  ich  ein  so  junges  Madchen  heirate.  Meine  Geschafts- 
freunde  werden  in  mir  zweifelhaft  werden.  Das  hat  mich  fast 
von  meiner  Absicht  zuriickgebracht,  sie  zu  heiraten.  Nun  hat 
sie  aber  mein  Wort.  Ich  hatt  es  eingeldst,  indem  ich  Marianne 
dir  zur  Frau  gegeben  hatte,  wenn  sie  dir  gefallen  hatte  natiirlich. 
Fern  von  mir,  ein  Kind  zu  zwingen. 

Joachim:  Mir  zur  Frau? 

Geiziger:  Ja,  dir! 

J oachim:  Zur  Frau? 

Geiziger:  Zur  Frau,  ja  doch! 

Joachim:  Wenn  ichEuch  damit  eineLiebetun  kann,  Vater, 
will  ich  mich,  trotzdem  sie  nicht  mein  Geschmack  ist,  ent- 
schliefien,  sie  zu  heiraten.  Nur  weil  Ihr  es  wiinscht. 

Geiziger:  Zwang?  Wunsch?  Befehl?  Nie  wiirde  ich  dich 
zwingen,  einen  so  entscheidenden  Schritt  zu  tun,  wenn  du  da- 
gegen  bist,  mein  Sohn.  Ich  gehore  nicht  zu  den  Vatern,  die 
das  Gliick  ihrer  Kinder  ihrem  eigenen  Gliicke  opfern. 

J nachi  m : Dir  zu  Liebe  bring  ich  gern  das  Opfer. 

Geiziger:  Eine  Ehe  ohne  Liebe  — nie  kann  das  gliicklich 
enden . 

Joachim:  Man  sagt,  die  Liebe  kommt  oft  in  der  Ehe. 

Geiziger:  Kann  kommen,  kann!  — Das  Risiko  ist  zu 
groS.  Ich  konnt  es  nicht  verantworten,  dich  ungliicklich  ver- 
heiratet  zu  sehen.  Ja,  wenn  du  eine  kleine  Neigung  gehabt 
flattest,  eine  ganz  kleine  Sympathie,  nun  gut,  schon,  da  hatte 
man  denken  konnen,  sie  wiirde  wachsen  und  starker  werden, 
und  ich  hatte  dich  auf  der  Stelle  heiraten  lassen.  Aber  da  das 
leider  nicht  der  Fall  ist,  komm  ich  wieder  auf  mich  zuriick 
und  heirate  das  Madchen  selber. 

Joachim:  Hort  mich  an,  Vater.  Ich  muB  Euch,  da  es  so 
ist,  die  Wahrheit  sagen.  Die  Wahrheit  ist,  daB  ich  Marianne 
liebe,  seit  ich  sie  zum  erstenmal  sah.  Und  daB  ich  sie  mir 
von  Euch  zur  Frau  erbitten  wollte.  Nur  die  Furcht,  Euch  zu 
miBfallen,  hat  mich  davon  abgehalten. 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


133 


Geiziger:  Kennst  du  sie  lange? 

Joachim:  Den  Monat. 

Geiziger:  Besuchtest  sie? 

Joachim:  Jeden  Tag. 

Geiziger:  Gut  aufgenommen? 

Joachim:  Herzlich.  Doch  wufite  sie  nicht,  wer  ich  bin. 
Daher  vorhin  ihre  Uberraschung,  mich  als  Euren  Sohn  wieder- 
zusehen. 

Geiziger:  Sprachst  doch  wohl  auch  mit  ihr  von  deinen 
Heiratsabsichten  ? 

Joachim:  Auch  mit  der  Mutter. 

Geiziger:  Die  nahm  sie  freundlich  auf? 

Joachim:  Sehr  freundlich.  Ihre  eigene  Armut  und  meine 
waren  ihre  Bedenken  allein. 

Geiziger:  Und  das  Demoisellchen  Marianne? 

Joachim:  Triigt  Schein  nicht,  dann  liebt  sie  mich  wie  ich 
sie.  Ah,  nein,  nein,  kein  Schein  triigt,  Vater,  sie  liebt  mich, 
liebt  mich  unaussprechlich ! 

Geiziger:  Dann  bitt  ich  dich,  dir  Miihe  zu  geben,  diese 
Liebe  zu  vergessen.  Und  alle  Absichten  auf  das  Madchen 
durchaus  aufzugeben.  Das  ich  fur  mich  haben  will.  Verstan- 
den?  Fur  mich.  Und  kannst  du  nicht  vergessen,  dann  steht 
dir  die  Welt  offen.  Der  Konig  braucht  Soldaten. 

Joachim:  Ein  Spiel?  — Da  es  so  weit  ist,  sag  ich  Euch: 
me  werde  ich  auf  Marianne  verzichten.  Und  jedes  Mittel  werd 
ich  anwenden,  sie  mir  zu  gewinnen,  sie  Euch  streitig  zu  machen. 
Mag  die  schwache  Mutter  Euch  nachgeben,  — andere  werden 
mir  helfen,  daB  Marianne  mein  Weib  wird.  Mein  Weib,  hort 
es,  den  ich  jetzt  Vater  nicht  mehr  nennen  kann. 

Geiziger:  Ins  Gehege  will  mir  der  Junge  kommen? 

Joachim:  Ihr  kamt  in  das  meine! 

Geiziger:  Und  der  Respekt  vor  dem  Vater? 

Joachim:  Die  Liebe  kennt  keinen  Vater. 

Geiziger:  Du  sollst  mich  kennen  lernen.  Wo  ist  ein  Stock! 

Joachim:  Noch  mehr  kennen  lernen? 

Geiziger:  Ich  verstofie  dich! 


134 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


Joachim:  Das  Vaterherz! 

Geiziger:  Ich  erkenne  dich  nicht  mehr  als  meinen  Sohn 
an.  Ich  enterbe  dich! 

Joachim:  Wie  Ihr  wiinscht! 

Geiziger:  Und  gebe  dir  meinen  Fluch  mit! 

Joachim:  Euer  erstes  Geschenk. 

Geiziger  (ab  in  den  Garten). 

* 

ELFTE  SZENE. 

Joachim.  Jakob. 

Jakob  (eilig,  leise):  DaB  ich  Euch  finde,  junger  Herr!  Wir 
haben  sie! 

Joachim:  Was  gibt’s?  Was  hast  du? 

Jakob:  Ihr  kriegt  das  Fraulein  Marianne  und  das  Fraulein 
Luise  kriegt  ihren  Sekretarius. 

Joachim:  Was  ist  denn  ? 

Jakob:  Unter  der  Hundehiitte  haben  wir  sie  ausgegraben, 
ich  und  die  Schuwitschin. 

Joachim:  Ausgegraben?  Wen  denn?  Ich  versteh  kein 
Wort. 

Jakob:  Die  Geldtruhe  Eures  Herrn  Vaters!  Voll  mit  Gold- 
stiicken  ohne  Zweifel.  Und  er  kriegt  sie  erst  wieder,  wenn  er 
einwilligt.  Und  verlafit  Euch  darauf,  er  willigt  ein.  In  alles. 
Lieber  gibt  er  das  Leben  als  sein  Geld. 

Joachim:  Er  wird  Euch  einsperren  lassen. 

Jakob:  Wird  sich  hviten.  Konigliche  Verordnung:  Wer 
Gold  fur  sich  behalt  und  nicht  gegen  Schein  fin  die  Knegskasse 
abhefert,  dem  wird  es  konfisziert,  er  selber  inkarzeriert  im 
Stockhaus.  — Kommt!  Hort!  Ist  er  es  nicht  schon?  Wie  er 
schreit ! Kommt!  (Ab  mit  Joachim.) 

* 


135 


I 


Franz  Blei  • Der  Geizige 


ZWOLFTE  szene. 

Geiziger  (nocKim Garten):  ZuHilfe!  Diebe!  Diebe!  Morder! 
Diebe!  Gerechtigkeit!  Polizei!  (Kommt  auf  die  Buhne.)  Mord! 
Mord!  Man  schneidet  mir  den  Hals  ab!  Man  hat  mir  mein 
Geld  geraubt!  Haltet  den  Dieb!  Polizei!  — Wo  steckst  du, 
Morder?  Halt  da!  (Er  packt  seinen  Arm.)  Gib  mir  mem  Geld, 
Schurke!  Ah,  ich  bin  ganz  verwirrt.  Und  wie  dunkel  es  hier 

1st.  (Er  ergreift  den  einen  Leuchter  nnd  ziindet  die  anderen  Kerzen  an.) 

Licht  machen ! Gott,  Gott,  Gott,  mein  Geld,  mein  armes  Geld, 
mein  armes!  Diebe!  Mein  teurer  Freund,  mein  einziger!  Man 
hat  dich  mir  geraubt,  meine  Stiitze,  Stab,  Trost,  im  Jammer 
dieser  Welt.  Diebe!  Zu  Hilfe!  — Von  Kindern  verlassen,  be- 

trogen,  geschmaht.  — Du  — der  einzige  Freund Diebe! 

Zu  Hilfe!  — Jetzt  ist  alles  aus.  Ich  habe  auf  der  Welt  nichts 
mehr  zu  suchen.  Ohne  dich  kein  Leben  mehr.  Es  ist  aus.  Aus. 
Diebe!  Die  Stimme  erstickt  mir.  Morder!  Keiner  kann  mich 
horen!  Ich  sterbe!  Bin  schon  tot.  Begraben.  — Morder!  — 
Ist  denn  niemand  da,  der  mich  wieder  aufwecken  kann?  Mir 
mein  Geld  wiedergibt?  Sagt,  wer  es  hat  ? GroBer  Gott  im 
Himmel,  laB  diese  Priifung  gnadig  an  mir  voriibergehen.  Vater 
unser,  der  du  bist  im  Himmel  und  weifit,  wer  mich  bestohlen 
hat,  zeig  mir  den  Dieb,  weise  mir  den  Morder!  Was?  Was 
sagt  Ihr?  Was?  Niemand  da.  Niemand.  Gehen  wir.  Ich  muB 
die  Polizei  holen.  Ich  will  das  ganzeHaus  foltern  lasseg,  foltern. 
Knechte,  Magde,  Sohn,  Tochter,  mich  selber  — foltern.  Wer 
spricht  da?  Der  Morder?  Was  ist  denn  da  oben  fur  ein  Larm? 
Ist  mein  Dieb  da  oben?  Mein  Henker?  Alle  glotzen  mich  an. 
Lachen  mich  aus.  Alle  haben  dabei  geholfen.  Alle  Rauber, 

Diebe,  Henker Kraft ! VerlaB  mich  nicht  Stimme,  verlaB 

mich  nicht.  Diebe!  FiiBe,  auf!  Diebe!  Gendarmen!  Polizei! 

Ich  lasse  alle  aufkniipfen ! (Er  schwankt  schreiend  nach  links  ab,  mit 
einem  Armleuchter.)  Ich  will  mein  Geld  wiedersehen!  Ich  will 
leben,  leben!  Morder! 

(Vorhang,  der  gleich  wieder  aufgeht.) 


29  Vol. 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


VIERTER  AKT. 

ERSTE  SZENE. 

Der  Geizige. 

Geiziger  (kommt  wieder,  mil  dem  Leuchter):  Meine  FiiBe  tra- 
gen  mich  nicht  . . . Hier  sterb  ich.  Und  mein  Morder  inzwi- 
schen  zum  Land  hinaus.  Auf  vier  Pferde  schlagt  er  ein.  Der 
Dieb!  Morder!  Haltet  ihn  auf!  Keiner  im  Haus  hort  mich! 
Wo  sind  sie?  Allegeflohen?  Diebe!  Luise!  Achim!  — Meine 

Stimme  — ich  fliistere  ja.  (Er  schlagt  ein  Fenster  ein:)  Ich  mu6 
Larm  machen.  Vielleicht  treibt  das  einen  her.  (Der  Hund  bellt 
im  Garten,  der  ganz  dunkel  ist :)  Ah!  Tyras!  Verraterisches  Hunde- 
vieh!  Was  hast  ihn  nicht  zerrissen,  der  mir  das  Herz  — ! Ver- 
hungern  IaB  ich  dich ! Bestie,  an  der  Kette  verhungern ! Mor- 
der! (Er  nahert  sich  mit  dem  Lichte  einem  Vorhang:)  Ziind  ich  das 

Haus  an?  Ein  groBes  Licht  machen,  daB  man  kommt?  — — 

* 

ZWEITE  SZENE. 

Der  Geizige.  Der  Kommissarius. 

Kommissarius:  Wohnt  hier  ein  Herr  Heinrich  von  Wer- 
nitz? 

Geiziger  (stiirzt  auf  ihn  zu):  Halt  ich  dich,  Morder!  Hab 
ich  dich,  Dieb!  Wo?  Wo  hast  du  sie  versteckt? 

Kommissarius:  Wer  seid  Ihr? 

Geiziger:  Ah!  Verzeiht  meinem  kurzen  Gesicht.  Nun 
fiihl  ich  zum  Beispiel  Degen.  Pistolen.  Habt  Ihr  Handschellen 
auch  mitgebracht? 

Kommissarius:  Ihr  seid? 

Geiziger:  War  der  Hausherr.  Bin  niemand  mehr.  Bin 
namenlos.  Bin  bestohlen.  Ihr  seid  vom  Amte.  Endlich.  Gott 
segne  Euren  Eintritt.  Ich  bin  um  alies  bestohlen,  Herr!  Ich 


Franz  Bid  ♦ Der  Gdzige 


137 


bin  ein  ruinierter,  ausgeldschter  Mann  1 Ihr  miiBt  ein  Interesse 
daran  haben,  dafi  es  ans  Licht  kommt.  Ihr  miiBt  mir  den  Dieb 
finden.  Wenn  ich  nicht  meine  Habe  wieder  bekomme,  ziehe 
ich  das  Gericht  vors  Gericht!  Gerechtigkeit ! Gerechtigkeit! 

Kommissarius:  Bestohlen ? Da  muB  zuerst  ein  Protokoll 
aufgesetzt  werden. 

Geiziger:  Ein  Protokoll.  Ihr  glaubt,  wir  fangen  ihn  mit 
einem  Protokoll? 

Kommissarius:  Wen? 

Geiziger:  Den  Dieb. 

Kommissarius:  Welchen  Dieb? 

Geiziger:  Der  mir  alles  stahl,  was  ich  hatte. 

Kommissarius:  Das  war? 

Geiziger:  Eine  Kassette. 

Kommissarius:  Mit  Inhalt? 

Geiziger:  Sucht  doch  den  Dieb,  ich  bitt  Euch ! 

Kommissarius:  Ohne  Protokoll?  — Habt  Ihr  einen 
V erdacht  ? 

Geiziger:  Ich  habe  jeden  in  Verdacht.  LaBt  die  ganze 
Stadt  verhaften.  Zusamt  den  Vororten.  Und  alles  was  sich 
im  Umkreise  von  zehn  Meilen  auf  den  LandstraBen  herumtreibt. 

Kommissarius:  Das  hieBe  den  Dieb  verscheuchen . Man 
darf  ihn  nicht  kopfscheu  machen.  Wir  miissen  ganz  sachte  die 
Beweise  zusammenbringen,  und  dann  konnen  wir  mit  aller  ge~ 
setzlichen  Strenge  vorgehen,  um  das  gestohlene  Gut  wieder 
zur  Stelle  zu  schaffen.  Versteht  Er? 

Geiziger:  Der  Dieb  — fangt  den  Dieb! 

* 

DRITTE  SZENE. 

DieVorigen.  Lauren z. 

Laurenz  (ruft  nach  riickwarts):  Komm  gleich.  Man  soli  lhm 
sofort  die  Gurgel  abschneiden,  die  FiiBe  rosten  und  das  iibrige 
in  kochendes  Wasser  werfen. 

10 


138 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


Geiziger:  Der  Dieb?  Er  hat  den  Dieb ! Mein  guter  Lau- 

renz,  ja,  schneid  ihm  die  Fiifie  ab. 

Laurenz:  Dem  Spanferkel,  das  mir  Euer  Sekretanus  ge- 
schickt  hat.  Ich  will  es  vielfach  zubereiten.  Viel  Kunst. 

Geiziger:  Was  — Spanferkel?  Mit  dieser  Amtsperson 
wirst  du  jetzt  eine  ganz  andere  Sache  auszukochen  haben, 
Schurke ! 

Kommissarius:  Er  braucht  keine  Angst vor  mir zu haben, 
sagt  Er  nur,  was  Er  weiB.  Die  Sache  wird  sich  in  aller  Giite 
erledigen. 

Geiziger:  1st  der  Herr  der  achte  Gast  am  Souper  ? 

Kommissarius:  Und  nichts  verheimlichen ! 

Laurenz:  Der  gnadige  Herr  General  konnen  jederzeit 

meine  Kiiche  anschauen  und  sehen  was  ich  koche.  Da  wird 
nichts  verheimlicht. 

Geiziger:  Du  sollst  sagen,  wo  die  Truhe  ist,  die  du  mir 
gestohlen  hast,  Halunke! 

Laurenz:  Eine  Truhe? 

Geiziger:  Wozu  Euer  Degen,  Herr  Kommissarius ? Setzt 
ihn  dem  Schurken  auf  die  Brust ! Rennt  ihm  das  Schwert  durch 
den  Wanst! 

Kommissarius:  Wir  diirfen  ihn  nicht  angstigen,  Es  wird 
uns  auch  ohne  das  alles  sagen.  Ja,  lieber  Freund,  wenn  Er  ge- 
steht,  wird  ihm  nichts  passieren.  Sein  Herr  wird  Ihn  sogar  noch 
belohnen.  Man  hat  ihm  eine  Kassette  gestohlen,  eine  Truhe. 
Wenn  Er  es  nicht  war,  so  hat  Er  vielleicht  einen  Verdacht.  Er 
mufi  doch  was  wissen  von  der  Sache.  Sein  Herr  belohnt  es  ihm. 

Laurenz:  Wart,  Herr  Sekretarius! 

Geiziger:  Was? 

Kommissarius:  Nur  ruhig,  das  Gewissen  riihrt  sich. 

Laurenz:  Also  wenn  ich  die  Wahrheit  sagen  soil,  wie  sie 
ist,  so  glaub  ich  immer,  das  war  der  Sekretarius,  der  Euch  den 
Streich  gespielt  hat,  gnadiger  Herr. 

Geiziger:  Heinrich? 

Laurenz:  Eben  der. 

Geiziger:  Der  mir  solche  Treue  heuchelte  — 


Franz  Blei  * Der  Geiztge 


139 


Laurenz:  Eben  darum. 

Kommissarius:  Und  worauf  griindet  sich  sein  Verdacht ? 

Laurenz:  Man  hat  so  seinen  Glauben. 

Kommissarius:  Indizien? 

Laurenz:  Jawohl.  Jawohl.  Die  hat  er.  Die  hat  er  sicher. 
Er  sieht  ganz  so  aus. 

Geiziger:  Hast  du  ihn  nicht  um  den  Platz  herumschleichen 
sehen,  wo  ich  die  Kassette  vergraben  hatte? 

Laurenz:  Immer  schlich  er  da  herum.  Natiirlich.  Wo  war 
sie  denn  vergraben  ? 

Geiziger:  Im  Garten  unter  der  Hundehiitte. 

Laurenz:  Ganz  richtig.  Bei  der  Hundehiitte.  Da  schlich 

er  herum. 

Kommissarius  (schreibt  auf);  Schlich  er  herum. 

Geiziger:  Und  hast  die  Kassette  bei  ihm  gesehen? 

Laurenz:  Und  oft! 

Geiziger:  Ha! 

Kommissarius:  Wie  sah  denn  Eure  Kassette  aus? 

Geiziger:  Braun  war  sie. 

Laurenz:  Ganz  recht.  Wie  ich  sagte.  Braun.  Und  so  mit- 
telgroB.  Und  richtig  braun.  Ich  dachte  mir  immer:  Was  fur 
eine  schone  braune  Kassette. 

Geiziger:  Schreibt,  Herr  Kommissarius  I Es  ist  meine 
Kassette!  Wem  soil  man  heute  noch  trauen!  Heinrich,  eines 
Sinnes  immer  mit  mir,  ganzes  Vertrauen  ihm  in  den  Busen 
schenkend  — Man  darf  auf  keinen  Menschen  bauen,  auf  kei- 
nen.  Ich  glaube,  ich  konnte  mich  selber  bestehlen,  so  schlecht 
sind  die  Menschen. 

Kommissarius:  Und  wann  hat  Er  die  Kassette  bei  diesem 
Heinrich  — 

Laurenz:  Da  kommt  er  selber.  Aber  sagt  ihm  nichts,  daB 
ich  Euch  die  Geschichte  verraten  habe.  Er  fiihrt  eine  grobe 
Hand  und  ein  Dieb  ist  zu  allem  fahig.  (Ab.) 

* 


140 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


VIERTE  SZENE. 

Geiziger.  Kommissarius.  Heinrich. 

Geiziger  (auf  Heinrich  zu):  Ungeheuer!  Gesteh  und  mach 
alles  gut.  Gesteh  das  Verbrechen,  das  entsetzlichste,  das  je 
verilbt  wurde. 

Heinrich:  Was  wiinscht  Ihr,  da6  ich  gestehe? 

Geiziger:  Schurke!  Die  Anklage  wirft  dich  mcht  zu 
Boden  ? 

Heinrich  : Von  welchem  Verbrechen  sprecht  Ihr? 

Geiziger:  IstScham  noch  bei Menschen?  MiissenHyanen 
von  lhnen  die  Heuchelei  lernen  ? Als  wenn  du  es  nicht  wiiBtest ! 
Leugne  nicht  mehr ! Lohnt  die  Miihe  nicht ! Alles  ist  entdeckt ! 
Ich  weiB  alles ! Elender ! Meine  Giite  hast  du  teuflisch  miB- 
braucht,  machtest  dich  mir  freundlich,  um  mich  zu  verraten! 
Mir  dies  anzutun! 

Heinrich:  Da  Ihr  alles  wiBt  — ich  will  nichts  mehr 

leugnen . 

Geiziger:  Schreibt!  Schreibt!  Er  gesteht! 

Kommissarius:  Herr  Heinrich  von  Wernitz.  Em  konig- 
lich  Reskript  Euch  zu  uberreichen,  war  der  Auftrag,  der  mich 
herfiihrte.  Doch  sprecht  zuvor,  was  Ihr  zu  gestehen  habt. 
Ihr  habt  Euch,  wie  es  scheint,  schwer  vergangen  an  diesem 
Mann. 

Heinrich  (zum  Geizigen):  Mit  Euch  davon  zu  sprechen,  war 
ich  oft  schon  entschlossen.  MuBte  nur  die  Gelegenheit  ab- 
warten.  Nun  die  Sache  ohne  mein  Sprechen  heraus  ist,  hdrt 
meine  Griinde,  bevor  Ihr  mich  verurteilt. 

Geiziger:  Griinde!  Griinde!  Die  wird  man  dir  mit  dem 
gliihenden  Eisen  auf  den  Nacken  brennen.  Dieb! 

Heinrich:  Den  Namen  hab  ich  nicht  verdient.  Wohl  hab 
ich  nicht  recht  gegen  Euch  gehandelt — 

Geiziger:  Hort  doch:  nicht  recht!  Nicht  recht  nennt  er 
den  Schurkenstreich  auf  mein  Leben ! 


1 


Franz  Blei  » Der  Geizige 


Ml 


Heinrich:  Aber  mein  Fehler  ist  verzeihlich. 

Geiziger:  Ein  Raub,  ein  Mord  verzeihlich!  Er  ist  von 
Sinnen,  Herr  Kommissarius,  oder  er  macht  sich  lustig. 

Heinrich:  Ein  Raub,  ein  Mord  gar  — Ihr  iibertreibt, 
Herr.  Das  Ungliick  ist  so  grofi  nicht. 

Geiziger:  So  groB  nicht?  Mein  Herz,  mein  Blut,  mein 
Alles  hast  du  gestohlen,  Ungeheuer! 

Heinrich:  Es  kam  nicht  in  schlechte  Hande.  Meine  Familie 
ist  unter  den  Besten  des  Landes.  Nichts  ist  an  der  Sache,  was 
nicht  wieder  gut  zu  machen  ware. 

Geiziger:  Was  kiimmert  mich  deine  Familie!  Hierherden 
Raub!  Liefere,  vor  allem  anderen  Wort,  den  Raub  aus.  Dann 
sprechen  wir  weiter. 

Heinrich:  Eurer  Ehre  soli  Genugtuung  werden. 

Geiziger:  Was  Ehre!  Hier  handelt  es  sich  um  viel  Ern- 
steres  als  um  Ehre!  Sag  mir  nur,  was  hat  dich  denn  zu  dieser 
ungeheuren  Tat  gebracht,  und  gerade  dich! 

Heinrich:  Das  fragt  Ihr?  Die  Macht,  die  alles  entschul- 
digt,  wozu  sie  uns  treibt:  die  Liebe! 

Geiziger:  Die  Liebe  zu  meinem  Geld! 

Heinrich:  Nem.  Eure  Reichtiimer  haben  mich  nicht  dazu 
gebracht.  Nichts  will  ich  von  Euren  Schatzen  haben,  wenn 
Ihr  mir  den  lafit,  den  ich  schon  mein  Eigen  nenne. 

Geiziger:  Was  sagt  Ihr,  Herr  Kommissarius!  Ich  finde 
das  Wort  nicht.  Er  will  behalten,  was  er  mir  — Er  will  die 
Diebesbeute  behalten! 

Heinrich:  Diebsbeute? 

Geiziger:  Man  wird  sie  Ihm  abzunehmen  wissen! 

Heinrich:  Ich  bitte  Euch,  aus  Erbarmen  mir  den  kost- 
barsten  Schatz  zu  lassen,  den  die  Welt  fur  mich  tragt. 

Geiziger:  Kostbarsten ! Glaub  ich  dir ! Nicht  wahr  ? WeiB 
Gott,  er  ist  kostbar!  Uber  alles  kostbar! 

Heinrich:  Und  haben  uns  Treue  geschworen.  Uns  gelobt, 
einander  ewig  anzugehoren. 


142 


Franz  Blei  * Der  Getzige 


Geiziger:  Was,  was,  was,  hat  dir’s  gelobt? 

Heinrich:  Nur  der  Tod  kann  uns  trennen. 

Geiziger:  Der  wird  dich  friiher  erreichen  als  du  denkst, 
Biirschchen ! Aufs  Rad  kommst,  schaffst  du  mir  sie  nicht  sofort 
zur  Stelle.  Wo  hast  du  sie  hingeschleppt?  Kurz  und  gut,  wo 
hast  du  sie  hingeschleppt? 

Heinrich:  Aber  — sie  ist  ja  hier  im  Hausel 

Geiziger:  Im  Hause?  Herr  Gott  in  deinem  Reich,  ich 
danke  dir,  Herr  Gott,  danke  dir  auf  den  Knien.  Und  hast  du 
sie  nicht  angeriihrt? 

Heinrich:  Meine  Liebe  ist  rein  und  voll  Ehrfurcht! 

Geiziger:  Ich  verbiete  dir,  daB  du  so  von  ihr  sprichst  als 
war  sie  dein!  Verstehst  du?  Mein  ist  diese  Liebe!  Mein,  nur 
mein! 

Heinrich:  Lieber  ware  ich  gestorben,  als  daB  ich  einem 
unehrbaren  Wunsch  Raum  gegeben  hatte. 

Geiziger:  Der  Sinn  ist  der,  er  hat  sie  nicht  angeriihrt. 
Ich  danke  dir,  o Gott! 

Heinrich:  Nichts  als  das  Wort  gab  mir  Eure  Tochter. 
Ich  ihr  das  meine. 

Geiziger:  Meine  Tochter  hat  mit  der  Sache  zu  tun? 

Kommissar:  Also  eine  Komplicin. 

Geiziger:  Der  Dieb  mit  meiner  Tochter!  Der  Dieb  ist 
der  Verfiihrer  meiner  Tochter!  Und  da  sitzt  das  hohe  Gericht 
ruhig  dabei.  — Habt  Ihr’s  zu  Protokoll? 

Heinrich:  Dieb?  Verfiihrer? 

* 

FONFTE  szene. 

Die  Vorigen.  Luise. 

Geiziger:  Tochter!  Auswurf!  Schamlose!  Unwiirdig eines 
Vaters  wie  ich  bin!  Alles  ist  am  Tag.  So  befolgst  du 
und  Lehre,  die  ich  dir  gab!  Liebschaft  mit  einem  gemeinen 


Franz  Blei  ♦ Der  Geizige 


Dieb  treibst  du  heimlich,  nennst  es  Verlobungl  Aber  du 
tauschest  dich!  Noch  bin  ich  dein  Vater!  Ins  KJoster  steck 
ich  dich,  Dirnenmensch!  Und  dein  Galan  kommt  an  den 
Galgen ! 

Heinrich:  Euer  sinnloser  Zorn  wird  nicht  Richter  in  dieser 
Sache  sein. 

Geiziger:  Was  sag  ich  — Galgen!  Lebendig  geradert  wirst 
du,  Dieb,  Erpresser,  Verfiihrer,  Morder! 

Luis  e:  Ihr  seid  unmenschlich,  Vater.  Rechte,  die  Ihr  habt, 
macht  Ihr  zu  grausamer  Gewalt  iiber  Euer  Kind,  und  verliert 
un  Zorne  ein  Urteil  liber  den,  den  Ihr  besser  kennen  lernen 
solltet  und  nicht  ihn  so  beschimpfen  wie  Ihr  es  tut.  Anders 
ist  er,  und  gut.  Nicht  wie  er  Euren  Augen  erscheint.  Ich  kenne 
sem  Herz  und  gab  ihn  darum  das  meine.  Ihr  andert’s  nicht, 
Vater.  Seid  auch,  was  Ihr  Euch  nennt  und  wiitet  nicht  gegen 
Euer  eigen  Blut.  Sonst  kehrt  es  sich  ab  von  Euch,  wie  Ihr  es 
von  ihm  tut. 

Geiziger:  Possen!  Worte!  Hier  liegen  Taten  vor,  ruchlose 
und  nie  gehorte!  Die  Gerechtigkeit  muB  ihren  Lauf  nehmen. 
Ich  rufe  sie  nur  an  als  der  vom  Unrecht  schwer  Betroffene. 
Tut  Eures  Amtes,  Herr  Kommissar.  Habt  Ihr  Handschellen 
bei  Euch? 

Heinrich:  Wessen  mich  der  wiitende  Mann  beschuldigt, 
Herr  Kommissar,  es  liegt  klar  zu  Tag.  Ob  s ein  Verbrechen 
ist,  daB  ich  mich  mit  seiner  miindigen  Tochter  ohne  ihn  zu 
fragen  verlobte,  das  wird  Eurer  Entscheidung  nicht  schwer 
fallen. 

Kommissar:  Und  der  Diebstahl? 

Heinrich:  Welcher  Diebstahl? 

Kommissar:  Der  Kassette? 

Heinrich:  Welcher  Kassette? 

Kommisar:  Die  Euerm  Herrn  gestohlen  wurde,  und  Aus- 
sage  ist,  daB  Ihr  sie  stahlt,  allein  oder  mit  Komplicen.  Ihr 
selber  habt  es  zugegeben. 

Heinrich:  Ich  die  gestohlen? 

Kommissar:  Gestandet,  den  Schatz  gestohlen  zu  haben. 


144 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


Heinrich:  Diesen  meinteich,  — Luise,  meine  Braut.  Vom 
anderen  Schatz  erfahr  ich  das  erste  Wort  aus  Eurem  Munde, 
Herr  Kommissar. 

Geiziger:  Er  nicht?  Wieso?  Er  nicht  der  Dieb?  Eine 
Ausflucht,  Herr  Kommissarius!  Schlagt  ihn  in  Fesseln!  Er  muB 
ihn  haben!  MuB!  Ihr  habt’s  im  Protokoll!  Ich  sah  sie,  hielt 
sie  ja  schon  wieder,  und  nun  auf  einmal  wieder  fort  ? Das  Ge- 
richt!  Das  Gericht!  Lest’s  im  Protokoll  nach!  Da  drin  steht, 
sie  ist  da,  ist  da,  zur  Stelle,  im  Haus!  Wieder  fort  sein?  Lafit 
ihn  nicht  aus  den  Augen,  den  Dieb!  Fesselt  ihn.  Fesselt  alle 
beide ! Das  ist  ein  abgekartetes  Spiel ! Mir  macht  man  nichts 
weifi!  Es  ist  abgekartet,  sag  ich  Euch!  Die  beiden  da  haben 
meine  Kassette  gestohlen. 

* 


SECHSTE  SZENE. 


Die  Vorigen.  Joachim.  Marianne. 


Joachim  (ist  wahrend  des  Vorigen  des  Geizigen  aus  dem  Garten 

gekommen):  Beschuldigt  niemanden ! Vater!  Eure  Truhe  ist  ge- 
funden. 

Geiziger:  Wo,  wo  ist  sie?  Sag,  wo  ist  sie?  LaB  mich 
nicht  auf  das  Wort  warten ! 


Joachim:  Sogleich  zur  Stelle  und  hierher  gebracht,  er- 
fiillt  Ihr  eine  Bedingung. 

Geiziger:  Jede!  Jede! 

Joachim:  Ihr  willigt  ein,  und  gebt  es  schriftlich  mit  Unter- 
schrift  Eures  Namens  unter  ein  Papier,  das  hier  die  Amtsperson 
aufsetzt . 

Geiziger:  Sie  ist  da,  ist  da!  Schriftlich  zu  Papier  — 

Joachim:  Dafi  Ihr  Marianne  mir  zur  Frau  gebt,  und  meine 
Schwester  Luise  meinem  Freund  Heinrich  von  Wernitz. 

Geiziger:  Du  warst  der  Dieb. 

Joachim:  Dann  habt  Ihr  Euer  Gold  wieder. 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


145 


Kommissar:  Gold,  sagt  Ihr?  Gold  ist  in  der  Kassette? 

Joachim:  Sagte  ich  Gold?  Ich  habe  nicht  hineingesehen, 
nicht,  Vater? 

Geizige  r:  Was  Gold!  Dummes  Geschwatz! 

Joachim:  Nur  bildlich  gemeint,  nicht,  Vater? 

Geiziger:  Gold  bei  mir  armem  Mann!  Und  [hatt  ich  je 
Gold  besessen,  weifi  ich  meine  Pflicht. 

Kommissar:  Ihr kenntdes  Konigs Verordnung.daBKriegs- 
not  den  Burger  goldgepragte  Miinzen  dem  Staatsschatz  abzu- 
liefern  zwingt  gegen  Schein. 

Geiziger  (zu  sich):  Der  andere  Dieb ! Der  grofie  unsicht- 

bare,  gegen  den  es  kein  Gericht (laut)  Ich  lebe  und  sterbe 

fiir  meinen  Konig  und  bin  gliicklich,  seinen  Befehlen  zu  ge- 
horchen.  Gold!  Gold  in  der  Kassette!  Dokumente,  Briefe, 
Briefe  von  Seiner  Majestat  darunter,  ehrfiirchtig  aufgehoben 
den  Enkeln  und  Enkelkindern,  was  weiter  noch?  Luischens 
erste  Schiihlein,  erste  Kinderklapper  des  Jungen,  eine  Locke 

von  meinem  seligen  Weibe nichts  als  derlei  heilig-liebe 

Dinge,  dem  Gemiit  ein  unersetzbarer  Schatz,  daB  Ihr  versteht, 
Herr  Kommissar,  wie  Diebstahl  solcher  teuerer  Kostbarkeiten 
einen  Mann,  einen  armen  Mann,  unsinmg  machen  kann  und 
rasend.  Gold,  mein  Gott!  Ist  so  etwas  darunter,  ist  eine  Ge~ 
denkmiinze  von  Ahnen. 

Kommissar:  Sei  es  wie  Ihr  sagt.  Ihr  wiBt  die  Strafe,  die 
den  trifft,  der  die  Verordnung  iibertritt. 

Geiziger:  Was  sagtest  du,  Joachim,  soil  ich  nicht  was 

unterschreiben  ? 

Heinrich:  Hier  hab  ich  es  aufgesetzt.  DaB  es  gelte,  setzt 
Euren  Namen  darunter. 

Geiziger:  Hierher,  ihr  Schurken? 

Joachim:  Hierher,  lieber  Vater.  (Der  Geizige  unterschreibt.) 

Und  hier  daneben  das  Amt,  — verzeiht,  daB  ich  Euch  bemiihe, 

Herr  Kommissar.  (Kommissar  unterschreibt.) 

Marianne:  Gilt’s  nun  auch  wirklich  amtlich? 


146 


Franz  Blei  * Der  Geizige 


Kommissar:  In  alien  Rechten  ist’s  ausgestellt,  schone 
Jungter.  Herr  Heinrich  von  Wernitz,  dies  Resknpt  von  Seiner 
koniglichen  Majestat  fiir  Euch.  Die  Giiter,  die  man  Eurem 
hochseligen  Vater  konfiszieren  muBte,  da  er  die  Wallen  des 
Feindes  trug  im  letzten  Kriege,  sind  Euch  in  Gnaden  wieder 
zuriickerstattet  fiir  geleistete  wichtige  Dienste.  Somit  empfehl 
ich  mich. 

Geiziger:  Und  ich?  Und  ich?  Wo,  wo  ist  sie? 
Kommissar  (zu  Joachim):  Beruhigt  ihn  und  schafft  ihm 
die  Kassette  her. 

Joachim  (ruft):  Jakob! 

Jakob  (schleppt  die  Kassette  herein). 

Kommissar:  Die  Locke  Eures  seligen  Weibes  scheint 
recht  schwer  zu  wiegen.  Nun,  Gott  befohlen.  (Ab.) 

* 

SIEBENTE  SZENE. 

Die  Vorigen  (ohne  Kommissarius  und  Jakob). 

Geiziger  (stiirzt  sich  auf  die  Kassette,  zieht  sie  ganz  nach  vome 
links.  Entledigt  sich  seines  Rockes  und  wirft  ihn  dariiber):  Was  schaut 

Ihr?  Eure  Blicke  stehlen!  Macht,  dafi  Ihr  weiterkommt! 

Heinrich:  Willst  du  zu  mir,  Achim,  mit  Marianne,  unsern 
Kohl  bauen  und  gliicklich  sein? 

Joachim  (schiittelt  Heinrich  die  Hand):  Lebt  wohl,  Vater. 
Geiziger:  Mach  ihn  nur  zu  deinem  Verwalter,  und  ein 
Jahr  wird  nicht  vergangen  sein,  dann  sind  deine  Giiter  hier 

drinnen  (er  klopft  auf  die  Kassette). 

Joachim:  Lebt  wohl,  Vater! 

Geiziger:  Pack  dich! 

Luise  (auf  den  Geizigen  zu):  Vater! 

Geiziger:  Weg!  (Die  beiden  Paare  gehen  durch  den  Garten  ab.) 

* 


Franz  Bid  ♦ Der  Gcizige 


147 


fr 


ACHTE  SZENE. 

Der  Geizige  (allein). 

Geiziger  (ruft  den  Abgehenden  nach):  Und  nehmt  auch  noch 
den  Hund  mit!  Und  alles  was  sonst  noch  atmet  in  diesem 
Hause  aufier  mir,  denn  es  ist  ein  Morderpack,  unmenschlich! 

(Er  geht  und  schlieBt  die  Tiir  in  den  Garten  fest  zu.  Dann  versichert  er 
sich  der  beiden  anderen  Tiiren,  Fenster,  nimmt  die  Leuchter,  tragt  sie  zur 
Kassette,  stellt  sie  urn  sie  herum  auf  den  Boden):  Mach  die  Lichter 

dunkel,  meine  Sonne!  Mach  die  Lichter  zu  Nacht,  mein 

Strahlendes ! (Er  reiBt  den  Rock  von  der  Kassette,  stiirzt  sich  dariiber:) 

Herz ! Herz  wieder  in  meine  Brust  gesenkt ! Blut  wieder  in 
meine  Adern!  Luft  in  meine  Lungen!  (Er  schlieBt  auf:)  Mein 
Gold!  Schatz!  Geliebte,  treue!  Lachst  mich  an?  Ist  ja  auch 
keiner,  der  dich  mehr  liebt,  als  ich!  Ist  einer,  der  dich  mehr 
liebt  als  ich?  Verzeih  mir,  ich  hab  dich  vergraben  miissen. 
Du  weifit,  der  grofie  Dieb!  Aber  was  tut  dir  die  dunkle  Erde, 
deine  Mutter?  Du  bleibst  uberall  rein  und  strahlend.  Gold! 
Gold!  — Ah,  da  gibt  es  noch  was,  das  sich  die  Menschen  er- 
funden  haben  und  das  sie  Geld  nennen.  Aber  wir  beide  lachen 
dariiber,  ich  und  du,  nicht?  Uber  diese  Erfindung,  diesen 
Schein,  diese  Fetzen  schmutzigen  Papieres!  Das  steigt  und 
fallt,  ist  oben,  ist  unten,  und  ist  doch  nicht.  Ist  doch  nicht. 
So  wie  du  ewig  bist  und  hart  und  fest  und  wirklich.  In  dir 
kann  man  sich  spiegeln,  Gold,  in  dich  kann  man  aus  Liebe 
beiBen,  dich  kann  man  schlagen  und  streicheln  und  du  kannst 
lachen  wie  eine  Geliebte!  (Er  klimpert  mit  dem  Goide:)  O wie  du 
lachst!  DaB  du  wieder  bei  deinem  treuen  Liebhaber  bist,  mein 
Schatz,  mein  goldener  Schatz,  mem  blonder!  Was  anderes 
noch  auf  der  Welt?  Was  anderes,  an  dessen  Stelle  du  dich 
nicht  wie  erne  Siegerin  setzen  kannst?  Da  laufen  sie  hm,  die 
Narren,  in  ihrer  Narrenliebe,  und  kommt  doch  ein  Tag,  so 
sicher,  daB  sie  sich  hassen!  Da  laufen  sie  ihren  Liisten  nach, 
ihren  stinkenden,  auf  die  so  sicher  die  Faule  fallt.  Laufen 
Ehren  nach  und  Wiirden  und  hegen  Talente  und  spielenTugend! 


v 


Franx  Blei  * Der  Geiztge 


148 


Wie  lange?  Bis  du  goldglanzender  Schatz  nahst  und  sie  in  die 
wahre  Liebe  bringst!  Und  du  leuchtest  ihnen  dann  aus  den 
Augen,  dein  Glanz,  Gold,  ist  ihrer  Augen  Glanz,  und  sie  ver- 


zehren  sich  nach  dir  als  ihrer  wahren,  einzigen  Liebe! 


Steh 


einer  auf  von  Euch  Menschen  da  unten,  und  sag,  es  war  anders ! 

So  efi  ich  dich  und  trink  ich  dich,  mein  Gold.  Leben  und 
Sterben  ist  bei  dir,  mein  Gold,  mein  Gold mein  Gold 


V or  hang. 


Leonhard  Frank  ♦ Der  Kellner 


149 


Beonfiard  Frantc: 

DER  KELLNER 


„£JHr  Otiemgez&cftte,  wer  fiat  derm  eucH  gewiesen,  da(S  ifir 
dem  fc&nftigen  Zorn  entrinnen  werdet? 

Ss  ist  sc  Hon  die  fflxt  an  die  dlOurzef  gefegt.  Varum  wefcfier 
Vaum  nicfit  gute  “TrUcfite  brmgt,  wird  abgedauen  und  ins  Veuer 
geworfen." 


U OBERT  war  Servierkellner  in  einem  Hotelrestaurant.  Ge- 
*•  wohnlich.  Blond.  Und  wenn  er,  in  devoter  Verbeugung 
erstarrt,  vor  dem  Gaste  stand  und  eine  Bestellung  entgegennahm, 
kroch  der  Gedanke  durch  sein  Gehirn : jeder  andere  Beruf  ver- 
tragt  sich  eher  mit  der  Menschenwiirde.  Er  war  Kellner  in  einem 
deutschen  Hotelrestaurant. 


Auf  ihn  wirkte  das  hingeschobene  Trinkgeld  wie  eine  Ohr- 
feige,  fiir  die  man  sich  bedanken  muBte.  Und  wenn  das  Trink- 
geld von  einem  Gaste  kam,  der  armer  als  der  Empfangende  war, 
stieg  aus  Roberts  verletzter  Menschenwiirde  sichtbar  die  Ver- 
achtung  empor,  steigerte  sich  manchmal  zu  Rachsucht  und 
Frechheit.  Es  kam  vor,  daB  Robert  solch  einem  Gaste  das 
Trinkgeld  zuriickschob.  Vomehmen  Gasten  Kredit  zu  gewah- 
ren,  war  ihm  eine  Erlosung. 

Im  Jahre  1894  bekam  seine  Frau  den  lange  vergeblich  er- 
warteten  Sohn.  Und  Roberts  Liebe  stiirzte  sich  auf  dieses 
Kind.  Das  bekam  alles:  Kinderzimmer,  sterilisierte  Kinder- 
milch,  einen  fedemden  Kinderwagen,  einen  weisslackierten 
Stall,  Hampelmanner.  SpaterDampfmaschinchen,  Eisenbahnen, 
Luftballons.Trommeln,  Sabel,  SchieBgewehrchen,  Bleisoldaten, 
Spater  ein  Spazierstockchen,  einen  Matrosenanzug  mit  einer 


150  Leonhard  Frank  * Der  Kellner 

Miitze,  auf  der  stand  „S.  M.  S.  Hohenzollern“,  einen  rind- 
ledernen  Biicherranzen,  eine  Rechenmaschine  mit  roten  und 
weifien  Kugeln,  einen  polierten  Griffelkasten. 

Der  Sohn  bekam  Geigenstunden,  mufite  Klavierspielen  lemen. 
Und  durfte  das  Gymnasium  besuchen.  Er  sollte  studieren. 
Nicht  Kellner  werden.  Schon  mit  zehn  Jahren  besafi  der  Sohn 
ein  Fahrrad.  Und  gehorte  mit  zwolf  Jahren  der  patriotischen 
Jugendvereinigung  an. 

Roberts  Leben  erschopfte  sich  im  Dasein  des  Sohnes.  Und 
der  Satz:  jeder  Arbeiter  ist  seines  Lohnes  wert,  war  ihm  zur 
Weltanschauung  geworden.  Robert  flog,  die  Bestellungen 
auszufiihren,  verbeugte  sich,  dankte  furs  Trinkgeld,  verbeugte 
sich,  dankte,  sparte,  scharrte  zusammen,  rechnete,  strebte, 
wurde  Zimmerkellner,  dann  Oberkellner,  wies  heimlichen 
Liebesparchen  stille  Zimmer  an  fur  ein  paar  Stunden,  driickte 
Augen  zu,  sank  in  einen  Abgrund  der  Liebe  fiir  seinen  Sohn, 
schickte  ihn  auf  die  Universitat,  bekam  graue  Haare,  war  selig 
im  Dienen,  selig  in  seinem  Sohne,  besafi  hundert  Photo- 
graphien  von  ihm,  hatte  die  Kinderkleidchen  aufgehoben,  das 
Spielzeug:  die  Sabelchen,  die  Gewehrchen,  die  Bleisoldaten. 
Das  Miitzchen,  auf  dem  stand  „S.  M.  S.  Hohenzollern". 

Der  Sohn  war  zwanzig  Jahre  alt.  Er  bekam  die  Einberufung 
an  einem  Dienstag,  bekam  ein  halbes  Jahr  spater  das  eiseme 
Kreuz. 

Und  im  Sommer  1916  bekam  Robert  die  Nachricht,  dafi  sein 
Sohn  gefallen  war.  Auf  dem  Felde  der  Ehre. 

Eine  Welt  war  erschlagen. 

Der  Erschlagene  las  immer  wieder:  „GefaIlen  auf  dem  Felde 
der  Ehre“.  Den  Zettel  trug  er  bei  sich  in  der  Brieftasche, 
zwischen  den  Banknoten.  Er  las  ihn,  wenn  ein  Fremder  kam 
und  ein  Zimmer  verlangte,  wenn  er  an  der  Billardecke  stand 
und  Bestellungen  erwartete,  wenn  er,  von  der  Glocke  gerufen, 
den  langen  Gang  hinter  lief,  las  ihn,  bevor  er  das  Zimmer  betrat 
und  nachdem  er,  die  bezahlte  Rechnung  und  das  Trinkgeld  in 
der  Hand,  das  Zimmer  wieder  verlassen  hatte.  Er  las  ihn  in  der 
Kiiche,  im  Wemkeller,  auf  dem  Klosett.  ,, Gefallen  auf  dem 


Leonhard  Frank  * Der  Kellner 


151 


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Felde  der  Ehre.“  Ehre.  Das  war  ein  Wort  und  bestand  aus  vier 
Buchstaben.  Vier  Buchstaben,  die  zusammen  eine  Luge 
bildeten  von  solch  hollischer  Macht,  dass  ein  ganzes  Volk  an 
diese  vier  Buchstaben  angespannt  und  von  sich  selbst  in  unge- 
heuerlichstes  Leid  hineingezogen  hatte  werden  konnen. 

Das  Feld  der  Ebre  war  nicht  sichtbar,  nicht  vorstellbar,  war 
Robert  nicht  begreifbar.  Das  war  kein  Feld,  kein  Acker,  war 
keine  Flache,  war  nicht  Nebel  und  nicht  Luft.  Es  war  das 
absolute  Nichts.  Und  daran  sollte  er  sich  halten.  Sein  ganzes 
Leben  lang.  Hinter  ihm  lag  nichts  und  vor  ihm  lag  nichts. 
Robert  stand  in  der  Mitte  auf  dem  Nichts. 

Seine  Hande  servierten,  quittierten,  empf ingen  Trinkgelder. 
Wofiir?  Es  gab  keine  Banknoten  mehr.  Und  sein  Sparkassen- 
buch  war  fur  ihn  das  Feld  der  Ehre.  Und  das  Feld  der  Ehre  war 
nicht  begreifbar. 

Robert  gab  die  besten  Zimmer  auf  Wunsch  um  die  Halfte  des 
festgesetzten  Preises  ab,  gab  noch  einen  Salon  dazu,  ein  Bade- 
zimmer.  Wurde  zum  Servierkellner  degradiert.  Gab  im 
Restaurant  ohne  Wiederstreben  die  teueren  Speisen  undWeine 
billiger  ab,  wenn  den  Gasten  die  Rechnung  zu  hoch  erschien. 
Wurde  daraufhin  nur  noch  zur  Mithilfe  herangezogen,  wenn  im 
groBen  Hotelsaale  ein  Fest,  eine  Versammlung  war. 

Gab  es  etwas  Gleichgiiltigeres,  als  aus  der  Lebensstellung 
verdrangt  worden  zu  sein  ? Das  alles  war  nur  das  Feld  der  Ehre. 
War  ein  vollkommenes  Nichts. 

Oft  fand  er  sich  in  seines  Sohnes  Zimmer,  wo  er  wahrend  des 
Krieges  die  Photographien,  Kinderkleidchen,  Sabelchen,  Trom- 
melchen,  Gewehrchen,  Bleisoldaten  zusammengetragen  hatte, 
und  empfand  nichts  beim  Betrachten  dieser  vergilbten  und 
verkratzten  Uberbleibsel,  ging,  automatisch  wie  er  eingetreten 
war,  wieder  hinaus. 

Dieser  Zustand,  in  dem  Robert  sich  nur  noch  wie  eine 
Maschine  bewegte,  dauerte  wochenlang,  bis  eines  Tages  der 
Mensch  in  ihm  die  Kraft  fand,  sich  dem  Schmerze  zu  stellen. 
Seiner  Hand  entfiel  die  Photographie  des  Sohnchens  — in 
Infanterieuniform,  mit  prasentiertem  Gewehrchen  — und 


30  Vol. 


152 


Leonhard,  Frank  * Der  Kellner 


Robert  sauste,  von  einem  Dampfhammerschlag  getroffen, 
hinnnter  in  den  Abgrund,  das  Herz  blossgelegt  dem  Schmerze 
und  der  Liebe.  Robert  schrie.  Nur  einmah  Und  ganz  kurz. 

Von  etwas  Unnennbarem  beriihrt,  wich  er  der  Erlosung,  die 
im  Schmerze  liegt,  aus. 

Und  als  seine  Frau  ihn  trosten  wollte  mit  den  Worten,  die  sie 
von  dem  unter  dem  gleichen  Leide  stehenden  Kolomalwaren- 
handler,  Backer,  von  der  Nachbarin  iibemommen  hatte:  jetzt 
miisse  man  sich  halt  damit  abfinden,  schrak  sie  zuriick  vor 
Roberts  gefahrlich  blickenden  Augen  und  schwieg  femerhin. 

Auch  Robert  schwieg,  tat  die  Arbeit,  die  man  ihm  zuwies. 
Und  da  man  ihn,  der  wiederholt  Gaste  fortlaufen  lieB,  ohne  daB 
sie  bezahlt  hatten,  nur  noch  als  Wassertrager  im  Hotelcafe 
verwenden  wollte,  erklarte  er  sich  auch  hierzu  bereit. 

Robert  wufite,  daB  etwas  geschehen  werde.  Deshalb  ertrug  er 
weiter  diese  gefahrliche  Ruhe.  Denn  wie  konnte  es  moglich  sein, 
daB  nichts  geschah  durch  ihn,  der  nichts  mehr  verlieren  konnte, 
da  er  alles  schon  verloren  hatte?  Der  von  einer  diinnen  Kellner- 
haut  iiberzogen  war,  unter  welcher  der  Mensch  schrie,  ent- 
setzlich  lautlos  der  Schmerz,  die  Liebe  schrie?  Durch  den 
geringsten  AnlaB  konnte  die  Haut  zerspringen.  Dann  stieg  der 

Schrei. 

Die  Kindergewehrchen  und  Sabelchen  hatte  er  sich  aus  den 
Augen  hiniiber  ins  Hotel  getragen  und  hinter  das  Klavier 
gesteckt.  Denn  wenn  er  dieses  Spielzeug  nur  anblickte,  brannte 
ihn  die  Schuld.  Aber  wenn  er  einen  mit  dem  Kriegsorden  ver- 
zierten  Leutnant  bediente,  zitterten  seine  Hande  nicht. 

Und  als  eines  Tages  ein  patriotischer  Jugendverein  — halb- 
wiichsige  Jungen  unter  Gewehr  — die  StraBe  herauf  und  am 
Hotel  vorbei  das  Lied  trugen  „Kann  dir  die  Hand  nicht  reichen, 
dieweil  ich  eben  lad...“  fraB  sich  das  SchuldbewuBtsein  gliihend 
in  Robert  hinein.  Denn  auch  er  hatte  seinem  Sohne  solche  Lieder 
gelehrt  und  lehren  lassen  und  voll  Vaterstolz  ihm  zugehort. 

In  wilder  Spannung  stand  er  unterm  Hotelportal  und  fiihlte, 
daB  sein  Sprung  auf  die  vorbeimarschierenden,  schlecht  be- 
ratenen  Jiinglinge  ein  Sprung  in  die  Luft  sein  wtirde.  Denn 


Leonhard  Frank  ♦ Der  Kellner 


153 


hinter  den  Jiinglingen  und  hinter  dem  Kampfliede  stand  etwas, 
das  nicht  zu  greifen  war:  ein  unsichtbarer,  unkorperlicher 
Gegner.  Gott  hielt  ihn  zuriick  vor  dem  Sprunge.  Gott  hob  ihn 
auf  fur  die  Minute,  da  der  Feind  greifbar  werden  wiirde,  fiihlte 
Robert. 

Und  eines  Tages  hatte  er  den  Feind,  der  im  Menschen  selbst 
und  nicht  aufier  ihm  ist,  so  scharf  erkannt,  daB  seine  Augen  die 
eines  schuldbewufiten  Morders  wurden.  Da  geschah  es,  daB 
Tranen  wilden  Zomes  ihm  hinter  die  Augen  traten,  wenn  er  ein 
Madchensah,  das  ihrenBrautigam,eine  Frau,  die  ihren  Mann,  ein 
Eltempaar,  das  seinen  Sohn  verloren  hatte  und  doch  lacheln  und 
wie  immer  das  Glas  Bier  bestellen  konnte. 

Einer  Mutter,  der  ihre  Stiitze  furs  Alter,  ihre  Hoffnung,  der 
Zentralpunkt  all  ihrer  Liebe  — ihr  einziger  Sohn  zerstampft 
worden  war  auf  dem  Felde  der  Ehre  und  die  zu  Robert  sagte, 
jetzt  muB  man  sich  halt  damit  abfinden,  griff  er  wild  an  den 
Hals.  Gott  strich  iiber  des  Kellners  Hande  und  legte  seine 
plotzlich  von  Liebe  durchbebten  Finger  der  Mutter  sanft  auf  die 
Schulter.  Denn  nicht  die  Frau  war  schuld,  nicht  sie  war  der 
Feind  und  nicht  ihre  Worte,  sondern  das,  was  hinter  den  Worten 
stand.  Und  das  war  etwas,  was  nicht  da  war.  Es  war  das  Nicht- 
vorhandensein  der  Liebe. 

Das  mordensche  SchuldbewuBtsem  brannte  die  kleme  Vater- 
liebeweg,  sodafi  das  Urgefiihl  der  grofien  Liebe  aufstehen  konnte 
in  ihm. 

In  tiefster  Demut,  in  deren  Mittelpunkt  die  unbesiegbare 
Kraft  der  Liebe  stand,  verrichtete  er  die  Arbeit  des  Pikkolos, 
trug  den  Gasten  Wasser  zu,  spiilte  Glaser  aus,  gmg,  als  die 
Glocke  ihn  rief,  in  den  groBen  Hotelsaal. 

Schlosser,  Maurer,  Schreiner,  Spengler,  Tapezierer,  Glaser, 
zerarbeitete  Manner,  die  haarigen,  abschreckend  hafilichen 
Tieren  mit  Menschenaugen  glichen,  fiillten  den  grofien  Hotel- 
saal: die  Bauarbeitervereinigung  hielt  ihre  Jahresversammlungab. 

Robert  brachte  dem  Redner,  der  auf  dem  Podium  stand,  erne 
Flasche  voll  Wasser  und  horte,  ans  Klavier  gelehnt,  hinter  dem 
die  Sabelchen  und  Schiefigewehrchen  steckten,  dem  Redner  zu. 


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Leonhard  Frank  * Der  Kellner 


Der  erklarte,  daB  Unterstiitzungsgelder  an  arbeitslose  und 
kranke  Mitglieder  dieses  Jahr  nicht  ausbezahlt  werden  konnten. 
Denn  es  seien  so  gut  wie  kerne  Beitrage  eingelaufen.  Zudem 
habe  man  den  Mitgliedern,  die  im  Felde  standen  — und  die 


gingen  alien  andern  vor 


fortlaufend  Unterstiitzungsgelder 


geschickt.  „Die  Reserven  sind  aufgebraucht.  Die  Kasse  ist 
leer.“  Es  frage  sich  nun,  ob  die  Mitglieder,  die  noch  gesund 
seien  und  Verdienst  hatten,  iiber  ihren  Beitrag  hinaus  zusammen- 
steuern  wollten  fur  die  kranken  und  arbeitslosen  Mitglieder. 
Wenn  nicht,  dann  bleibe  nur  noch  iibrig,  die  seit  fiinfzig  Jahren 
bestehende  Bauarbeitervereinigung  samt  der  Krankenunter- 
stiitzungskasse  aufzulosen.  „Sozusagen  den  Konkurs  anzu- 


melden.“ 

Siebenhundert  Augenpaare  von  siebenhundert  dumpf  schwei- 
genden  Menschen  blickten  ratios  auf  den  Redner.  Die  Frauen, 
deren  Kiichentopfe  leer  waren,  und  die  Frauen,  deren  Manner 
im  Felde  standen  oder  schon  gefallen  waren,  hatten  rotgefleckte 
Wangen  bekommen.  Die  Eisenplatte,  die  seit  zwei  Jahren  iiber 
ganz  Europa  lag,  lag  sichtbar  auch  iiber  diesen  siebenhundert 
in  Leid  und  Not  verkrampften  Lasttieren. 

Fin  kleiner  Junge  hatte  das  KinderschieBgewehr  hinterm 
Klavier,  das  auf  dem  Podium  stand,  vorgezogen  und  zielte,  den 
Schaft  an  der  grauen  Backe,  hinunter  auf  die  siebenhundert 
reglosen  Manner  und  Frauen.  Alle  blickten  auf  das  Loch  des 
Rohrlaufes  aus  Weifiblech.  Und  drauBen  standen,  den  Gewehr- 
schaft  an  der  Backe,  in  Schuld  und  Siinde  Millionen  Menschen 
gegeniiber  Millionen  Menschen,  die  in  Schuld  und  Siinde 
standen. 

Da  tat  Robert  den  Sprung.  Es  war  ein  ganz  langsamer  Sprung. 
Er  ging  traumwandlerisch  sicher  auf  den  Jungen  zu,  nahm  ibm 
das  Spielzeug  von  der  Backe  weg  und  trat  vor,  bis  an  den  Rand 
des  Podiums. 

Und  wahrend  der  Redner  Wasser  trank  und  seme  Abrech- 
nungshsten  zurechtlegte,  sagte  Robert: 

„Das  hier  ist  ein  Schiefigewehr.  Das  habe  ich...  ich  selbst 
habe  das  meinem  Jungen  gekauft.  Damit  hat  er  gespielt.  Damit 


Leonhard  Frank  * Der  Kellner 


155 


hat  er  sich  unmerklich  die  Liebe  aus  seinem  Herzen  hinaus- 
gespielt.  Damit  hat  er  schiefien  gelernt.  Ich  habe  ihm  das 
Schiefien,  habe  ihm  das  Morden  gelehrt.  Mein  Sohn  ist 
gefallen.  Er  ist  tot.  Ich  bin  sein  Mtirder...  Vaterstolz,  Ruhm- 
sucht,  Gedankenlosigkeit  und  Gewohnheit  haben  mich  zum 
Morder  werden  lassen.  Und  doch  habe  ich  nur  getan,  was  auch 
lhr  getan  habt.  Auch  von  euch  hat  mancher  seinen  Sohn... 
verloren.“ 

Robert  hieb  das  Gewehrchen  gegen  die  Knie  und  legte  die 
zwei  Stiicke  ruhig  zu  seinen  Fiifien  nieder.  „Das  hatte  ich  vor 
fiinfzehn  Jahren  tun  miifien...  Habt  ihr  es  getan?...  Also  seid 
auch  ihr  Morder.“ 

„Unsere  Manner  und  unsere  Sohne  erschiefien  Manner  und 
Sohne.  Und  jene  Manner  und  Sohne  erschiefien  unsere  Manner 
und  Sohne.  Und  jeder  Daheimgebliebene  hofft : mein  Mann,  mein 
Sohn  kommt  zuriick.  Mogen  die  anderen  fallen  und  sterben.“ 

„Solches  kann  nur  ein  Wahnsinniger  wiinschen...  Ich  frage 
euch ; ist  der  kein  Morder,  der  ein  unschuldiges  Kind  so  erzieht, 
dafi  es  erst  zum  Morder  werden  mufi,  bevor  es  selbst  ermordet 
wird  ? Wird  der  so  erzogene  Unschuldige,  wenn  er  einen  gleich- 
falls  schlechtberatenen  Unschuldigen  erschiefit,  nicht  zum 
Morder?  Es  gibt  heute  in  Europa  keinen  Menschen  mehr, 
der  nicht  ein  Morder  ist!...  Wir  sind  verblendet  und  Morder, 
weil  wir  den  Gegner  aufier  uns  suchen  und  zu  finden  glaubten. 
Nicht  der  Englander,  Franzose,  Russe  und  fur  diese  nicht  der 
Deutsche,  sondern  in  uns  selbst  ist  der  Feind.  Und  wir  stempeln 
deshalb  andere  Menschen  zum  Feind,  weil  der  tatsachliche 
Feind  in  uns  etwas  ist,  das  nicht  da  ist.  Das  Nichtvorhandensein 
der  Liebe  ist  der  Feind  und  die  Ursache  aller  Kriege.  Ganz 
Europa  weint,  weil  ganz  Europa  nicht  mehr  lieben  kann.  Ganz 
Europa  ist  wahnsinnig,  weil  es  nicht  lieben  kann.“ 

„Oder  ist  es  nicht  Wahnsinn,  wenn  ihr  euch  freut  iiber  die 
Notiz:  zweitausend  franzosische  Leichen  lagen  vor  unserer 
Linie?  Ist  die  Einwohnerschaft  von  Paris  nicht  wahnsinnig, 
wenn  sie  sich  freut  iiber  die  Notiz:  zweitausend  deutsche 
Leichen  lagen  vor  unserer  Linie  ?“ 


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Leonhard  Frank  * Der  Kellner 


,,Wir  schreien  vor  Schmerz  oder  die  Augen  bleiben  trocken 
vor  Schmerz,  wenn  unser  Sohn  fallt.  Solange  wir  nicht  ebenso 
vor  Schmerz  schreien,  wenn  ein  Franzose  fallt,  lieben  wir  nicht. 
Solange  wir  nicht  fiihlen:  ein  Mensch,  der  uns  nichts  getan  hat, 
fiel  und  starb,  so  lange  sind  wir  Wahnsinnige.  Denn  dieser 
Mensch,  der  fiel  und  starb,  hat  eine  Mutter,  einen  Vater,  e>ne 
Frau,  die  vor  Schmerz  schreien.  1st  ein  Mensch.  Wollte  so 
gerne  leben.  Und  muBte  sterben.  Wofiir?  Warum?  Er  muBte 
sterben,  weil  er  nicht  liebte.  Und  wir,  seine  Morder,  lieBen  ihn 
sterben,  weil  wir  nicht  liebten.“ 

Robert  machte  wahrend  des  Sprechens  ganz  kleine  Bewe- 
gungen  mit  der  Hand,  daB  die  weiBe  Serviette  baumelte.  Es 
war  so  schwer,  auch  den  anderen  mitzuteilen,  was  man  selbst 
fiihlte  und  erkannt  hatte.  Und  dabei  war  das  Ganze  doch  so 
einfach,  so  selbst  verstandlich.  Aber  die  Menschen  hatten  sich 
von  der  Selbstverstandlichkeit  weggestellt.  Sie  hatten  die  Liebe 
einfach  vergessen,  wie  man  seinen  Schirm  stehen  laBt. 

„Man  braucht  ja  nur  zu  lieben,  dann  fallt  kein  Schufi  mehr. 
Dann  ist  der  Friede  da.  Kinder  sind  wir  dann  auf  unserer  Erde... 
Der  ganze  Erdteil  weint.  Daran  merkt  man  doch,  daB  der  Erdteil 
fahig  ist  zur  Liebe.  Ganz  hoffnungslos  ware  erst  dann  alles, 
wenn  Europa  lachen  wiirde,  weil  ganz  Europa  blutet.  Aber  es 
gibt  kein  Haus  in  Europa,  in  dem  nicht  die Tranen  fliefien.  Das 
ist  die  Liebe,  die  aus  den  Menschenaugen  heraus  weint,  weil  sie 
vertrieben  worden  ist  aus  den  Herzen  der  Menschen." 

,,Was  tut  ihr,  wenn  jetzt  1m  Augenblick  ein  euch  fremder 
Mensch  in  den  Saal  hereintritt  und  einem  von  euch,  den  er  nie 
gesehen  hat,  das  Bajonett  in  den  Leib  stoBt?  Ihr  wtirdet  den 
Wahnsinnigen  nicht  begreifen.  Genau  dasselbe  tun  eure 
Manner  und  Sohne;  auch  sie  stoBen  Mannern  und  Sohnen,  die 
sie  nie  gesehen  haben,  das  Bajonett  in  den  Leib,  dafi  der  Durch- 
stofiene  aufschreit,  sich  kriimmt  und  fallt.  Was  hat  er  eurem 
Sohne  getan  ? Und  was  hat  euer  Sohn  dem  getan,  der  lhm  das 
Bajonett  in  den  Leib  stiefi?...  Habt  ihr  euch  schon  einmal  vor- 
gestellt,  auf  welche  Weise  euer  junger  Sohn,  der  so  gerne,  ach  so 
gerne  noch  hatte  leben  mogen,  sterben  muBte?...  Madchen, 


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Leonhard  Frank  * Der  KeUner 


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vergegenwartige  dir  den  letzten  Blick  deines  Brautigams,  der 
verwundet,  diirstend  sechs  Stunden  lang  in  der  Sommerhitze  im 
Stacheldraht  hing.  Stelle  dir  seinen  letzten,  furchtbar  langen 
Blick  vor.“ 

„Frau,“  sagte  Robert  zu  einer  Erbleichenden,  leise,  daB  es  alle 
Siebenhundert  horten,  ,,was  hat  dein  Mann,  den  du  liebtest,  der 
dir  Brot  und  Kinder  gab,  dem  getan,  der  ihm  das  Bajonett  in  den 
Leib  stiefi?“ 

Die  Frau  wimmerte,  ihr  Kopf  sank  dem  neben  ihr  Sitzenden 
auf  die  Schulter. 

„Die  Menschen  sind  wahnsinnig,  wirklich  und  wahrhaftig 
wahnsinnig,  weil  sie  die  Liebe  vergessen  haben.  Und  weil  sie 
die  Liebe  vergessen  haben,  glauben  sie,  es  miiBe  alles  so  sein, 
wie  es  ist.  Unser  Volk,  wie  wir  es  sehen,  besteht  nur  noch  aus 
Kriippeln  und  elend  aussehenden  Kindem  und  Greisen.  Wenn 
man  jetzt  noch  die  ArmeundBeine,  die  losgetrennten  Menschen- 
kopfe,  die  Millionen  zerrissenen  Leichen,  unter  denen  auch 
eure  Sohne  und  Manner  sind,  von  den  Schlachtfeldern  holen 
und  auf  eure  Strafien  werfen  wiirde,  euch  vor  die  Augen, 
wiirdet  ihr  auch  dann  noch  sagen,  man  muB  sich  halt  damit 
abfinden?  Oder  wiirdet  ihr  endlich  hinknien,  bereit  zum 
Lieben.was  auch  dabei  herauskomme?  Wiirdet  ihr  dann  endlich 
sagen:  ich  will  nicht  leben,  wenn  ich  nicht  lieben  darf?  Wiirdet 
ihr  einsehen,  daB  diejenigen,  die  euch  das  Lieben  verbieten, 
Feinde  sind?  Feinde  des  Menschen.  Volksfeinde!  Seht  ihr 
nicht  die  Berge  von  zerrissenen  Menschenleibem  ? Sieliegenauf 
euren  StraBen,  daB  kein  Wagen  mehr  fahren  kann  und  ihr 
keinen  Schntt  mehr  machen  konnt.  Eure  Sohne!  Eure  Sohne! 
Eure  Manner!  Vater!  Blutig!  Zerrissen!  Unkenntlich !“ 

Ein  Schrei  stieg  aus  der  Saalmitte  empor.  Hinten  beim 
Saaleingang  erklang  ein  tierisches  Stohnen.  Einem  alten  Manne 
fiel  die  Stim  in  die  Hand.  Ein  Madchen  verlieB  die  Stuhlreihen  ; 
sie  hatte  groBe  Augen  bekommen  und  stiirzte  in  die  Knie. 

„Wir  diirfen  uns  nicht  langer  beliigen  und  sagen : der  Zar, 
der  Kaiser,  der  Englander  ist  schuld."  Robert  legte  langsam 
die  Hand  mit  der  Serviette  an  die  Brust:  „Ich  bin  schuld.  Und 


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Leonhard  Frank  * Der  Kellner 


du  bist  schuld.  Und  du  und  du,  nicht  mehr  und  mcht  weniger 
als  der  Zar,  der  Englander,  der  Kaiser  und  der  Milliardar. 
Denn  auch  die  nur  hatten,  ebenso  wie  wir,  die  Liebe  vergessen. 
Nehmt  die  Schuld  auf  euch,  damit  ihr  der  Liebe  wieder  teil- 
haftig  werden  konnt.  Denn  nur,  wer  hier  sich  schuldig  fiihlt, 
kann  entslindigt  werden  und  wieder  lieben." 

„Und  jetzt  wisset:  die  Liebe  tragt  in  sich  ein  hartes  Gebot. 
Die  Liebe  sagt:  wer  nicht  liebt  ist  schuldig  und  bose  und  soli 
weichen,  damit  der  Liebe  auf  Erden  keine  Schranken  mehr 
gesetzt  werden  konnen.  Wir  wollen  fallen  und  sterben  dafiir, 
dafi  der  Liebe  die  Regierung  Europas  iibergeben  werde.“ 

Die  Menschengesichter  unten  im  Saale  waren  aufgeldst. 
Weitersprechend  stieg  Robert  vom  Podium  herunter.  Alle 
waren  aufgestanden,  drangten  ihm  nach. 

,,Das  Gebot  der  Liebe  ist:  wer  sich  nicht  schuldig  fiihlt,  die 
Schuld  nicht  auf  sich  nimmt,  liebt  nicht,  ist  unser  Feind  und 
muB  weichen.  Das  ist  Gesetz.  Neues  Gesetz!  Ihr,  die  ihr 
nichts  mehr  verlieren  konnt,  da  ihr  alles  schon  verloren  habt...“ 
Roberts  Worte  gingen  unter  in  den  hundertstimmig  wieder- 
holten  Worten:  ,, Alles  verloren!  Wir  haben  nichts  mehr  zu 
verlieren!  Wir,  die  wir  nichts  mehr  zu  verlieren  haben... 
Nichts!  Nichts! 

Die  Nachricht  hatte  sich  schon  verbreitet,  als  sie  durch  die 
Strafien  zogen.  Voran  der  Kellner,  ohne  Hut,  im  schmiengen 
Smoking,  die  Serviette  in  der  Hand.  „Die  wollen  Frieden 
machen.  Die  wollen  Frieden  machen.“ 

Verkauferinnen  — verwaiste  Braute  — verhefien  den  Laden- 
tisch  und  schlossen  sich  an.  Zwei  Schaufensterreimger  — alte 
Manner  — liefien  die  Leiterstehen  und  schlossen  sich  an.  Der 
Wagenfiihrer  der  Elektrischen  horte  das  Wort  „Friede“,  er- 
starrte  und  sprang  vom  Wagen  herunter,  schloB  sich  an.  Die 
Fahrgaste  schlossen  sich  an.  In  wenigen  Minuten  hatte  sich  die 
Menge  verdreifacht.  Und  verzehnfachte  sich,  als  Robert,  auf 
dem  Platze  angelangt,  auf  der  Brunnenschale  stand  und  sprach. 
Sein  Mund  zeichnete  den  letzten  Satz  in  meterhohen  Buch- 
staben  an  den  Himmel:  ,,Es  ist  schon  die  Axt  an  dieWurzel  ge- 


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Leonhard  Frank  ♦ Der  Kellner 


159 


legt.  Darum,  welcher  Baum  nicht  gute  Frucht  bringt,  wird  abge- 
hauen  und  ins  Feuer  geworfen. 

Eine  junge  Frau  stand  da  und  tat  nichts  als  lacheln  und 
,,Friede“  sagen.  Reisende,  die  vom  Bahnhof  kamen,  vergaBen  al- 
les  und  schlossen  sich  an,  als  die  Menge  weiterzog.  Fiammend. 
Schnell.  Entziindet  vom  Glauben.  Eine  Schar  Urlauber, 
feldmarschmaBig  ausgeriistet,  das  Gewehr  quer  iiber  dem 
Riicken  und  das  Grauen  des  Schlachtfeldes  in  den  Augen, 
schlofi  sich  an.  Alte  Miitterchen  kamen  kaum  mit.  Kinder 
bekamen  schmale  Gesichter  vor  Staunen  und  ahnten  das  Grofie. 
Ein  alter  Polizeiwachtmeister  mit  grauem  Spitzbart,  das 
Trauerband  am  rechten  Arm,  bekam  fanatische  Augen  und 
schloB  sich  an.  Menschen,  die  dem  Zug  entgegen kamen, 
machten  kehrt,  vom  Feuer  ergriffen.  Radfahrer  sausten  durch 
die  StraBen.  „Die  wollen  Friede  machen!“  Die  Wirtshauser 
entleerten  sich.  Werkstatten,  Baustellen  entleerten  sich.  Trans- 
missionen  standen  still.  Eine  Abteilung  Soldaten  unter  Gewehr 
wurde  mitgerissen.  Gesange  der  Liebe  ertonten  im  Marsch- 
tempo.  Kranke  stiegen  aus  den  Betten,  schleppten  sich  ans 
Fenster.  Kilometerlange  Linien  von  Frauen,  schrag  bewegt, 
trieben  aufemander  zu,  stieBen  zum  Zuge. 

Em  Zwanzigjahriger  — Fanatismus  und  Geist  auf  der  Stim  — 
sprang  aus  einer  menschengefiillten  Seitengasse  heraus,  auf  den 
Kellner  zu,  kiifite  ihn.  Und  sein  heiBer  Blick  offnete  die  Herzen. 
Die  ganze  Stadt  war  aufgestanden  und  schrie  ein  Wort.  Friede. 
Das  so  gesprochene  Wort  wurde  zu  vieltausendstimmigem,  ge- 
waltigem  Gesange.  Alle  Kirchenglocken  lauteten. 


UNIVERSITY  OF  MICHIGAN 


Theodor  Ddubler  ♦ Georg  Grofi 


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Feodor  ‘Daubfer.- 

GEORG  GROSZ 

LT  R ist  vorlaufig  Zeichner  und  futuristischer  Schriftsteller : 
* — 4 das  ist  bei  ihm  alles  eins.  Seine  Handschrift  bezeugt’s : diese 
exotische  Buchstabenmalerei  driickt  sein  Wesen  sehr  ausdriick- 
lich  aus.  Er  wird  demnachst  auch  Maler  sein! 

Ob  Grofi  seinen  Namen  unterzeichnet,  den  Rauch  einer 
Esse  verschlangelt,  ein  Abenteuergesicht  mit  Tatowierungen 
bedeckt,  immer  der  gleiche  Zug.  Mit  Fliegen,  Spinnen,  anderm 
Teufelsgeziicht  bezeichnet,  stempelt  er  Verbrechergesichter, 
Kitschkasemen,  Eisenbahntunnels.  Seine  Buchstaben  sind  aber 
auch  eine  Art  von  Insekten,  Vielfiifilern ; ja  sogar  Kafer  findet 
man  drunter,  zumal  beim  grofien  G in  seinem  Namen  Georg 

Grofi, 

Die  Zeichnungen  sind  sehr  voll : er  fiillt  sie  aber  nicht  eigent- 
lich  aus,  viel  eher  bespannt  er  sie  mit  Linien,  mit  Drahten. 
Etwas  vom  Telegraphen-  und  Telephonnetz  haben  alle  seine 
Schopfungen : in  einigen,  zumeist  Berliner  oder  New  Yorker 
Grofistadterlebnissen,  hebt  er  diese  Eigenart  ganz  besonders 
und  bewufit  hervor. 

Wir  konnen  ohne  Zaudern  drahten : Georg  Grofi  augenblick- 
lich  das  futuristische  Temperament  von  Berlin. 

Er  ist  niemals  elegisch:  seine  Cowboy-Romantik,  die  Him- 
melkratzersehnsucht  hat  sich  in  Berlin  ein  vollkommnes  Wild- 
west  zur  Tatsache  gemacht:  er  zeichnet  namlich  nicht,  was 
er  nicht  besitzt ; die  Gegenstande,  die  um  seinen  Schreibtisch, 
seine  Staffelei  stehn,  verschwinden,  wenn  er  pathetisch  anhebt: 
Niggertanze  in  Hoboken  oder  grofies  Affen  - Schauturnen  im 

31  Vol.  m/2 


168 


Theodor  Daubler  * Georg  Grofi 

Urwald.  Man  kann  sich  eigentlich  kein  ernsteres  Ktinstlerleben 
vorstellen,  als  beim  Zeichner  Grofi.  Der  Schriftsteller  ist  noch 
nicht  so  Vollblut  wie  der  Bildner,  da  hangt  die  Anschauung 
faktisch  oft  in  der  Luft ; er  fiihlt  es  und  lacht  iiber  die  Dame 
auf  dem  Trapez  ltn  Wintergarten.  Er  wird  sich  nie  iiber  sich 
selber  argern.  Er  ist  der  Zeichner  Grofi! 

Seine  Vorstellung  der  Grofistadt  ist  eigentlich  apokalyptisch : 
er  gibt  von  ihr  etwas  Kosmisches,  vielleicht  Meteorhaftes. 
Leichenwagen  tauchen  auf,  die  Hauser  sind  geometnsch,  nackt, 
wie  kurz  nach  einer  Beschiefiung.  Schnellbahnen  iiberstiirzen 
sich,  wie  ein  Gewitter  zittern  sie  blitzschnell  herein  und  sind 
wieder  weg.  Die  Menschen,  meistens  blofi  der  Ausdruck  ihrer 
Gier,  mit  zerhagelten  Gesichtern,  sind  bestiirzt;  einer  iiber  den 
andern ! Oder  sie  konnen  nicht  welter : die  Passage  ist  versperrt. 
Ein  Leichenwagen.  Die  Sonne  wird  genau  sichtbar:  eine  stiir- 
zende  Kugel!  Er  bringt  iiberall  Sternchen  an,  auch  beim  blos- 
sen  Schreiben,  rhythmisch  verbundne,  wie  bei  einem  Stern- 
feuerwerk.  Oder  davonfliegende : auf  dem  Sternbanner ! Auch 
die  Streifen  auf  dem  Unionjacht  sind  ihm  kiinstlerisches  Er- 
lebnis.  Sie  geben  in  ihrem  Geflatter  fast  die  musikalische  Note 
fur  die  daherknatternden  Ziige  auf  Eisenbahnbriicken  an.  Sein 
Wesen  sagt:  durch  die  Stadt  streifen.  Zu  einem  letzten  tato- 
wierten  Indianermadchen  abschweifen : ihr  Korper  ist  mit  Strei- 
fen und  Striemen  bedeckt. 

Ein  Cafe.  Die  Leute  in  Ruhe:  die  innerste  Natur  besinnt 
sich  ihrer  Entsetzlichkeit.  Spieler  ringsum : irgend  einer  wird 
durch  Selbstmord  enden:  welcher?  Alle  sind  des  Verbrechens 
verdachtig.  Nur  keinen  von  der  Moglichkeit,  es  zu  begehn, 
freisprechen ! Alle  smd  angeklagt.  Der  Billardtisch  wirkt  wie 
em  Sarg.  Die  elektrischen  Lampen  scheinen  bose  Spinnen  mit 
stechenden  Strahlenbiindeln. 

Wenn  Grofi  die  Menschen  oft  summarisch,  fast  abstrakt, 
zeichnet,  so  wirken  Tiirklmken,  Wasserhahne,  Bogenlampen 
haufig  ausgesprochen  menschlich-korperlich.  Eigentiimliche 
Beziehungen  zu  Geschlechtsteilen  werden  offenbar,  die  Dinge 
wirken  aber  dadurch  unheimlich  logisch,  scheinen  warmer  und 


Theodor  Daubler  • Georg  Crop 


169 


besser  zu  sein,  als  die  Menschen ; allerdings  diese  Leute  bei 
GroB  sind  zynisch,  kaltbliitig,  unangenehme  Patrone. 

Aber  er  hat  auch  eine  friedliche  Rheinlandschaft  gemalt. 
Friedlich  wie  eine  Uhr.  Denn  alles  bewegt  sich  auf  der  Zeich- 
nung.  Ein  Ruinenberg  mit  geduldigem  Gesichtsausdruck  speit 
seinen  D-Zug  aus  dem  Tunnelmaul,  die  Nase  erkennt  man  an 
einer  vereinzelten  Tanne;  sie  ist  eigentlich  eine  Nasenwarze. 
Die  Rhemdampfer  gischten  durch  die  Flut  bei  der  Pfalz  auf 
einer  Insel  vorbei.  Der  Himmel  ist  wunderbar  voll.  Fast  iiber- 
laden:  Ballons,  Luftschiffe,  eine  Sonne,  Wolken,  alles  schwirrt 
dahin,  aber  diese  schnurrigen  Dinge  sind  so  rhythmisch  ange- 
bracht,  richtig  in  die  Landschaft  eingezeichnet,  daB  sie  uns 
einen  beinah  tarifmaBigen,  jedenfalls  fahrplanartigen  Eindruck 
machen.  In  der  Ordnung  liegt  der  Friede  dieser  bewegten 
Stunde. 

GroB  hat  auch  die  alte  und  neue  Zeit  auf  einer  Flache  in 
Einklang  gebracht.  Ein  Mensch  von  einer  unerhorten  Misch- 
rasse  steht  mit  Revolver  und  Beil  in  der  Mitte,  ganz  korrekt 
ist  das  Bild  komponiert.  Wie  beim  Rhein  die  neue  Landschaft 
sich  auf  die  alte  gesetzt  hat,  so  stehn  hier  die  zwei  Zeiten  neben- 
emander,  auch  friedlich.  Die  alte  Kirche  ist  kaum  sichtbar 
in  ihrer  zierlichen  Kleinheit  zwischen  Kasernen  und  Schulen 
hineingeengt.  Sie  macht  sich  aber  horbar,  ihre  groBen  Glocken 
lauten,  lauten  noch  immer,  ja  immer  starker.  Schiffe  schrillen 
jedoch  noch  vernehmbarer  vorbei,  Industrieanlagen  verschieben 
die  Geometrien  der  Rebenhiigel.  Der  Neuling  hat  einen  Revol- 
ver: das  ist  starke  Ausdruckskunst,  so  ein  Revolver  wirkt  als 
Symbol  eines  Beschlusses,  sich  durch  die  Widerstande  Bahn 
zu  brechen,  hindurchzufeuern.  Der  Revolver  ist  bei  GroB  sehr 
deuthch  das  Sinnbild  mannlicher  Kraft  und  Fruchtbarkeit. 

Das  Leben  war  niemals  so  bunt  wie  jetzt : GroB  liebt  die 
Renaissancehauser  aus  den  Griinderjahren  mit  Wellblechkup- 
peln.  Unten  ist  ein  Unternehmen  nagelneu  eingerichtet  wor- 
den,  der  Leichenwagen  zieht  grade  vorbei,  man  kann  aber  durch 
sein  Schwarzgehange  blitzschnell  ablesen,  was  auf  dem  Riesen- 
fenster  blitzt  und  blinkt:  Restaurant.  Abends  kommen  dort 


170 


Theodor  Daubler  ♦ Georg  Grofi 


die  Bierphilister  zusammen ; um  sie  an  das  Lokal  zu  gewohnen, 
werden  vorderhand  Negertanze  aufgefiihrt,  die  schwarzen  Gri- 
massen  auf  den  schwarzen  Gentlemananzug  ausgedehnt.  Beine 
spreizen  sich,  Armesindins  Unbestimmte  gereckt,  eine  groteske 
Tanzkreuzigung;  alles  das  schwarze  Zeug  gibt  uns  aber  GroB 
durch  WeiBverwirkung!  Eine  Uhr  hangt  drin  irgendwo,  sie 
nimmt  einen  gespenstig  halbbewuBten  Ausdruck  an.  Das  Ge- 
triebe  ringsum  imponiert  ihr  nicht,  zur  Stunde  ernes  Selbst- 
mordes  im  Hause  wird  sie  da  unten  im  Getrubel  unbemerkt 
stehn  bleiben.  Erst  morgen  wird  man  wissen,  was  geschehn 
ist.  Dann  fahrt  der  Leichenwagen  vor.  Erwird  vordem  prunk- 
vollen  Stockgebaude  halten. 

In  einem  Akt,  den  er  zeichnete,  gibt  GroB  seine  Wehmut, 
seine  Sehnsucht  nach  New  York,  von  Berlin  aus,  hinein  ins 
tiefste  Berlin,  wieder.  Das  entkleidete  Modell  hat  den  Ausdruck 
seiner  Augen.  Er  wuBte  es  wohl,  als  er  solches  schuf. 


Glossen 


GLOSSEN 


OControffe  der  auswarifgen 
'Pofiiik  im  Sflusfande. 

In  der  inneren  Politik  hat  sich  seit 
dem  Zeitalter  der  franzosischen  Re- 
volution fast  bei  alien  zivilisierten 
Staaten  das  Recht  der  Volksvertreter 
Geltung  verschafft,  in  alle  Zweige  des 
innerstaatlichen  Lebens  hineinzu- 
leuchten,  auf  Abhilfe  oder  Besserung 
zu  drangen,  wo  sie  auf  MiBstande 
stofien,  und  bei  jeder  Gelegenheit 
von  der  Regierung  Aufschliisse  zu 
verlangen.  Die  auswartige  Politik  da- 
gegen  wird  noch  vielfach  als  etwas 
ganz  Besonderes  behandelt.  Hier 
gelten  in  vielen,  selbst  sonst  fortge- 
schrittenen  Staatswesen  noch  die 
Regeln  des  Absolutismus.  Dem  Volke 
wird  ein  Halt  geboten,  wenn  es  auch 
auf  diesem  Gebiete  sein  Aufsichtsrecht 
ausliben  will.  Die  auswartige  Politik 
wird  als  eine  Art  Geheimkunst  be- 
handelt, die  wohl  fremde  Regierungen 
angeht,  woran  das  eigene  Volk  jedoch 
nicht  zu  riihren  hat. 

Und  doch  hangt  gerade  von  der 
Fiihrung  der  auswartigen  Politik  viel 
mehr  das  Wohl  und  Wehe  der  ge- 
samten  Bevolkerung  ab,  als  von  alien 
innern  Ressorts  zusammengenommen. 
Schon  vor  beinahe  fiinfzig  Jahren  hat 
Constantin  Frantz  in  seinem  be- 
kannten  Buch  uber  die  Weltpolitik 
eingehend  begriindet,  dafi  die  aus- 


wartige Politik  eine  „auBerst  innere“ 
Angelegenheit  der  Nationen  ist.  Wird 
doch  durch  die  auswartigen  Verhalt- 
nisse  hauptsachlich  das  gesamte  Mili- 
tarwesen  eines  Staates  bedingt.  Die 
stehenden  Heere  beeinflussen  im 
hochsten  Grade  das  ganze  Steuer- 
wesen,  was  wiederum  in  alle  wirt- 
schaftlichen  und  sozialen  Verhaltnisse 
eines  Volkes  eingreift.  Das  durch  die 
auswartige  Politik  bedingte  Militar- 
wesen  driickt  schlieBlich  der  ganzcn 
Staatsordnung  seinen  Stempel  auf. 
Je  militarischer  sich  ein  Staat  ent- 
wickelt,  um  so  geringer  werden  die 
politischen  Freiheiten.  Militarismus 
driingt  seiner  Essenz  nach  auf  Zen- 
tralisation  und  Absolutismus.  Aus  der 
auswartigen  Politik  entspringen  die 
Kriege,  welche  die  Existenz  selbst  der 
Volker  gefahrden  und  jedenfalls  deren 
Einsatz  an  Blut  und  Gut  heischen.  Aus 
den  Kriegen  stammt  der  groBte  Teil 
der  Schulden  des  Staates,  und  diese 
Lasten  zehren  oft  auf  Generationen 
hinaus  an  dem  Marke  der  Nationen. 

Bei  dieser  ungeheuren  Wichtigkeit 
der  auswartigen  Politik  fiir  die  Frei- 
heit  und  Wohlfahrt  der  Volker  ist  es 
mit  Freuden  zu  begriiBen,  dafi  auch 
in  Deutschland  die  Volksvert retun g 
sich  riihrt  und  EinfluB  auf  die 
Fiihrung  der  auswartigen  Geschafte 
zu  gewinnen  versucht.  Es  diirfte  da- 
her  am  Platze  und  niitzlich  sein,  die 


V 


172 


Gloss  en 


Einrichtungen  zu  betrachten,  die  in 
dieser  Beziehung  in  emigen  wirklich 
parlamentarisch  regierten  Staaten  be- 
reits  bestehen  : 


In  Gngfand  bat  das  Kabinett  ge- 
wohnheitsgemafi  die  friiheren  Praro- 
gativen  der  Krone  bei  der  Fiihrung 
der  auswartigen  Geschafte  iibernom- 
men  mit  verhaltnismafiig  geringer  Ein- 
mischung  des  Parlamentes.  Nur  ein- 
mal  im  Jahre  wird  im  Unterbause  die 
auswartige  Politik  bei  der  Beratung 
iiber  das  auswartige  Budget  einge- 
hender  besprochen.  Dafiir  haben  die 
Abgeordneten  allerdings  ein  weitge- 
bendes  Fragerecht.  Die  dem  Frage- 
steller  durch  den  Vertreter  des  Aus- 
wartigen Amts  erteilten  Antworten 
sind  aber  oft  sehr  diplomatischer  Natur, 
so  daB  man  daraus  nicbt  viel  ent- 
nebmen  kann. 

Scbon  vor  dem  Weltkrieg  verlangte 
daber  ein  Teil  der  engliscben  offent- 
lichen  Meinung  mehr  Kontrolle  in 
auswartigen  Angelegenbeiten.  Jetzt  ist 
es  besonders  der  friibere  Diplomat 
Arthur  Ponsoby,  Mitglied  des  Parla- 
mentes, der  in  Wort  und  Schrift  fiir 
die  Schaffung  eines  standigen  Parla- 
mentsausschusses  zur  Kontrollierung 


sondern,  dafi  die  Regie  run  ggeschafte 
abwecbselnd  von  zwei  groBen  Parteien 
gefiihrt  werden.  Die  jeweilige  Oppo- 
sitionspartei  iibt  allein  durch  ihr  Da- 
sein  eine  bestandige  Kontrolle  dariiber 
aus,  daB  die  auswartigen  Geschafte 
den  allgemeinen  Volksinteressen  ent- 
sprechend  gefiihrt  werden.  In  dem 
Augenblick,  wo  die  Ansicht  des  Kabi- 
nettes  mit  der  Meinung  der  Mehrheit 
nicbt  mehr  iibereinstimmt,  hat  das 
Parlament  zudem  ja  das  Recht,  dieses 
Kabinett  durch  ein  MiBtrauensvotum 
zu  beseitigen. 

Wahrend  des  Krieges  hat  England 
als  Neuerung  die  Abbaltung  von  Ge- 
heimsitzungen  des  Parlamentes  einge- 
fiihrt  und  dadurch  ein  vortreffliches 
Mittel  gefunden,  in  vertraulicher  Weise 
die  Volksvertretung  aucb  iiber  die 
Fiihrung  der  auswartigen  Politik  zu 
unterrichten. 

Das  Haus  der  Lords  beschaftigt 
sicb  viel  haufiger  mit  der  auswartigen 
Politik  als  das  Unterbaus.  Die  De- 
batten im  Oberhaus  sind  wirkungs- 
voller,  weil  hier  eine  viel  groBere  An- 
zahl  Manner  sitzt,  die  im  Ausland  gut 
Bescheid  wissen.  Nach  der  Zusammen- 
setzung  dieser  Versammlung  ist  es  aber 
nur  zu  natiirlich,  daB  die  Volksinter- 


der  auswartigen  Politik  eintritt.  Seiner  essen  bei  den  Debatten  iiber  die  aus- 


Initiative  verdankt  England  die  Griin- 
dung  der  „ Union  of  Democratic 
Control11,  welche  nicht  nur  die  Kon- 
trollierung, sondern  auch  die  Demo-  In  <Frankreicfi  diirfte  die  Kontrolle 


wartige  Politik  keine  zu  groBe  Rolle 
spielen. 


kratisierung  der  Diplomatic  erstrebt. 

Wenn  es  scbeinen  mochte,  als  ob 
das  englische  Volk  in  der  auswartigen 
Politik  bisher  nicht  viel  Einflufl  ge- 
habt  hatte,  so  darf  nicht  aufier  acbt 
gelassen  werden,  daB  in  diesem  Lande 
keine  biirokratische  Regierung  besteht, 


der  auswartigen  Politik  heute  wohl  am 
weitesten  fortgeschritten  sein.  Die 
franzosische  Deputiertenkammer  be- 
bandelt  die  auswartige  Politik,  abge- 
sehen  von  den  haufigen  Debatten  in 
den  Plenarsitzungen,  eingehend  jedes 
Jahr  bei  der  Beratung  des  Haushaltes 


Glosscn 


173 


des  auswartigen  Ministeriums  in 
der  Generalbudgetkommission.  Diese 
Kom  mission  wtrd  von  der  Kammer 
alljahrlich  ernannt.  Sie  besteht  aus 

44  Mitgliedern.  Die  Kommission  er- 
stattet  am  Ende  jeden  Jahres  der 
Kammer  einen  sehr  wertvollen  Bericht 
auch  iiber  die  auswartige  Politik  Frank- 
reichs. 

Einen  weit  groBeren  EinfluB  iibt 
aber  das  sogenannte  ..Grand  Comite44 
aus.  Es  ist  dies  ,,La  Commission  des 
Affaires  exterieures  et  coloniales44.  Es 
wird  von  der  Kammer  fur  die  ganze 
Legislaturperiode  von  4 Jahren  ge- 
wahlt  und  zahlt  ebenfalls  44  Mit- 

glieder,  die  von  den  verschiedenen 
Parteien  im  Verhaltnis  zu  ihrer  nu- 
merisehen  Starke  gestellt  werden.  Die 
Hauptaufgabe  dieser  Kommission  ist, 
sich  iiber  besondere  auswartige  Fragen 
zu  informieren  und  der  Kammer  dar- 
liber  zu  berichten. 

Das  , .Grand  Comite  “ bat  das  Recht, 
alle  Personen  vor  sich  zu  laden, 
deren  Aussagen  fiir  die  vorliegende 
Frage  von  Interesse  sind.  Bei  Vor- 
ladung  von  Beamten  des  auswartigen 
Dienstes  ist  jedoch  die  Genehmigung 
des  Ministers  einzuholen,  der  dabei 
bestimmt,  in  welcher  Weise  etwa  die 
Beamten  Dienstverschwiegenheit  zu 
beobachten  haben.  Auch  die  Vorlage 
von  Akten  und  Dokumenten  kann  das 
Komitee  verlangen. 

Bei  Unstimmigkeiten  mit  dem  aus- 
wartigen Minister  entscheidet  die 
Kammer.  Der  Minister  kann  von  dem 
Komitee  um  sein  Erscheinen  gebeten 
werden.  Seit  dem  Kriegsbeginn  ge- 
schieht  dies  sogar  haufig,  wenn  auch 
der  Theorie  nach  der  Minister  zum  Er- 
scheinen nicht  gezwungen  werden  kann. 


Man  kann  ohne  Obertreibung  be- 
haupten,  daB  zurzeit  dieses  groGe 
Komitee  die  auswartigen  Geschafte 
Frankreichs  vollstandig  kontrolliert. 
Selbst  der  Ministerprasident  muB 
sich  den  Wunschen  oder  Aufforde- 
runcen  dieser  Versammlung  fiigen, 
und  auch  die  EntschlieBungen  der 
alliierten  Regierungen  sind  schon 
haufig  durch  die  Haltung  dieses  Ko- 
mitees  beeinfluBt  worden. 

Nachdem  auch  Frankreich  Ge- 
heimsitzungen  der  Kammer  eingefiihrt 
hat,  sind  die  Mitglieder  des  aus- 
wartigen Komitees  in  der  Lage,  den  zu 
diesen  Geheimsitzungen  vorgeladenen 
Diplomaten  in  vollster  Kenntnis  der 
diplomatischen  Verhaitnisse  mit  Auto- 
ritat  gegeniiberzutreten,  ein  Umstand, 
der  fiir  die  ganze  zukiinftige  Entwick- 
lung  der  franzosischen  Diplomatic  von 
grofiter  Bedeutung  sein  wird. 

Endlich  kann  dieses  Komitee  in  be- 
sonderen  Fallen  von  der  Kammer  mit 
der  Fiihrung  einer  Untersuchung  be- 
auftragt  werden.  Das  Komitee  besitzt 
dann  das  Recht,  Zeugen  eidlich  zu 
vernehmen  und  Nachforschungen,  so- 
gar im  Auslande,  vorzunehmen. 

Im  Senat  gibt  es  keine  besondere 
auswartige  Kommission.  Gegebenen- 
falls  iiberlaBt  der  Senat  die  Priifung 

einem  Spezial- 
komitee  oder  er  beauftragt  damit  die 
Finanzkommission,  die  iibrigens  die 
gleichen  Befugnisse  hat  wie  das  ..Grand 
Comite14  der  Kammer. 

In  den  ^Oeremifften  Staaien  von 

Hmerika  war  man  sich  schon  bei 
der  Einfiihrung  einer  Verfassung  dar- 
iiber  im  klaren,  daB  der  Exekutive 
keine  zu  groBe  Macht  einzuraumen 


auswartiger  Fragen 


V 


74 


Glossen 


sei,  wenn  man  Mifibrauche  vermeiden 
wolle.  Anderseits  trug  man  Bedenken, 
einer  gewahlten  Korperschaft  allein 
die  Fiihrung  langwienger  diploma- 
tischer  Verhandlungen  anzuvertrauen. 
Man  stellte  daher  den  Grundsatz  auf, 
daB  der  Exekutive,  d.  h.  dem  vom 
Volke  ohne  Mitwirkung  der  gesetz- 
gebenden  Korperschaften  zu  wahlen- 
den  Prasidenten  die  Initiative  in  aus- 
wartigen Angelegenheiten  zustehen 
solle,  wahrend  die  Sanktion  der  Ver- 
handlungen dem  Senat  vorbehalten 
blieb.  Dieser  bestand  allerdings  da- 
mals  aus  einer  verhaltnismafiig  nur 
genngen  Anzahl  von  Personen,  so  daB 
ihm  die  praktische  Ausiibung  der 
Kontrolle  leicht  fiel. 

Mit  dem  Wachsen  der  Nation  ist 
der  Senat  dazu  iibergegangen,  zur 
standigen  Oberwachung  der  aus- 
wartigen Geschafte  des  Prasidenten 
ein  besonderes  Organ  zu  schaffen: 
das  ,,Comittee  on  Foreign  Relations'*, 
das  aus  1 5 Mitgliedern  besteht.  Von 
diesen  gehoren  9 der  Mehrheits-,  6 
der  Minderheitspartei  an. 

Der  gesamte  Senat  kann  auswartige 
Fragen  in  sogenannten  ,, executive 
sessions"  behandeln.  Diese  Sitzungen 
sind  vertraulich;  das  Publikum  hat 
keinen  Zutritt. 

Neben  diesem,  fiir  die  amerika- 
nische  auswartige  Politik  sehr  be- 
deutungsvollen  Senatskomitee  besteht 
noch  ein  auswartiges  Komitee  des  Re- 
prasentantenhauses:  ..Committee  on 
Foreign  Affairs"  genannt.  Es  hat  21 
Mitglieder;  14  gehoren  zur  Mehr- 
heit,  7 zur  Minderheit.  Diese  Kom- 
mission  hat  nur  geringe  praktische 
Wirkung.  Dafiir  hat  das  Reprasen- 
tantenhaus  aber  das  Recht,  jederzeit 


Diskussionen  liber  die  Fiihrung  der 
auswartigen  Geschafte  herbeizufuhren, 
ein  Recht,  das  der  Senat  natiirhch 
ebenfalls  besitzt.  Beide,  das  Komitee 
des  Senats  wie  das  der  Kammer, 
konnen  Zeugen  laden  und  vernehmen. 
Sie  haben  zwar  kein  geschriebenes 
Recht,  diplomatische  Dokumente  ein- 
zufordern.  In  der  Praxis  geschieht 
dies  jedoch  regelmaBig  und  zwar  in 
der  Weise,  daB  der  Vorsitzende  des 
Komitees  den  Prasidenten  oder  dessen 
Vertreter,  den  auswartigen  Staats- 
sekretar,  um  Vorlage  der  gewlinschten 
Akten  ersucht. 

Die  so  erlangten  Informationen 
pflegen  vertraulich  behandelt  zu 
werden.  Jedoch  konnen  die  beiden  ge- 
setzgebenden  Hauser  auch  beschlieBen, 
bestimmtes  Informationsmaterial  der 
Offentlichkeit  zu  iibergeben.  Dies 
geschieht  aber  fast  nur  bei  Fragen  von 
groBem  allgemeinem  Interesse. 

Die  Beratungen  beider  Komitees  sind 
geheim.  Die  Komitees  konnen  Unter- 
kommissionen  bilden  zur  vertraulichen 
Berichterstattung  an  die  Hauptko- 
mitees. 

Fiir  den  Verkehr  der  Exekutive 
mit  dem  Senatskomitee  fiir  die  aus- 
wartigen Geschafte  bestehen  keine 
bestimmte  Regeln.  Im  Laufe  der  Zeit 
hat  sich  jedoch  die  Gewohnheitheraus- 
gebildet,  daB  sowohl  der  President  als 
der  auswartige  , .kretar  mit  den 
fiihrenden  Mitgliedern  des  Senats- 
komitees  in  standiger  und  enger 
Fiihlung  bleibt. 

In  Otatien  hat  die  Regierung  eine 
ziemlich  groBe  Unabhangigkeit  in 
der  auswartigen  Geschaftsfiihrung. 
Das  Parlament  iibt  aber  die  Ge- 


V 


Glossen 


175 


neralkontrolle  iiber  die  auswartige 
Politik,  eine  Oberwachung,  die  es 
durch  Interpellationen,  Fragen  und 
Aktenvorlagen  ausiibt. 

In  ® efgien  besitzt  nur  der  Senat 
erne  standige  Kommission  flir  die 
Priifung  diplomatischer  Vertrage. 

Endlich  moge  bier  noch  auf  die 
niederfandifcfie  Verfassung  hingewie- 
sen  werden,  bekanntlich  eine  der  alte- 
sten  Europas.  Nach  dieser  Verfassung 
kann  auf  Verlangen  des  Prasidenten  des 
Abgeordnetenhauses  oder  eines  Zehn- 
tels  der  anwesenden  Abgeordneten  eine 
Geheimsitzung  stattfinden,  in  der  auch 
Beschliisse  gefafit  werden  konnen.  Auf 
Wunsch  des  Prasidenten  oder  nur  eines 
Abgeordneten  kann  der  Kammer  Still- 
schweigen  iiber  die  in  der  Geheim- 
sitzung behandelten  Gegenstande  auf- 
erlegt  werden. 

Das  niederlandische  Parlament  hat 
das  Recht  auf  Aktenvorlage,  auch  kann 
es  ein  Komitee  wahlen  zur  Anstellung 
einer  Untersuchung iiber  die  Geschafts- 
fiihrung  des  auswartigen  Ministers. 

Wenn  diese  wirklich  parlamentarisch 
regierten  Lander  trotz  der  Mtfglich- 
keit,  die  Regierung  jederzeit  zu  Falle 
zu  bringen,  es  fur  notig  befunden 
haben,  besondere  Kautelen  dafiir  zu 
schaffen,  daB  der  Wagen  der  auswar- 
tigen Politik  nicht  auf  Abwege  gerat, 
um  wieviel  notiger,  sollte  man  meinen, 
waren  solche  SchutzmaBregeln  in  einem 
Lande  wie  Deutschland,  wo  das  Par- 
lament  letzten  Endes  nur  iiber  Schein- 
rechte  verfiigt,  und  wo  es  im  Belieben 
des  Monarchen  liegt,  ein  fehlendes 
Biirokratenregiment  beizubehalten  oder 
zu  beseitigen.  Aus  diesem  Grunde 
sollte  eine  etwaige  Reform  auf  diesem 


Gebiete  auch  nicht,  wie  wir  dies  so- 
eben  in  einigen  Landern  gesehen  haben, 
auf  halbem  Wege  stehen  bleiben,  son- 
dern  man  sollte,  ahnlich  wie  die  Vol- 
ker,  die  von  der  Tranlampe  direkt 
zum  elektrischen  Funken  sprangen, 
die  Erfahrungen  anderer  Volker  sich 

zunutze  machen,  um  gleich  zu  einem 
praktischen  Ergebnis  zu  gelangen. 
Dies  liefie  sich  am  besten  erreichen, 
wenn  ein  standiger  ReichstagsausschuB 
fur  auswartige  Angelegenheiten  ge- 
schaffen  und  dem  Reichstage  die  Be- 
fugnis  verliehen  wiirde,  uber  wichtige 
auswartige  Fragen  in  Geheimsitzung 

zu  beschlieBen.  .. 

(J/v/s  diplomat jcus. 


‘Drudcfefifer.  In  der  Oktoberglosse 
von  Civis  diplomaticus  muB  es  auf 
Seite  69,  2.  Spalte,  Zeile  13  von  oben 
statt  „AusschuB“  iflusfand  heiBen; 
so  daB  die  Stelle  lautet : „Gerade  davon, 
daB  im  Ausland  der  richtige  Mann 
auf  dem  richtigen  Posten  steht,  hangt, 
wie  wir  alle  heute  wissen,  das  Wohl 
und  Wehe  Tausender  ab.“  — 


Die  „Kreuzzeitungf*  zitiert  aus  der 
„DeutschenVolkswirtschaftlichen  Cor- 
respondenz“  einen  Artikel,  der  die 
Oberschrift  tragt:  „ ^Werden  Gefandt* 
(cfiaftsbericfite  immer  beacfitet /*'  In 
diesem  Artikel  wird  darauf  hingewie- 
sen,  daB  unsere  Botschaften  und  Ge- 
sandten  im  Auslande  sich  gegen  den 
Vorwurf  der  Unzulanglichkeit  der 
diplomatischen  Vertretung  Deutsch- 
lands  schon  deshalb  vor  der  breiten 
Offentlichkeit  nicht  rechtfertigen  kon- 
nen, weil  sie  sich  auf  ihre  geheimge- 
haltenen  Berichte  nicht  berufen  oder 
fordem  konnen,  daB  nachgepriift  wer- 
den soli,  „ob  und  inwieweit  diese  von 


V 


176 


Glossen 


der  allein  maBgebenden  verantwort- 
lichen  Zentralstelle  befolgt  oder  ge- 
flissentlich  miBachtet  worden  sind.“ 
,,Ein  beachtenswerter  Fall  liegt  vor, 
der  zur  Vorsicht  im  Urteil  iiber  ge- 
sandtschaftliche  Tatigkeit  mabnt.  Im 
ungarischen  Reichstage  war  die  Diplo- 
matic Osterreich-Ungarns  lebhaft  be- 
schuldigt  worden,  dafi  sie  iiber  die 
kritische  Lage  in  Rumanien  nicht 
unternchtet  gewesen,  von  der  ruma- 
nischen  Kriegserklarung  iiberrascht 
worden  sei  und  daher  fiir  den  Einfall 
der  Rumanen  in  Siebenbiirgen  vollig 
ungcniigende  Vorbereitungen  getroffen 
worden  seien.  Im  besonderen  richte- 
ten  sich  die  Anklagen  gegen  den  Gra- 
fen  Czernin,  den  osterreichisch-unga- 
rischen  Gesandten  in  Bukarest,  der 
sich  wie  andere  dortige  Vertreter  habe 
tauschcn  lassen.  Das  Wiener  Rotbuch 
iiber  die  Vorgeschichte  des  rumani- 
schen  Krieges  bedeutet  jedoch  fiir  den 
Grafen  Czernin  einen  vollstandigen 
Freispruch  von  jeglichem  Vorwurf. 
Seine  Berichte  haben  sich  durchweg 
als  durchaus  zutreffend  erwiesen;  er 
hat  sogar  den  Ausbruch  des  Krieges 
mit  Rumanien  fast  auf  Tag  und  Stunde 
richtig  vorausgesehen.  Das  Auswar- 
tige  Amt  in  Wien  ist  also  von  seinem 
Vertreter  in  Bukarest  auf  das  beste 
unternchtet  und  auf  den  rumanischen 
Krieg  vorbereitet  worden.  Offen  indes 


bleibt  noch  die  Frage,  ob  durch  das 
Rotbuch  ebenso  wie  Graf  Czernin  auch 
die  Wiener  Zentralstelle  als  vollstandig 
entlastet  anzusehen  sei.“ 

Das  Blatt  zitiert  dann  weiter  einen 
Wiener  Artikel  der  ^Frankfurter  Zei- 
tung41,  der  feststellenzu  konnen  glaubt, 
daB  man  in  Berlin  sehr  empfindlich 
gegen  jedes  aufnchtige  Wort  iiber  die 
Bukarester  Machthaber  gewesen  sei. 
An  Warnungen  habe  es  wahrhaftig 
nicht  gefehlt.  Die  ,,D.  V.  C.“  schliefit 
ihren  Artikel  mit  den  Worten : 

„Die  Zeit  eignet  sich  jetzt  nicht, 
die  hier  aufgeworfene  Frage  des  Nahe- 
ren  zu  erortern  und  den  AufschluB 
zu  erstreben,  ob  etwa  der  Ausruf  be- 
griindet  sei:  Was  niitzen  die  besten 
Gesandt  schaft  sber  ichte,  wenn 
siedort,wosie  Beriicksichtigung 
zubeanspruchen  haben,  beharr- 
lich  in  den  Wind  geschlagen 
werden!  Vielleicht  erlangen  erst 
unsere  Enkel  hieriiber  Aufklarung, 
falls  ihnen  einmal  die  gesamten  Akten 
des  Auswartigen  Amtes  zuganglich  sein 
sollten.  Aber  dann  freilich  ware  es 
zu  spat,  Schuldige  zur  Verantwortung 
zu  ziehen.44 

Dazu  der  f,Vorwarts,,: 

,,Das  ist  zweifellos  richtig,  und 
zwar  nicht  bloB  in  dem  Spezialfall 
Rumanien  . 


(Vom  Zufcunfligen. 

,,Von  dem,  was  der  Mensch  sein 
sollte,  wissen  auch  die  Besten  nicht 
viel  Zuverlassiges,  von  dem  was  er  ist, 
kann  man  aus  jedem  etwas  lernen“ 
(Lichtenberg,  Aphonsmen)  — und, 


so  konnte  man  hinzusetzen,  was  er 
gewesen , darum  kiimmern  sich  alle 
am  eifrigsten.  Gewesenes,  Bestehen- 
des,  Zukiinftiges:  Noch  nie  sind  aller 
Augen  mit  solcher  Spannung  gleich- 
zeitig  zwischen  diesen  drei  Richtungen 
hin  und  her  geirrt,  wie  gerade  jetzt. 


Glossen 


Ml 


Das  neunzehnte  Jahrhundert  hatte  gibt  an  etwas  mdglicherweise  einmal 
mit  einer  idealiftifchen  Stromung  dewefenes , der  diirfte,  wenngleich  zu- 
eingesetzt,  die  nach  dem  groBen  Zu-  nachst  noch  ganz  zaghaft,  auch  an  das 
sammensturz  erst  jenseits,  dann  dies-  moghcherweise  einmal  — ^Werdende 
seits  des  Rheins  neue  Krafte  gewann  sich  hingeben,  wenn  irgendwelche 
durch  die  Hingabe  an  Zufc&nftiges.  Wandlungen  in  der  Gegenwart  ihm 
Bald  glaubte  man  dem  fernen  Ziele  dies  wieder  begehrenswert  machen. 
nahe  gekommen  zu  sein,  und  statt  Ahnlich  nun  wie  vor  einem  Jahr- 
dieses  von  neuem  weiter  hinauszu-  hundert  Revolution  und  Krieg  den 
stecken,  richtete  sicb  die  ermiidende  AnstoB  gaben  zur  Neuorientierung  der 
seherische  Kraft  auf  immer  naher,  Grundtendenzen,  so  erfolgt  auch  jetzt 
aber  nicht  immer  tiefer  Liegendes.  eine  Ablenkung  von  der  einseitig  iiber- 
So  kennzeichnet  die  Konzentration  wiegenden  Beachtung  und  Schatzung 
der  Aufmerksamkeit  auf  das  Beste - der  Vergangenheit.  Die  Un wieder- 
fiend e die  folgende,  die  materia  b ft /•  bringlichkeit  alles  Friiheren,  die  Ver- 
fcbe  Richtung,  — eine  Zeit,  in  der  ganglichkeit  auch  des  muhsam  Kon- 
keine  oder  nur  ein  MindestmaB  wert-  servierten,  die  Nutzlosigkeit  alles  hin- 
regulierender  Normen  anerkannt  wur-  ter  der  Gegenwartsschwelle  Zurlickge- 
den,  die  iiber  die  Zeit  hinaus  zu  grei-  lassenen  wird  erschreckend  klar.  Im 
fen  erlaubt  hatten.  SchlieBlich  aber,  Gegensatz  dazu  steigt  alles  Gegenwar- 
seit  dem  Historismus  gegen  Ende  des  tige,  selbst  kleinste  Quantitaten  eines 
Jahrhunderts,  hat  sich  die  Vorliebe  irgendwie  Vorhandenen  und  minimale 
dem  Gewefenen  zugewandt,  vielleicht  Bruchteile  nutzbar  zu  machender  Krafte 
um  dort  solche  Normen  wieder  zu  fin-  auBerordentlich  im  Wert;  aber  am  lei- 
den,  die  iiber  das  so  und  nicht  anders  denschaftlichsten  richtet  sich  der  Blick 
sein,  iiber  die  brutale  Realitat  alles  auf  die  durchaus  nicht  mehr  mutmaB- 
materiell  Gegenwartigen  hinwegheifen  lich  sichere,  vielmehr  fragwiirdig  ge- 
konnten.  Dieser  Cberschatzung  der  wordene  Zukunft.  Die  unbegrenzten 
Vergangenheit,  dieser  Sentimentalitat  Moglichkeiten  des  Schlimmen,  das  sie 
stehen  wir  noch  nahe,  ihr  unterliegen  birgt,  sollen  einigermafien  aufgewogen 
heute  noch  die  meisten.  Ein  urspriing-  werden  durch  neue,  gleichfalls  ver- 
lich  verstandliches  Streben  nach  nick-  starkte  Moglichkeiten  des  Guten. 
wartigerOrientierung,  nachBestarkung  Darauf  also  zielt  dasWollen,  spannt 
im  eigenen  Schaffen  ist  hier  zum Selbst-  sich  die  Sehnsucht : Noch  Kraftvolleres 
zweck,  ja  zu  einer  Art  von  Fetischis-  und  doch  Milderes,  Hoheres,  das  doch 
mus  geworden,  durch  den  der  Blick  tiefer  eingebunden  ist,  Reineres,  Un- 
fur die  Gegenwart  und  mehr  noch  fur  verlierbares  zu  gewinnen.  Und  nicbt 
alles  Zukiinftige  getriibt  werden  muB.  mehr  sich  abzufinden  mit  der  „Reali- 
Hier  aber  beriihren  sich  die  Extreme,  tat“  der  Dinge,  auch  sich  nicht  genii- 
es  schlieBt  sich  der  Kreislauf  der  Mog-  gen  zu  lassen  an  der  bescheidenen 
lichkeiten  in  einer  unteren,  machtigen,  Gleichwertigkeit  mit  einem  Friiheren. 
unsichtbaren  Kulmination  der  Ge-  So  ist  es  denn  die  verachtlichste 
stirne.  Fur  den,  der  sich  seelisch  hin-  Gesinnung,  die  da  spricht:  Es  ist  nun 


V 


Glossen 


einmal  so  . . . Und  am  verderblichsten, 
Mut  lahmend  und  Hoffnungerstickend 
das  besanftigende  Floten  des  Hirten, 
der  da  denkt:  so  muB  es  bleiben,  denn 
es  ist  immer  so  gewesen. 

Vergessen  ist  fur  den,  der  empor- 
fliegen  will,  was  frtther  da  war.  Not, 
Tod  und  Verderben,  die  ihm  bange 
machen  konnten.  Immer  kleiner  wird 
unter  ihm  das,  was  da  ist,  riesengroB 
aber  offnet  sich  vor  ihm  das  unbe- 
grenzte  gestaltlose  Reich,  — das  Meer 
der  Moglichkeiten. 

Das  sind  die  seligsten  Gefiihle 
unserer  Zeit.  GewiB  sind  Umkehr, 
Abstieg  und  Landung  — auf  dem  festen 
Boden  der  Gegenwart  — immer  wie- 
der  notig.  Aber  so  sehr  auch  die  Zu- 
riickgebliebenen,  die  Bedenklichen, 
dann  aufatmen  mogen,  — was  ihnen 
den  Emporgehobenen  wieder  nahe 


bringt,  ist  doch  immer  nur  das  Zuge- 
standnis  an  die  Unzulanglichkeit,  an 
die  Unmoglichkeit  der  Verwirklichung 
in  einem  Zug,  von  einem  einzelnen. 
Nein,  alle  miissen  wollen  und  es  immer 
von  neuem  versuchen. 

Und  wer  e*was  weifi  ,,von  dem, 
was  der  Mensch  sein  so!lte“,  wer  es 
klarer  sieht  und  eindringlicher  sagen 
kann,  der  verkunde  es  laut,  jetzt  da 
alles  lauscht  und  jeder  hofft,  heute, 
da  viele  sich  an  die  Stirne  greifen  und 
alle  kleinlichen  Gedanken  und  engen 
Bedenken  wegscheuchen.  — Ent- 
schliefit  euch  heute,  damit  nicht  mor- 
gen vielleicht  schon  der  kaum  verjagte 
Schwarm  des  Alltaglichen  von  euch 
Besitz  genommen  hat,  der  Staub  des 
Gewesenen  eure  Seele  wieder  bedeckt. 

after  J2.  buffer-  ^Wuficow. 


„Vom  cfcfiafi wer 6 der 

Gedanken* . 

Der  Kritiker  vergesse  niemals,  daB 
er  nur  die  <S ntstelfungen  des  Voll- 
kommenen  vemichten  kann;  er  be- 
findet  sich  in  jedem  Fall  dem  Voll- 
kommenen  gegeniiber.  Aber  wie  auch 
die  strahlende  Reinheit  erfahrungs- 
gemaB  immer  bereits  leise  gefarbt 
ist;  wie  der  ideale  Punkt  sich  in 
seiner  Verwirklichung  sofort  aus- 
dehnt  und  hochstens  als  Zeichen  den 
eigenthchen  Punkt  bedeutet;  so  ist 
das  eigentlich  Vollkommene  allent- 
halben  zwar  vorhanden,  aber  nur  als 
Gleichnis,  als  Bedeutung,  als  Ober- 
setzung  aus  der  vo’llkommenen  Idee 
in  die  sie  verwirklichende  Erscheinung; 
und  diese  Interpretation,  eigentlich 


niemals  restlos,  me  besser  als  nur 
gleichsam  gelingend,  kann  sehr  fehler- 
haft  sein  und  bedarf  stets  des  wach- 
samen,  priifenden,  ratenden  und  heU 
fenden  Kritikers.  Sogar  der  soge- 
nannte  Schund  bedeutet  das  Voll- 
kommene selber,  aber  er  bedeutet  es 
miserabel. 

Schleich  (Carl  Ludwig;  S.  Fischer, 
Verlag,  Berlin)  iibersetzt  weder  gut 
noch  schlecht.  Seine  Sprache  ist  die 
Prosa  eines  Fachmannes,  eines  Arztes, 
welchem  Philosophic  und  Poesie  nur 
zu  rednerischem  Schwunge  verhelfen. 
Wenn  der  Schatten  des  Pegasus  auf 
seinem  Kameraden  von  der  andem 
Fakultat  rastet  — ein  nachdenklich 
stimmender  Anblick! 

Dieser  beriihmte  Physiolog  ist  kein 
Materialist.  Er  ist  besonnen  genug. 


Glossen 


179 


das  Instrument,  speziell  das  Gehirn, 
nicht  fiir  den  Instrumentenmacher 
und  -benutzer  zu  halten.  Das  Gehim 
ist  kein  Wille;  wohl  aber  vermittelst 
einer  Art  Muskulatur,  deren  Obungs- 
fahigkeit  Schleich  nachzuweisen  sucht, 
dem  Willen  unterstellt.  Schleich  ist 
davon  durchdrungen,  dafi  die  Welt 
nur  die  Manifestation  der  schopferi- 
schen  Weltseele,  also  der  eigenen  im 
allerinwendigsten  Erleben,  im  ent- 
menschten,  gottlichen  Sinne  ist;  leider 
findet  er  diese  absolute  SelbstgewiB- 
heit  nur  okkult  und  theosophisch: 
,,hier  verlischt  der  Strahl  der  Wissen- 
schaft."  Aber  im  Gegenteil,  ohne 
diese  prinzipielle  Selbstvergewisserung 
existiert  die  Wissenschaft  nur  im 
Rohzustande,  ohne  alle  philosophische 
Kultur  der  innersten,  iibermensch- 
lichen,  kosmischen  Selbstbesinnung. 

Das  Gehirn  besteht  aus  Halften,  die 
durch  breite  Kabel  verbunden  sind; 
und  Schleich  sucht  es  wahrscheinlich 
zu  machen,  dafi  die  linke  Halfte  niich- 
tern  wahrnimmt,  die  rechte  phantasie- 
voll  dariiber  reflektiert;  daB  sie  sich 
gegenseitig  beobachten  und  regulieren ; 
und  endlich  wieder  links  Begriff  und 
Wort  sich  als  Fazit  ergeben;  das  Ver- 
bindungskabel  ermoglicht  den  Wech- 
selstrom.  DaB  Gegenseitigkeit,  ver- 
mittelst  eines  Kabels,  obwalte,  ist 
evident.  DaB  aber  diese  Gegenseitig- 
keit sich  analog  verhalte  wie  Pansa  und 
Quixote  oder  Mephistopheles  und 
Faust,  scheint  uns  problematisch.  Alle 
Gegenseitigkeit  polarisiert  sich  aus 
dem  Identischen  und  deutet  von  ihren 
Polen  aus  darauf  zuruck.  Daher 
ist  anzunehmen,  daB  verborgener * 
weise  das  rechte  Him  ebenso  funk- 
tioniere  wie  das  linke;  und  umgekehrt. 


In  der  Tat,  waren  Quixote  und  Pansa 
nicht  prinzipiell  identisch  (welche 
Identitat  allerdings  nicht  vorstellbar, 
sondern  eben  der  Vorstellende  selber 
ist;  eben  sie  ist  die  Beobachterin  beider 
Gehirnhalften),  wenn  sie  auch  in  der 
Erscheinung  extrem  kontrastieren,  so 
konnten  sie  gar  kein  gegenseitiges  Ver- 
haltnis  eingehen.  Also  beobachtet  auch 
nicht  die  eine  Gehirnhalfte  die  andere, 
sondern  ihre  Identitat,  die  Schopferin 
ihrer  Gegenseitigkeit  beobachtet  beide. 
Das  schopferisch  Identische  offenbart 
sich  in  der  Form  eines  Widerstreits,  der 
den  noch  seine  eigene  Identitat  bedeutet . 
Vor  demTribunal  dieser  sind  die  Fausts 
und  Quixotes  nicht  edler,  idealer  als  die 
Pansas  uud  Mephistophelesse;  sie  sind 
nur  deren  Umdrehungen,  Obertreibun- 
gen  ins  andre  Extrem.  Und  erst  ihre 
Identitat  ist  die  echte  Idee,  abzielend 
auf  das  echte  Ideal. 

Wenn  Schleich  nun  konstruiert : 
entweder  geht  es  von  links,  der  sinn- 
lichen  Wahrnehmung,  nach  rechts, 
zur  Phantasie,  und  von  dieser  nach 
links  zuruck,  zum  Worte;  oder  von 
rechts  nach  links,  aber  von  links  dann 
sofort  zur  Tat  des  Willens,  zur  Hand- 
lung  ; wenn  er  zur  Stiitzung  dieser  Drei- 
heitskonstruktion  Kant  und  Mauthner 
zusammen  aufbietet;  so  beginnt  unser 
Langmut  ungeduldig  zu  werden.  Es 
handelt  sich  vorallem  um  den  identisch 
Handelnden,  und  dieser  betatigt  sich 
evidentermafien  in  einem  Gegensatz 
der  Himhalften,  der  Augen,  Ohren, 
Nase,  Sinne,  Arme,  Beine  etc.  Die 
Zahl  drei  bedeutet  ohne  Vorzeichen 
gar  nichts;  ihr  Vorzeichen  ist  aber 
entweder  plus  oder  minus.  Wer  nun 
eine  Dreiheit  konstruiert,  ohne  darauf 
zu  achten,  daB  er  eine  dreifach  sich 


180 


Glossen 


wiederholende  Gegenseltigkeit  vor  sich 
habe,  ist  unachtsam.  Auch  Dimension 
ist  bereits  in  sich  gegenseitig ; und  Drei- 
dimensionalitat  ist  dreierlei  Gegen- 
seitigkeit.  Der  ganze  Text  des  Ver- 
fassers  (und  beilaufig  auch  seines 
Leibphilosophen  Mauthner)  bedarf 
einer  Oberpriifung  an  der  Hand  der 
identischen  Idee,  welche  sich  differen- 
ziert,  unterschiedlich,  kontrastierend, 
gegenseitig  widerstreitend  offenbart, 
sei  es  nun  sinnlich,  phantastisch  oder 
auf  andere  Weise  tatkraftig  wirksam. 
Unterscheiden  bedeutet  wesentlich  im- 
mer:  kontrastieren,  gegenseitig  ma- 
chen,  entzweien;  ob  man  auf  3 oder 
88  Weisen  entzweie,  ist  zufallig.  Der 
vermeintliche  Philosoph  Mauthner 
idenfiziert  Denken  mit  Sprechen, 
Logik  mit  Grammatik,  welches  aber 
nur  komisch,  nicht  philosophisch  ist. 
Zwischen  Kant  und  Mauthner  ist  ein 
Unterschied  wie  zwischen  dem  Kri- 
tiker  der  Sache  selbst  und  dem  Kri- 
tiker,  der,  das  Zeichen  fur  die  Sache 
haltend,  mit  seiner  ganzen  Kritik  nur 
das  Zeichen  trifft:  erne  bestechende 
schemphilosophische  Leistung,  welche 
bestenfalls  philologisch  verdienstlich 
ist.  Von  Kant  versteht  aber  Schleich 
noch  weniger  als  Mauthner.  Natur- 
gesetze  sollen  nach  Schleich  ,,eme 
Gnade  der  Vorsehung4*  sein.  Aber  so 
denkt  kein  Denker:  Beten,  so  wunder- 
voll  riickstandig  es  sein  mag,  ist  noch 
kein  Denken,  nicht  einmal  populares. 
Die  Idee  ist  kein  Gegensatz  lhrer  Ma- 
terialisation, die  Seele  kein  Gegensatz 
des  Leibes,  sondern  sie  materialisiert 
sich  polar;  inkarniert  sich  in  emem 
Widerstreit,  — z.  B.  beider  Gehirn- 
halften.  Und  dieser  oft  so  qualvolle 
Widerstreit  schlichtet  sich  restlos  allein 


unter  dieser  Bedmgung,  daB  die  Idee, 
daB  die  Seele  selber  sich  rein,  identisch 
rein  vom  Widerstreite  ihrer  eigenen 
Verwirklichung  halt,  — nur  so  wird 
der  Widerstreit  zur  Harmonie,  zum 
widerspiegelnden  Ebenbild  der  see- 
lischen  Reinheit  von  aller  Differenz. 
Trotzdem  Schleichs  Buch  eigentlich 
dem  Problem  gewidmet  ist,  wie  man 
mit  eigenem  Willen  auf  die  Korrektur 
der  Polaritat  hinwirken  konne,  faBt 
er  dieselbe  doch  gleichsam  als  gottge- 
geben  fatal  auf:  ,,Und  so  steht  wohl 
am  Ende  das  Konto  von  Lust  und 
Leid  bei  uns  alien  ganz  gleich."  Ei  ei ! 
Wie  harmonisch,  saturiert,  abgeklart! 
Aber  ich  bitte  Sie  flehentlich:  ohne 
Dero  allerhochste  Willensanstrengung 
steht  es  schief . Merken  Sie  denn  nicht, 
Vertrauensseliger,  daB  das  Konto  nur 
stimmt,  wenn  der  Kontorist  stimmt? 
Naturgesetze,  Polaritaten,  Inkarna- 
tionen  hangen  vom  eigensten  Willen, 
allerdings  in  seiner  religios  gottlichen, 
weltprinzipiellen,  nicht  etwa  mensch- 
lich  - allzumenschlichen  Wirksamkeit 
ab.  Sie  verbessern  die  Welt,  wenn 
Sie  sic6  verbessern,  d.  h.  sich  inner- 
lichst  von  aller  Gebrechlichkeit  aus- 
heilen.  Alles  AuBen  ist  die  Wirkung 
des  eigenen  Innern.  Wer  dieses  allzu- 
menschlich  kultiviert,  anstatt  es  rein 
zu  vergottlichen,  schreibe  sich  die 
Gebrechen  des  AuBens  aufs  eigene 
Konto.  Probieren  Sie  sich  einmal 
selbst  auf  erhabenste  Manier,  mit 
unmenschlich  freiem  Willen  — und 
passen  Sie  auf,  warten  Sie  ab,  wie  dann 
das  Aufien  Iangsam,  aber  sicher  den 
Herrn  spurt  und  sich  ihm  unterordnet, 
wie  dem  Orpheus  das  sonst  tote  Ge- 
stein.  Meistenteils  nimmt  sich  das 
eigene  Selbst  als  Geburtstagsgeschenk 


Glossen 


181 


hin.  Willkiir  ist  aber  nicKt  nur,  wie  sind  alle  ein  biBchen  Jesuiten44;  so  so. 
Sie  vermuten,  ein  Einflufi,  der  auch  Interessante  Konfession!  Der  „Ge- 
dort  noch  wirkt,  wo  er  gar  nicht  mit-  samtwille4*  ist  aber  nicht  „ein  biB- 
zuspielen  scheint.  Sondern  der  freie  chen"  Jesuit:  was  dieser  Gott  tut,  ist 
Wille  ist  der  liebe  Gott  selber  in  eigener  wohlgetan ; er  braucht  kein  gewisses 
Person,  der  Schopfer  der  Welt,  wel-  Augenzwinkern,  keine  „zwei  Geleise.44 
chem  diese  aber  erst  willfahrt,  wenn  Sei  die  Zunge  doppelt;  wenn  aber  der 
er  die  Menschlichkeit  von  sich  abtut,  Wille,  der  sie  sprechen  laBt,  kein 
sie  zur  Welt  rechnet,  sie  aus  sich  Jesuit,  sondern  gottlich,  ,,Ge$amt- 
evakuiert,  expropriiert.  Probieren  Sie  wille* 4 ist,  so  reimt  sich  die  eine  Zunge 
diese  Kultivierung  des  eigenen  Wil-  mit  der  andern  zum  Gedicht  und  Ein- 
lensl  Sie  wird  in  fiinf  Jahrzehnten  klang,  und  kein  biBchen  Jesuitismus 
reifer  fruchten  als  fiinf  Jahrtausende  ist  notig.  Sie  wollen  I hr  Ich  freudig 
anderer  Kulturen.  Sie  wiirde,  Kindern  einer  Idee  unterordnen,  event,  sogar 
in  der  Schule  beigebracht,  dergestalt,  dem  obersten  Kriegsherrn.  Wie 
daB  diese  sich  selber  nicht  mehr  schade,  daB  ein  sich  unterordnendes 
ordinar,  daB  sie  Gott  nicht  aufien,  ,,Ich4‘  gar  kein  Ich,  sondern  etwa  nur 
sondern  in  sich,  daB  sie  sich  gottlich  ein  Menschenleib  ist:  das  Ich,  das 
kennen  lernten,  das  ganze  gefalschte  Selbst,  der  Wille  ist  die  Freiheit 
Weltkonto  berichtigen  und  die  Welt  selber,  herrscht  unfehlbar,  ist  gottlich, 
selber  zum  Stimmen  bringen.  Es  ist  nicht  menschlich;  und  irgend  einen 
verdriefilich,  wenn  so  tiefe  Bucher  sich  ihm  unterordnenden  Menschen 
wie  das  Ihrige,  Professor,  so  ahnungs-  statt  eines  Gliederspiels  fur  ein  ,,Ich4‘ 
los  und  dennoch  mit  philosophischer  zu  halten,  ist  eine  wegen  ihrer  Ge- 
Ambition  geschrieben  werden.  Wie  brauchlichkeit  nicht  minder  grobe  Ver- 
erleben  Sie  den  Willen?  — ,,AIs  ein  wechslung.,,AusloschungdesEgoismus 
Kombinationsspiel  zwischen  bewuBter  zugunsten  der  Erhaltung  der  Nation44 
und  unbewuBter  Aktion.44  Das  be-  — aber  Sie  denken  etwas  andres  als  Sie 
weist  aber,  daB  Sie  ihn  nur  gebrochen  sprechen:  Sie  meinen  offenbar  die  Er- 
erleben,  daB  Ihr  Wille  sich  zum  Teil  setzung  des  allzumenschlichen,  des 
als  gewollt  empfindet,  kein  ganzer  Pseudoegoismus  durch  den  echten  des 
Wille,  nicht  individual  ist;  halb  zieht  ..Gesamtwillens*4,  der  aber  dann  auch 
es  ihn,  halb  sinkt  er  hin;  halb  anima-  noch  dem  nur nationalen  iibergeordnet 
lisch,  halb  vegetativ,  allzumenschlich.  ware.  — Genug,  genug. 

Dabei  aber  setzen  Sie  den  individua-  Ich  bin  von  Ihrem  Buche  so  ent- 
len,  den  „Gesamtwillen*4  zwar  an,  ziickt,  wie  von  der  Kopie  eines  wunder- 
aber  nicht  wie  ein  Denker,  sondern  vollen  Originals.  Es  ist  keine  gute, 
wie  ein  Betender,  ein  Priester,  ein  aber  auch  keine  schlechte  Kopie;  sie 
Glaubiger.  Oh  mein  Herr,  warum  erinnert,  zugleich  nachbildend  und 
schreiben  gerade  Sie  Gebetbiicher?  entstellend,  an  das  Urbild.  Daher 
Glauben  Sie,  daB  der  ,,Gesamt-  lohnt  sich  der  Anblick,  sogar  fur  den 
wille*4  Patriot  oder  Kosmopolit  sei?  Kenner  des  Originals;  die  Vergleichung 
Sie  lassen  es  unklar  — warum?  „Wir  emport  amusant.  cf.  ‘Fried/dnder . 


Glossen 


<Ilotizen. 

Die  ‘ffiiiarbeHer  der  ‘Weifien  *Bfdt • 
ter  zeichnen  ihre  Arbeiten.  Wenn  in 
einem  AufsatzWendungen  vorkommen, 
die  diesen  oderjenen  Leser  wundern,  so 
wird  er  sich  am  besten  an  den  Ver- 
fasser  halten.  Der  Herausgeber  fiihlte 
sich  bisher  nicht  veranlafit,  einen  Bei- 
trag,  der  ihm  irgendwie  wertvoll  schien, 
oder  dessen  Verfasser  vielleicht  mehr 
versprach,  als  er  bisher  hielt,  mit  dem 
in  unsern  Zeitungen  iiblichen  redak- 
tionellen  Schnorkel  zu  versehn:  ,,ohne 
uns  im  einzelnen  die  Anschauungen 
des  Verfassers  zu  eigen  zu  machen**  . . . 
Wenn  es  sich  iiberdies  um  eine  Per- 
sonlichkeit  mit  bekannter  Pragung 
handelt,  so  ware  eine  derartige  Ver- 
wahrung  vor  dem  Leserkreis  der 
Weifien  Blatter  mehr  als  eine  Ge- 
schmacklosigkeit.  Es  kommt  auf  die 
Gemeinsamkeit  des  Zieles  an.  Das 
Ziel  soil  deutlich  bleiben,  eine  Ge- 
meinschaft  sichtbar  sein.  Fur  wel- 
chen  Weg  er  sich  entscheide,  mu(!  der 
Leser  mit  sich  abmachen.  Die  Weifien 
Blatter  sind  keine  Litfafisaule,  wo  jeden 
Monat  ein  und  dieselbe  Meinung  im 
einen  und  selben  Wortlaut  aufgezogen 
wird.  Schliefilich : begriindete  Proteste 
werden  gern  entgegengenommen  und 
abgedruckt.  — 

Das  Gebet  „Gelobt“  der  vorigen 
Nummer  ist  von  Franz  von  Assisi, 
nicht,  wie  irrtumlich  angegeben,  von 
Augustin.  — 

c V/Zomas  (TKann  verteidigt  im  No- 
vemberheft  der  „Neuen  Rundschau*4 
des  weitern  die  schone  Seele  seines 
..Friedrichs**,  die  so  sehr  seine  eigene 
ist,  wie  Eichendorffs  „Taugenichts“, 


— den  er,  der  holde  Schminkkiinstler, 
zum  Ausgangspunkt  seiner  morbiden 
Betracbtung  nimmt  — mit  Tonio 
Kroger  und  Aschenbach  nicht  einen 
Hauch  gemeinsam  hat.  Was  auch  im- 
mer  Thomas  Mann  schreibe,  welchen 
Gegenstand  er  zu  behandeln  vorgebe, 
er  spricht  nur  dasselbe  Plaidoyer  fur 
seine  privateste  Angelegenheit,  deren 
Name  wechselt,  ohne  dafi  ihr  Inhalt 
sich  anderte.  Er  ist  ein  unruhiger 
Sentimentaler,  der  zu  seiner  Selbst- 
behauptung  den  Aufwand  seines  gan- 
zen  grofien  bosen  Intellekts  nicht  ent- 
behren  kann.  Als  die  Literatur  noch 
wichtiger  schien,  hauste  er  ver- 
gnugt  in  der  impotenten  Melancholie 
seiner  Lieblingsfiguren,  typischen 
Literaten,  nicht  als  Literaten,  und 
sehnte  sich,  nicht  minder  genufisuch- 
tig,  wenn  auch  weniger  iiberzeugend, 
nach  den  ,,Blonden,  hellaugigen44.  den 
..Starken*'  und  ,,Gesunden“,  was  zu- 
sammen  die  ..tragische  Ironic*4  ergab, 
auf  die  er  von  wohlwollenden  Kriti- 
kern  geeicht  wurde.  Als  der  Krieg 
naher  kam,  wechselte  er  — nicht  das 
Thema,  aber  die  Namen.  Tonio  Kro- 
ger und  Aschenbach  erhielten  Fried- 
rich II.  zum  Bruder;  und  als  dann  die 
deutschen  Heere  gen  Paris  marschier- 
ten,  sprach  er  ohne  Umschweife  von 
der  ..deutschen**  Seele  und  fragte  sie, 
die  Seele:  „Ist  nicht  der  Friede  das 
Element  der  zivilen  Korruption,  die 
ihr  amiisant  und  verachtlich  scheint?'* 
In  seinem  letzten  Aufsatz  dreht  er 
sich,  wie  gewohnt,  um  einen  St&nd- 
punkt,  den  er  nicht  hat.  Er  dreht  sich 
mit  der  gewohnten  Oberlegenheit. 
Anschauungen,  die  er  bekampft.  wer- 
den karikiert.  wohingegen  seine  eige- 
nen  Meinungen  daran  zu  erkennen 


Glosscn 


183 


sind,  daB  er  sie  nicht  kankiert.  Viel- 
mehr  laBt  er  sie  genau,  wie  er  sie  in 
einem  Leitartikel  oder  einer  andem 
,, Philosophic  des  Krieges44  gefunden 
hat.  Thomas  Mann  dachte  und  schrieb 
von  jeher  in  Antithesen ; er  hat  einiges 
von  den  Englandern  und  das  iibrige 
von  den  Franzosen  gelernt.  Jetzt,  wo 
er  eine  , Jntellektualisierung,  Literari- 
sierung,  Radikalisierung44  Deutsch- 
lands.  , .seine  .Vermenschlichung4  im 
westlich-politischen  Sinne  und  seine 
Enthumanisierung  im  deutschenMko  lu- 
men sieht.  kurz,  die  ..Demokratisie- 
rung  Deutschlands,  — was  alles  man 
wohl  in  das  Wort  Entdeutschung  nicht 
libel  zusammenfaBt44,  jetzt  entwickelt 
er,  in  soviel  Antithesen,  daB  sie,  mit 
Flaubertscher  Sorgfalt  gruppiert,  ein- 
ander  aufheben,  Gedanken,  fiir  die 
Oskar  A.  H.  Schmitz  nicht  erst  die 
Hilfe  des  Kriegserlebnisses  brauchte, 
um  damit  sein  kulturkonservatives 
Programm  zu  machen  . . . Ein  artiger 
Satz  sei  zitiert,  der  zeigt,  daB  Thomas 
Mann  nicht  etwa  mit  einer  Konjunk- 
tur  schwamm.  als  er  aich  iiber  den 
Frieden  und  den  Krieg  so  stark  und 
gesund  ausliefi:  ,,Aber  Rolland  muBte 
nach  Genf  gehn  anlaBlich  des  be- 
scheidenen  MaBes  von  Gerechtigkeit, 
das  er  in  Au-dessus  de  la  Mel£e  be- 
kundete,  wahrend  ich  beinahe  nach 
Genf  hatte  gehn  miissen  wegen  des 
auBerordentlich  bescheidenen  MaBes 
von  Chauvinismus,  das  ich  in  .Fried- 
rich und  die  groBe  Koalition4  an  den 
Tag  legte." 

Man  lese  den  Aufsatz.  Dann,  in 
der  gleichen  Nummer,  die  MChronik‘* 
von  £Junius.  Dort  steht : „Das  Schreck- 
mittel,  namlich  der  Vorwurf,  daB  man 
gegen  den  Kreislauf  der  eigenen  Ge- 


schichte  sich  verwestliche  und  bluts- 
fremde  Einrichtungen  ins  deutsche 
Leben  einschleppe,  ist  heute  schon 
mehr  als  dumm.44  — 

CJ7(armettj  hat  endlich  den  letzten 
Schritt  getan  und  eine  Religion  ge- 
griindet.  In  einem  Manifest,  natiirlich, 
seinem  zwanzigsten  oder  hundertsten, 
ich  weiB  es  nicht.  Zu  dessen  Ver- 
offentlichung  hat  er  auch  gleich  eine 
neue  Zeitschrift  gegriindet,  die  ..Italia 
futurists44  heiBt  und  in  Florenz  er- 
scheint. 

Es  ist  Mdie  Religion  der  Schnellig- 
keit“.  Diese  „neue  moral!  sche  Reli- 
gion der  Schnelligkeit"  hat  der  ..groBe 
Befreier  Krieg4 4 geboren.  Man  muB 
wissen,  daB  Marinetti  als  freiwilliger 
Radfahrer  in  der  italienischen  Armee 
dient. 

„Die  christliche  Moral44,  erklart  Ma- 
rinetti, ..bewahrte  die  physiologische 
Struktur  des  Menschen  vor  den  sinn- 
lichen  Ausschweifungen.  Sie  duckte 
seine  Triebe  und  hielt  sie  im  Gleich- 
gewicht.  Die  futuristische  Moral  wird 
den  Menschen  vor  der  Zersetzung 
durch  die  Langsamkeit,  die  Erinnerung, 
die  Analyse,  die  Ruhe  und  die  Ge- 
wohnheit  bewahren.  Die  durch  die 
Schnelligkeit  verhundertfachte  mensch- 
liche  Energie  wird  die  Zeit  und  den 
Raum  beherrschen.44  Die  eigentliche 
Gottheit  entdeckt  er  in  der  „geraden 
Linie44.  Die„Sportsleutesinddie  ersten 
Katechumenen  dieser  neuen  Religion, 
die  bald,  wie  zu  erwarten,  die  Zer- 
storung  der  Hauser  und  Stddte  zur 
Folge  haben  wird,  an  deren  Stelle 
Treffpunkte  fiir  Automobile  und  Flug- 
zeuge  treten  werden.44  Der  Sitz  der 
Gottheit  sind:  ,,die  Speisewagen  (mit 


32-Vol.  IU/2 


V.7.7.V 


184 


Gloss  en 


Schnelligkeit  essen),  die  Bahnhofe  des  deutscher  Nachschriften  im  selben  Stil 
amerikanischen  Westens,  wo  die  Ziige  befurchten  miiBten.  Das  ist  aber  auch 
mit  einer  Schnelligkeit  von  140  Kilo-  der  einzige  Grund,  daB  sie  ausbleiben. 
metern  in  der  Stunde  durchfahren  Die  Ohren,  die  bei  uns  filr  diese  Art 
und,  ohne  anzuhalten,  Wasser  und  Zirkusmusik  empfanglich  sind,  werden 
die  Postsacke  aufnehmen.  Die  Briicken  sich  spitzen.  Ihrem  Besitzer  wird  nur 
und  Tunnels.  Der  Opernplatz  in  Paris,  der  Mut  fehlen  zu  tanzen.  Es  sei  denn, 
Der  Strand  in  London.  Die  Automobil-  daB  sich  einer  findet,  der  der  Musik 
platze.  Die  kinematographischen  Films.  Marinettis  einen  pazifistischen  Text 
Die  Funkenstationen.  Die  groBen  unterlegt.  Mehr  Erfolg  hat  vielleicht 
Rohren,  die  das  Alpenwasser  in  Saulen  das  zweite  Manifest  in  der  ,, Italia 
hinausschleudern,  um  der  Luft  die  futurista44.  Es  ist  einer  „futuristischen 
elektrische  Kraft  zu  entnehmen.  Die  Wissenschaft44  gewidmet,  die  bisher 
grofien  Pariser  Schneider,  die  durch  unter  dem  Namen  Spiritismus  be- 
die  schnelle  Erfindung  der  Mode  die  kannt  war.  — 

Leidenschaft  fur  das  Neue  und  den 

HaB  gegen  das  Gekannte  erzeugen.  Grnie“ , eine  neue  literarische 

Die  neusten  und  aktiven  Stadte  wie  Zeitschrift,  die  Leo  Schidrowitz  in 
Mailand,  die,  wie  die  Amerikaner  Wien  herausgibt,  sollte  in  ihrer  nach- 
sagen,  den  ,, punch44  haben  (knapper  sten  Nummer  eine  Arbeit  von  Wede- 
genauer  Schlag,  mit  dem  der  Boxer  kind,  „Der  Oberfiirchtenichts44,  und 
seinen  Gegner  knock-out  setzt).  Die  eine  Komodie  von  Friedr.  Neubauer 
Schlachtfelder.  Dann : ,,Heuteherrscht  veroffentlichen.  Die  Zensur  f,auBerte 
eine  neue  Kriegsmoral.  Jede  Feigheit,  Bedenken44,  und  das  Heft  kann  nicht 
selbst  die  geringste,  jede  Toleranz  ist  eischeinen.  — 
ein  verruchtes  Vergehen.  Jede  Kritik 

ist  heute  Verrat.  Italiener!  uberall,  ‘Bofder  Olden  hat  ein  Jahr  lang  in 
bei  offentlichen  wie  privaten  Zusam-  Ostafrika  gekampft  und  ist  von  den 
menkiinften,  legt  alien  Schweigen  auf,  Englandern  gefangen  genommen  wor- 
die  nicht  ein  unbedingtes  Vertrauen  den.  Er  bittet  seine  Freunde  und  Be- 
haben  zu  Cadorna  und  der  italienischen  kannten,  ihm  zu  schreiben,  Zeitschrif- 
Kraft.  Knebelt  und  arretiert  alle  Quer-  ten  und  Bucher  zu  schicken  (aber 
treiber.44  nichts,  was  vom  Krieg  handelt!)  Seine 

Gliicklicherweise  geht  es  uns  zu  Adresse:  Prisoner  of  war,  Ahmed- 

schlecht,  als  daB  wir  das  Auftauchen  nagar  (Indien)  A camp.  4 sect. 


Fritz  Hoeber  * Das  Erlebnis  der  Zeii  und  die  W illensfreiheit  1 85 


Fify  fflceber: 

DAS  ERLEBNIS  DER  ZEIT  UND 

DIE  WILLENSFREIHEIT. 

EIN  VERSUCH  OBER  HENRI  BERGSONS  INTUITIVE 

PHILOSOPHIE. 

I. 

DAS  verflossene  Jahrhundert  der  Naturwissenschaften  und 
der  historischen  Einzelerfahrung  hat  unsere  Blickeabgelenkt 
von  den  grofien  schopferischen  Lebensvorgangen  in  ihrer  Ganz- 
heit  und  prinzipiellen  Unzerlegbarkeit.  Die  in  differenziertester 
Arbeitsteilung  forschende  Wissenschaft  haufte  unendliches  Tat- 
sachenmaterial  auf,  das  sie  kaum  noch  einheitlich  zu  beherrschen 
vermag,  es  sei  denn  durch  eine  quantitativ  riicksichtslose  Sche- 
matisierung,  die  sicb  nach  jeweiligen  praktischen  Zwecken  zu 
richten  hat.  Dafi  aber  solche  Art  der  ,,GesetzesbiIdung“  eine 
brutale  Verflachung  aller  Erkenntnis  des  lebendig  Seienden  be- 
deutet,  war  nicht  nur  dem  tieferdenkenden  Geisteshistoriker, 
dem  Freund  der  Kulturwissenschaften,  klar.  Auch  der  zur 
philosophischen  Kritik  neigende  Naturforscher  muBte  ohne 
weiteres  zugeben,  jene  hochgepriesenen  „Gesetze“  konnten 
bestenfalls  VerhaltungsmaBregeln  darstellen,  abstrahiert  aus 
einem  im  Vergleich  zu  der  Unermefihchkeit  der  Erscheinungen 
hochst  karglichen  Tatsachenmaterial.  Nur  so  lange  freilich 
diirften  sie  ihre  sehr  bedingte  Geltung  beanspruchen,  als  sie 
noch  durch  keine  unvorhergesehene  Ausnahme  iiberholt  seien. 

Wenn  es  vielleicht  den  praktischen  Naturwissenschaften  fiir 
ihre  spezifischen  Zwecke  trotzdem  gestattet  sein  mag,  aus  dem 
konkreten  Organismus  der  ineinander  verwobenen  Daseins- 


186  Fritz  Hoeber  • Das  Erlebnts  der  Zeit  und  die  WtUcnsfreiheit 


momente  bestimmte  abstrakte  Reihen  herauszulosen  und  diese 
ihrer  irrationalen  Qualitat  zu  entkleiden,  um  sie  dann  als  kon- 
stante  Posten  in  ein  voraussehbares  Rechnungssystem  einzu- 
setzen,  so  ist  dies  fur  die  tiefe  Erkenntnis  unserer  eigenen 
BewuBtseinsvorgange,  der  Tatsachen  der  lebendigen  mensch- 
lichen  Seele,  vollkommen  ausgeschlossen.  Denn  fiir  diese  gilt 
es,  unter  alien  Umstanden,  ihre  Wesenseigenschaften : der  unaus- 
gedehnten,  raumlich  nicht  darstellbaren  Intensitat,  der  unend- 
lichen,  gar  nicht  zu  beschreibenden  Mannigfaltigkeit  und  der 
innigsten  Durchdringung  ihrer  sich  niemals  wiederholenden 
Momente  untereinander,  treu  zu  bewahren.  Dennoch  haben 
gewisse  „Narren  der  Natur“,  wie  Shakespeare  einmal  vorahnend 
die  materialistischen  Rationalisten  bezeichnet,  auch  die  geheim- 
nisvollen  Vorgange  unseres  Seelenlebens  durch  die  Abstraktion 
quantifizierender  Analyse  zu  begreifen  und  zu  erklaren  gesucht: 
heute  will  die  sogenannte  experimentellePsychologiedie  eigent- 
liche  Intensitat  unserer  Gefiihle  durch  deren  meBbare  auBeren 
Impulse  zahlenmaBig  feststellen,  obwohl  die  Voraussetzung 
rationeller  konstanter  Beziehungen  zwischen  dem  intensiven 
Bewufitseinsvorgang  als  solchemund  seiner  extensivenAnregung 
aus  der  Auflenwelt  an  sich  bereits  falsch  ist. 

Die  philosophierende  Menschheit  von  dem  bosen  Bann  der 
psychologischen  Parallelitat  befreit  zu  haben,  ist  das  Verdienst 
des  franzosischen  Philosophen  Henri  Bergson*):  Er  steht  in 
einem  fundamentalen  Gegensatz  zu  der  praktisch  orientierten 
Naturwissenschaft  des  Materialismus,  d^r  Annahme  eines  bloB 
ausgedehnten  Seins  und  des  Positivismus,  der  zahlenmaBigen 
Darstellung  aller  Lebensvorgange.  Indem  Bergson  die  Psycho- 
logic tiefer  erfaBt,  als  das  ihre  fiir  die  Naturwissenschaft  schein- 

•)  Die  Werke  Henri  Bergsons  sind:  I.  Zeit  und  Freiheit.  Eine  Abhand- 
lung  iiber  die  unmittelbaren  BewuQtseinstatsachen.  2.  Schopferische  Ent- 
wicklung.  3.  Materie  und  Gedachtnis.  Essays  zur  Beziehung  zwischen 
Korper  und  Geist.  4.  Einfuhrung  in  die  Metaphysik.  5.  Das  Lachen. 
Essay  liber  die  Definition  des  Komischen.  — Die  franzosischen  Originale 
sind  bei  Felix  Alcan,  Paris,  erschienen;  deutsche  Obersetzungen  bei 
Eugen  Diederichs  in  Jena. 


Fritz  Hoeber  * Das  Erlcbnis  der  Zeit  und  die  Willens freiheit  187 

bar  rationale  Oberflache  ahnen  lafit,  dringt  er  zu  einer  ideali- 
stischen  Metaphysik  vor.  Als  deren  notwendige  Folge  erscheint 
die  prinzipielle  Freiheit  des  menschlichen  Willens,  ja  des  Willens 
der  ganzen  schopferischen  Entwicklung  iiberhaupt:  „Wir  sind 
frei‘  ‘,  so  sagt  Bergson  einmal,  „wenn  unsere  Handlungen  aus 
unserer  ganzen  Personlichkeit  hervorgehen,  wenn  sie  sie  aus- 
driicken,  wenn  sie  jene  undefinierbare  Ahnlichkeit  mit  ihr  haben, 
wie  man  sie  zuweilen  zwischen  dem  Kunstwerk  und  seinem 
Schopfer  findet.“  Damit  aber  hat  Henri  Bergson  der  durcb  die 
quantifizierenden  Naturwissenscbaften  entseelten  Natur  ibre 
Teleologie,  in  religiosem  Sinn  ibren  Gott,  wiedergegeben. 

AuBer  der  Lehre  von  den  unzerlegbaren  und  darum  auch 
nicht  vorausbestimmbaren  Tatsachen  des  BewuBtseins  hat  uns 
Bergson  noch  eine  andere  grundlegende  Erkenntnis  geschenkt, 
die  neue  Auffassung  des  Begriffes  der  Zeit : Kants  Erkenntnis- 
theorie  namlich  hat  die  Zeit  dem  Raumbegriff  einfach  koordi- 
niert.  Nachdem  seine  Kritik  die  dreidimensionale  Erschei- 
nungsform  des  Raumes  als  ein  „homogenes  Medium",  als  den 
in  sich  gleichformigen  und  indifferenten  Bereich  unserer  Wahr- 
nehmungen,  gekennzeichnet  hat,  schlieBt  sie  schlechtweg  auch 
auf  einen  analogen  Charakter  der  Zeit,  ohne  sich  weiter  mit  der 
doch  ganz  unvergleichlichen  Individual itat  dieser  Zeit,  die  fiir 
Kant  nur  „die  eindimensionale  Anschauungsform"  darstellt, 

abzugeben. 

Mit  wunderbarer  philosophischer  Intuition  hat  Bergson 
hierin  nun  die  Schwache  des  Kantischen  Systems  erkannt,  es 
aber  zugleich  in  schopferischer  Weise  fortgebildet : Kants  Auf- 
fassung der  Zeit  als  ein  homogenes  Medium  bedeutet  die  hete- 
ronome  Ubertragung  des  ausgedehnten,  qualitatslosen,  gleich- 
formigen Raums  auf  die  Zeit  oder  einer  ganz  indifferenten 
AuBenweltauf  die  innersten  Erlebnisse.  Die  Zeit  als  lebendige 
Elntwicklung  aber,  durchflutet  von  den  intensiven  Bewufitseins- 
vorgangen  der  menschlichen  Seele,  erscheint  gerade  unendlich 
qualitatsvoll,  von  absolutester  Heterogenitat : nur  intensiv  und 
dynamisch  ist  sie  zu  erfassen,  der  quantifizierenden  Analyse 
der  „Wissenschaft"  weit  unzuganglicher  als  der  intuitiv  nach- 


V.7.7.V 


I 88  Fritz  H other  * Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreihcii 

erlebenden  Poesie!  Somit  steht  die  Zeit  Bergsons  als  reine 
Qualitat  in  exkludierendem  Gegensatz  zum  Raume,  dem  Me- 
dium der  reinen  Quantitat.  Erst  die  mathematische  Natur- 
wissenschaft,  die  sich  hierm  allerdings  auf  Kants  Vorgang  be- 
rufen  kann.hatausder  intensiven  „dureeconcrete“,  dererlebten 
Dauer,  eine  quantitativ  symbolisierte  Zeit  gemacht,  ein  ver- 
raumlichtes  Schema,  das  sich  als  solches  natiirlich  beliebig 
messen  und  rationalisieren  lafit.  Dabei  wurde  freilich  diePhysik 
sich  nicht  bewufit,  dafi  sie  den  tatsachlichen  Vorgang  der  Zeit, 
das  ununterbrochene  und  unzerlegbare  Kontinuum  selbst,  kei- 
neswegs  zu  messen  vermag,  sondern  daB  sie  vielmehr  nur  will- 
kiirliche,  nach  raumlicher  Analogie  herausgegriffene  Einzel- 
punkte  in  quantitative  Beziehung  zueinander  setzt. 

II. 

Nachdem  1m  Uberblicke  die  Bedeutung  und  die  leitenden 
Ideen  der  Bergsonschen  Philosophic  hervorgehoben  wurden, 
sei  nun  in  eingehender  Weise  ihr  Gedankenaufbau  dargestellt. 
Wie  gesagt,  bestimmt  sich  diese  Erkenntnistheorie  durch  zwei 
Brennpunkte:  Sie  nimmt  Stellung  gegen  die  Vermengung  von 
Extensivem  und  Intensivem  durch  die  neuere  empirische  Psy- 
chologic und  gegen  die  hergebrachte  Kantische  Auffassung  der 
Zeit  als  homogenes  Medium. 

Im  Gegensatze  zur  modernen  Psychology  will  Bergson  nicht 
die  ausgedehnten  aufiern  Wahrnehmungen  mit  den  intensiven 
Vorgangen  des  BewuBtseins  aufbauen.  Vielmehr  ist  er  der  An- 
sicht,  daB  unsere  hauptsachlichsten  Bewufitseinszustande  zwar 
durch  jene  extensiven  Formen  der  AuBenwelt  ausgedriickt  und 
wahrgenommen  werden  — wie  es  vor  allem  schon  in  der  Sym- 
bolik  der  Sprache  geschieht  — dafi  solche  Wahrnehmungen 
uns  aber  fiir  eme  wirkhche  Erkenntnis  des  Ichs  wenig  helfen 
konnen.  Denn  in  ihnen  stellt  sich  ein  KompromiB  zwischen  der 
Materie  und  dem  Geiste  dar:  Die  ausgedehnte  Gegenstand- 
lichkeit  wird  gewissermaBen  in  unser  Inneres  hineinprojiziert. 

Derlei  grobe  Formen,  die  der  Raumhchkeit  der  auBeren  Welt 
entlehnt  sind.  miissen  aber  bei  emer  Untersuchung  der  reinen 


Fritz  Hoeber  ♦ Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  W illensjrciheit  189 


Bewufitseinstatsachen  sorgfaltig  ausgeschieden  werden.  Die 
autonomen  Kategorien  der  Bewufitseinsvorgange,  wie  die  Inten- 
sitat, die  konkrete  Dauer  und  die  Willensfreiheit,  sind  in  ihrer 
absoluten  unraumlichen  Eigenart  zu  erfassen,  um  das  tiefe  Wesen 
der  Bewufitseinstatsachen  richtig  zu  verstehen. 

I . Die  Intensitat.  Die  psychischen  Tatsachen  zerfallen  in 
ein  quantitatives  Moment,  in  die  im  Raum  gelegene  Ursache  und 
in  ein  qualitatives,  die  innere  Empfindungsintensitat.  Letztere 
bildet  somit  das  qualitative  Zeichen  fur  den  quantitativ  raum- 
lichen  Anstofi.  Die  wahrgenommene  Intensitat  eines  einfachen 
Zustandes  stellt  sich  also  in  ihrem  Ursprung  als  ein  quantitativ- 
qualitativer  Kompromifi  dar.  Erforscht  man  nun  aber  die 
Dinge  der  raumlichen  Aufienwelt,  so  lafit  man  die  qualitativen 
Wirkungen  auf  unser  Bewufitsein  „als  qualite  negligeable“ 
einfach  beiseite,  um  sich  nur  auf  die  mefibaren  und  die  ausge~ 
dehnten  Raum  tatsachen  zu  beschranken.  Logischerweise  mufi 
man  deshalb  auch  bei  den  Bewufitseinstatsachen  die  raumlich- 
unraumliche,  extensiv-intensive  Vermengung  der  Anschauung 
aufgeben  und  sich  vollig  auf  die  den  inneren  Vorgangen  eigen- 
tiimlichen  Formen  konzentrieren.  Jedoch  auf  dieser  ungelosten 
erkenntnistheoretischen  Begriffsvermengung  beruhen  nun  gerade 
die  Resultate  der  heutigen  Psychophysik : diese  namlich  lafit  in 
einem  andern  als  blofi  iibertragenen  Sinn  Empfindungsintensi- 
taten  „wachsen“  und  an  — raumlicher  — „GroBe“  zunehmen, 
um  allsogleich  diese  „Zunahmen“,  als  die  sie  die  doch  tatsach- 
lich  ganz  irrationale  Qualitatsveranderung  betrachtet,  zahlen- 
mafiig  zu  messen. 

Weiterhin  unterscheiden  sich  die  Bewufitseinstatsachen 
von  den  dinglichen  Tatsachen  auch  noch  durch  die  Art 
der  besonderen  Mannigfaltigkeit:  Bergson  zeigt  uns,  dafi 
die  mathematische  Zahl,  die  rein  quantitative  Mannigfaltig- 
keit, nur  gedacht  werden  kann  in  einem  qualitatslosen  Me- 
dium, wie  es  allein  der  indifferente,  homogene,  reine  Raum 
darsteilt.  Wollen  wir  aber  die  im  Raum  aufgereihten, 
zahlenmafiig  unterschiedenen  Einheiten  zu  einer  qualitativen 
Mannigfaltigkeit  zusammenbeziehen,  als  ein  intuitives  Ganzes 


begreifen,  so  wird  ein  ProzeB  der  inneren  Durchdringung  und 
der  Organisation  notig.  Bei  der  praktischen  Betrachtung  der 
Mannigfaltigkeit  der  raumlichen  Gegenstande  abstrahieren  wir 
jedoch  regelmaBig  von  dieser  Quaiitat  der  Mannigfaltigkeit,  sie 
einfach  numerisch  aufreihend  und  raumlich  unterscheidend. 
Also  ist  in  der  qualitativ  empfundenen,  quantitativ  aber  ausge- 
driickten  Mannigfaltigkeit,  genau  ebenso  wie  in  der  physiseben 
Intensitat,  ein  Kompromifi  enthalten,  der,  wenn  er  im  raumlich 
Praktischen  zugunsten  des  Praktischen  aufgegeben  wird,  doch 
erst  recht  bei  der  Erforschung  der  seelischen  Zustande  wegfallen 
mufi,  hier  aber  zugunsten  des  Seelischen. 

Da  die  seelischen  Zustande  und  ihre  Elemente  sich  nicht 
raumlich  aufreihen,  sondem  in  vollig  irrationaler  Konfusion 
sich  gegenseitigdurchdringen,  lassen  sie  sich  weder  zahlen,  noch 
in  irgend  ein  anderes  mathematisch,  d.  i.  abstrakt  raumlich 
prazisiertes  Verhaltnis  bringen.  Diese  Wesenseigenschaft  wider- 
spricht  allerdings  in  starkstem  MaBe  den  Forderungen  und  den 
Versuchen  der  modemen  Psychophysik. 

2.  Die  konkrete  Dauer.  Die  in  unserem  BewuBtsein  erlebte 
Dauer  erscheint  als  eine  qualitative  Mannigfaltigkeit,  die  sich 
in  eminentem  Gegensatz  zu  der  quantitativen  Mannigfaltigkeit 
der  raumlich  unterschiedenen  Zahl  befindet:  Daher  vermag  sie 
sich  zwar  organisch  zu  entwickeln,  „wachst“  aber  nicht,  wird 
nicht  „groBer“  in  ausgedehntem  Sinne.  Die  Elemente  der 
qualitativen  Mannigfaltigkeit  dieser  erlebten  Dauer  konnen  nicht 
auBerhch  auseinandergelegt  werden.  Denn  sie  verflechten  und 
durchdnngen  sich  gegenseitig  in  vollstandiger  Heterogeneitat 
und  ebensowenig  lassen  sich  ihre  Qualitaten  klar  voneinander 
unterscheiden. 

Was  nun  von  dieser  inneren  Dauer  auBerhalb  unser  selbst 
existiert,  ist  nur  der  gegenwartige  Moment,  die  Simultanitat 
gleichzeitig  eintreffender  Geschehnisse.  Die  Veranderungen  in 
dieser  Aufienwelt  konnen  darum  nur  fiir  das  riickerinnemde 
BewuBtsein  lebendig  sein:  Unser  Innenleben  wird  von  der 
Sukzession,  der  Dauer  beherrscht.  Der  auBere  Raum  kennt 
nur  die  Simultanitat.  Die  auBeren  Dinge  konnen  somit  nicht 


Fritz  Hoeber  » Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreiheit  191 

im  Sinn  der  Sukzession  dauem.  Die  BewuBtseinszustande 
sukzedieren  einander,  ohne  sich  unterscheiden  zu  lassen,  wahrend 
die  raumlichen  Simultanitaten  sich  zwar  klar  voneinander  unter- 
scheiden, ohne  aber  zu  sukzedieren,  d.  h.  ohne  in  einem  sich 
innerlich  bewufiten  Zusammenhang  zu  stehen. 

Im  praktischen  Leben  freilich  projizieren  wir,  wiederum 
vermittels  eines  Kompromisses,  die  innerliche  Sukzession  auch 
in  die  aufiere  Welt  der  Simultanitaten  hinaus,  die  wir  auf  diese 
Weise  ebenfalls  „dauern“  lassen,  und  umgekehrt  zerlegen  wir, 
nach  dem  Vorbild  der  physischen  Erscheinungen,  die  psychische 
Sukzession  in  lauter  unterschiedene  Abschnitte.  Auf  diese 
Weise  erhalt  die  Zeit  „Ausdehnung“,  wird  verraumlicht,  und 
die  stets  und  mit  Vorliebe  quantifizierende  Wissenschaft  macht 
sich  das  zum  Nutzen:  sie  nimmt  von  der  Dauer  nur  die  ihr 
urspriinglich  fremde,  in  sie  erst  vom  Raum  aus  hineingetragene 
Simultanitat  und  von  der  Bewegung  nur  das  einzelne,  also 
nichtbewegte  Bewegungsmoment : die  simultane  Lage  der  Be- 
wegten  im  Raum. 

LaBt  man  hingegen  die  innere  Dauer,  die  Sukzession  der 
psychischen  Vorgange,  in  ihrer  urspriinglichen  Reinheit  bestehen, 
ohne  sie  ins  Raumliche  zu  transponieren,  so  werden  ihre  Ele- 
mente  als  eine  vollig  qualitative  Mannigfaltigkeit  und  als  erne 
absolute  Heterogeneitat  untereinander  erscheinen.  Zugleich 
werden  sie  eine  stets  unentwirrbare  Verschmelzung  miteinander 
eingehen,  die  jede  logische  Determination  ausschlieBt.  Damit 
aber  postulieren  fiir  ihr  Gebiet  die  BewuBtseinsvorgange  der 
inneren  Dauer  die  willensfreie  Personlichkeit. 

3.  Die  Willensfreiheit.  Die  begriffliche  Verwirrung  von 
„Dauer“  und  „Ausdehnung“  hat  die  bisherige  wissenschaftliche 
Unsicherheit  dem  Freiheitsproblem  gegeniiber  verschuldet. 
Indem  man  namlich  die  Willensfreiheit  leugnet,  hat  man  die 
physikalische  Anschauung  raumlich  sich  definierender  Quanti- 
taten  und  der  mechanischen,  meBbaren  Folgerungen  ganz 
inaquat  auf  unser  Seelenleben  angewandt. 

Versucht  man  aber  anderseits  die  Willensfreiheit  logisch  zu 
bestimmen,  so  nimmt  man  damit  an,  der  Bedingungskomplex, 


7777777 


192  Fritz  Hoeber  ♦ Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  WtUensfreiheit 


aus  dem  sich  die  freie  Handlung  entwickeln  soli,  konnte  vor- 
hergesehen  und  in  seinen  Momenten  definiert  werden.  Dadurch 
wiirde  aber  die  Dauer,  die  psychische  Sukzession,  wie  eine 
homogene  Sache  und  die  intensiven  Seelenerlebnisse  als  raumlich 
ausgedehnte  Grofien  behandelt  werden.  Nur  durch  eine  Ver- 
mengung  der  sukzessiven  Dauer  mit  dem  einzig  in  der  Simul- 
tanitat  zu  erkennenden  Raum  laBt  sich  die  Freiheit  leugnen; 
sei  es,  daB  man  unter  Verwendung  des  doppelten  Sinns  von 
Kausahtatsbegriff  behauptet,  die  Handlung  sei  bereits  „in  ihren 
Bedmgungen“  gegeben,  oder  aber,  daB  man  sich  auf  das  phy- 
sikalische  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  beruft,  dessen 
Geltung  noch  kemeswegs  fiir  die  Welt  der  inneren,  intuitiven 
Vorgange  bewiesen  ist  oder  auch  nur  bewiesen  werden  kann. 

Der  Grund,  den  die  Wissenschaft  besitzt,  um  die  Scheidung 
von  Ausdehnung  und  Dauer  in  gleicher  Weise  zugunsten  der 
Dauer  fiir  die  psychischen  Vorgange  zu  vollziehen,  wie  sie  regel- 
maBig  sie  zugunsten  des  Raumes  fiir  die  physischen  vollzieht, 
liegt  in  ihrer  praktischen  Aufgabe  enthalten,  in  der  iiblichen 
wissenschaftlichen  Methode  desVorhersehens  und  des  Messens: 
Physische  Erscheinungen  lassen  sich  aber  nur  voraussehen  unter 
Elimination  der  heterogenen  Dauer  und  messen  unter  Annahme 
der  raumlichen  Ausdehnung.  Deshalb  werden  die  Tatsachen 
unseres  intensiven  Innenlebens  von  der  Psychophysik  verraum- 
licht  und  homogen  verfestigt,  um  sie  objektiv  voraussehen  und 
quantitativ  messen  zu  konnen.  Damit  werden  die  inneren  Vor- 
gange aber  aus  dem  individuellen  und  personlichen  Leben  in 
eine  soziale,  allgemein  verstandliche  Farblosigkeit  iiberfiihrt. 

Auf  diese  Weise  ist  Bergson  zu  einer  zweifachen  Auffassung 
des  Ichs  gelangt,  eines  inneren,  das  uns  nur  in  den  seltenen 
Momenten  der  sich  vertiefenden  Besinnung  auf  uns  selbst  zum 
BewuBtsein  gelangt,  und  eines  aufieren,  das  sich  gleicbsam  als 
die  Projektion  des  innern  Ichs  in  den  Raum  darstellt  und  sein 
sozialer  Reprasentant  ist. 

Die  Freiheit  ist  natiirlich  nur  dem  innern  Ich  eigen,  dessen 
BewuBtseinsvorgange  sich  in  der  heterogenen  Dauer  sukzedieren 
und  damit  in  einem  Wesensgegensatz  stehen  zu  jenen  meB- 


Fritz  Hoeber  * Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreiheit  193 


baren  Dingen,  die  sich  im  homogenen  Raum  nebeneinander 
aufreihen:  „Agir  librement,  c’est  rep rendre  possession  de  soi, 
c’est  se  replacer  dans  la  pure  duree“. 

III. 

Die  Kantische  Erkenntnislehre  hat  die  Momente  der  Dauer, 
die  einander  unlosbar  sind,  im  Raum  ausgebreitet.  Sie  nahm 
das  raumlich  symbolisierte  Abbild  der  duree  fur  die  duree  con- 
crete selbst,  fiir  alle  eigentliche  Dauer  und  verwechselte  damit 
das  innere,  personliche  Ich  mit  seinem  in  die  AuBenwelt  pro- 
jizierten,  roh  verallgemeinerten  Abbild.  Dadurch  erscheint 
Kantaber  als  Ursache  jenes  philosophischen  Mifiverstandnisses, 
welches  vermeint,  die  Bewufitseinstatsachen  nur  in  der  Neben- 
einanderreihung  begreifen  zu  konnen,  und  das  somit  die  inten- 
sive und  heterogene  Dauer  genau  so  als  homogenes  Medium 
behandeltwie  den  extensiven  Raum:  Die  Einmaligkeit  und  Un- 
wiederholbarkeit  des  geistigen  Geschehens  wird  aufgegeben, 
indem  die  psychischen  wie  die  physischen  Ereignisse  derselben 
quantifizierenden  Kausalitat  unterworfen  werden.  DaBtrotzdem 
Kant  an  der  Willensfreiheit  festhalt,  ist  weniger  logische  Folge 
seines  Systems  als  ein  Glaubenssatz  seines  personhchen  Ideahs- 
mus:  Das  Kantische  Ich  steht  gleichermaBen  dem  Raum  und 
der  verraumlichten  Zeit  fremd  gegeniiber  und  erscheint  deshalb 
uberhaupt  unserem  Erkenntnisvermogen  unzuganglich. 

Kants  Erkenntnistheorie  nimmt  auf  der  einen  Seite  „Dinge 
an  sich“  an,  die  durch  die  von  ihr  gleich  behandelten  Media 
des  Raumes  und  der  Zeit  hindurch  erscheinen.  Auf  der  anderen 
Seite  stehen  die  aufieren  Dinge,  einen  Gegensatz  bildend  zu 
dem  phanomenalen  Ich  unserer  Selbstbesinnung.  Die  Not- 
wendigkeit,  auBer  den  Dingen  der  Erscheinung  auch  „Dinge 
an  sich“  noch  anzunehmen,  liegt  bei  Kant  nicht  in  der  logischen 
Erkenntnisfolge  der  reinen  Vernunft,  sondem  erst  in  der  sitt- 
lichen  Forderungder  praktischen  Vernunft.  Darin  besteht  aber, 
wie  bereits  betont,  der  metaphysische  Gedankensprung  des 
Kantischen  Systems. 


1 94  Fritz  Hocber  ♦ Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreiheit 


Fiir  Kant  und  die  Kantianer  ist  die  Erscheinungswelt,  einerlei 
ob  sie  sich  im  Raum  oder  in  der  Zeit  auswirkt,  ein  homogenes 
Medium:  was  sich  in  dessen  raumliche  Simultanitat  nicht 
iibersetzen  lafit,  ist  fiir  die  Wissenschaft  schlechthin  unerkenn- 
bar.  Dabei  wird  freilich  nicht  beriicksichtigt,  dafi  eine  Wirk- 
lichkeit  gerade  mit  praktischem  Zweck  gerade  erst  fiir  die 
wissenschaftliche,  d.  h.  naturwissenschaftliche,  Erkenntnis  her- 
gerichtet  worden  ist. 

Die  homogen  gedachte  Dauer  bei  Kant  involviert  aber  auch 
den  Begriff  der  Determination,  der  Unfreiheit  des  Willens,  da 
dieselbe  Kausalitat,  die  gleichmafiig  fiir  die  extensiven  wie  die 
intensiven  Geschehnisse  gilt,  Wiederholungen  und  damit  die 
Voraussehbarkeit  der  Ereignisse  ermoglicht.  Die  Welt  der 
,,Dinge  an  sich“  verlangt  den  metaphysischen  Glauben.  Lafit 
man  dagegen  die  Momente  der  reinen  Dauer  einander  innerlich 
sein,  sich  gegenseitig  durchdringen,  statt  sie  nebeneinander  im 
Raum  aufzureihen  und  verleiht  ihnen  ihre  autonome  Hetero- 
geneitat,  so  verliert  aller  Determinismus  seine  logische  Moglich- 
keit  und  das  in  der  Selbstbestimmung  erfafite  Ich  gewinnt  seine 
Freiheit  zuriick.  Selbst  die  physischen  Momente  werden  durch 
diese  absoluten  geistigen  bestandig  durchdrungen  und  sind 
darum  kemeswegs  in  ihrer  ganzen  Fiille  begrifflich  in  dem 
Mafie  zu  erfassen,  wie  dies  das  rationalistische  Denken  der 
reinen  Quantitat,  der  verraumlichenden  mathematischen  Dis- 
ziplinen,  tun  zu  konnen  vermeint! 

Die  Auffassung  der  Wirklichkeit  nach  raumlichen  Gesichts- 
punkten  und  die  quantitativ  homogene  Anordnung  der  sie  er- 
fiillenden  Materie  hat  den  praktischen  Vorteil,  die  Dinge  in 
fest  zueinander  abgegrenzten  „Begriffen“  zu  verstehen  und 
verleiht  diesen  dadurch  eine  iiber  das  Individuelle  hinaus- 
gehende,  soziale  Verstandlichkeit.  Die  Verraumlichung  wird 
so  zur  interpersonal  begreifbaren  Schematisierung : ihr  Haupt- 
beispiel  ist  die  menschliche  Sprache,  ein  raumlich  noch  kon- 
kreteres  die  menschliche  Schnft.  Dem  ist  nun  aufs  scharfste 
entgegengesetzt  das  in  der  inneren  Dauer  sich  organisierende 
Ich.  Dieses  Ich  aber  veranlafit  auch  die  banal  raumliche  Ein- 


Fritz  Hoeber  ♦ Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  WiUensfreikeit  1 95 


teilung  unserer  auBenweltlichen  Wahrnehmungen : „wie  leicht 
gelangt  es  dann  dazu,  diese  praktische  Einteilung  in  das  eigene 
Innere  der  tiefen,  konfusen  BewuBtseinsvorgange  zuriickzu- 
projizieren!"  Damit  werden  jedoch,  um  ein  Biid  Bergsons  zu 
wiederholen,  psychische  Elementarzustande  mechanisch  zu 
psychischen  Erlebnissen  zusammengesetzt  „wie  die  Buchstaben 
eines  Alphabets  bei  der  Bildung  von  Worten“.  Das  Gefahrliche 
hierbei  ist,  dafi  eine  solche  Vorstellung  nicht  nur  abstrakte  Vor- 
stellung  bleibt,  sondem  tatsachlich,  von  unserer  ganzen  Per- 
sonlichkeit  Besitz  ergreifen  wird.  Auf  solche  Weise  verdeckt 
sich  aber  die  Freiheit  durch  den  Automatismus : Willens- 
handlungen  werden  durch  die  Verraumlichung  der  bewuBten 
Vorstellung  zu  bloBen  Reflexhandlungen. 

Die  Psychophysiker  sowohl  wie  die  Kantianer  benutzen  nun 
diese  raumlich  veraufierlichten,  homogen  schematisierten  Hand- 
lungen,  um  daraus  eine  kausale  Determination,  analog  der  der 
sogenannten  Naturgesetze,  abzuleiten.  Ihre  raumlich  aufgefafite 
Zeit  kommt  ihnen  dabei  als  homogenes  Medium  sehr  zu  statten. 
Die  Willensfreiheit  wird,  zum  mindesten  fiir  die  Erkenntnis, 
unlogisch.  Hochstens  laBt  man  sie,  mit  der  bekannten  katego- 
rischen  Forderung  Kants,  aus  moralischen  Griinden  gelten, 
damit  der  Mensch  wenigstens  in  etwas  ,,Ebenbild  Gottes“ 
bleibt  und  nicht  zur  blofien  Maschine  herabsinkt. 

Versetzen  wir  uns  jedoch  in  die  Momente  bedeutsamer  Er- 
scheinungen  unseres  Lebens  zuriick,  so  tritt  uns  das  Gefiihl 
von  deren  Einzigartigkeit  und  Unwiederholbarkeit  mit  Deut- 
lichkeit  ins  BewuBtsein:  Wir  konnen  sie  nicht  in  der  banalen 
Symbolik  der  Worte  reproduzieren,  noch  konnen  wir  sie  aus 
einfach  nebeneinander  gesetzten  Ursachen  wieder  zusammen- 
setzen.  Allmahlich  wird  uns  die  unauflosliche  Innerlichkeit 
dieser  rein  dynamischen  Einheiten  klar,  die  als  Ganzes  die 
heterogene  Dauer  unseres  konkreten,  unseres  bewuBten  Lebens 
darstellen. 

Die  Freiheit  der  Handlung  beruht  gerade  in  dieser  funda- 
mentalen  Inkommensurabilitat  von  Ursache  und  Wirkung  im 
Bewufitseinsgeschehen.  Eine  Pravision  ware  nur  dann  moglich. 


196  Fritz  Hoeber  * Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreiheit 

wenn  man  alle  kausalen  Komponenten  iiberblicken  und  kom- 
binieren  konnte.  Das  lieBe  sich  freilich  nur  bewerkstelligen, 
indem  man  sich  mit  seinem  ganzen  Bewufitsem  wieder  in  jenen 
vergangenen  Moment  der  Entscheidung  zuriickversetzte.  Da 
aber,  nach  unserer  Auffassung  der  Dauer,  kein  Moment  als 
analoger  wiederzukehren  vermag,  die  Zuriickversetzung,  schon 
rein  zeitlich,  deshalb  unmoglich  ist,  ist  auch  die  Voraussicht 
und  damit  die  Determination  einer  inneren  bewufiten  Handlung 
schon  in  der  Voraussetzung  ausgeschlossen. 

Die  Leugnung  der  Willensfreiheit  kann  darum  nur  auf  einer 
Reihe  theoretischer  und  praktischer  Vermengungen  beruhen : 
zuerst  wird  anstatt  der  konkreten  Dauer  die  raumlich  symboli- 
sierte  Dauer  supponiert.  Sodann  geschieht  die  Versenkung  m 
unser  innerstes  Bewufitsein, die  Vorbedingung  der  Willensfreiheit 
nur  recht  selten.  Schliefilich,  wenn  die  freie  Handlung  einmal 
vollzogen  ist  und  wir,  nun  iiber  ihre  Griinde  reflektierend,  uns 
Rechenschaft  zu  geben  suchen,  so  reihen  wir  dennoch,  in  be- 
quemem  Schematismus  des  praktischen  Alltags,  ihre  Ursachen 
und  Bedingungen  raumlich  nebeneinander  auf,  ohne  uns  auf 
das  Eigentlichste,  den  Kern  des  festen  Willensvorgangs,  die 
irrationale  Dauer  und  ihre  ausschliefilich  intensiven  und  quali- 
tativen  Wesensmomente,  zu  besinnen. 

IV. 

Henri  Bergsons  Philosophic  raumt  ziemlich  unbarmherzig 
auf  mit  der  aus  der  mathematisch-naturwissenschafthchen 
Raumabstraktion  hergeleiteten  Welt  der  Begriffe:  Vielen  — 
sicher  aber  nicht  den  tiefsten  — Forschern  wird  dies  das  Ende 
aller  Wissenschaft  diinken.  Denn  mit  der  Bergsonschen  Meta- 
physik  ist  jede  Moglichkeit  genommen,  weiter  das  Tatsachen- 
material  in  altgewohnter  Weise  zu  quantifizieren,  rubnzieren 
und  zu  rationalisieren.  Allein  Bergsons  Wissenschaft  will  sich  ja 
nicht  mit  dem  Begreifen  von  Einzelkenntnissen  und  -tatsachen 
abgeben.  Ihr  kommt  es  vielmehr  darauf  an,  das  wirkliche 
Leben  in  seiner  unzerteilbaren  schopferischen  Einheit,  in  seinem 
unendlichen  Entwicklungsreichtum  in  vertiefter  Intuition  zu 


Fritz  Hoeber  * Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willcnsfreiheit  197 


erfassen.  Die  Einzelwissenschaft  erscheint  der  Bergsonschen 
Philosophic  gegeniiber  nur  als  subordinate  Technik,  die  ihren 
praktischen  einzelwissenschaftlichen,  sicher  ganz  niitzlichen 
Zwecken  und  Resultaten  meinetwegen  auch  auf  ihre  Weise 
nachgehen  mag,  selbst,  falls  sie  dies  etwa  fur  notig  erachtet, 
mit  den  unlautem  Mitteln  der  Quantifikation  und  der  Verraum- 
lichung.  Nur  soil  sich  eine  solche  wissenschaftliche  Technik 
dann  nicht  einbilden,  Wissenschaft  im  hoheren  Sinn,  Erkennt- 
nis  des  wirklich  Seienden,  zu  sein! 

Trotzdem  gewahrt  Bergsons  Philosophic  auch  einen  spezial- 
wissenschaftlichen  Gewinn : Die  Gruppe  der  Kulturwissen- 
schaften,  wie  man  nach  Heinrich  Rickerts  Vorgang  die  so- 
genannten  Geisteswissenschaften  jetzt  richtiger  bezeichnet,  die 
Geschichte  vor  allem,  hatte  unter  dem  wachsenden  Einflusse 
der  sich  allein  als  wissenschaftlich  betrachtenden  Naturwissen- 
schaft  nachgerade  angefangen,  ebenfalls  raumlich  zu  abstrahieren 
und  quantitativ  zu  schematisieren.  Wie  eine  Erlosung  kam  da 
fur  sie  Bergsons  Auffassung  der  Zeit,  des  innern  Erlebnisses 
der  duree  concrete:  Die  Geschichte,  die  Kulturwissenschaften, 
die  Geisteswissenschaften,  erschienen  nun  mit  ihrem  Bestreben, 
die  intensive  Erinnerung,  das  Kontinuum  des  menschlichen 
Bewufitseins,  die  lebendigen  Vorgange  der  Seele  darzustellen, 
als  eine  viel  wirklichere  und  konkretere  Wissenschaft  wie  alle 
blofi  abstrahierende  und  aufierlich  zahlende  Physik.  Und  als 
deuthche  Parallele  zu  dieser  Renaissance  der  historischen 
Wissenschaften  erscheinen  die  neuen  ,,naturrechthchen“  Be- 
strebungen  in  der  Jurisprudenz,  die  sich  an  die  Namen  des 
Freiburger  Privatdozenten  Hermann  Kantorowicz  (Gnaeus  Fla- 
vius : Der  Kampf  um  die  Rechtswissenschaft,  Heidelberg  1 906) 
und  des  Karlsruher  Rechtsanwalts  Ernst  Fuchs  kniipfen:  sie 
wollen  den  individuellen  Rechtsfall  nicht  mehr  nach  dem  Vor- 
gang des  Reichsgerichts  in  gesetzlicher  Abstraktion  typisch 
konstruieren,  sondern  ihn  als  ein  lebendes  Ganzes  aus  der  ge- 
gebenen  Fulle  seines  menschlichen,  sozialen,  wirtschaftlichen 
Bedingungskomplexes  heraus  verstehen.  Aus  solch  konkreter 
Anschauung  heraus  wird  auch  das  entscheidende  Urteil  intui- 


1 98  Fritz  Hoeber  ♦ Das  Erlebnis  der  Zeit  und  die  Willensfreiheit 

tiv  geschopft.  In  absoluter  Heterogeneitat  wird  es  als  etwas 
ganz  Neues,  durch  keine  Paragraphenmathematik  Bedingtea 
individualisiert,  produktiv  gestaltet. 

In  dieser  individualisierenden  Einfiihlung,  dem  gleichsam 
kiinstlerischen,  kongenialen  Nacherleben  der  groBartigen  schop- 
ferischen  Entwicklung  des  realen  Seins  hat  die  Wissenschaft 
von  den  menschlichen  BewuBtseinsvorgangen,  die  schildemde 
Kulturwissenschaft,  ihre  autonome  Aufgabe  und  zugleich  deren 
autonome  Losungneugefunden.  Es  ist  der  zukunfts-schaffende 
Impuls  des  Lebens,  jener  vorwartstreibende  4lan  vital,  den  die 
in  der  duree  concrete  wurzelnde  Geschichte  synthetisch  mit- 
zuerleben  vermag,  wo  die  Analyse  der  mathematischen  Natur- 
wissenschaft  nur  eine  raumlich  ausgedehnte  Materie  und  das 
verdorrte  Schema  der  Zahl  erblickt:  Einzig  die  schopferische 
Intuition  durch  keines  Gedankens  Blasse  angekrankelt,  ist  im- 
stande,  das  wirkliche  Leben  in  seinem  unermefilichen  Reichtum 
kongenial  zu  erfassen,  will  sagen,  mitzuerleben. 


Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


199 


Qfermann  £?fesse: 


EINE  TRAUMFOLGE 


J\  /I  I R schien,  ich  verweile  schon  eine  Menge  von  unniitzer 
^ dickfliissiger  Zeit  in  dem  lauen  Salon,  durch  dessen  Nord- 
fenster  der  falsche  See  mit  den  unechten  Fjorden  blickte,  und  wo 
nichts  mich  Hielt  und  anzog  als  die  Gegenwart  der  schonen,  ver- 
dachtigen  Dame,  die  ich  fiir  eine  Siinderin  hielt.  Ihr  Gesicht 
einmal  richtig  zu  sehen,  war  mein  unerfiilltes  Verlangen.  Ihr 
Gesicht  schwebte  undeutlich  zwischen  dunklen,  offenen  Haaren 
und  bestand  einzig  aus  siiBer  Blasse,  sonst  war  nichts  vorhanden. 
Vielleicht  waren  die  Augen  dunkelbraun,  ich  fiihlte  Griinde  in 
mir,  das  zu  erwarten,  aber  dann  paBten  die  Augen  nicht  zu  dem 
Gesicht,  das  mein  Blick  aus  der  unbestimmten  Blasse  zu  lesen 
wiinschte  und  dessen  Gestaltung  ich  bei  mir  in  tiefen,  unzugang- 
lichen  Erinnerungsschichten  ruhen  wufite. 

Endlich  geschah  etwas.  Die  beiden  jungen  Manner  traten  ein. 
Sie  begriiBten  die  Dame  mit  sehr  guten  Formen  und  wurden  mir 
vorgestellt.  Affen,  dachte  ich  und  ziirnte  mir  selber,  weil  des 
emen  rotbrauner  Rock  mit  seinem  hiibsch  koketten  Sitz  und 
Schnitt  mich  beschamte  und  neidisch  machte.  ScheuBliches  Ge- 
fiihl  des  Neides  gegen  die  Tadellosen,  Ungemerten,  Lachelnden ! 
,,Beherrsche  dich!“  rief  ich  mir  leise  zu.  Die  beiden  jungen 
Leute  gnffen  gleichgiiltig  nach  meiner  dargereichten  Hand  — 
warum  hatte  ich  sie  hingeboten?!  — und  machten  spottische 
Gesichter. 

Da  spiirte  ich,  daB  etwas  an  mir  nicht  in  Ordnung  sei  und 
fiihlte  Iastige  Kalte  an  mir  aufsteigen.  Hinunterblickend  sah  ich 
nvt  Erbleichen,  daB  ich  ohne  Schuhe  in  blofien  Striimpfen  stand. 
Immer  wieder  diese  oden,  klaglichen,  diirftigen  Hindemisse  und 


3 3 Yol.  Ill 


» 


200 


Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


Widerstande ! Anderen  passierte  es  nie,  da8  sie  nackt  oder  halb- 
nackt  in  Salons  vor  dem  Volk  der  Tadellosen  und  Unerbittlichen 
standen ! Traurig  suchte  ich  den  linken  FuB  wenigstens  mit  dem 
rechten  zu  decken,  dabei  fiel  mein  Blick  durchs  Fenster,  und  ich 
sah  die  steilen  Seeufer  blau  und  wild  in  falschen  diistern  Tonen 
drohen,  sie  wollten  damonisch  sein.  Betriibt  und  hilfsbediirftig 
blickte  ich  die  Fremden  an,  voll  HaB  gegen  diese  Leute  und  voll 
von  groBerem  Hafi  gegen  mich  — es  war  nichts  mit  mir,  es 
gliickte  mir  nichts.  Und  warum  fiihlte  ich  mich  fiir  den  dummen 
See  verantwortlich  ? Ja,  wenn  ich  es  fiihlte,  dann  war  ich’s  auch. 
Flehentlich  sah  ich  dem  Rotbraunen  ins  Gesicht,  seine  Wangen 
glanzten  gesund  und  zart  gepflegt,  und  wuBte  doch  so  gut,  dafi 
ich  mich  unniitz  preisgebe,  dafi  er  nicht  zu  riihren  sei. 

Eben  jetzt  bemerkte  er  meine  Fiifie  in  den  groben  dunkel- 
griinen  Striimpfen  — ach,  ich  mufite  noch  froh  sein,  dafi  sie  ohne 
Locher  waren  — und  lachelte  hafilich.  Er  stiefi  seinen  Kame- 
raden  an  und  zeigte  auf  meine  Fiifie.  Auch  der  andre  grinste 
voller  Spott. 

„Sehen  Sie  doch  den  See !“  rief  ich  und  deutete  durchs  Fenster. 

Der  Rotbraune  zuckte  die  Achseln,  es  fiel  lhm  mcht  ein,  sich 
nur  gegen  das  Fenster  zu  wenden,  und  sagte  zum  andem  etwas, 
das  ich  nur  halb  verstand,  das  aber  auf  mich  gemiinzt  war  und 
von  Kerlen  in  Striimpfen  handelte,  die  man  in  einem  solchen 
Salon  gar  nicht  dulden  sollte.  Dabei  war  „Salon“  fiir  mich 
wieder  so  etwas  wie  in  Bubenjahren,  mit  einem  etwas  schonen 
und  etwas  falschen  Klang  von  Vornehmheit  und  Welt. 

Nahe  am  Weinen  biickte  ich  mich  zu  meinen  Fiifien  hinab,  ob 
da  etwas  zu  bessern  sei,  und  sah  jetzt,  dafi  ich  aus  weiten  Haus- 
schuhen  geglitten  war;  wenigstens  lag  ein  sehr  grofier,  weicher, 
dunkelroter  Pantoffel  hinter  mir  am  Boden.  Ich  nahm  ihn  un- 
schliissig  in  die  Hand,  beim  Absatz  packend,  noch  ganz  weiner- 
lich.  Er  entglitt  mir,  ich  erwischte  ihn  noch  im  Fallen  — er  war 
inzwischen  noch  grofier  geworden  — und  hielt  ihn  nun  am  vor- 
deren  Ende. 

Dabei  fiihlte  ich  plotzlich,  innig  erlost,  den  tiefen  Wert  des 
Pantoffels,  der  in  meiner  Hand  ein  wenig  federte,  vom  schweren 


Hermann  Hesse  * Etne  Traumfolge 


201 


Absatz  hinabgezogen.  Herrlich,  so  ein  roter  schlapper  Schuh, 
so  weich  und  schwer!  Versuchsweise  schwang  ich  ihn  ein  wenig 
durch  die  Luft,  es  war  kostlich  und  durchfiofi  mich  mit  Wonnen 
bis  in  die  Haare.  Eine  Keule,  ein  Gummischlauch  war  nichts 
gegen  meinen  grofien  Schuh.  Calziglione  nannte  ich  ihn  auf 
Italienisch. 

Als  ich  dem  Rotbraunen  einen  ersten  spielerischen  Schlag  mit 
dem  Calziglione  an  den  Kopf  gab,  sank  der  junge  Tadellose 
schon  taumelnd  auf  den  Diwan,  und  die  andem  und  das  Zimmer 
und  der  schreckliche  See  verloren  alle  Macht  iiber  mich.  Ich 
war  grofi  und  stark,  ich  war  frei,  und  beim  zweiten  Schlag  auf 
den  Kopf  des  Rotbraunen  war  schon  nichts  mehr  von  Kampf, 
nichts  mehr  von  schabiger  Notwehr  in  meinem  Zuhauen,  son- 
dern  lauter  Jauchzen  und  befreite  Herrenlaune.  Auch  hafite  ich 
den  erlegten  Feind  nicht  im  mindesten  mehr,  er  war  mir  inter- 
essant,  er  war  mir  wertvoll  und  lieb,  ich  war  ja  sein  Herr  und 
sein  Schopfer.  Denn  jeder  gute  Schlag  mit  meiner  welschen 
Schuhkeule  formte  diesen  unreifen  und  affigen  Kopf,  schmiedete 
ihn,  baute  ihn,  dichtete  ihn,  mit  jedem  formenden  Hieb  ward  er 
angenehmer,  wurde  hiibscher,  feiner,  wurde  mein  Geschopf  und 
Werk,  das  mich  befriedigte  und  das  ich  Iiebte.  Mit  einem  letzten 
zartlichen  Schmiedehieb  trieb  ich  ihm  den  spitzen  Hinterkopf 
gerade  hinlanglich  nach  innen.  Er  war  vollendet.  Erdanktemir 
und  streichelte  mir  die  Hand.  „Schon  gut“,  winkte  ich.  Er 
kreuzte  die  Hande  vor  der  Brust  und  sagte  schiichtern:  „Ich 
heifie  Paul." 

Wundervoll  machtfrohe  Gefiihle  dehnten  meine  Brust  und 
dehnten  den  Raum  von  mir  hinweg,  das  Zimmer  — nichts  mehr 
von  „Salon“ ! — wich  beschamt  davon  und  verkroch  sich  nich- 
tig;  ich  stand  am  See.  Der  See  war  schwarzblau,  Stahlwolken 
driickten  auf  die  finstern  Berge,  in  den  Fjorden  kochte  dunkles 
Wasser  schaumig  auf,  FohnstoBe  irrten  zwanghaft  und  angstlich 
in  Kreisen.  Ich  blickte  empor  und  reckte  die  Hand  aus  zum 
Zeichen,  daB  der  Sturm  beginnen  moge.  Ein  Blitz  knallte  hell 
und  kalt  aus  der  harten  Blaue,  senkrecht  herab  heulte  ein  warmer 
Orkan,  am  Himmel  schofi  graues  Formengetummel  zerflieBend 


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202 


Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


in  Marmoradern  auseinander.  Grofie  runde  Wogen  stiegen 
angstvoll  aus  dem  gepeitschten  See,  von  ihren  Riicken  riB  der 
Sturm  Schaumbarte  und  klatschende  Wasserfetzen  und  warf  sie 
mir  ins  Gesicht.  Die  schwarz  erstarrten  Berge  rissen  Augen  voll 
Entsetzen  auf.  IKr  Aneinanderkauem  und  Schweigen  klang 
flehentlich. 

In  dem  prachtvoll  auf  Gespenster-Riesenpferden  jagenden 
Sturm  klang  neben  mir  eine  schiichterne  Stimme.  0,  ich  hatte 
dich  nicht  vergessen,  bleiche  Frau  im  langschwarzen  Haar.  Ich 
neigte  mich  zu  ihr,  sie  sprach  kindlich  — der  See  komme,  man 
konne  hier  nicht  sein.  Noch  schaute  ich  geriihrt  auf  die  sanfte 
Siinderin,  ihr  Gesicht  war  nichts  als  stille  Blasse  in  breiter  Haar- 
dammerung,  da  schlug  schon  klatschendes  Gewoge  ah  meine 
Knie,  und  schon  an  meine  Brust,  und  die  Siinderin  schwankte 
wehrlos  und  still  auf  steigenden  Wellen.  Ich  lachte  ein  wenig, 
legte  den  Arm  um  ihre  Knie  und  hob  sie  zu  mir  empor.  Auch 
dies  war  schon  und  befreiend,  die  Frau  war  seltsam  leicht  und 
klein,  voll  frischer  Warme  und  die  Augen  herzlich,  vertrauens- 
voll  und  erschrocken,  und  ich  sah,  sie  war  gar  keine  Siinderin 
und  keine  feme  unklare  Dame.  Keine  Siinden,  kein  Geheimnis ; 
sie  war  einfach  ein  Kind. 

Aus  den  Wellen  trug  ich  sie  iiber  Felsen  und  durch  den  regen- 
finstem,  koniglich  trauemden  Park,  wohin  der  Sturm  nicht 
reichte  und  wo  aus  gesenkten  Kronen  alter  Baume  lauter  sanft- 
menschliche  Schonheit  sprach,  lauter  Gedichte  und  Sympho- 
nien.  Welt  der  holden  Ahnungen  und  lieblich  gezahmten  Ge- 
niisse,  gemalte  liebenswerte  Baume  von  Corot  und  landlich-holde 
Holzblasermusik  von  Schubert,  die  mich  mit  fliichtig  aufzucken- 
dem  Heimweh  mild  in  ihre  geliebten  Tempel  lockte.  Doch  um- 
sonst,  viel  Stimmen  hat  die  Welt,  und  fur  alles  hat  die  Seele  ihre 
Stunden  und  Augenblicke. 

WeiB  Gott,  wie  die  Siinderin,  die  bleiche  Frau,  das  Kind  ihren 
Abschied  nahm  und  mir  verloren  ging.  Es  war  eine  Vortreppe 
aus  Stein,  es  war  ein  Haustor,  Dienerschaft  war  da,  alles  schwach - 
lich  und  milchig  wie  hinter  triibem  Glase,  und  anderes,  noch 
wesenloser,  noch  triiber,  Gestalten  windhaft  hingeweht,  ein  Ton 


Hermann  Hesse  « Etne  Traumfolge 


203 


von  Tadel  und  Vorwurf  gegen  mich  verleidete  mir  das  Schatten- 
gestober.  Nichts  blieb  von  ihm  zuriick  als  die  Figur  Paul,  mein 
Freund  und  Sohn  Paul,  und  in  seinen  Ziigen  zeigte  und  verbarg 
sich  ein  nicht  mit  Namen  zu  nennendes,  dennoch  unendlich 
wohlbekanntes  Gesicht,  ein  Schulkameradengesicht,  ein  vorge- 
schichtlich  sagenhaftes  Kindermagdgesicht,  genahrt  aus  den 
guten,  nahrhaften  Halberinnerungen  fabelhafter  erster  Jahre. 

Gutes,  inniges  Dunkel,  warme  Seelenwiege  und  verlome 
Heimat  tut  sich  auf,  Zeit  des  ungestalteten  Daseins,  unent- 
schlossene  erste  Wallung  iiberm  Quellgrund,  unter  dem  die 
Abnenvorzeit  mit  den  Urwaldtraumen  schlaft.  Taste  nur,  Seele, 
irre  nur,  wiihle  blind  im  satten  Bad  schuldloser  Dammertriebe ! 
Ich  kenne  dich,  bange  Seele,  nichts  ist  dir  notwendiger,  nichts 
ist  so  sehr  Speise,  so  sehr  Trank  und  Schlaf  fur  dich  wie  die 
Heimkehr  zu  deinen  Anfangen.  Da  rauscht  Welle  um  dich,  und 
du  bist  Welle,  Wald,  und  du  bist  Wald,  es  ist  kein  AuBen  und 
Innen  mehr,  du  fliegst  Vogel  in  Liiften,  schwimmst  Fisch  im 
Meer,  saugst  Licht  und  bist  Licht,  kostest  Dunkel  und  bist 
Dunkel.  Wir  wandern,  Seele,  wir  schwimmen  und  fliegen,  und 
lacheln  und  kniipfen  mit  zarten  Geistfingem  die  zerrissenen 
Faden  wieder  an,  tonen  selig  die  zerstorten  Schwmgungen  aus. 
Wir  suchen  Gott  nicht  mehr.  WirsindGott.  Wir  sind  die  Welt. 
Wir  toten  und  sterben  mit,  wir  schaffen  und  auferstehen  mit 
unseren  Traumen.  Unser  schonster  Traum,  der  ist  der  blaue 
Himmel,  unser  schonster  Traum  der  ist  das  Meer,  unser  schon- 
ster Traum  der  ist  die  stemhelle  Nacht,  und  ist  der  Fisch,  und 
ist  der  helle  frohe  Schall,  und  ist  das  helle  frohe  Licht  — alles 
ist  unser  Traum,  jedes  ist  unser  schonster  Traum.  Eben  sind 
wir  gestorben  und  zu  Erde  geworden.  Eben  haben  wir  das 
Lachen  erfunden.  Eben  haben  wir  ein  Sternbild  geordnet. 

Stimmen  tonen,  und  jede  ist  die  Stimme  der  Mutter.  Baume 
rauschen,  und  jeder  hat  iiber  unsrer  Wiege  gerauscht.  StraBen 
laufen  in  Sternform  auseinander,  und  jede  StraBe  ist  der  Heim- 

weg. 

Der,  der  sich  Paul  nannte,  mein  Geschopf  und  Freund,  war 
wieder  da  und  war  so  alt  wie  ich  geworden.  Er  glich  einem 


Jugendfreunde,  doch  wufit’  ich  nicht  welchem,  und  ich  war 
darum  gegen  ihn  etwas  unsicher  und  zeigte  einige  Hoflichkeit. 
Daraus  zog  er  Macht.  Die  Welt  gehorchte  nicht  mehr  mir,  sie 
gehorchte  ihm,  darum  war  alles  Vorige  verschwunden  und  in 
demiitiger  Unwahrscheinlichkeituntergegangen,  beschamt  durch 
ihn,  der  nun  regierte. 

Wir  waren  auf  einem  Platz,  der  Ort  hiefi  Paris,  und  vor  mir 
stand  ein  eisemer  Balken  in  die  Hohe,  der  war  eine  Leiter  und 
hatte  zu  beiden  Seiten  schmale  eiserne  Sprossen.an  denen  konnte 
man  sich  mit  den  Handen  halten  und  mit  den  Fiifien  auf  sie 
treten.  Da  Paul  es  wollte,  kletterte  ich  hinan,  und  er  daneben 
auf  emer  ebensolchen  Leiter.  AIs  wir  so  hoch  geklettert  waren 
wie  ein  Haus  und  wie  ein  sehr  hoher  Baum,  begann  ich  Bangig- 
keit  zu  filhlen.  Ich  sah  zu  Paul  hiniiber,  der  fiihlte  keine  Bangig- 
keit,  aber  er  erriet  die  meine  und  lachelte. 

Einen  Atemzug  lang,  wahrend  er  lachelte  und  ich  ihn  ansah, 
war  ich  ganz  nahe  daran,  sein  Gesicht  zu  erkennen  und  seinen 
Namen  zu  wissen,  eine  Kluft  von  Vergangenheit  rifi  auf  und 
spaltete  sich  bis  zur  Schiilerzeit  hinab,  zuriick  bis  da  wo  ich 
zwolfjahng  war,  herrlichste  Zeit  des  Lebens,  alles  voll  Duft,  alles 
genial,  alles  mit  einem  eflbaren  Duft  von  frischem  Brot  und  mit 
einem  berauschenden  Schimmer  von  Abenteuer  und  Heldentum 


vergoldet  — zwolfjahrig  war  Jesus,  als  er  im  Tempel  die  Ge- 
lehrten  beschamte,  mit  zwolf  Jahren  haben  wir  alle  unsere  Ge- 
lehrten  und  Lehrer  beschamt,  waren  kliiger  als  sie,  genialer  als 
sie,  tapferer  als  sie.  Anklange  und  Bilder  stiirmten  in  Knaueln 
auf  mich  ein : vergessene  Schulhefte,  Arrest  in  der  Mittagstunde, 
ein  mit  der  Schleuder  getoteter  Vogel,  eine  Rocktasche  klebrig 
voll  gestohlener  Pflaumen,  wildes  Bubengeplatscher  im  Schwimm- 
bad,  zerrissene  Sonntagshosen  und  innig  schlechtes  Gewissen, 
heifies  Abendgebet  um  lrdische  Sorgen,  wunderbar  heldische 

Prachtgefiihle  bei  einem  Vers  von  Schiller 

Es  war  nur  ein  Sekundenblitz,  gierig  hastende  Bilderfolge  ohne 

, im  nachsten  Augenblick  sah  Pauls  Gesicht  mich 


wieder  an,  qualend  halbbekannt.  Ich  war  meines  Alters  nicht 


mehr  sicher,  moglich  dafi  wir  Knaben  waren.  Tiefer  und  tiefer 


Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


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unter  unsern  diinnen  Leitersprossen  lag  die  StraBenmasse, 
welche  Paris  hiefi.  Als  wir  hoher  waren  als  jeder  Turm,  gingen 
unsre  Eisenstangen  zu  Ende  und  zeigten  sich  jede  mit  einem 
wagrechten  Brett  gekront,  einer  winzig  kleinen  Plattform.  Es 
schien  unmoglich,  sie  zu  erklimmen.  Aber  Paul  tat  es  gelassen, 
und  ich  muBte  auch. 

Oben  legte  ich  mich  flach  aufs  Brett  und  sah  iiber  den  Rand 
hinunter,  wie  von  einer  kleinen  hohen  Wolke.  Mein  Blick  fiel 
wie  ein  Stein  ins  Leere  hinab  und  kam  an  kein  Ziel,  da  machte 
mem  Kamerad  eine  deutende  Gebarde,  und  ich  blieb  an  einem 
wunderlichen  Anblick  haften,  der  mitten  in  den  Liiften  schwebte. 
Da  sah  ich,  iiber  einer  breiten  Strafie  in  der  Hohe  der  hochsten 
Dacher,  aber  noch  unendlich  tief  unter  uns,  eine  fremdartige 
Gesellschaft  in  der  Luft,  es  schienen  Seiltanzer  zu  sein,  und 
wirklich  lief  eine  der  Figuren  auf  einem  Seil  oder  einer  Stange 
dahin.  Dann  entdeckte  ich,  daB  es  sehr  viele  waren  und  fast 
lauter  junge  Madchen,  und  sie  schienen  mir  Zigeuner  oder  wan- 
demdes  Volk  zu  sein.  Sie  gingen,  lagerten,  safien,  bewegten  sich 
in  Dachhohe  auf  einem  luftigen  Geriiste  aus  diinnsten  Latten 
und  laubenahnlichem  Gestange,  sie  wohnten  dort  und  waren 
heimisch  in  dieser  Region.  Unter  ihnen  war  die  StraBe  zu  ahnen, 
ein  feiner  schwebender  Nebel  reichte  von  unten  her  bis  nahe  an 

ihre  FiiBe. 

Paul  sagte  etwas  dariiber.  „Ja“,  antwortete  ich,  ,,es  ist  riih- 
rend,  alle  die  Madchen." 

Wohl  war  ich  viel  hoher  als  jene,  aber  ich  klebte  angstvoll  auf 
meinem  Posten,  sie  indessen  schwebten  leicht  und  angstlos,  und 
ich  sah,  ich  war  zu  hoch,  ich  war  am  falschen  Ort.  Jene  hatten 
die  richtige  Hohe,  nicht  am  Boden  und  doch  nicht  so  teufhsch 
hoch  und  fern  wie  ich,  nicht  unter  den  Leuten  und  doch  nicht 
so  ganz  veremsamt,  auBerdem  waren  sie  viele.  Ich  sah  wohl,  daB 
sie  eine  Seligkeit  darstellten,  die  ich  noch  nicht  erreicht  hatte. 

Aber  ich  wufite,  daB  ich  irgendeinmal  wieder  an  meiner  un- 
geheuren  Leiter  werde  hinabklettern  miissen,  und  der  Gedanke 
daran  war  so  beklemmend,  daB  ich  Ubelkeit  spiirte  und  es  keinen 
Augenblick  mehr  hier  oben  aushalten  konnte.  VerzweiflungsvoII 


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Hermann  Hesse  * Eine  Traumfolge 


und  zitternd  vor  Schwindel  tastete  ich  mit  den  Fiifien  unter  mir 
nach  den  Leitersprossen  — sehen  konnte  ich  sie  vom  Brett  aus 
nicht  — und  hing  grauenvolle  Minuten,  krampfhaft  angeklam- 
mert,  in  der  schiimmen  Hohe.  Niemand  half  mir,  Paul  war  fort. 

In  tiefer  Bangigkeit  tat  ich  gefahrliche  Tritte  und  Griffe,  und 
ein  Gefiihl  hiillte  mich  wie  Nebel  ein,  ein  Gefiihl,  dafi  nicht  die 
hohe  Leiter  und  der  Schwindel  es  war,  was  ich  auszukosten  und 
durchzumachen  habe.  Alsbald  verlor  sich  denn  auch  die  Sicht- 
barkeit  und  Ahnlichkeit  der  Dinge,  es  war  alles  Nebel  und  un- 
bestimmt.  Bald  hing  ich  noch  in  den  Sprossen  und  spiirte 
Schwindel,  bald  kroch  ich  klein  und  bang  durch  furchtbar  enge 
Erdschachte  und  Kellergange,  bald  watete  ich  hoffnungslos  im 
Sumpf  und  Kot  und  fiihlte  wiisten  Schlamm  mir  bis  zum  Munde 
steigen.  Dunkel  und  Hemmung  iiberall.  Furchtbare  Aufgaben 
mit  ernstem,  doch  verhiilltem  Sinn.  Angst  und  SchweiB,  Lah- 
mung  und  Kalte.  Schweres  Sterben,  schwereres  Geboren- 
werden. 

Wieviel  Nacht  ist  um  uns  her!  Wieviel  bange,  arge  Qualen- 
wege  gehen  wir,  geht  tief  im  Schacht  unsre  verschiittete  Seele, 
ewiger  armer  Held,  ewiger  Odysseus!  Aber  wir  gehen,  wir 
gehen,  wir  biicken  uns  und  waten,  wir  schwimmen  erstickend  im 
Schlamm,  wir  knechen  die  glatten  bosen  Wande  hman.  Wir 
weinen  und  verzagen,  wir  jammern  bang  und  heulen  leidend  auf . 
Aber  wir  gehen  weiter,  wir  gehen  und  leiden,  wir  gehen  und 
beifien  uns  durch. 

Wieder  stellte  aus  dem  triiben  Hollenqualme  Bildlichkeit  sich 
her,  wieder  lag  ein  kleines  Stuck  des  finstern  Pfades  vom  ge~ 
staltenden  Licht  der  Erinnerungen  beschienen,  und  die  Seele 
drang  aus  dem  Urweltlichen  in  den  heimatlichen  Bezirk  der  Zeit. 

Wo  war  das  ? Bekannte  Dinge  sahen  mich  an,  ich  atmete  Luft, 
die  ich  wiedererkannte.  Ein  Zimmer  groB  im  Halbdunkel,  eine 
Erdollampe  auf  dem  Tisch,  meine  eigene  Lampe,  ein  groBer 
runder  Tisch,  etwas  wie  ein  Klavier.  Meine  Schwester  war  da 
und  mein  Schwager,  vielleicht  bei  mir  zu  Besuch,  oder  vielleicht 
ich  bei  ihnen.  Sie  waren  still  und  sorgenvoll,  voll  Sorgen  um 
mich.  Und  ich  stand  im  groBen  diistern  Zimmer,  ging  hin  und 


Hermann  Hesse  * Eine  Traumfolge 


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her  und  stand  und  ging  in  einer  Wolke  von  Traurigkeit,  in  einer 
Flut  von  bitterer,  erstickender  Traurigkeit.  Und  nun  fing  ich 
an,  irgend  etwas  zu  suchen,  nichts  Wichtiges,  ein  Buch  oder  eine 
Schere  oder  so  etwas,  und  konnte  es  nicht  finden.  Ich  nahm  die 
Lampe  in  die  Hand,  sie  war  schwer  und  ich  war  furchtbar  miide, 
ich  stellte  sie  bald  wieder  ab  und  nahm  sie  doch  wieder,  und 
wollte  suchen,  suchen,  obwohl  ich  wufite,  dafi  es  vergeblich  sei. 
Ich  wiirde  nichts  finden,  ich  wiirde  alles  nur  noch  mehr  ver- 
wirren,  die  Lampe  wiirde  mir  aus  den  Handen  fallen,  sie  war  so 
schwer,  so  qualend  schwer,  und  so  wiirde  ich  weiter  tasten  und 
suchen  und  durchs  Zimmer  irren,  mein  ganzes  armes  Leben  lang. 

Mein  Schwager  sah  mich  an,  angstlich  und  etwas  tadelnd.  „Sie 
merken,  dafi  ich  wahnsinnig  werde“,  dachte  ich  schnell  und 
nahm  wieder  die  Lampe.  Meine  Schwester  trat  zu  mir,  still,  mit 
bittenden  Augen,  voller  Angst  und  Liebe,  dafi  mir  das  Herz 
brechen  wollte.  Ich  konnte  nichts  sagen,  ich  konnte  nur  die 
Hand  ausstrecken  und  abwinken,  abwehrend  winken,  und  ich 
dachte : „Lafit  mich  doch ! LaBt  mich  doch ! Ihr  konnt  ja  nicht 
wissen,  wie  mir  ist,  wie  weh  mir  ist,  wie  furchtbar  weh !“  Und 
wieder : „LaBt  mich  doch ! LaBt  mich  doch !“ 

Das  rotliche  Lampenlicht  floB  schwach  durchs  groBe  Zimmer, 
Baume  stohnten  draufien  im  Wind.  Einen  Augenblick  glaubte 
ich  die  Nacht  drauBen  innerlichst  zu  sehen  und  zu  fiihlen : Wind 
und  Nasse,  Herbst,  bitterer  Laubgeruch,  Blattergestiebe  vom 
Ulmenbaum,  Herbst,  Herbst!  Und  wieder  einen  Augenblick 
lang  war  ich  nicht  ich  selber,  sondern  sah  mich  wie  ein  Bild : ich 
war  ein  bleicher,  hagerer  Musiker  mit  flackemden  Augen,  der 
hieB  Hugo  Wolf  und  war  an  diesem  Abend  im  Begriff  wahn- 
sinnig zu  werden. 

Dazwischen  mufite  ich  wieder  suchen,  hoffnungslos  suchen 
und  die  schwere  Lampe  heben,  auf  den  runden  Tisch,  auf  den 
Sessel,  auf  einen  BiicherstoB.  Und  mufite  mit  flehenden  Ge- 
barden  abwehren.  wenn  meine  Schwester  mich  wieder  traurig 
und  behutsam  anblickte,  mich  trosten  wollte,  mir  nahesem  und 
helfen  wollte.  Die  Trauer  in  mir  wuchs  und  fiillte  mich  zum 
Zerspringen,  und  die  Bilder  um  mich  her  waren  von  einer  er- 


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Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


greifend  beredten  Deutlichkeit,  viel  deutlicher,  ads  jede  Wirk- 
lichkeit  sonst  ist ; ein  paar  Herbstblumen  im  Wasserglas,  eine 
dunkelrotbraune  Georgine  darunter,  gliihten  in  so  schmerzlich 
schoner  Einsamkeit,  jedes  Ding  und  auch  der  blinkende  Messing- 
fufi  der  Lampe  war  so  verzaubert  schon  und  von  so  schicksals- 
voller  Einsamkeit  umdrungen  wie  auf  den  Bildern  der  groBen 
Maler. 

Ich  spiirte  mein  Schicksal  deutlich.  Noch  ein  Schatten  mehr 
in  diese  Traurigkeit,  noch  ein  Blick  der  Schwester,  nocb  ein 
Blick  der  Blumen,  der  schonen  seelenvollen  Blumen  — dann  floB 
es  liber  und  ich  sank  im  Wahnsinn  unter.  ,,Lafit  mich ! Ihr  wiBt 
ja  nicht!“  Auf  der  polierten  Wand  des  Klaviers  lag  ein  Strahl 
Lampenhcht  im  schwarzlichen  Holz  gespiegelt,  so  schon,  so  ge- 
heimmsvoll,  so  gesattigt  von  Schwermut! 

Jetzt  erhob  sich  meine  Schwester  wieder,  sie  ging  gegen  das 
Klavier  hiniiber.  Ich  wollte  bitten,  wollte  innig  abwehren,  aber 
ich  konnte  nicht,  es  reichte  keinerlei  Macht  mehr  aus  meiner 
Vereinsamung  heraus  und  zu  ihr  hiniiber.  O ich  wufite,  was 
jetzt  kommen  mufite.  Ich  kannte  die  Melodie,  die  jetzt  zu  Wort 
kommen  und  alles  sagen  und  alles  zerstoren  muBte!  Ungeheure 
Spannung  zog  mein  Herz  zusammen,  und  wahrend  die  ersten 
gliihenden  Tropfen  mir  aus  den  Augen  sprangen,  stiirzte  ich 
mich  mit  Kopf  und  Handen  iiber  den  Tisch  hin  und  horte  und 
empfand  mit  alien  Sinnen  und  mit  neuen  Smnen  dazu.  Text  und 
Melodie  zugleich,  Wolfsche  Melodie,  den  Vers: 

Was  wisset  ihr,  dunkle  Wipfel, 

Von  der  alten  schonen  Zeit? 

Die  Heimat  hinter  den  Gipfeln, 

Wie  liegt  sie  so  weit,  so  weit! 

Damit  glitt  vor  mir  und  in  mir  die  Welt  auseinander,  versank 
in  Tranen  und  Tonen,  nicht  zu  sagen  wie  hingegossen,  wie  stro- 
mend,  wie  gut  und  schmerzlich ! O Weinen,  o siifies  Zusammen- 
brechen,  seliges  Schmelzen.  Alle  Biicher  der  Welt  voll  Gedanken 
und  Gedichten  sind  nichts  gegen  eine  Minute  Schluchzen,  wo 
Gefiihl  m Strdmen  wogt,  Seele  tief  sich  selber  fiihlt  und  findet. 


» 


Hermann  Hesse  ♦ £i««  Traumfolge 


209 


Tranen  sind  schmelzendes  Seelen-Eis,  dem  Weinenden  sind  alle 
Engel  nah. 

Ich  weinte  mich,  alle  Anlasse  und  Griinde  vergessend,  von 
der  Hohe  unertraglicher  Spannung  in  die  milde  Dammerung  all- 
taglicher  Gefiihle  hinab,  ohne  Gedanken,  ohne  Zeugen.  Da- 
zwischen  flattemde  Bilder:  ein  Sarg,  darin  lag  ein  mir  so  lieber, 
so  wichtiger  Mensch,  doch  wuBte  ich  nicht  wer.  Vielleicht  du 
selber,  dachte  ich,  da  fiel  ein  anderes  Bild  mir  ein,  aus  groBer 
zarter  Feme  her.  Hatte  ich  nicht  einmal,  vor  Jahren  oder  in 
einem  friiheren  Leben,  ein  wunderbares  Bild  gesehen:  ein  Volk 
von  jungen  Madchen  hoch  in  Liiften  hausend,  wolkig  und 
schwerelos,  schon  und  selig,  leichtschwebend  wie  Luft  und  satt 
wie  Streichmusik? 

Jahre  flogen  dazwischen,  drangten  mich  sanft  und  machtig  von 
dem  Bilde  weg.  Ach,  vielleicht  hatte  mein  ganzes  Leben  nur  den 
Sinn  gehabt,  diese  holden  schwebenden  Madchen  zu  sehen,  zu 
ihnen  zu  kommen,  ihresgleichen  zu  werden!  Nun  sanken  sie 
fern  dahin,  unerreichbar,  unverstanden,  unerlost,  von  verzwei- 
felnder  Sehnsucht  miid  umflattert. 

Jahre  fielen  wie  Schneeflocken  herab  und  die  Welt  war  ver- 
andert.  Betriibt  wanderte  ich  einem  kleinen  Hause  entgegen. 
Mir  war  recht  elend  zumut,  und  ein  banges  Gefvihl  im  Munde 
hielt  mich  gefangen,  angstlich  tastete  ich  mit  der  Zunge  an  einen 
zweifelhaften  Zahn,  da  sank  er  schon  schrage  weg  und  war  aus- 
gefallen.  Der  nachste  — auch  er ! Ein  ganz  junger  Arzt  war  da, 
dem  ich  klagte,  dem  ich  bittend  einen  Zahn  mit  den  Fingem 
entgegenhielt.  Er  lachte  leichtherzig,  winkte  mit  fataler  Berufs- 
gebarde  ab  und  schiittelte  den  jungen  Kopf  — das  mache  nichts, 
ganz  harmlos,  komme  jeden  Tag  vor.  Lieber  Gott,  dachte  ich. 
Aber  er  fuhr  fort  und  deutete  auf  mein  linkes  Knie:  da  sitze  es, 
da  sei  hingegen  nimmer  zu  spafien.  Furchtbar  schnell  griff  ich 
ans  Knie  hinab  — da  war  es ! Da  war  ein  Loch,  in  das  ich  den 
Finger  legen  konnte,  und  statt  Haut  und  Fleisch  nichts  zu  er- 
tasten  als  eine  gefiihllose,  weiche,  lockere  Masse,  leicht  und 
faserig  wie  welkes  Pflanzengewebe.  0 mein  Gott,  das  war  der 
Verfall,  das  war  Tod  und  Faulnis!  „Da  ist  nichts  mehr  zu 


210 


Hermann  Hesse  ♦ Eine  Traumfolge 


machen?“  fragte  ich  mit  miihsamer  Freundlichkeit.  „Nichts 
mehr“,  sagte  der  junge  Arzt,  und  war  weg. 

Ich  ging  erschopft  dem  Hauschen  entgegen,  nicht  so  ver- 
zweifelt  wie  ich  hatte  sein  miissen,  sogar  fast  gleichgiiltig.  Ich 
muBte  jetzt  in  das  Hauschen  gehen,  wo  meine  Mutter  mich  er- 
wartete  — hatte  ich  nicht  ihre  Stimme  schon  gehort  ? ihr  Gesicht 
gesehen  ? Stufen  fiihrten  hinauf,  wahnsinnige  Stufen,  hoch  und 
glatt  ohne  Gelander,  jede  ein  Berg,  ein  Gipfel,  ein  Gletscher. 
Es  wurde  gewifi  zu  spat  — sie  war  vielleicht  schon  fort,  vielleicht 
schon  tot  ? Hatte  ich  sie  eben  nicht  wieder  rufen  horen  ? Schwei- 
gend  rang  ich  mit  dem  glatten  Stufengebirge,  fallend  und  ge- 
quetscht,  wild  und  schluchzend,  klomm  und  preBte  mich, 
stemmte  brechende  Arme  und  Knie  auf,  und  war  oben,  war  am 
Tor,  und  die  Stufen  waren  wieder  klein  und  hiibsch  und  von 
Buchsbaum  eingefaBt.  Jeder  Schritt  ging  zah  und  schwer  wie 
durch  Schlamm  und  Leim,  kein  Vorwartskommen,  das  Tor 
stand  offen,  und  drinnen  ging  in  einem  grauen  Kleid  meine 
Mutter,  ein  Korbchen  im  Arm,  still  und  in  Gedanken.  O,  ihr 
dunkles,  schwach  ergrauendes  Haar  im  kleinen  Netz ! Und  ihr 
Gang,  die  kleine  Gestalt!  Und  das  Kleid,  das  graue  Kleid  — 
hatte  ich  denn  alle  die  vielen,  vielen  Jahre  her  ihr  Bild  ganz  ver- 
loren,  gar  niemals  nchtig  mehr  an  sie  gedacht?!  Da  war  sie,  da 
stand  und  gmg  sie,  nur  von  hinten  zu  sehen,  ganz  wie  sie  war, 
ganz  klar  und  schon,  lauter  Liebe,  lauter  Liebesgedanke ! 

Wiitend  watete  mein  lahmer  Schritt  in  der  zahen  Luft,  Pflan- 
zenranken  wie  diinne  starke  Seile  umschlangen  mich  mehr  und 
mehr,  feindselige  Hemmnis  iiberall,  kein  Vorwartskommen! 
„Mutter !“  rief  ich  — aber  es  gab  keinen  Ton  . . . Es  klang  nicht. 
Els  war  Glas  zwischen  ihr  und  mir. 

Meine  Mutter  ging  langsam  weiter,  ohne  zuriickzublicken, 
still  in  schonen  sorglichen  Gedanken,  strich  mit  der  wohlbe- 
kannten  Hand  einen  unsichtbaren  Faden  vom  Kleide,  biickte 
sich  iiber  ihr  Korbchen  zum  Nahzeug.  0 das  Korbchen ! Darin 
hatte  sie  mir  einmal  Ostereier  versteckt.  Ich  schrie  verzweifelt 
und  lautlos.  Ich  lief  und  kam  nicht  vom  Ort ! Zartlichkeit  und 
Wut  zerrten  an  mir. 


Hermann  Hesse  * Eine  Traumfolge 


21  I 


Und  sie  ging  langsam  weiter  durch  das  Gartenhaus,  stand  in 
der  jenseitigen  offenen  Tiir,  schritt  ins  Freie  hinaus.  Sie  senkte 
den  Kopf  ein  wenig  zur  Seite,  sanft  und  horchend,  ihren  Ge~ 
danken  nach,  hob  und  senkte  das  Korbchen  — ein  Zettel  fiel  mir 
ein,  den  ich  als  Knabe  einmal  in  ihrem  Korbchen  fand,  darauf 
stand  von  ihrer  Ieichten  Hand  aufgeschrieben,  was  sie  fur  den 
Tag  zu  tun  und  zu  bedenken  vorhatte  — ..Hermanns  Hosen  aus- 
gefranst  — Wasche  einlegen  — Buch  von  Dickens  entlehnen  — 
Hermann  hat  gestem  nicht  gebetet.“  — Strome  der  Erinnerung, 
Lasten  von  Liebe! 

Umschniirt  und  gefesselt  stand  ich  am  T or,  und  driiben  ging 
die  Frau  im  grauen  Kleide  langsam  hinweg,  in  den  Garten,  und 
war  fort. 


212 


Ludwig  Bdutner  * Lied  der  Dichier 


KLEINE  ANTHOLOGIE 

Budwig  ‘Baumer: 

LIED  DER  DICHTER 

Wird  ein  Sommer  sein,  an  Kreuzen  aufgerichtet, 
Eselinnen  iiber  Purpur  schreiten, 

Angst  des  Weltalls  wird  zum  Schwamm  verdichtet 
Unsre  stillen  Lippen  suchtumgleiten. 

Und  uns  werden  immer  nur  die  Kinder  ernten 
Uns  in  ihre  unermessnen  Hande  liefem, 

DaB  wir  ihre  wundervollen  nachtbesternten 
Siichte  einer  ungeahnten  und  als  Himmel  tiefem 

Landschaft  in  die  aufgetanen  Munde  reichen. 

Wird  einmal  ein  Friihling  ohne  gleichen 

Wie  ein  Mord  am  Winter  durch  die  StraBen  ziehn, 

Uber  unsre  Augenhohlen  streichen, 

Und  sie  miissen  wieder  wie  ein  Anfang  gliihn. 


Ottokar  Brezina  * Erloschen  tausend  Sterne 


Otfolcar  brezina: 

ERLOSCHEN  TAUSEND  STERNE . . . 

Erloschen  tausend  Sterne  wie  gliihende  Weihrauchkorner, 
die  bei  jaher  Gebarde  aus  dem  Rauchfafi  im  Raum  sich  ver- 
st reu  ten, 

und  Duft,  unendlich  gestiegen,  hat  das  erblaBte  Antlitz  der 
Engel  verhiillt, 

Doch  horen  wir’s  bang  im  Klang  ihres  Hymnus : 

Aus  Liebe  zu  uns  erbebten  sie!  Tag  naht  und  findet  uns  un- 
geriistet ! 

Aufruhr  durchtobt  unsre  Gassen ! Sieh,  Glocken  tonen  entsetzt 
und  noch  kein  Brand  zu  gewahren ! Nur  Vogel  weissagend 
wie  schwarze  Konstellationen  umkreisen  uns  oben. 


Von  Millionen  Nahenden  sehn  unsre  Stadt  wir  belagert. 

Stets  Neue  drangen  heran  aus  den  Zeiten.  Was  weint  ihr? 

Und  laBt  Furcht  der  Liebenden  Handen 
die  Rosen  entsinken?  Sind  nicht  die  Sieger  unsere  Briider 
und  der  Spender  des  Sieges  nicht  unser  Vater? 


Es  sinke,  was  aus  schwarzem  Vulkanblock  der  Gehenna  wir 

bauten, 

zu  Schutthaufen  nieder ! Schonere  Stadte  als  die  unsre 
sah  der  Blick  der  Propheten.  Und  doch  kam  im  Rauch  ihrer 
kiinftigen  Feuer 

Blutweinen  in  die  Augen,  weit  auf  in  Ekstase! 

Fur  Graber  zahlloser  Korper  reicht  die  Tiefe  der  Erde, 
doch  dem  Fluge  der  Seelen  geniigt  nicht  das  All,  nicht  die 
bliihenden  Welten. 


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2 1 4 Ottokar  Brezina  ♦ Erloschen  tausend  Sterne  . . 

Mit  weifien  Sonnen  wie  mit  Marmor  streben  sie  zu  bauen  und 
die  Sekunde  ihrer  Freude 
fur  ewig  dariiber  zu  wolben  als  Himmel ! 

Offnet  die  Tore!  Bekranzte  Jungfrauen  lafit  smgen!  Und  zu 
den  Entfemtsten 

entsendet  die  Botschaft  der  Liebe  gleicb  Tauben!  Sie  ruhen 
aus  auf  den  Herzen  der  Briider 
und  finden  zur  mystischen  Heimat  den  Weg  durchs  Unendliche, 
wo  gelesen  wird  ihre  verborgene  Schrift. 

Mogen  vor  uns  in  den  verbrannten  Gassen  tanzen  die  Flammen 
wie  Gefangene  im  Triumph!  Wir  fesseln  bose  Krafte  mit 
magischer  Kette. 

Und  zwingen  die  Erde  zu  bliihn,  wie  nie  sie  gebliiht, 
und  schreiten  durch  Rosen  der  Unsterblichkeit  zu. 

(‘Deutscfi  von  Olto  Vickj 


Rudolf  Fuchs  ♦ Dcr  Fluchtling 


215 


n{udoff  (Fuchs : 

DER  FLUCHTLING 

Das  Haus  war  starr  von  Nacht  und  scharfen  Waffen, 
und  Brandgeruch  belagerte  den  Zaun, 
als  er,  das  Schicksal  sich  vom  Hals  zu  schaffen, 
sich  unter  blasse  Sterne  konnte  traun. 

Und  als  die  Schritte  langsamer  sich  fanden 
und  boser  Aufruhr  wie  ein  Traum  verblich, 
erblickte  er  sich  bange  auferstanden, 
und  seine  wehen  Worte  sangen  sich: 

„Wie  vieles  nannt  ich  Du  vor  diesen  Tagen! 

Und  wieder  harrt  die  Pforte  angelweit, 
nichts  wehrt  mir,  mich  mit  Kranzen  umzutragen 
fiir  Madchen,  Himmel,  Baum  und  Abendzeit, 
fur  bunte  Fahnen,  die  im  Taumel  wehen 
und  fiir  die  Schatten,  welche  immerzu 
den  Feiertagen  sich  entgegendrehen  — 

Ich  aber  zu  mir  selber  sage : Du !“ 

Und  also  ausgestoBen  aus  der  Mitte 
beriihrte  er  den  steilen  Kiistenstrich, 

GeroIIe  taumelte  um  seine  Schritte, 
und  unten  schrie  die  Brandung. 

Dem  Sturme  iiberliefi  er  seine  Schwelle 
(die  arme  Wohnung  atemlos  und  leer) 
und  miindete  im  Augenblick  der  Welle 
aus  seiner  Wunde  in  das  groBe  Meer. 


34  Vol.  IH/2 


\-l. 


216  Max  Herrmann  ♦ Ihr  im  Sommer  leeren  Dacher,  Dielen  . . 


HT(ax  3ferrmann: 

IHR  IM  SOMMER  LEEREN  DACHER,  DIELEN 

Ihr  im  Sommer  leeren  Dacher,  Dielen, 

Hofe,  und  ihr  weiBen  Villen,  deren 
Schone  Fraun  und  Herrn  an  fernen  Seen 
Mit  der  Lassigkeit  des  Freiseins  gehen, 
Biihnenhauser,  ausgebrannt  wie  Gruben, 

Und  ihr  grtin  verstummten  Vorstadtstuben, 

Wo  jetzt  Stieglitze  Verstecken  spielen, 

Schulen,  die  in  Ferien  verwildern, 

Staub  auf  Banken,  Tafeln,  Kaiserbildern, 

O wie  lehnt  ihr  arm  in  eurer  Leere, 

Jede  stohnt:  ,,Wie  ich  Getrieb  entbehre! 

Wo  sind  meiner  flinken  Schwarme  Fiillen, 

DaB  sie  mich  in  lauter  Warme  hiillen, 

Dafi  sie  mich  mit  ihrem  immer  wachen 
Atemwmd  zu  einer  Harfe  machen  ?“ 

Ach,  den  Glocken  auf  den  Korridoren 
1st  die  strenge  Stimme  wie  erfroren, 

Und  die  Geige  hat  Gefiihl  und  Jung-Sein 
Und  die  Uhr  ihr  Augenlicht  verloren, 

Und  der  Treppen  friihes  auf  dem  Sprung  sein 
Hangt  wie  umgebracht  und  ungeboren ! 

0 wie  fiihl  ich  eure  arme  Leere 
Tief  im  Herzen  mit  und  dieser  bangen 
Langen  Weile  laue  Sonntagsschwere ! 

Und  der  Barren  und  die  Kletterstangen 
Und  der  lustige  Rundlauf  sind  Gespenster 


Max  Herrmann  ♦ I hr  im  Sommer  leeren  Dacher,  Dtelen  ...  2)7 

Wie  die  Furcht  der  lautlos  starren  Fenster, 

Die  zuvor  wie  Morgenwalder  sangen, 

Wenn  das  Lineal  verstohlen  Takt  schlug 

Und  das  Pfeifen  auf  dem  Federkasten 

Einen  Traumer  zur  beglanzten  Schlacht  trug  . . . 

Wie  vergeh  ich  im  erzwungnen  Fasten 
Der  Biifetts  und  ungedeckten  Tische, 

Wo  die  hellen  Frauen  rastend  safien 
Und  mit  schmalen  Gesten  tastend  afien 
Und  im  Garten  sterben  eure  Fische, 

Denen  Fremde  gutzutun  vergaBen! 

Wie  vergeh  ich  mit  den  leeren  Stiihlen 
Der  Parkette  und  der  Logen-Lucken, 

Und  im  Staub,  wie  eingestiirzte  Briicken, 

Triimmern  so  geblieben  von  Kulissen 
Und  Maschinen  jah  gehemmt  wie  Miihlen, 

Deren  Rad  mit  Eins  auf  Halt  gerissen! 

Wie  vergeh  ich  mit  den  Sofakissen 
Und  den  Vasen  und  dem  Aschenbecher 
Hinter  den  geschloBnen  Jalousien  — 

Wann  wird  wieder  heimlich  an  gewissen 
Sonntagnachmittagen  Schal  und  Facher 
Bei  euch  sein  und  jemand  auf  euch  knien, 

Wann  Beschworung  immer  schwtiler,  wilder 
Und  verwirrter  Zartlichkeit  Geraun 
Rinnen  iiber  Spiegel,  Buch  und  Bilder 
Und  euch  wieder  in  das  Leben  baun! 

Wie  vergeh  ich  grau  in  eurem  Graun ! 

Aber  ihr  seid  nur  fiir  kurze  Zeit 
Leichthin  weggelegt  und  fast  vergessen, 

Nur  fur  Wochen  sachte  eingeschneit. 


218  Max  Herrmann  * I hr  im  Sommer  leeren  Dicker,  Dielen  . . . 

Ihr  habt  Pflicht  und  Werk  besessen 
Und  es  wird  euch  immer  wieder  werden, 

Wenn  mit  weichen  Wiederkehr-Gebarden 
Sich  Willkommenkranze  wehend  winden 
Und  die  ausgeruhten,  muntern  Fiifie 
Euren  Fliesen  flinkre  Tanze  finden, 

Und  die  alten  guten  MorgengriiBe 
Und  die  alten  guten  SchluB- Chorale 
Wieder  Glied  an  Glied  zur  Kette  binden. 

Wie  beneid*  ich  eure  lauten  Sale! 

Denn  ich  bin  ein  ganzes  banges  Leben 
Hilflos  leergelassen  und  verschiittet, 

Keiner  Seele  darf  ich  Antwort  geben, 

Keinem  Lied  im  gleichen  Echo  schweben, 

Keine  miide  Schwester  betten,  keiner 
Diirstenden  den  Krug  zum  Munde  heben ; 
Niemand,  war’  er  noch  so  wiist  zerriittet, 

Der  vor  meinem  Haus  um  Obdach  bittet, 
Niemand,  der  mich  „Iieben  Lehrer“  nennt! 
Ungeniitzt  verkiimmern  meine  Gaben, 

Weder  Sommer  darf,  noch  Herbst  ich  haben, 

Und  wie  junges,  grimes  Gras  verbrennt, 

Geh’  ich  ungeemtet  aus  als  Einer, 

Der  die  eignen  Kinder  nicht  erkennt. 


Gerhart  Husserl  ♦ Abend 


2 19 


Gerhart  SJfusserf: 


ABEND 

Die  Strafie  sticht  den  Abend  in  die  Seite 
Und  golden  tranend  beugt  er  seinen  Leib 
Raffend  mit  Hasten  seine  blaue  weite 
Fallende  Tracht,  in  der  die  unbereite 
Hand  sich  verbricht  in  Formenfellvertreib. 

Die  Waffe  fiel  mehr,  denn  ein  Arm  sie  ziickte. 
Die  Stadt  verlieB  die  Riistung  vor  dem  Bad 
Und  nun,  da  alles  mit  den  Wellen  riickte. 

In  deren  Ketten  tiefe  Bindung  gliickte, 

Rollte  das  Pflaster  wie  ein  schnelles  Rad, 

Von  Hauch  und  Nebel  siegend  angeblasen  — 

Da  kam  der  ungenaue  Gegenstand: 

In  Stein  und  Abhang  splitterte  der  Rasen, 

Die  Steme  standen  auf  in  schlanken  Vasen 
Und  klirrend  schlug  und  brach  des  Rades  Rand. 


220 


Bernhard  Guttmann  ♦ Huber  und  Cox 


ernfiard  Quiimann: 

HUBER  UND  COX 

EIN  zeitcenOssisches  gesprAch 


fTlus  einer  ‘BrofcfiHre,  einem  kfeinen  fKunftwerfe,  das  Gugen 
‘Diederichs  in  (Jena  verfegt  fiat.  Vie  psychologize  JCraft  der 
1 Varfleffung  ift  von  reiffler  Oronie  umfloffen  und  tuweilen  wie  hin* 
Zmef*end  in  ihr,  wenn  dii  Grkenntnis  in  afle  fflnarchien  zu 
mOnden  dr o fit. 


IE  waren  beide  kraftige  Manner,  von  gutem  Wuchse  und 
aufrechter  Haltung.  Sie  stutzten  bei  der  Begegnung ; sogleicb 
spiirte  einer  im  andern  den  ebenbiirtigen  Ringer.  Weil  aber 
beides  Menschen  von  groBem  personlichem  Mute  waren,  so 
liefien  sie  sicb  mit  zum  AuBersten  entschlossener  Miene  auf 
die  Enden  der  Bank  nieder,  zwischen  sich  zwei  Ellen  Holz  und 
einen  Ozean  des  Widerwillens.  Miirrisch  geradeaus  blickend, 
schwiegen  die  zwei  nebeneinander  her.  Da  ereignete  sich  etwas 
Merkwvirdiges,  das  die  Situation  griindlich  verandem  sollte. 
Der  eine  Mann  namlich,  der  am  rechten  Ende  der  Bank  saB 
und  Cox  hiefi,  weil  sein  Vater  so  geheiBen  hatte,  empfand  in- 
folge  eines  aufgehenden  Seewindes  einen  Niesreiz,  zog  ein  vio- 
lettseidenes  Tuch  aus  der  Tasche  und  wollte  es  auseinander- 
falten,  als  die  namliche  Brise  seinen  unachtsamen  Fingem  den 
leichten  Gegenstand  entfiihrte.  Der  Fluchtling  kam  nicht  weit ; 
er  flatterte  seitwarts  und  strandete  am  felsigen  Kap  einer  Nase. 
Diese  gehorte  dem  andern  Herm,  einem  gewissen  Huber,  und 
der  faBte,  wahrend  ein  unwillkiirliches  Lacheln  beider  Gesichter 
iiberflog,  den  Deserteur  mit  festem  Griffe  und  gab  ihn  dem 
rechtmaBigen  Eigentumer  mit  einer  schwachen  Verbeugung 
zuriick.  Rasch  und  mit  mehr  Hoflichkeit,  als  er  vor  seinem  Vater- 


Bernhard  Gutimann  * Huber  und  Cox  22 1 

lande  eigentlich  verantworten  konnte,  sagte  Cox  : „Thank  you. 
Sir !“,  was  auf  der  Gegenseite  eine  neue  Verbeugung  und  ein 
unbestimmtes,  aber  nicht  geradezu  feindseliges  Gerausch  zur 
Folge  hatte.  Damit  hatte  der  Zwischenfall  beendet  sein  sollen, 
aber  der  Strudel  einmal  ins  Wallen  geratener  Empfindungen 
rib  Cox  fort.  Halblaut,  zogernd,  aber  doch  vemehmlich  sagte 
er,  dab  der  Tag  schon  sei.  Nun  weib  jedermann,  dab  eine  der- 
artige  Wetternachricht  von  keinem  Englander  umsonst  gemacht 
wird,  sondem  immer  einen  Beweis  keimenden  Vertrauens  lie- 
fert.  Sie  kann  zu  einem  Heiratsantrag  flihren  oder  zu  dem  Ver- 
sucb,  hundert  Pfund  Sterling  zu  borgen,  aber  stets  bekundet 
sie  den  Willen,  tiefere  menschliche  Beziehungen  einzuleiten. 
Huber  war  iiberrascht,  beunruhigt.  Er  kannte  die  Arglist  des 
Feindes  und  fiirchtete  sie.  Dennoch  hielt  er  es  fur  unpolitisch, 
seinen  Gegenpart  geradeaus  zuriickzustoben,  sondem  antwortete 
mit  einer  vorsichtigen  Bejahung.  Cox  fiihlte  sich  ermutigt  und 
strengte  eben  seinen  Geist  an,  um  etwas  geradeso  Gliickliches 
zu  sagen  wie  vorhin,  als  sich  plotzlich  vier  neue  Ankommlinge 
in  dem  Raume  zwischen  beiden  auf  der  Bank  niederlieben. 

Els  ist  eine  Tatsache  des  Lebens,  die  von  der  Wissenschaft 
noch  nicht  entdeckt  worden  ist,  dab  ein  Mensch  und  ein  anderer 
Mensch  nur  so  lange  zwei  sind,  als  sie  stumm  nebeneinander 
sitzen,  aber  mehr  als  zwei,  wenn  sie  zu  reden  anfangen.  Eins 
und  ems  machen  blob  in  der  Algebra  ein  Paar.  Sind  ein  Apfel 
und  eine  Nub  zwei?  Und  ist  der  Mensch  von  seinesgleichen 
nicht  verschiedener  als  Apfel  von  Nub?  Jemand  hat  die  These 
aufgestellt,  dab  an  jeder  Unterhaltung  zwischen  A und  B nicht 
zwei  Personen  beteiligt  sind,  sondem  sechs.  Erstens  Herr  A 
selber  in  Fleisch  und  Blut,  vom  Stehkragen  bis  zu  den  Lack- 
schuhen.  Dann  sitzt  einer  dabei,  der  fiir  gewohnliche  Augen 
unsichtbar  bleibt.  Dieser  A2,  der  auf  Beschauer  den  allervor- 
teilhaftesten  Eindruck  machen  wiirde,  wenn  man  ihn  erblicken 
konnte,  verkorpert  die  Vorstellung  A’s  von  sich  selber.  A* 
dann  ist  das  Wesen,  das  B in  A sieht.  Eine  ebensolche  Reihe 
geht  auch  von  Herm  B aus.  Beginnt  nun  die  [Conversation,  so 
entsteht  Wirrwar.  A2  macht  zu  B eine  Bemerkung,  die  B2 


7777777 


222 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


falsch  deutet,  worauf  B*  so  antwortet,  dafi  nach  mehreren  un- 
ergiebigen  Zwischenreden  aller  Anwesenden  A verstimmt  von 
dannen  geht  und  B seine  friihere  ungiinstige  Ansicht  von  die- 
sem  Patron  bestatigt  findet.  Diese  Erfahrung  machen  wir  tag- 
Iich,  wiewohl  festzustellen  ist,  dafi  mit  unserm  eigenen  Altem 
A*  und  A 8 sich  stiller  und  kleinlauter  zeigen;  denn  sie 
schrumpfen  zusammen,  je  gleicKgiiltiger  wir  uns  selbst  und 
anderen  allmahlich  werden.  Nach  zwanzig  Jahren  einer  in 
jedem  Sinne  gliicklichen  Ehe  kennen  Sie  das  Innenleben  Ihrer 
Gattin  noch  nicht  vollig,  immer  horen  Sie  gelegentlich  wieder 
ein  Wort,  das  Sie  besturzt  macht,  ja  krankt,  einer  Dame,  der 
Sie  so  lange  Ihr  Vertrauen  geschenkt,  nicht  ganz  wiirdig  zu  sein 
scheint.  Friiher  war  es  schlimmer,  Sie  glaubten  manchmal  in 
einem  tiirkischen  Serail  zu  hausen  und  erwachten  jeden  Morgen 
mit  einer  andem  Frau.  Ahnliches  hat  aber  auch  Ihre  Gemahlin 
erfahren . 

Nachdem  wir  also,  ohne  dafi  es  uns  etwas  kostete,  zwischen 
Huber  und  Cox  vier  neue  Leute  aus  der  Erde  gestampft  haben, 
fiihren  wir  diese  beim  Publikum  ein.  Der  eine,  der  Huber  zu- 
nachst  Platz  nahm,  war  ein  schoner,  sogar  ein  wunderschoner 
Mann.  Er  war  sechs  Fufi  hoch,  besafi  voiles  blondes  Haar. 
mehrere  Schlagerschmarren  auf  der  Backe  und  tiefe,  strahlende 
blaue  Augen,  die  im  Gewiihl  der  Schlacht  den  Feind  wie  sen- 
gender  Stahl  anblitzten  und  doch  so  unendlich  mild  und  giitig 
blicken  konnten,  wenn  Edelhuber  — so  hiefi  er  und  war  wissen- 
schaftlicher  Hilfslehrer  an  der  Oberrealschule  zu  Kaltenleba  — 
in  trautem  Kreise  in  ein  treues  Antlitz  schaute.  Ihm  vollig  un- 
ahnlich  war  ein  anderer,  ziemlich  klemer  und  schlecht  gewach- 
sener  Mensch,  mit  zu  kurzem  dickem  Halse,  krummen  Beinen, 
abstehenden  Ohren  und  Platschnase,  auf  der  eine  hafiliche 
Brille  safi.  Seine  Kleidung  war  schabig  und  unsauber,  am 
Rocke  fehlten  ihm  mehrere  Knopf e,  die  Hosen  waren  durch- 
gestofien.  Duckmauski  war  der  Name  des  Individuums. 
Weiter ! Zunachst  Cox  setzte  sich,  den  Seidenhut  in  vomehm 
nachlassiger  Weise  zum  Grufie  beruhrend,  jemand  hin,  in  dem 
man  beim  ersten  Anblick  den  vollendeten  Gentleman  erkannte. 


Bernhard  Guttmann  * Huber  uni  Cox  223 

Sir  Ralph  Supercox  verriet  in  jeder  Bewegung  den  geborenen 
Aristokraten ; in  der  Tat  hatte  er,  obwohl  sein  Vater  das  Geld 
in  einem  Herrenschneidergeschaft  in  der  Nahe  von  Piccadilly 
gemacht  hatte,  noch  niemals  im  Leben  etwas  gearbeitet,  und 
seine  Gemahlin,  Lady  Supercox,  war  im  vierten  oder  fiinften 
Grade  mit  einem  irischen  Lord  verwandt.  Endlich  zwangte  sich 
auf  die  nun  stark  gefiillte  Bank  noch  ein  sechster,  der  wie  ein 
Olgotze  dreinsah.  Er  hatte  wasserblaue  Augen,  die  gleichzeitig 
auBersten  Stumpfsinn  und  eine  gewisse  niedrige  Schlauheit  ver- 
kiindeten.  Eine  arrogant  vorspringende  Nase  war  das  einzige 
Auffallende  in  dem  geistlosen  und  glattrasierten  Gesichte ; diinne 
Uppen  bedeckten  die  zwei  Reihen  stark  entwickelter  Zahne 
nicht  ganzlich.  Dies  war  Mister  Jamnose;  unnotig  seine  Natio- 
nalist noch  eigens  anzusagen. 

Als  nun  alle  saBen,  rief 

Edelhuber:  Heil,  Heilo,  Heil!  Sieg  dem  Heerbann,  Sieg 
dem  Wehrbann ! Hei,  Wunschmaid,  hei,  Windsbraut ! Unsere 
Gotter  in  Liiften,  hui!  Tyr,  der  Totende,  Rotende!  Donar, 
der  Wetterer,  Schmetterer!  Wodan,  der  Wolkische,  Volkischel 
Hei!  Dem  ReuBen  Schmach!  Dem  Walen  Zorn!  Dem  Briten 
HaB!  Hojo,  hojo,  hei! 

Sir  Ralph  Supercox:  Was  sagt  der  verdammte  Hunne ? 
Ich  will  Wilhelm  heiBen  und  Knackwiirste  essen,  wenn  ich  nur 
fiir  einen  verdammten  Penny  verstehe. 

Duckmauski:  Er  redet  altgermanisch,  Sir.  Es  ist  die 
Mundart,  die  Ihre  Vorfahren  Hengist  und  Horsa  sprachen,  als 
sie  aus  unserer  bettelarmen  Heimat  nach  dem  reichen  und  freien 
England  aus wanderten , umden  hohen  Lebensmittelpreisen  und 
der  Arroganz  einer  engen  bureaukratischen  Kaste  zu  entgehen, 
wie  es  seitdem  so  viele  deutsche  Hungerleider  gemacht  haben. 

Edelhuber:  Hengist,  Horsa,  hei!  Germanenhelden,  hei! 
Reisige  RoBrecken ! RoBopfer  flammten  euren  Siegen ! Mah- 
renfleisch  schmausten  beim  Mete  die  Manner!  Hei! 

Duckmauski:  Ja,  Pferdefleisch  essen  wir  bis  auf  diesenTag. 

Edelhuber:  Du  Iugst,  Erbarmlicher ! Wer  bist  du,  mit 
britischen  Silberlingen  gekaufter  Judas? 


v.v.v.v 


224 


J 


' ernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


Sir  Ralph:  Beleidigen  Sie  meinen  Freund  Duckmauski 
nlcht!  Dleser  Deutsche  Jst  mir  ans  Herz  gewachsen,  obwohl 
er  so  unappetitlich  aussieht  und  bestandig  nach  Wurst  und 
Halfpenny-Zigarren  rlecht.  Guter,  kleiner  Duckmauski!  Um 
ihn  von  dem  seelentotenden  Joche  des  preufiischen  Militarismus 
zu  erlosen,  zog  ich  ja  in  diesen  Krieg. 

Edelhuber:  O,  ihr  angelsachsisches  Heuchelgeziicht ! Eure 
ganze  Geschichte  ist,  wie  unser  Professor  Tranfisch  mitZitaten 
aus  euren  eigenen  Historikern  schlagend  gezeigt  hat  (hierbei 
zog  Edelhuber  eine  Anzahl  Eine-Mark-Biicher  aus  der  Tasche), 
nichts  als  Blutdurst,  Geldgier  und  Luge.  Euer  Geschichtschrei- 
ber  Seeley  selbst  bemerkt,  wie  der  tiefgelehrte  Tranfisch  in 
seinen  unermiidlichen  Forschungen  aufgedeckt  hat,  daB  bei  euch 
Krieg  und  Handel  unlosbar  miteinander  verflochten  gewesen 
seien.  Mit  einem  Worte,  eure  Machthaber  fiihrten  Krieg  aus 
Gewinnsucht!  Pfui! 

Duckmauski:  Unsere  Machthaber  hingegen  begannen 
Krieg  aus  vornehm  altruistischer  Gesinnung,  wie  mein  Neffe, 
der  Obertertianer,  sich  ausdiiickt.  So  nahm  Friedrich  der  GroBe 
der  schonen,  aber  unerfahrenen  Maria  Theresia,  als  sie  mit  ihrer 
ganzen  iibngen  Erbschaft  gerade  1m  allergroBten  Schlamassel 
war,  Schlesien  weg,  um  ihr  die  Verwaltung  der  Konkursmasse  ein 
biBchen  zu  erleichtern.  Er  wiirde  recht  gern  mehr  iibernommen 
haben,  wenn’s  seine  gedriickten  Verhaltnisse  erlaubt  hatten. 

Huber:  Ich  mochte  wohl  wissen,  was  Mr.  Jamnose  zu  alle- 
dem  sagt.  Warum  sitzt  er  immer  schweigend  da? 

Edelhuber:  Weil  er  ein  Automat  ist  und  gar  nicht  redet, 
wenn  man  ihm  nicht  ein  Geldsttick  in  die  Offnung  am  Hals- 
kragen  hineinwirft.  Haben  Sie  schon  einmal  einen  Englander 
gesehen,  der  etwas  umsonst  tut?  Geben  Sie  mir  einen  Nickel, 
Huber;  ich  selbst  besitze  kein  Vermogen.  (Nachdem  man  eine 
Miinze  in  Jamnose  hineingesteckt  hatte,  hielt  dieser  den  rechten 
Arm  steif  vor  sich,  sperrte  die  Kinnbacken  auseinander  und 
liefi  aus  seiner  Kehle  ein  ratterndes  Gerausch  vemehmen.) 

Jamnose:  Ratt  — ratt  — Fifty  Percent ! Damned  Germans ! 
Whisky  and  Soda!  Football!  Roastbeef!  Ratt  — ratt  — 


ernhard  Guttmann  ♦ Huber  und  Cox 


Huber:  1st  das  alles,  was  er  sagen  kann? 

Edelhuber:  Erwarteten  Sie  mehr?  Es  ist  der  Inhalt  des 
englischen  Seelenlebens.  . . 

Edelhuber:  Heldentum,  Brite,  ist  Pathos  des  Seins.  Neh- 
men  Sie  das  in  sich  auf!  Wie  andere  Menschen  ifit  und  trinkt 
auch  der  Held,  ja,  er  sauft  leicht  etwas.  Doch  was  er  tue,  er 
tut  es  rein  und  naiv,  gleichsam  vor  sich  hin,  instinktsicher, 
ohne  schwachende  Reflexion,  ohne  das  Schielen  auf  die  anderen, 
auf  Bezahlen  oder  Pumpen.  Sei  er  reich  oder  arm,  fremd  ist 
ihm  das  kapitalistisch  niedrige  Vergleichen,  die  Gier  des  Er- 
werbens  kennt  er  nicht.  Vielleicht  tnnken  wohlhabende  Helden, 
wie  mein  Freund  Pelargonienstock  ist,  eine  oder  zwei  Flaschen 
Champagner  des  Abends.  Was  liegt  ihnen  daran?  Sie  verachten 
die  Goldstiicke,  mit  denen  sie  diese  Dinge  bezahlen,  und  ihre 
Gedanken  sind  derweilen  in  Himalajahohe.  Die  heroische  Welt- 
anschauung ist  die  letzte  Verfeinerung  des  Reichtums.  Der  un- 
bemittelte  Held  hingegen  ifit  mit  Siegfriedslachen  eine  trockene 
Kruste,  ohne  iippige  Handlerschmause  zu  neiden,  denn  er  ist 
stark,  einfach,  primitiv. 

Sir  Ralph:  Sagt’  ich’s  nicht,  dafi  euer  Heroismus  auf  Fis- 
kalismus  hinauskommen  wird?  Es  ist  eine  wunderbare  Erfin- 
dung,  die  wir  nachmachen  miissen.  Sie  lost  die  widerwartige 
soziale  Frage  spielend.  Unser  Arbeiter,  der  bei  Rindsbraten 
und  griinen  Erbsen  iiber  sein  Schicksal  knurrte,  wird  kiinftig 
Brot  mit  Sirup  bestrichen  essen;  anstatt  Bier  zu  schlemmen, 
wird  er  seinen  Kindem  das  „Rule,  Britannia**  auf  dem  Fami- 
lienkamm  vorblasen  und  sich  hierauf  einfach,  stark  und  primi- 
tiv mit  der  Frau  ins  Bett  legen. 

Duckmauski:  Ohne  schwachende  Reflexion!  Vergessen 
Sie  das  nicht! 

Edelhuber:  Der  Brite  ist  infolge  seiner  Rasseneigenschaf- 
ten  nicht  zum  Heldentum  fahig,  selbst  beim  besten  Willen. 
AuBer  uns  haben  nur  die  Tiirken  das  Zeug  dazu,  die  ich  nach- 
stens  durch  eine  Reihe  von  Vortragen  mit  Lichtbildern  in  die 
heroische  Denkweise  einfiihren  werde. 

Sir  Ralph:  Sie  reisen  also  nach  dem  Orient? 


226 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


Edelhuber:  Ja,  ich  bin  als  Professor  des  Mittelhochdeut- 
schen  an  die  Universitat  Biledschik  berufen  worden.  Die  ge- 
bildete  Jugend  Anatoliens  lechzt  danach,  das  Nibelungenlied 
in  der  Ursprache  zu  lesen.  Ich  habe  den  Beweis  erbracht,  daB 
Hagen  von  Tronje  ein  Tiirke  war. 

Sir  Ralph:  Wie  wollt  Ihr  aber  den  Osten  behaupten,  so- 
lange  wir  das  Meer  haben  ? 

Edelhuber:  Wir  pfeifen  auf  das  salzige  Wasser. 

Sir  Ralph:  Warum  bautet  ihr  dann  die  groBe  Schlacht- 
flotte? 

Edelhuber:  Um  den  Briten  den  Sonntagnachmittagschlaf 
zu  verderben.  Leugnen  Sie  etwa,  daB  wir  unsem  Zweck  er- 
reicht  haben? 

Sir  Ralph:  O nein,  ich  weifi,  daB  ihr  Unruhstifter,  Bar- 
baren  und  Piraten  seid. 

Edelhuber:  IhraberseidBanditen,  Rauberund  Intriganten. 

Sir  Ralph:  Die  deutsche  Geschichte  ist  voller  Bluttaten 
und  gebrochener  Schwiire. 

Edelhuber:  Die  englische  wimmelt  von  falschen  Ver- 
sprechungen  und  meuchlerischen  Uberfallen. 

Duckmauski:  Ja,  es  ist  ewig  schade,  daB  bei  dieser  Bluts- 
und  Wahlverwandtschaft  ein  solcher  Streit  herrscht.  Konnten 
sie  nicht  beisammen  wohnen  als  Briider  und  in  Eintracht  alien 
anderen  die  Gurgel  abmachen,  wo  ein  jeder  das  schone  Talent 
mitbringt? 

(<7lun  fetjt  in  Bernhard  Quttmanns  feraphifchem  OCafperf- 
theater  ein  dufierft  heftiger  hiftorifcfier  Bisicurs  ein,  in  deffen 
*Ver fauf  die  cJchandtaten  der  beider/eitigen  (Furfiengef<£fe<£ter 
in  fruheren  und  fruhejien  Oahrhunderten  gebuhrend  gekennm 
zeichnet  werden.  Gin  befonders  heftiges  ‘Werturteif,  das  Sir 
ftafph  ausfpricht,  bringt  Gdeihuber  endfich  aas  der  cFaffung:) 

Mit  drohender  Miene  streckte  er  den  Arm  gegen  Sir  Ralph 
Supercox  aus.  Die  zwei  erhoben  sich,  kamen  sich  naher  und 
schienen  zu  Gewaltsamkeiten  iiberzugehen,  als  ein  furchtbarer 
Knall  die  Luft  erschiitterte.  Edelhuber  und  Supercox  waren 
mit  den  Kopfen  aneinandergerannt  und  unter  Feuerschein  ex- 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


227 


plodiert;  es  erwies  sich  jetzt  namlich,  daB  beide  Personen  vollig 
mit  Gas  gefiillt  waren.  Im  Nu  wurde  Duckmauski  von  der 
Flamme  ergriffen,  er  war  ebenfalls  gasiger  Natur,  docb  enthielt 
sein  Inneres  auch  einige  fliissige  Saure,  die  beim  Aufschwellen 
einen  auBerst  ilbeln  Geruch  verbreitete.  Zuletzt  kam  der  teil- 
nahmlos  dasitzende  Jamnose  an  die  Reihe.  Dieser  stieB,  wah- 
rend  er  vorher  geschwiegen  hatte,  im  Tode  einen  Schwanen- 
gesang  aus,  denn  das  Feuer  brachte  seine  Sprechmechanik  zum 
Arbeiten;  mehrmals  horte  man  ihn,  wahrend  er  schon  von  dich- 
tem  Dampf  eingehlillt  war,  verzweiflungsvoll  sagen:  ..Fifty 


Percent 


Whisky  and  Soda 


Fifty  Percent 


4t 


Zuletzt  verstummte  er,  und  die  Flamme  erlosch.  Alles,  was  von 
den  Vieren  ubrigblieb,  waren  ein  paar  kleine  Haufchen  grauer 
Asche,  die  nicht  anders  aussah,  als  ob  sie  Cox  aus  seiner  kur- 
zen  Pfeife  herausgeklopft  hatte  — ein  trauriges  Ende  fur  so  viel 
Geist  und  Kenntnisse. 

Huber  und  Cox  schwiegen  etliche  Minuten,  als  ihre  Bank 
wieder  leer  geworden  war.  Hierauf  sprach 

Cox:  Nachdem  wir  von  diesen  Gasten  nun  befreit  sind, 
lassen  Sie  uns,  damit  viberhaupt  etwas  gerettet  werde,  auf  die 
Grundlage  jeder  kultivierten  Gesprachsbeziehung  zuriickgehen . 
Ich  konstatiere:  Es  ist  ein  schemer  Tag,  mem  Herr! 

Huber:  Der  Tag  ist  in  der  Tat  sehr  schon. 

Cox:  Waren  Sie  schon  friiher  in  dieser  Gegend? 

Huber:  Einige  Male,  und  immer  mit  Vergniigen. 

Cox:  Ja,  es  ist  em  schones  und  friedliches  Land,  und  seine 
Bewohner  sind  weise  genug,  anderer  Leute  Handeln  fernzu- 
bleiben. 

Huber:  Aha!  Ihnen  ist  Friedfertigkeit  ein  Symptom  der 
Weisheit ! Warum  lassen  die  Schafe  davon  nicht  etwas  merken  ? 
In  der  Natur,  die  eine  ganz  ertragliche  Lehrmeisterin  des  Realen 
ist,  sind  die  reifienden  Tiere  kltiger  als  die  sanften.  Nie  war 
Pallas  Athene  die  Gottin  der  Pazifisten. 

Cox:  Wie  alle  klugen  Leute,  bekannte  sie  sich  nicht  offen 
zum  Pazifismus.  Sie  ist  die  Schutzpatronin  der  bewaffneten  Neu- 
tralitat:  Schlage  dich  nur,  wenn  du  es  durchaus  nicht  vermeiden 


ernhard  Guttmann  * Ruber  und  Cox 


kannst!  Und  fordert  es  nicht  Klugheit  und  Kraft,  sein  Schiff 
an  diesem  fiirchterlichen  Malstrom  des  Krieges  hmzusteuern  ? 

Huber:  Dieses  Kompliment  hatte  man  sich,  wie  mir  scheint, 
auch  bei  Ihnen  verdienen  konnen,  wenn  man  sonst  wollte. 

Cox:  Ich  glaube  nicht.  Wir  sind  nicht  mehr,  was  wir  waren. 
darum  blieb  uns  nichts  iibrig,  als  mit  der  ubrigen  Herde  zu 
laufen  und  uns  aus  Korpsgeist  totschlagen  zu  lassen.  In  unserer 
guten  Zeit,  als  wir  die  starkherzigen  Kramer  wirklich  waren, 
die  Sie  uns  mit  Unrecht  noch  immer  scheiten,  wiirden  wir  es 
fertig  gekriegt  haben,  neutral  zu  bleiben  und  an  alle  Kriegs- 
parteien  zu  horrenden  Preisen  Kanonen  und  Baumwolle  zu  ver- 
kaufen.  Doch  wo  blieb  die  alte  Kraft? 

Huber:  Wem  ist  es  zweifelhaft,  dafi  England  diesen  Krieg 
aus  Neid  und  Eifersucht  auf  uns  angerichtet  hat  ? Es  ist  Bruder- 
mord,  ist  die  Tat  des  Kam. 

Cox:  Ich  wiirde  lacheln,  wenn  die  Vergleichung  des  aus 
zwanzigtausend  Schliinden  Verderben  speienden  Deutschland 
mit  dem  sanften  Lammerhirten  Abel  nicht  beinahe  tragisch 
ware.  Das  Merkwiirdige  ist,  dafi  Sie  uns  in  einem  Atem  hand- 
lerische  Profitsucht  und  hochst  ritterlichen  Blutdurst  zuschrei- 
ben,  wie  wenn  Kramer  ihrem  besten  Kunden  lm  Schlafe  die 
Kehle  abzuschneiden  pflegten,  um  den  Umsatz  nicht  zu  grofi 
werden  zu  lassen.  War  Kain  ein  Kohlenexporteur  und  Abel 
der  Piasident  ernes  Chemikahentrustes? 

Huber:  Justitia  fundamentum  regnorum,  wahrhaftig! 
Spriiche  aus  Albions  Schulfibel  fiir  halberwachsene  Kontinen- 
talvolker ! 

Cox:  Sollten  Sie  wirklich  meinen,  ich  wolle  Ihnen  weis- 
machen,  John  Bull  hatte  wie  ein  artiges  Baby  fremde  Rechte 
niemals  angeriihrt?  Er  hatte  etwa  nicht  hart,  riicksichtslos,  ja 
oft  barbarisch  seine  Macht  gebraucht?  Wenn  es  Ihnen  gefallig 
ist,  nehmen  wir  die  historischen  Schandlichkeiten  unserer  respek- 
tiven  Vorvater  als  bewiesen  an  und  lassen  den  Herren  Tranfisch 
und  Ditchwater  den  tristen  Spafi,  sich  die  Folianten  mit  den 
Greueltaten  gegenseitig  an  die  Kopfe  zu  werfen.  Dies  aber  ist 
der  Unterschied,  dafi  Sie  die  Gewalt  an  sich  verehren  und  wir 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


229 


die  Gewalt  an  sich  verabscheuen.  Auf  die  Gefahr  hin,  Ihre 
Heiterkeit  hervorzurufen,  versichere  ich,  daB  wir  selbst  in  unse- 
ren  schwarzesten  Zeiten  nur  ungern  anderen  Leuten  die  Kehle 
zuschniirten.  Ich  weifi,  daB  Sie  das  erstens  nicht  glauben,  zwei- 
tens  aber,  gerade  wenn  es  wahr  sein  sollte,  fiir  eine  besonders 
schmackhafte  Kostprobe  tief  im  Herzen  sitzender  britischer 
Heuchelei  ansehen.  Aber  just,  was  einer  heuchelt,  ist  so  lehr- 
reich!  Heuchelei  lafit  den  Teppich  der  Menschenseele  auf  der 
Riickseite  sehen ; die  Farben  sind  grotesk  vertauscht,  das  Grund- 
gewebe  ist  das  alte.  Unser  Cant  ist:  Nicht  Macht,  sondem 
Recht ! Euer  Cant  ist : Die  Macht,  weil  sie  das  Recht  ist ! Oder 
ist  Deutschland  etwa  nicht  der  Meinung,  daB  die  Macht  das 
Recht  erzeuge,  dafi  also  Macht  und  Recht  im  Grunde  eines 
seien,  so  zusammengehoren  wie  Kopfseite  und  Schriftseite  einer 
Miinze?  Und  wenn  sie  nur  verschiedene  Ansichten  einer  und 
derselben  Sache  sind,  waren  es  dann  nicht  Recht  und  Unrecht 
am  Ende  auch?  Man  konnte  das  Unrecht  vielleicht  anfangen 
Recht  zu  nennen,  sobald  es  lange  genug  gezeigt  hat,  es  besitze 
Zahne,  um  zu  beiBen.  Wie  lange  diese  Probezeit  dauern  soil, 
fiinfzig  Jahre  oder  fiinf,  das  mogen  die  Inhaber  der  historischen 
Lehrstiihle  auf  einem  der  so  beliebten  wissenschaftlichen  Kon- 
gresse  festsetzen.  Man  verweise  die  Frage  ein  fiir  allemal  aus 
dem  Gebiete  der  Moral  in  das  der  vergleichenden  Sittenge- 
schichte!  Was  Canning  von  Belgien  gedacht  hatte?  Ich  wiifite 
lieber,  was  der  deutsche  Bauer,  wenn  noch  einer  hinter  dem 
Pfluge  geht,  davon  denkt.  Zehntausend  geschaftige  Federn  be- 
weisen  uns  unaufhorlich,  daB  die  Staatsethik  ganz  verschieden 
von  der  Einzelethik  sei.  Mag  dies  richtig  sein  oder  nicht,  soil 
es  etwa  heiBen,  dafi  die  Privatethik  ein  stummer  Hund  zu  sein 
habe?  In  Ihrem  Lande  jedenfalls  scheint  nur  noch  Staatsethik 
zu  gedeihen;  jeder  einzelne  hat  sein  Gewissen  zu  dem  eines 
ganzen  Reiches  ausgeweitet,  jeder  Flickschneider,  der  auf  dem 
Tische  hockend  seines  Nachbarn  Hose  ausbessert,  zeigt  ein  be- 
klagenswertes  Verstandnis  fiir  die  Gedankenwelt  von  Premier- 
ministern.  Jawohl,  ein  Konig  wird  selten  mit  der  Moral  eines 
Flickschneiders  auskommen.  Aber  ich  meine,  Herr,  der  Flick- 


ernhard  Guttmann  ♦ Huber  und  Cox 


schneider  selber  sollte  Flickschneidermoral  haben,  nicht  Konigs- 
moral,  oder  wer  ist  seines  Lebens  sicher?  Wegs chaff en  kann 
niemand  die  furchtbare  Kluft  zwischen  dem  rechten  Wollen 
und  bosen  Miissen,  und  uns  hinter  euch  und  der  Zeit  Zuriick- 
gebliebene  schaudert’s  beim  Anblick  des  durch  keine  Ingenieur- 
kunst  der  Logik  zu  uberbriickenden  Felsenschlundes  zwischen 
Schicksal  und  Gewissen  oder  Staatsethik  und  Menschenethik; 
dieser  Schauder  ist  das  Tragische.  Hier  eine  kulturhistorische 
Einschaltung : Einige  unter  den  Nationen,  die  das  Schicksal 
iiber  das  Gewimmel  der  Volker  emporzuragen  bestimmt  hat, 
sind  mit  einer  geheimen  Bangigkeit  zur  GroBe  hinangeschritten. 
In  ihren  Tragodien  findet  sich  eine  trauervolle  Siegesahnung 
aufgefangen,  wie  in  einem  Feenspiegel,  der  die  Erscheinungen 
der  Seele  bannt.  Jenen  Augenblick  zuriickbebender  Selbstbe- 
sinnung erfuhren  die  Griechen,  Spanier,  Englander;  ja  vielleicht 
auch  die  Franzosen.  Von  anderer  Pragung  war  Rom ; nur  Eisen 
lebte  in  seinem  Gemiite,  nur  herrische  Bilder,  Legionentritt, 
richtende  Pratoren,  der  Erdkreis  in  Ketten,  kein  Zweifel  an  sich 
selbst,  kein  tragisches  Gesicht;  Gottes  Schmiedehammer,  der 
auf  die  Welt  niederfahrt,  sie  zu  schweiBen,  zu  ordnen,  zu  or- 
ganisieren, 

Huber:  Nein,  es  ist  nicht  wahr,  daBMacht  und  Recht  eines 
waren,  und  es  ist  nicht  wahr,  daB  wir  Deutschen  solches  ver- 
kiindigten.  Nur  sind  wir  nicht  willens,  den  Leuten  in  Paris  und 
London,  die  unsere  Ohnmacht  jahrhundertelang  schmunzelnd 
,,Recht“  genannt  hatten,  aufs  Wort  zu  glauben,  daB  unsere 
Macht  „Unrecht“  sei.  Wir  sagen,  daB  Macht  und  Recht  zuein- 
ander  gehoren,  aber  nicht  wie  Kopf  und  Schrift  einer  Miinze. 
Sondern  wie  Leib  und  Seele  den  Menschen  ausmachen,  so  bil- 
den  jene  nur  zusammen  den  wahren  Staat.  Was  Macht  ist,  fiihlt 
einer  wohl,  aber  was  Recht  sei,  dariiber  wird  man  streiten  diir- 
fen.  Ihr  bringt  euch  allerdings  in  dringenden  Verdacht  der 
Heuchelei,  wenn  ihr  die  blinde  Anbetung  der  zuletzt  geltenden 
Rechtsnormen  verlanget,  als  waren  diese  mit  alien  Gebresten 
der  Verganglichkeit  behafteten  Geschopfchen  ewig  bliihende 
Gotterbilder.  Kein  Schiedsgericht  wird  diese  Zufallsrechte 


Bernhard  Guttmann  ♦ Huber  und  Cox 


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lebendig  erhalten,  so  wenig  wie  eine  Wagenladung  von  beriihm- 
ten  Doktoren  dem  Individuum,  und  ware  es  der  Kaiser,  sein 
zufalliges  Dasein  lange  retten  kann.  Niemals  wird  die  Formel- 
knechtschaft,  m die  uns  die  Juristen  schlagen  und  die  schon 
das  innere  Leben  mit  Erstickung  bedroht,  in  der  auBeren  Staa- 
tenwelt  ertragen  werden,  weil  das  Volk  sich  allenfalls  in  seiner 
eigenen  Sprache  von  seinen  Baronen,  Grundlords,  Steuerraten 
und  reitenden  Landgendarmen  kujonieren  lafit,  aber  nicht  auch 
noch  von  fremden  Gewalthabern  im  riistigen  freien  Ausschrei- 
ten  gehindert  zu  werden  ertragt.  Einer  wie  alle  sind  echte 
Staaten  durch  Willkiir  und  scheinbares  Unrecht  entstanden, 
Zwingburgen  waren  sie  erst,  und  Schadel  in  Masse  sind  in  ihre 
Walle  vermauert.  Alles  dies  und  warum  es  sein  muB,  habt  ihr 
Westvolker  vergessen,  ihr  fiihlet  nichts  mehr  von  den  schauer- 
lichen  Zuckungen  eures  eigenen  Volksleibes ; was  ihr  davon  in 
den  Chroniken  leset,  ist  euch  Verleumdem  eurer  Ahnen  nicht 
der  zornige  und  gewalttatige  Drang  nach  Vollendung,  sondem 
die  Roheit  der  unkultivierten  Zeitalter.  Weil  wir  aber  mit 
unserm  Staate  spater  fertig  wurden,  so  meint  westeuropaisch- 
amerikanische  Plattheit,  er  sei  etwas  Erzwungenes,  Lebloses, 
eine  blofie  Sache,  die  einem  stumpf  zuschauenden  Teutonen- 
volk  wider  seinen  Instinkt  aufgeschmiedet  wurde.  Wir  jedoch 
wissen  vom  deutschen  Gemeinwesen,  daB  es  aus  derselben 
Natur  und  Sitte  gequollen  ist,  aus  der  unsere  Weisheit  und 
Dichtung  stammen ; nicht  zufalliger,  sondern  wesenhafter  Art ; 
gezeugtvon  hartenEltem,  Zwang  und  Not;  freigeworden  durch 
die  Arbeit,  geadelt  durch  das  Recht;  gekront  und  heimgefiihrt 
von  der  echten  Konigin  des  Landes,  der  Seele  der  Nation. 
Denn  was  einmal  stiitzendes  Sollen  war,  wurde  mannliches 
Wollen,  und  die  Gewalt  reifte  zum  Recht.  Das  ist  etwas  sehr 
anderes  als  die  zynische  Aussage,  daB  das  Recht  zu  Jahren  ge~ 
kommenes  Unrecht  sei.  Vorbei  ist  es  mit  jener  eigenttimlichen 
Freiheit,  auf  die  ihr  stolz  waret,  mit  der  moralischen  Oberhoheit 
der  Person,  mit  der  siiBen  Gewohnheit  jedermanns,  zuerst  an 
sein  Befinden  zu  denken  und  nur,  was  iibrigbleibt,  die  Bro- 
samen  von  der  abgegessenen  Tafel  des  souveranen  Ich,  jenem 


35  Vol.  m/2 


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232  Bernhard.  Gultmann  • Huber  und  Cox 

verarmten  Tischgehcr  auflesen  zu  lassen,  den  man  den  Staat 
oder  das  Vaterland  nennt. 

Cox:  Ihr  jedenfalls  habt  aus  dem  Vaterlande  eincn  feuer- 
speienden  Drachen  gemacht,  der  herumfahrt,  wen  er  verschlinge. 

Huber:  Freilich  wird  es  ein  Ende  haben  milder  liberalen 
Zeit,  es  wird  aber  auch  einen  Anfang  haben  mit  einer  neuen 
Sittlichkeit.  Diese  wird  unserm  gequalten  Geschlechte  endlich 
den  Frieden  wiedergeben,  den  euer  Atomismus  lhm  geraubt 
hat  und  den  keine  Sonntagsschule  lehrt.  Denn  als  ein  Glied, 
nicht  als  ein  Ganzes  kommt  der  Mensch  zur  Welt,  gehorchen 
mufi  er  alle  seine  Tage,  und  seine  entwendete  Wiirde,  den  Stolz 
des  Dienens,  erhalt  er  nun  zuriick. 

Cox:  Ja,  die  Stunde  des  Liberahsmus  ist  gekommen.  Zwar 
werden  noch  lange  ailerhand  Pfuschmakler  unter  diesem  und 
ahnlichen  Namen  den  Markt  unsicher  machen,  aber  das  groBe 
alte  Haus  selbst  muB  liquidieren;  es  kann  den  entsetzlichen 
Bankerott  der  Firma  ..gesunder  Menschenverstand“  nicht  iiber- 
leben,  auf  die  es  alle  seine  Wechsel  zog.  Die  Welt  ist  reif,  sich 
robusteren  Gehirnen  anzuvertrauen.  Dennoch  kann  ich  am 
Lager  dieses  Sterbenden  nicht  frohlocken.  Ich  mochte  sagen 
wie  Konig  Richard:  „Lasset  uns  niedersitzen  auf  der  Erde  und 
traunge  Geschichten  erzahlen  vom  Tode  der  Konige.“  Denn 
war  es  nicht  ein  koniglicher  Irrtum,  Vertrauen  zu  setzen  in  die 
Einsicht  des  befreiten  Volkes?  Nicht  eine  grofiartige  Naivitat, 
auf  den  opferbereiten  freien  Willen  des  Patrioten,  den  schweren 
Bau  des  Staates  zu  tiirmen?  Und  erwies  sich  derTraum  denn 
als  gar  so  lappisch  ? Vielleicht  war  nicht  einmal  der  Satz  falsch, 
daB  die  Gesamtheit  wohlbestellt  sei,  wenn  jeder  seinen  eigenen 
Interessen  nachgehe.  Hatte  man  nur  erst  Menschen,  die  sich 
auf  ihr  Interesse  im  geringsten  verstiinden!  Der  Liberalismus 
stirbt  an  seiner  guten  Meinung  von  den  Leuten;  denn  die  Erde 
gehortden  Mifitrauischen,  den  Unbegeisterten,  dem  intelligenten 
Phlegma  des  Napoleon  trois.  Der  von  euren  Kathederwikingem 
so  hart  geschmahte  englische  Niitzlichkeitsapostel,  der  seineTage 
beim  Baumwollhandel  in  triiben  Kontoren  zubrachte,  wie  tau- 
sendfaltig  verbarg  er  demiitige  Nachstenliebe  hinter  seiner 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox  233 

Pennyzwackerei  und  ein  kindliches  Herz  wie  das  eines  Berliner 
Professors. 

Huber:  Lieblose  Bemerkungen  iiber  unsern  Gelehrtenstand 
sind  zum  mindesten  undankbar,  denn  wer  kennt  die  riihrende 
Bescheidenheit  nicht,  mit  der  England  an  den  Lippen  der  deut- 
schen  Wissenschaft  hing?  Ubrigens,  mein  Bester,  ist  der  deut- 
sche  Professor  keineswegs  mehr  die  leicht  komische  Figur  von 
ehedem.  Er  plaudert  mit  Gewandtheit,  ist  so  wenig  zerstreut 
wie  ein  Bankdirektor  und  beschaftigt  den  besten  Schneider, 
den  er  bekommen  kann.  What  more  do  you  want? 

Cox:  Seine  Verdienste  sind  unbestritten,  aber  was  haben  sie 
mit  jenem  Sublimsten  des  Lebens  zu  tun,  das  Sie  Kultur  nen- 
nen?  Unaufhorlich  triumphieren  Ihre  Zeitungsschreiber : „Wir 
haben  mehr  Darmkrankheiten  entdeckt  als  ihr  — unsere  Aus- 
gaben  der  Romer  und  Griechen  beherrschen  den  Markt  — 
unsere  Nahrungsmittelchemie  ist  die  beste!“  Indessen,  was  geht 
mich  die  Anatomie  der  Verdauungsorgane  an,  solange  ich  keine 
Leibschmerzen  habe?  Alle  diese  Dinge  sind  vortrefflich,  aber 
man  laBt  sie  im  Kasten  liegen,  bis  sie  gebraucht  werden.  Die 
Lotleine  mufi  andere  Tiefen  zeigen,  wenn  man  euch  die  ab- 
griindige  Natur  des  germanischen  Geistes  glauben  soil.  Wie  es 
scheint,  erblicken  die  Deutschen  eine  vom  Himmel  erteilte  Be- 
scheinigung  ihres  Idealismus  darin,  dafi  sie  aus  der  Luft  Sal- 
peter  fur  ihre  Bomben  machen  konnen.  Ich  erinnere  mich  eines 
Gedichtes  von  Schiller  iiber  den  Archimedes  und  einen  streb- 
samen  Junghng,  der  die  gottliche  Kunst  der  Mathematik  lemen 
wollte,  well  sie  die  Stadtmauem  vor  der  Sambuca  beschiitzt 
habe,  worauf  der  alte  Herr  etwas  knurrig  bemerkte,  seine  Wis- 
senschaft sei  schon  gottlich  gewesen,  ehe  sie  dem  Staate  diente, 
und  wer  sich  mit  Gottinnen  einlasse,  moge  es  gefalligst  nicht 
auf  behordliche  Anerkennung  absehen.  Die  Erzpriester  und 
Kardinale  dieser  sapientia  militans  sind  es  vor  alien,  die  in 
unsern  Krieg  den  schauerlichen  Hafi  eines  Albigenserkreuzzugs 
hineintrugen.  Diese  Leute  gaben  hiiben  und  driiben  dem  Rin- 
gen  der  Macht  auch  noch  die  pfaffische  Sanktion  eines  vor 
andern  Vaterlandern  alleinseligmachenden  Vaterlandes,  damit 


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Bernhard  Guttmann  * Huber  utid  Cox 


die  Streiter  nur  ja  nicht  mit  Menschen,  sondem  mit  Teufeln 
zu  kampfen  glauben  mogen.  Wenn  wir  aber  kampfen  miissen, 
so  lasset  uns  fechten  und  sterben  wie  Manner,  nicht  schmahen 
wie  bucklige  Sklaven.  Wem  graut  es  etwa  nicht  vor  dieser 
Kriegstheologie,  die  das  „Liebet  eure  Feinde“  fiir  einen  archai- 
schen  Schnorkel  im  Christentum  erklart  ? Vor  dieser  Geschichts- 
forschung,  die  auf  den  Pfiff  der  Gewalt  die  Historic  ohne  jeden 
Zeitverlust  umzuschreiben  vermag?  Vor  dieser  Philosophic,  die 
dem  Weltgeiste  eben  das  ablauscht,  was  die  Staatskanzlei  ohne- 
hin  schon  wufite?  Wir  sehen  zwar  dieses  Phanomen  bei  uns 
und  den  anderen  so  gut  wie  in  Deutschland;  michdiinkt  jedoch, 
als  ob  die  gelehrte  Gelehrigkeit  nirgends  so  zu  Hause  sei  wie 
bei  euch.  Hegel  war  es,  glaube  ich,  der  der  Macht  den  diabo- 
lisch  schlauen  Gedanken  einblies,  der  Vemunft  eine  feste  An- 
stellung  anzubieten,  damit  sie  sich  das  Garen  und  regelwidrige 
Moussieren  aus  dem  Kopfe  schlage.  Ihr  habt  den  Staat  vergei- 
stigt  und  den  Geist  verstaatlicht.  ,,Wem  Gott  ein  Amt  gibt, 
dem  gibt  er  auch  Verstand.“  Kennen  Sie  unter  alien  deutschen 
Sprichwortern  ein  deutscheres  als  dieses? 

Huber:  Aus  alien  Ihren  Worten  klingt  hervor  die  wohlbe- 
kannte  Furcht  vor  dem  starken  und  seines  Willens  bewuBten 
Staate,  der  eigentlich  das  ist,  was  Sie  an  uns  verabscheuen. 
Das  englische  Gemeinwesen  stammt  aus  einer  Revolution,  es 
kann  trotz  seiner  schwarzberockten  Respektabilitat  die  geheime 
Zartlichkeit  fiir  das  Rebellieren  nicht  aus  dem  Blute  loswerden. 
Zumal  da  dieses  Blut  infolge  des  Aufsteigens  einst  knechtischer 
Massen  heut  viel  mehr  keltisch  als  germanisch  und  des  Ver- 
standnisses  fiir  das  Geschlossene,  Massive  je  liinger,  je  weniger 
fahig  ist.  Auf  den  Schlachtfeldern  konnt  ihr  sterben  so  gut  wie 
wir,  aber  auch  da  noch  scheint  euch  der  Tod  fiir  das  Vater- 
land  oder  den  Staat  zu  banal,  und  ihr  tragt  im  Busen  irgend~ 
einen  absurden  Talisman,  den  euch  eure  Rhetoren  mitgaben, 
einen  Fetisch  zum  Kiissefi,  wie  die  ,,Freiheit  Europas44,  oder 
einen  zum  Anspeien,  den  „preufiischen  Mihtarisinus44.  Euer 
Leben  lang  kniet  ihr  vor  Personen  und  Zauberformeln,  weil 
ihr  entwohnt  davon  seid,  euch  dem  in  Wahrheit  Ehrfurcht 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox  235 

Heischenden,  dem  Objektiven,  hinzugeben.  Wie  die  Weiber 
seid  ihr  dressiert  zu  lieben  und  zu  hassen,  wo  ihr  urteilen 
solltet,  und  unter  dem  Getreibe  der  schaien  Emotionen  ver- 
dampft  euch  die  Ehrlichkeit  des  Denkens.  Auch  wir  achten 
das  Herz  des  Volkes,  aber  mit  seinem  Kopf  ist  es  nicht  weit 
her.  Seine  Leiden  sind  uns  ehrwiirdig,  aber  heilen  soil  sie  ein 
studierter  Arzt,  nicht  der  Schafer  oder  das  Krauterweib.  Wann 
hatte  die  Herde  je  gewuBt,  was  ihr  frommt?  Viel  zu  nachsichtig 
war  die  Zeit  gegen  den  schabigen  Subjektivismus  des  bloBen 
Meinens,  viel  zu  eifrig  wurde  jede  billige  Ketzerei  verhatschelt ; 
man  lerne  wieder  die  Scheu  vor  unantastbaren  Werten.  Vor 
allem  sind  wir  gegen  das  inspirierte  Gebaren  in  politicis  hochst 
argwohnisch  und  bauen  allerdings  lieber  auf  Methode  und 
Wissenschaft.  Im  strikten  Vertrauen  glaube  ich,  daB  keine 
andere  Nation  mit  so  wenig  Schaden  wie  die  unsere  mittel- 
maBige  Kopfe  in  hohen  Amtern  zu  ertragen  vermag.  Einst 
schrien  Volker  in  der  Not  zum  Himmel  um  einen  Helden  und 
Seher.  Auf  solche  erratischen  Heifer  zahlen  wir  nicht,  sondem 
auf  den  tiichtigen  Generalstabler  und  technischen  Fachmann, 
die  wir  fur  den  Ernstfall  immer  bereit  haben.  Darum  durch- 
dringen  wir  unser  Staatsleben  immer  mehr  mit  dem  wissen- 
schaftlichen  Geiste.  Friiher  geschah  der  techmsche  Fortschritt 
so,  daB  alle  hundert  Jahre  ein  gescheiter  Mann  zufallig  eine 
Verbesserung  fand.  Dann  vermochte  hier  und  da  wohl  ein 
Erfindergenie  durch  kluge  Problemstellung  die  Entwicklung  zu 
beeilen.  Heute  aber  ist  das  Erfinden  selber  eine  Technik  ge- 
worden.  Man  setzt  sechs  Dutzend  Leute  nebeneinander  vor 
dieselbe  Aufgabe,  verandert  jedesmal  die  Elemente  um  ein 
weniges,  und  der  Fund  ist  so  sicher,  wie  ein  feines  Netz  die 
kleinsten  Seemuscheln  heraufbringt.  So  wollen  wir  auch  den 
Staat  immer  objektiver  machen,  damit  der  Mensch  — wohl- 
gemerkt  als  Kollektivum  — mehr  und  mehr  Herr  seines  Schick- 
sals  werde.  Die  einzelnen  hingegen  haben  in  diesem  Zeitalter 
nur  die  Digmtat  von  kleinsten  Teilen.  Sie  sind  Glieder  und 
mtissen  Glied  halten.  Sittlichkeit  ist  es  heute,  sich  einzuordnen, 
den  als  Erbteil  von  der  Natur  iiberkommenen  Selbstbehaup- 


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Bernhard  Gutimann  * Huber  und  Cox 


tungsdrang  zu  projizieren  in  das  ungeheure  Ideelle  des  Staates. 
Dies  ist  die  wahrhafte  deutsche  Ethik  und  der  Punkt,  in  dem 
sich  der  altpreufiische  Autoritatsgedanke  und  der  sozialdemo- 
kratische  Massengedanke  schneiden. 

Cox:  Wenn  dies  so  ist,  dann  begreifet  auch  den  Schrecken, 
den  die  Volker  vor  der  deutschen  Herrschaft  empfinden.  Denn 
es  geht  vor  euch  her  ein  geistiges  Grauen,  ais  horte  die  Welt 
noch  einmal  vom  Sterben  des  groBen  Pan.  Einen  Menschheits- 
winter  kiinden  uns  diese  Millionen  grauer  Schatten  an,  die 
unerbittlich  liber  die  Erde  vorriicken.  Ihr  solltet  zu  eurem 
Wappenbilde  den  Leviathan  nehmen.  Uns  wurde  er  schon  vor 
zweihundertundfiinfzig  Jahren  von  dem  Thomas  Hobbes  em- 
pfohlen,  aber  wir  verwarfen  ihn  und  schneben  auf  unsere  Fahne 
..Freiheit  der  Person".  War  die  Idee  wertlos,  weil  wir  sie  un- 
vollkommen  zur  Wirklichkeit  machten  ? Ja,  ware  sie  auch  bloBe 
Illusion,  dieses  Haschisch  der  Freiheit  macht  den  Menschen 
starker,  nicht  schwacher.  So  gut  wie  ihr  hatten  wir  gewufit, 
daB  eine  rohe  Menge  noch  kein  Volk  ist,  allein  wir  dachten 
uns,  es  stehe  desto  besser  darum,  Je  mehr  treffliche  einzelne 
sich  landen,  um  den  knolligen  Teig  zu  sauern.  Die  Person- 
lichkeit  trachteten  wir  auf  alle  Weise  hervorzutreiben.  Euer 
Weg  ist  kiirzer.  Ihr  sprecht  zum  Menschen:  „Erde  bist  du, 
also  lasse  dich  formen  wie  Erde,  sowie  hohere  Einsicht  es  dir 
ansagt.  Keineswegs  zwar  sollst  du  verschwendet,  ohne  Nutz- 
effekt  auf  den  Schuttplatz  geworfen  werden,  im  Gegenteil,  wir 
verbiirgen  dir  die  wirtschaftlichste  Verwendung  deiner  Lebens- 
energie;  nur  kneten,  horst  du,  mufit  du  dich  lassen."  Unser 
Ideal  war  es,  aus  dem  zweifiifiigen  Kloben  einen  Mann  zu 
machen;  euer  Ideal  ist  es,  aus  tausend  solcher  Kloben  ein 
Bataillon  zu  machen  — eins  zum  Schiefien  oder  eins  zum  Ar- 
beiten.  Aber  jenes  durchstromende  Gliicksgefiihl  des  aus  sich 
selbst  lebenden  Ich,  jenes  Auffahren  des  armen,  torichten  Ika- 
rus  zur  Sonne  der  Freiheit,  ihr  kanntet’s  nie  und  habt  das  Ver- 
langen  nicht  in  den  Adern;  und  dennoch  ist  wohl  dieses 
wiitend-selige  Loswollen  vom  Massigen,  Gebundenen  eigent- 
lich  das  Europaischste  gewesen  am  Europaer,  mehr  soalsFausti 


Bernhard  Guttmann  ♦ Huber  und  Cox 


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Forscherdrang.  Mit  groBer  Weisheit  hat  iibrigens  die  deutsche 
Volkssage  erkannt,  daB  ein  Professor  von  Rechts  wegen  dem 
Teufel  zugehort.  Aber  leider  ist  auch  euer  Teufel  bloB  eine 
literarische  Personage,  und  ihr  fiirchtet  ihn  gerade  so  wenig 
wie  Gott.  Und  wie  solltet  ihr  an  Gott  glauben,  da  ihr  nicht 
an  den  Menschen  glaubet  ? Bei  Goethe  selber  ist  die  heimliche 
Gegnerschaft  zum  Personlichen  zu  spiiren.  Einen  Freudensang 
in  Distichen  schrieb  er  auf  den  Philologen  Wolf,  der  den  Homer 
in  ein  Syndikat  von  Homeriden  verwandelt  hatte.  Ein  grofier 
Dichter  in  Jubel,  weil  ein  anderer  grofier  Dichter  als  societe 
anonyme  erkannt  ist ! Denken  Sie  sich  Michelangelo,  ein  Sonett 
schmiedend  auf  die  Kunde,  daB  ein  Pedant  die  Sonne  endlich 
als  einen  Nebel  heifier  Gase  entlarvt  habe! 

Huber:  Ja,  wirklich,  in  gewissem  Sinne  ist  dies  ein  Krieg 
zwischen  dem  alten  europaischen  Individuum  und  dem  neuen 
Staatsmenschen  deutschen  Geprages.  Jenes  wehrt  sich  hollisch, 
um  sich  das  zu  retten,  was  es  seine  Personlichkeit  und  Frei- 
heit  zu  nennen  beliebt.  Aber  es  wird  alles  nichts  helfen,  viel- 
mehr  werdet  ihr,  so  viele  von  euch  und  euren  Genossen  iibrig- 
bleiben,  in  die  deutsche  Schule  gehen,  um  Staatenbaukunst 
als  Abc-Schiitzen  zu  lernen.  Welchem  Volke  waren  denn  grofiere 
Personlichkeiten  geboren  worden  als  unserem,  in  den  Zeiten, 
wo  eben  das  zeitgemaB  war  ? Heute  aber  ist  dieses  Personliche 
nur  noch  ein  Irrlicht  in  der  Seele,  das  von  der  Pflicht  gegen 
die  Nation  abfiihren  mochte.  Das  Kommando  des  Weltgeistes 
an  die  Menschheit  hieB  einst:  Avancieren  in  aufgelosten  Glie- 
dern!  Er  hat  seitdem  eine  neue  Taktik  erdacht,  der  Befehl  ist 
nun:  Vorwarts  in  geschlossener  Kolonne!  Es  gibt  ein  gutes 
englisches  Wort:  Clear  your  mind  of  cant!  Weg  denn  von  dem 
Cant  des  geschwollenen  Personlichkeitsgefiihls ! Die  Sieger, 
mein  Verehrter,  das  sind  der  hohere  Durchschnitt,  die  peinliche 
Statistik,  die  Volksschule,  die  Sozialpolitik,  die  stadtische  Hy- 
giene, die  obligatorische  Turnstunde,  der  namenlose  Kampfer 
im  nassen  Graben.  Sollten  Sie  finden,  unser  Staatsei  schliefilich 
die  Organisation  der  Mittelmafiigkeit,  so  habe  ich  auch  dagegen 
vorlaufig  nichts.  Jawohl,  der  Staatsmann  hat  keine  groBere 


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Bernhard  Guttmann  » Huber  uni  Cox 


Aufgabe  denn  die,  das  Alltagliche  ein  wenig  besser  zu  machen, 
als  er  es  antraf,  Personlichkeit?  Es  gibt  nur  eine:  Die  ‘Ration. 

Cox:  Die  Nation  bliiht  im  unverkiimmerten,  sonnenfrohen 
Flor  der  Einzelpersonlichkeiten.  Das  Volk  lebt  durch  Visionen 
— ist  es  doch  selbst  nur  eine  — , und  die  Prophetie  kann  man 
nicht  organisieren.  Der  echte  Vater,  der  Visionar,  dessen  Mund 
die  Worte  des  Lebens  redet,  wird  nicht  in  einem  Lande  ge- 
boren,  wo  das  Ich  schon  im  Mutterleibe  sein  Eigendasein  ver- 
achten  lemt ; er  entspriefit  keiner  vom  klaftertief  wiihlenden 
Staatspfluge  zerbrochenen,  gezahmten,  ermiideten  Erde.  Weder 
GroBmacht  noch  Weltpolitik  konnen  ein  Volk  vor  dem  Er- 
starren  schiitzen.  Griechenland  ging  eben  damals  zugrunde, 
als  es  durch  die  Mazedonier  geeinigt  war,  als  sein  militarisches 
System  den  Zaren  von  Susa  niederwarf  und  alle  Volker  grie- 
chische  Ingenieure  und  Professoren  kommen  lieBen ; denn  der 
griechische  Staat  war  ein  Fremdherrscher  geworden  im  eigenen 
Hause.  Wird  also  von  euren  Gartnern  das  Genie  zur  Person- 
lichkeit wie  bisher  als  Unkraut  verdammt  und  mit  der  Wurzel 
ausgejatet,  dann:  Vae  victoribus! 

Huber:  Unser  groBer  Konig  Friedrich  riet  den  Seinen: 
„Macht  es  wie  ich,  der  ich  meiner  Seele  Stockschlage  gebe, 
auf  daB  sie  geduldig  und  stille  werde/' 

Cox:  Despotenmoral ! Stockschlage  fiir  seine  Seele,  Stock- 
schlage fiir  den  Riicken  des  Untertanen.  So  erzieht  man  stoische 
Menschen.  Aber  die  Lehre  der  Stoa  kam  erst  im  sterbenden 
Griechenland  zur  Welt  und  wurde  der  Glaube  nicht  des  freien, 
sondern  des  geknechteten  Rom.  Sie  ist  die  Religion  der  Re- 
signierten : Ohne  Hoffnung  leben,  ohne  Klage  fallen.  „Im  Er- 
starren  such’ ich  nicht  mein  Heil,”  schrie  Faust,  „das  Schaudern 
ist  der  Menschheit  bestes  Teil.“  Der  Sieg  des  preuBischen 
Stoizismus  bedeutet  die  Vereisung  der  europaischen  Seele. 

Huber:  Wie!  Seid  ihr  nicht  einmal  fahig,  unseren  Mannem 
Ruhm  zu  zollen,  wie  sie  jung  und  alt,  Schar  nach  Schar,  hinaus- 
treten  in  die  Ode  des  Todes?  Wenn  ihr  fiir  eine  emiichterte 
Welt  Propheten  und  Martyrer  braucht,  wo  waren  ihrer  denn 


Bernhard  Guttmann  * Huber  und  Cox 


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jemals  mehr  beisammen  als  in  diesen  endlosen  Phalangen,  die 
Blutzeugen  fiir  den  heiligen  Namen  Vaterland  zu  sein  begehren? 

Cox:  Wir  waren  nach  diesem  Wunder  nicht  liistem.  Um 
das  Leben  ertraglich  zu  finden,  brauchten  wir  keine  neue  An- 
regung,  wie  gewisse  geistreiche  Personen  in  Berlin,  die  alles  in 
der  Kultur  durchgeschmeckt  und  mit  der  Zunge  beschnalzt 
haben  und  nun  Heroismus  scbnauben,  weil  sie  sich  einbilden, 
die  urns  Brot  ringende  Welt  hatte  einen  ebenso  verdorbenen 
Magen  wie  sie  selber.  Mich  diinkt,  man  diirfe  von  jedem,  und 
das  ganz  schlicht  und  ohne  grofimaulige  Heldenpbrasen  ver- 
langen,  daB  er  das  Leben  gebe  fiir  das  Vaterland,  die  Freiheit 
oder  den  Glauben.  Doch  nach  Blut  zu  scbreien,  um  in  ein  fade 
gewordenes  Dasein  Wechsel  zu  bringen,  ist  der  Geschmack 
von  Dirnen.  Ubrigens  habt  ihr  mit  diesem  Sterbenkonnen 
nichts  voraus.  Sterben  nicht  die  Serben  und  Russen,  Myriaden 
auf  einem  Felde?  Rennen  die  Franzosen  nicht  in  den  Hollen- 
rachen,  als  seien  die  Granaten  lachende  Liebchen?  Legen  sich 
die  Briten  nicht  willig  genug  auf  den  Leichenplan?  Kopfiiber 
jagt,  stiirzt  die  Menschheit  in  den  Hades  hinunter.  Wer  will 
prahlen,  er  konne  es  besser  als  die  anderen  ? Europa  will  sterben ; 
unsere  Rasse  erwiirgt  sich  mit  lhren  eigenen  Handen. 

Huber:  Sie  steht  euch  gut,  die  Trauer  um  Europa!  Das 
Europa,  von  dem  Sie  sprechen,  ist  eine  Phrase,  ein  tonerner 
Gotze,  ja  bloB  noch  die  Scherben  dieses  zerschlagenen  Gotzen. 
Die  Emheit  der  Kulturwelt  war  langst  zur  Fabel  geworden. 
Eine  neue  wird  es  nicht  geben,  aufier  durch  uns. 

Cox:  Ich  fiirchte  sehr,  weder  ihr  werdet  sie  schaffen  noch 
andere.  Womit  bauen,  wenn  die  Bausteine  zerbrochen  liegen? 
Augenscheinlich  wird  eine  gleichsam  buddhistisch  gestimmte, 
in  sich  selbst  gebettete  Welt  heraufkommen,  eine  Art  West- 
china,  oder  mehrere  solche  Chinas,  die  alle  das  vom  eigenen 
Typus  Abweichende  mifitrauisch  ausstofien  werden.  Vielleicht 
wird  das  Dasein  der  Volker  dann  wie  das  von  Kasemattenge- 
fangenen  sein,  die  nebeneinander,  aber  durch  dicke  Mauern 
getrennt  wohnen,  ohne  sich  zu  sehen  und  zu  horen.  Europa 
wurde  von  der  Fiille  starker  Nationalgeister  zersprengt,  die  es 


ernhard  Guttmann  » Huber  und  Cox 


beherbergte;  es  war  zu  klein  fur  seine  GroBe.  Die  Sehnsucht 
des  Orientalen  ist  das  Gleichgewicht  der  Seele;  in  ihren  Span- 
nungen  fiihlte  sich  der  Europaer  gottverwandt.  Aber  die  Mifi- 
klange  wurden  schrill  und  fiirchterlich  qualend,  und  der  Welt- 
geist  fand  den  mystischen  Akkord  nicht  mehr,  der  die  Disso- 
nanz  aufgelost  hatte.  Da  warf  er  ergrimmt  das  Instrument  hin 
und  zerbrach  es  in  Stiicke. 

Huber:  Sentimental  bis  ans  Ende! 

Cox:  Ich  gestehe,  wenn  es  fiir  den  Zeugen  dieses  kos- 
mischen  Gegeneinanderrennens,  das  die  erstarrte  Erdrinde 
noch  einmal  in  Feuer  verwandelt,  nicht  so  entsetzlich  abge- 
schmackt  ware,  Privatgefiihle  zu  hegen,  ich  wiirde  weinen  urn 
diese  Leiche:  Europa. 

Huber:  Nichts  bleibt  uns  tibrig  als  zu  kampfen.  In  dem 
unermefilichen  Schiffbruche  der  Zeit  heiBt  es  nach  dem  Himmel 
blicken,  ob  er  noch  Sterne  trage.  Am  oden  und  schwarzen 
Firmament  strahlt  ein  einziges  starkes  Licht.  Es  ist  das  Gestim 
des  Vaterlandes,  dem  milssen  wir  folgen,  ihm  nachziehend  uns 
retten,  oder  scheitern.  Uns  wiirde  der  Untergang  unseres 
Reiches  das  Ende  von  allem  bedeuten.  Wer  nachher  noch  da 
ware,  fande  sich  zwischen  Abend  und  Morgen  vom  Manne  zum 
Zwerge  verschrumpft. 

Cox:  Was  hilft  es  euch,  wenn  ihr  Sieger  seid  und  Europa 
um  euch  einstvirzt?  Die  Verkiimmerung  ist  nur  aufgeschoben. 
Die  verliehene  Gestalt  bleibt  euch,  aber  Zwerge  werdet  ihr 
zeugen.  Eure  und  unsere  Enkel  miissen  scheu  in  den  Seiten' 
talern  der  Welt  hausen,  die  ihr  Erbteil  hatte  sein  sollen.  Die 
Art  der  gottergleichen  Menschen  schwindet  hin,  die  Art,  die 
das  GroBte  auf  der  Erde  schuf,  die  Rasse  der  Stadtegriinder 
und  Tempelbauer,  der  Helden  und  Gesetzgeber,  Tragiker  und 
Philosophen,  der  Seefahrer  und  Forscher  — sie  geht. 

Huber:  Sie  gehe  oder  bleibe,  das  ist  jetzt  mitnichten  das 
Wichtigste.  Mir  ist,  als  kame  ein  verschwiegenes  Brausen  her 
von  fernen  Schlachten  und  als  sei  ein  Feuerschein  in  der  Luft- 

Cox:  Gotterdammerung! 

Huber:  Volkerfriihrot! 


Gottfried  Benn  * Die  I ns  el 


24f 


t* 


Qottfried  £Benn: 

DIE  INSEL 

NOVELLE 

I JaB  dies  das  Leben  sei,  war  eine  Annahme,  zu  der  Ronne, 
•*-^einen  Arzt,  das  von  leitender  Stelle  aus  Geregelte  seiner 
Tage,  das  staatliche  Genehmigte,  ja  Vorgeschriebene  seiner 
Bestimmung  wohl  berechtigte. 

Tat  es  etwas,  dafi  die  Insel  klein  war,  iibersehbar  von  einem 
Hiigel,  ein  Streifen  Stein  zwischen  Mowen  und  Meer,  — es  gab 
das  Gefangnis  da  mit  den  Straflingen,  daran  Arzt  zu  sein  er 
ausersehen,  und  dann  gab  es  Strand,  eine  grofie  Straucb wiese 
voll  Gezwitscher,  ein  Vogelhort,  und  weiter  unten  ein  elendes 
Dorf  mit  Fischem,  das  allerdings  gait  es  noch  naher  zu  be- 
leuchten. 

Ein  Rachen  war  bepinselt,  einer  Meineidigen  das  Knie  mas- 
siert,  da  erhob  sich  Ronne  und  verliefi  das  ummauerte  Gehoft. 
Davor  lag  weifier  Strand ; darauf  bliihte  Hafer  und  Distel ; denn 
der  Sommer  war  iiber  das  Meer  gekommen  wie  ein  Gewitter: 
der  Himmel  donnerte  von  Blaue  und  es  goB  Warme  und  Licht. 

Unter  Gedanken,  wie  die  freie  Zeit,  die  ibm  nach  Erledigung 
seiner  Dienstpflichten  zur  Verfiigung  stand,  zweckmafiig  zu 
verwenden  sei,  welches  ihr  Sinn  sei  in  Hinsicht  des  Staates  und 
der  Person,  schritt  er  aus.  Er  atmete  tief  die  reineSeeluftein,die 
schmachtige  Brust  ihr  entgegen  spiilend,  dem  Gesundheitlichen, 
das  sie  bekanntermaBen  dem  Wanderer  bot,  willig  hingegeben. 
Elins  fiihlte  er  sich  mit  dem  Geiste,  der  ihn  hier  herberufen  und 
gestellt,  der  sich  ohne  Zaudem  zur  Sicherstellung  der  vorwarts- 
zielenden  biirgerlichen  Verrichtung  entschloB ; der  dem  Schutze 
gait,  die  die  Uffentlichkeit  dem  strebenden  Bemiihen  schuldete, 


242 


Gottfried  Benn  * Die  Insel 


mit  einem  Wort : der  die  Ausmerzung  des  Schadlings  anstrebte, 
ohne  jedoch  selbst  hier  auBer  acht  zu  lassen  das  allgemein 
Menschliche  noch  des  Gefallenen  und  in  einer  Art  stummer 
Anerkenntnis  des  grofien  allumschliessenden  Bandes  des  See- 
lischen  schlechthin  nicht  die  Vemichtung  wollte,  sondem  den 
Arzt  beigab, 

Und  nun,  die  karge  Schindel  der  ersten  Hiitte  war  sie  nicht 
Hut  gegen  Sturm  und  Regen,  der  Unbill  Abwehr,  Traute  und 
Behaglichkeit  bedachend?  Das  Netz,  das  vom  Fang  kommend 
der  Gatte  ausbreitete,  sorgsam  iiber  Pfahl  und  Stein,  war  es  nicht 
umwittert  vom  Geruch  der  Diele,  wo  es  sich  vollzog,  das  Na- 
tiirliche,  das  Urgesunde  ? Und  nun  wehte  gar  ein  WindstoB  an 
eine  Olkappe,  und  ein  Arm  griff  an  die  Krempe  — : jawohl,  auf 
Reize  antwortete  hier  Organisches  ,*  betrieben  wurden  seine 
Symptome : der  Stoffwechsel  und  die  Vermehrung ; der  Reflex- 
bogen  herrschte,  hier  war  gut  ruhn. 

Vor  einer  Kneipe  sassen  Manner.  Ihr  Sinn?  Sie  sassen!  Sie 
gingen  nicht,  sie  schonten  Kraft.  Sie  tranken  aus  Kriigenf 
Reine  Lust?  Niemals!  Nahrwert  war  nicht  zu  leugnen.  Und 
wenn  ? Erholung  von  Mann  zu  Mann ! Erfahrungsaustausch  ? ! 
Bestatigungen ! ! ! ? 

Und  der  Diistere  abseits  ? Der  Griibeler,  der  sich  ernster  nahm  ? 
Flammte  nicht  auch  auf  seiner Stirn  nochdurch  das  Damonische, 
selbst  gegen  Gotter  gerichtet,  der  geschlossenere  Akt,  der 
starkere  Aufbau,  das  Lichtbringerische  in  eventuellen  Abgrund? 

Kurz  und  gut:  lauter  Wahrnehmungen,  die  wohl  befriedigen 
durften.  Nirgends  eine  Storung,  iiberal!  Sonne  und  heller 
Ablauf. 

Ronne  setzte  sich.  Ich  habe  etwas  freie  Zeit,  sagte  er  sich, 
jetzt  will  ich  etwas  denken.  Also,  eine  Insel  und  etwas  siidliches 
Meer.  Es  sind  nicht  da,  aber  es  konnten  da  sein : Zimtwalder. 
Jetzt  ist  Jum,  und  es  begonne  die  Entborkung.  Es  beganne  die 
Entborkung,  und  ein  Zweiglein  brache  dabei  wohl  ab.  Ein 
iiberaus  lieblicher  Geruch  wiirde  sich  verbreiten,  auch  beim 
Abreifien  eines  Blattes  ein  aromatisches  Geschehen. 

Denn  alles  in  allem : vier  bis  sechs  FuB  hohe  Stauden,  weiche 


Gottfried  Bcnn  ♦ Die  Inset 


243 


griine  lorbeerahnliche  Blatter,  indes  der  Bliitenstempel  gelb 
getont  ist.  1st  der  SchoBling  daumenstark,  tritt  die  Einsamm- 
lung  beran  und  es  erfordert  viele  Hande.  Bilndel,  krumme 
Messer,  Rinde  und  Bast ; mit  diesen  Worten  ist  manches  schon 
erwiesen  ,*  aber  erst  in  der  Hiitte  wird  das  Hautchen  abgeschalt. 

Ja,  das  war  eine  Insel,  die  in  einem  Meer  vor  Indien  lag.  Es 
nahte  sicb  ein  Schiff,  plotzlich  trat  es  in  den  Wind,  der  das  Land 
umfafit  hatte,  und  nun  stand  es  im  Atem  des  braunlichen  Walds. 
Der  Zimtwald,  dachte  der  Reisende,  und  der  Zimtwald,  dachte 
Ronne.  SchneeweiB  war  der  Boden,  und  die  Staude  saftig.  Und 
durch  die  Insel  scbritt  er,  zwischen  Roggen  und  Wein,  abge- 
schlossen  und  still  umgrenzt.  Sein  Urteil  ist  Begehren,  der 
Satzbau  Stellung  nehmend.  Er  griibelt,  doch  iiber  die  Polle 
einer  Pflanze,  denn  er  ist  gewillt,  sie  einzusaen.  Feme  ist  die 
Zeit  der  Trauer,  da  er  in  der  Bahn  hierher  fuhr  nut  den  Damen : 
das  ist  sehr  hiibsch  hier,  sagte  die  Mutter  zu  den  Tochtem,  seht 
doch  mal!  und  nun  verarbeiteten  sie  aus  den  Coupefenstern 
heraus  die  Hiigelkette,  matt  in  blauem  Dunst,  davor  das  Tal  und 
eine  Stadt,  die  hinter  Waldern  und  Klee  versank;  denn  wenn 
die  Mutter  es  nicht  gesagt  hatte,  mufite  Ronne  immer  denken, 
ware  der  Aufstieg  nicht  erfolgt. 

Hier  aber  herrschten  keine  solchen  vagen  Ausrufe.  Hier  wurde 
hingenommen,  was  ins  Auge  traf.  Sachliche  Verarbeitung  trat 
ein  in  Bezug  auf  ein  Netz,  im  Hinblick  auf  eine  Reuse.  Und 
auch  wenn  er,  wie  eben,  etwas  dachte,  lag  andersartiges  vor,  keine 
Bereicherung,  mehr  ein  Traum. 

Hell  saB  er  am  Strand.  Er  fiihlte  sich  leicht  und  durchsichtig 
und  schien  sich  nicht  mehr  unsauberer  zu  sein  als  ein  bewegter 
Stein,  als  ein  abgerundeter  Block,  gehalten  von  einer  leichten 
Organisation. 

Und  wenn  er  auf  die  Insel  aus  dem  Gefiihl  einer  Aufgabe 
heraus  gekommen  war,  an  Gegenstanden,  die  er  moglichst  iso- 
iiert  unter  wenig  veranderlichen  Bedingungen  beobachten 
konnte,  den  Begriff  nachzupriifen,  so  spiirte  er  jetzt  schon  etwas 
wie  Erfiillung:  Die  Begriffe,  schien  ihm,  sanken  herab.  Wie 
hatte  zum  Beispiel  Meer  auf  ihm  gelegen,  ein  sprachlicher 


244 


Gottfried  Benn  * Die  I ns  el 


Bestand,  abgeschniirt  von  alien  hellen  Wassern,  beweglich,  aber 
doch  hochstens  als  Systemwiesel,  das  Ergebnis  eines  Denk- 
prozesses,  ein  allgemeinster  Ausdruck.  Jetzt  aber,  schien  es  ihm, 
wanderte  er  dahin  zuriick,  wo  es  unabsehbare  Wasser  gab  lm 
Siiden  und  im  Norden  brackige  Flut,  und  Wellen  eine  Lippe 
unerwartet  salzten.  Leise  schwand  der  Drang,  es  scharfer  auf- 
zurichten,  es  unantastbarer  zu  umreifien  gegeniiber  Diinen  und 
elnem  See.  Leise  fiihlte  er  ihn  vergessen,  ihn  zuriickerstatten  an 
seine  Wesenheiten,  an  die  Move  und  den  Tang,  den  Sturmge- 
ruch  und  alles  Ruhelose. 


Ronne  lebte  einsam  seiner  Entwicldung  hingegeben  und 
arbeitete  viel.  Seine  Studien  galten  der  Schaffung  der  neuen 
Syntax.  Die  Weltanschauung,  die  die  Arbeit  des  vergangenen 
Jahrhunderts  erschaffen  hatte,  sie  gait  es  zu  vollenden.  Den  Du- 
Charakter  des  Grammatischen  auszuschalten,  schien  ihm  ehr- 
licherweise  notwendig,  denn  die  Anrede  war  mythisch  geworden. 

Er  fiihlte  sich  seiner  Entwicklung  verpflichtet  und  die  ging 
auf  Jahrtausende  zuriick. 

Die  Umgestaltung  der  Bewegung  zu  einer  Handlung  unter 
Vorwegnahme  des  Zieles  lag  im  Unentschleierbaren,  wo  der 
Mensch  begann.  Das  war  gegeben.  Auch  daB  er  hin  und  her 
die  Augen  aufschlug : in  helle  Himmel,  iiber  Wiisten,  am  Nil,  und 


an  den  Myrthenlagunen  die  Geigenvolker 


aber  hier  im 


Norden  drangte  es  zur  Entscheidung : zwischen  Hunger  und 
Liebe  war  der  dritte  Trieb  getreten.  Aus  dem  schlechten  Atem 
der  Asketen,  aus  ermatteten  Geschlechtlichkeiten,  unter  den 
verdickten  Liiften  der  Nebellander  wuchs  sie  hervor,  die  Er- 
kenntnis,  Hekatomben  rochelnd  nach  der  Einheit  des  Denkens, 
und  die  Stunde  der  Erfiillung  schien  gekommen. 

Hatte  Kartesius  noch  die  Zirbeldriise  fur  den  Sitz  der  Seeie 
angenommen,  da  ihr  AuBeres  dem  Finger  Gottes:  gelblich, 
langgestreckt,  milde  und  doch  drohend,  gleichen  mochte,  so 
hatten  die  Hirnphysiologen  festgestellt,  wann  beim  Einstich  in 
die  Hirnmasse  Zucker  im  Harn,  wann  Indigo  auftrat,  ja  wann 
korrelativ  der  Speichel  floB ; die  Psychologie  hatte  den  Begleit- 


Gottfried  Benn  ♦ Die  I ns  el 


245 


charakter  des  Gefiihls  zu  den  Empfindungen  erkannt,  den  ihnen 
zustehenden  generellen  Wert  der  Abwehr  des  Schadlichen  in 
genauen  Kurven  festgelegt,  die  Ablesbarkeit  der  individuellen 
Differenzen  war  vollendet.  Die  Erkenntnistheorie  schloB  ab, 
mit  der  Erneuerung  Berkeleyischer  Ideen  einem  Panpsychismus 
zum  Durchbruch  zu  verhelfen,  der  dem  Wirklichen  den  Rang 
kondensierter  Begriffe  in  der  Bedeutung  geschlechtlich  beson- 
ders  betonter  Umwelt  zum  Zwecke  bequemer  Arterhaltung 
zuwies. 

Dies  alles  gilt  als  ausgemacht,  sagte  sich  Ronne.  Dies  wird 
seit  Jabrfiinften  gelehrt  und  hingenommen.  Wo  aber  blieb  die 
Auseinandersetzung  innerhalb  seiner  selbst,  wo  fand  die  statt? 
Ihr  Ausdruck,  das  Sprachliche,  wo  vollzog  sich  das? 

Unter  Griibeln  trat  er  vor  ein  Feld  mit  einem  Mann,  den  er 
aus  der  Anstalt  mitgenommen  hatte  : 

„Mohn,  pralle  Form  des  Sommers",  rief  er,  ..Nabelhafter : 
Gruppierend  Bauchiges,  Dynamit  des  Dualismus:  Hier  steht 
der  Farbenblinde,  die  Rote-Nacht.  Ha,  wie  Du  hinklirrst ! Ins 
Feld  gestiirzt,  Du  Ausgezackter,  Reiz-Felsen,  ins  Kraut  ge- 
schwemmt,  — und  alle  siissen  Mittage,  da  mein  Auge  auf  Dir 
schlief  — letzte  stille  Schlafe,  treuer  Stunden  — An  Deme 
Narbe  Blauschatten,  an  Deine  Flatterglut  gelehnt,  gewarmt, 
getrostet,  hmgesunken  an  Deme  Feuer:  angebliiht!:  nun  dieser 
Mann  — : auch  Du ! Auch  Du ! — An  meinen  Randen  spielend, 
in  Sommersweite,  all  mein  Gegengliick  und  nun : wo  bin  ich 
nicht?" 

Wo  bin  ich  nicht,  dachte  er  und  wandte  sich  in  der  Richtung 
nach  der  Anstalt,  und  wo  tritt  das  Ereignis  nicht  in  das  Gege- 
bene?  Da  unten  sind  Zimmer.  An  Tischen  sitzen  Manner, 
Direktoren  und  Beamte,  zwischen  DenkanstoBen  geht  der 
Zahnstocher  hin  und  her. 

Aus  Ereignissen  des  taglichen  Daseins  und  Rennberichten 
spielt  der  psychische  Komplex  sich  ab.  Es  tritt  auf  das  Be- 
fremdende,  das  Abweichende,  ja  bis  zum  Widersprechenden 
stellt  es  sich  em.  Wachgerufen  wird  in  den  BewuBtseinsablaufen 
das  Bestreben,  das  Ungeklarte  zu  entwirren,  das  Zweifelhafte 


v.v.v.v 


246 


Gottfried  Benn  * Die  Insel 


sicherzustellen,  der  Uberbriickung  des  Zwiespalts  gilt  das  Wort. 
Es  tritt  die  Erfahrung  hervor,  Beweis  und  Abwehr  gibt  sie  an 
die  Hand;  und  die  Beobachtung,  hier  und  da  gemacht,  wenn 
auch  nicht  eindeutig,  soil  sie  vollig  wertlos  sein?  Schon  weicht 
das  Dunkle.  Schon  glattet  sich  das  Krause,  und  daB  kein 
Widerspruch  mehr  bestebt,  nun  blaut  es  herab. 

Immer  blaut  bald  etwas  herab,  zum  Beispiel  der  Kalbsbraten, 
den  doch  jeder  kennt.  Jah  tritt  er  an  einem  Stammtisch  auf,  und 
es  ranken  sich  um  lhn  die  Individualitaten.  Geographische 
Besonderheiten,  Eigentiimlichkeiten  des  Gescbmacklichen  wer- 
den  hervortreten,  der  Drang  zur  Nuance  um  ihn  sein.  Es  wird 
branden  der  Streit  und  das  Erschlaffen,  der  Angriff  und  die  Ver- 
sohnung  um  den  Kalbsbraten,  den  Entfesseler  des  Psychischen. 

Und  das  Morgendliche,  wem  begegnet  es?  Einer  Frau,  die 
sich  auBergewohnlich  in  der  Friihe  erhebt;  alle  Kiihle  und  sein 
Tau  rinnen  in  das  Wesen,  das  schreitet.  Weiterleitung  tritt  ein, 
ein  Ausruf  wird  erfolgen,  Bestande  von  Erzahlungen  iiber  friihe 
Gange  werden  gebildet  — Uberall  stehen  die  Verarbeitungs- 
behalter  und  was  war  und  wird,  ist  langst  geschehen. 

Wann  gab  es  Umstromte?  Ich  muB  alles  denken,  ich  muB 
alles  zusammenfassen,  nichts  entgeht  der  logischen  Verkniipfung ; 
Anfang  und  Ende  — aber  ich  geschehe.  Ich  lebe  auf  dieser  Insel 
und  denke  Zimtwalder;  in  mir  durchwachst  sich  Wirkliches  und 
Traum.  Was  bliiht  der  Mohn,  wenn  er  sich  entrotet;  der  Knabe 
spricht,  aber  der  psychische  Komplex  ist  vorhanden,  auch  ohne 
ihn.  — 

Die  Konkurrenz  zwischen  den  Associationen,  das  ist  das 
letzte  Ich  — dachte  er  und  schritt  zuriick  zur  Anstalt,  die  auf 
einem  Hiigel  am  Meere  lag.  Hangt  aus  meiner  Tasche  eine 
Zeitung,  ein  buchhandlerisches  Phanomen,  bietet  es  Ankniipfun- 
gen  zu  Bewegungsvorgangen  an  Mitmenschen,  sozusagen  zu 
einem  Geschehnis  zwischen  Individualitaten.  Sagt  der  Kollege, 
Sie  gestatten  das  Journal,  liegt  ein  Reiz  vor,  der  wirkt,  ein  Wille, 
der  sich  auf  etwas  richtet,  motorische  Konkurrenzen,  aber 
jedenfalls  immer  das  Schema  der  Seele,  die  Vitalreihe  ist  es,  die 
die  Fallen  stellt. 


Gottfried  Benn  * Die  Insel 


247 


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Wir  sind  am  Ende,  fiihlte  er,  wir  iiberwanden  unser  letztes 
Organ.  Ich  werde  den  Korridor  entlang  gehen,  und  mein 
Schritt  wird  hallen.  Denn  muB  im  Korridor  der  Schritt  nicht 
hallen?  Jawohl,  das  ist  das  Leben,  und  im  Vorbeigehen  ein 
Scherzwort  an  die  Beamtin  ? Jawohl,  auch  dies ! — 


Da  landete  das  Schiff,  das  alle  Woche  an  die  Insel  kam,  und 
mit  den  Gasten  stieg  eine  Frau  ans  Land,  die  eine  Weile  hier 
wohnen  wollte. 

Ronne  lemte  sie  kennen,  warum  sollte  er  sie  nicht  kennen 
lernen : einen  Haufen  sekundarer  Geschlechtsmerkmale,  anthro- 
poid gruppiert. 

Aber  bald  fragte  er  sich  beunruhigt,  ich  suche  ihren  Umgang, 
doch  das  Denkerische  ist  es  nicht,  was  aber  ist  es  ? Sie  ist  mittel- 
grofi,  blond,  mit  Wasserstoff  gebleicht  und  grau  an  den  Schlafen. 
Ihre  Augen  liegen  in  der  Feme,  unverriickbar,  grau  von  Nebel 
die  Pupille  — aber  ich  spiire  es  wie  Flucht,  ich  muB  sie  beformeln : 

Ihr  Wesen : sie  liebt  weiBe  Blumen,  Katzen  und  Kristalle,  und 
sie  kann  des  Nachts  allein  nicht  schlafen,  denn  sie  liebt  es  so,  ein 
Herz  zu  horen,  wo  aber  soil  das  Prinzip  ansetzen  und  die  Zu- 
sammenfassung  erfolgen  ? Nie  begehrt  sie  eine  Zartlichkeit,  aber 
wenn  man  sich  ihr  nahert,  tritt  man  unter  das  Dach  der  Liebe. 
Und  plotzlich  steht  sie  liber  mir  in  einer  Stellung,  die  ihr 
Schmerzen  machen  mufi,  unbeweglich  und  lange  — — welch 
erschiittemde  Verwimmg! 

Wittemd  Gefahr,  horend  aus  der  Feme  einen  Strom,  der 
herangurgelte,  ihn  aufzulosen,  schlug  er  um  sich  die  sozio- 
logischen  Bestande: 

Wie,  auf  der  Nachbarinsel  war  die  Hirse  stockig?  War  es  gut 
gehandelt  an  dem  kleinen  Mann?  Wo  blieb  Redlichkeit  und 
Bruderkufi?  Wenn  dies  verging,  was  blieb?  — Oder : wirklich 
hingegeben  an  die  iibliche  Menge  gemahlenen  Tees,  in  einer 
Flasche  geschiittelt,  gefiillt,  gekorkt  und  nochmals  geschiittelt, 
und  die  iibermittelt  dem  Bekannten,  dem  Nachbar  oder  dem 
WiBbegierigen,  redlichen  Sinnes  und  helfender  Gesinnung,  was 
blieb  dann  noch  der  Verfiihrung  zuganglich:  er,  der  schlichte 


m VoL  m/i 


248 


Gottfried  Benn  » Die  Insel 


Schamtrager  in  seiner  staatlichen  Verquickung,  — nun  durfte 
wohl  Friede  sein,  endlich,  ja? 

Aber  schon  wieder  war  die  Lockung  da,  die  Frau,  das  Stro- 
mende,  und  befreit  atmete  er  der  Warterin  entgegen,  diekam: 
ein  krankes  Knie!  Wie  verdichtet  es  sich  zur  Wirklichkeit. 
Welch  starke  Formel ! Amtlich  verpflichtet  zur  Anerkennung 
meinerseits!  Kniekrankheiten,  Schwellungen,  Entziindungs- 
vorgange.  — fester  Boden  — Mannlichkeiten ! 

Dann  wieder:  Jede  Erscheinung  hat  ihr  oberstes  Prinzip,  und 
er  schritt  getrostet  an  den  Strand;  es  gilt  nur  festzulegen,  wel- 
ches das  Ihre  ist;  das  System  ist  allgiitig,  es  enthalt  auch  sie. 
Es  enthalt  auch  sie,  die  keine  Treue  und  keinen  Wortbruch 
kennt,  die  zur  Stunde  nicht  kommen  kann,  weil  die  Fischerin 
eine  Angel  trug,  und  die  Salpen  glanzten  — Erfahrung  sammeln, 
Deduktionen,  sein  stiller  Himmel  auch  iiber  ihr!  Aber  dann: 
Ihre  Hiifte,  wenn  sie  neben  ihm  ging,  rauschte  wie  das  Smnlose 
und  ihre  Schulter  war  behaart  vom  Chaos. 

Tiefer  warf  er  sich  liber  seine  Bucher,  hammernd  seine  Welt. 
Aber  wie?  In  den  angesehensten  naturwissenschaftlichen 
Journalen  konnten  neuerdings  Raum  finden,  ja  anerkennend 
besprochen  werden  Arbeiten  dieses  eigentiimlichen  Inhalts? 

Das  Werk  ernes  unbekannten  jiidischen  Arztes  aus  Danzig, 
der  wortlich  iiber  die  Gefiihle  aussagte,  dafi  sie  tiefer  reichten 
als  die  geistige  Funktion  ? Dafi  das  Gefiihl  das  grofie  Geheimnis 
unseres  Lebens  sei  und  die  Frage  seiner  Entstehung  unbeant- 
wortbar??  Um  es  vollends  zu  Ende  zu  denken:  das  Gefiihl 
gehore  nicht  mehr  zu  den  Empfindungen  ? ? 

Wufite  er  denn,  was  es  bedeutete,  wenn  die  Gefiihle  nicht  mehr 
vom  Reiz  abhingen,  wie  er  Ronne  gelernt;  wenn  er  sie  den 
dunklen  Strom  nannte,  der  aus  dem  Leibe  brach?  Das  Unbe- 
rechenbare  ? 

Wufite  der  Verfasser  wohl,  vor  welche  Fragen  die  Konse- 
quenzen  seiner  neuen  Lehre  fiihrten,  wufite  dieser  vollig  un- 
bekannte  Mann  wohl  die  ganze  Schwere  seiner  Behauptung,  die 
er  ohne  jede  Ankiindigung,  ohne  Sichtbarmachung  auf  dem 
Titelblatt,  einfach  in  einem  Buch  mit  farblosem  grauen  Deckel 


Gottfried  Benn  ♦ Die  Insel 


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249 

in  die  Welt  schickte,  wufite  er  vielleicht,  daB  er  die  Frage  be- 
antwortete,  ob  es  Neues  gabe? 

Ronne  atmete  tief.  War  dies  etwa  schon  eine  Wissenschaft, 
die  nach  ihm  kam  ? Jede  Befruchtung  enthielte  den  Keim  eines 
unerhort  Neuen,  der  Zusammentritt  von  Einheiten  war  in  der 
Generationsfolge  fortgesetzt  in  der  Gestalt  der  Zweigeschlecht- 
lichkeit,  und  in  ihr  gait  es,  die  gewaltige  schopferische  Macht 
anzuerkennen,  die  das  Leben  zur  Hohe  erhoben  hatte? 

Ronne  bebte.  Er  sah  nochmals  auf  das  Journal,  das  die  Be- 
sprechung  gebracht  hatte,  auf  den  Namen  des  Referenten,  der 
die  Kritik  gezeichnet  hatte : er  war  sein  Lehrer  gewesen. 

Schopferischer  Mensch ! Neuformung  des  Entwickelungsge- 
dankens  aus  dem  Mathematischen  ins  Intuitive  — : was  aber 
wurde  aus  ihm,  dem  Arzt,  gebannt  in  das  Quantitative,  dem 
beruflichen  Bejaher  der  Erfahrung? 

Trat  er  vor  einen  Rachen,  und  die  Schwellung  war  bedroh- 
lich  — : war  sie  intuitiv  kupierbar?  mufite  er  sich  nicht  zu- 
sammenraffen  zu  analytischen  Phanomenen,  Empirien,  ziel- 
strebigen  Gesten,  dem  ganzen  Grauen  bejahter  Wirklichkeiten, 
zu  einer  Hypothese  von  Realitat,  die  er  erkenntnistheoretisch 
nicht  mehr  halten  konnte,  um  des  Kindes  willen,  das  schon  blau 
war,  des  Rachens  halber,  der  erstickte,  und  der  Geld  abwarf  und 
von  Amts  wegen? 

Plotzlich  fiihlte  er  sich  tief  ermiidet  und  ein  Gift  in  semen 
Gliedern.  Er  trat  an  ein  Fenster,  das  in  den  Garten  ging.  In 
dem  stand  schattenlos  die  Bliite  weiB,  und  voll  Spiel  die  Hecke; 
an  alien  Grasern  hing  etwas,  das  zitterte,  in  den  Abend  losten 
sich  Diifte  aus  Strauchern,  die  leuchteten,  grenzenlos  und  fur 
immer. 

Einen  Augenblick  streifte  es  ihn  am  Haupt : eine  Lockerung, 
ein  leises  Klirren  der  Zersprengung,  und  in  sein  Auge  fuhr  ein 
Bild:  klares  Land,  schwingend  in  Blaue  und  Glut  und  zerkliiftet 
von  den  Rosen,  in  der  Feme  eine  Saule,  umwuchert  am  Fufi; 
darin  er  und  die  Frau,  tierisch  und  verloren,  still  vergieBend 
Safte  und  Hauch. 

Aber  schon  war  es  vergangen.  Er  fuhr  sich  liber  die  Augen. 


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250 


Gottfried  Benn  * Die  Inset 


Schon  sprang  der  Reifen  wieder  um  seine  Stim  und  eine  KiiKIe 
an  die  Schlafen : was  lag  denn  hier  vor  ? Er  hatte  mit  einer  Frau 
zusammengelebt  und  hatte  einmal  gesehen,  dafi  sie  Rosenblatter. 
die  welkten,  von  einer  Kante  zusammengeiesen  hatte,  zusammen 
zu  einem  kleinen  Haufen  auf  einen  gesteinten  bunten  Tiscb ; 
dann  setzte  sie  sich  wieder,  verloren  an  einen  hellen  Strauck 
Das  war  alles,  was  er  wirklich  von  ihr  wuBte;  der  Rest  war,  dafi 

er  sich  genommen  war,  es  rauschte  und  er  blutete aber  wo 

fiihrte  das  hin? 

Hart  wurde  sein  Blick.  Gestahlt  drang  er  in  den  Garten. 
Starr  standen  die  Biische.  Jetzt  kam  es  liber  ihn : er  stand  am 
Ausgang  eines  Jahrtausends,  aber  die  Frau  war  stets.  Er 
schuldete  seine  Entwicklung  einer  Epoche,  die  das  System 
erschaffen  hatte,  und  was  auch  kommen  mochte,  dies  war  er! 

Fordemd  jagte  er  seinen  Biick  in  den  Abend  und  siehe,  es 
blaute  das  Hyazinthenwesen  unten  Duftkurven  reiner  Formeln, 
einheitliche  Geschlossenheiten,  in  den  Gartenraum;  und  eine 
versickemde  Streichholzvettel  rann  teigig  iiber  die  Stufen  eines 
Anstaltgebaudes  unter  Glutwerk  berechenbarer  Lichtstrahlen 
einer  untergehenden  Sonne  senkrecht  in  die  Erde.  — 


Joh.  R.  Becker  ♦ Bruchstiicke  aus  dem  Gedicht  < Der  Sozialist  > 25 1 


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flofiannes  Q{.  ^Beefier: 

BRUCHSTUCKE AUS  DEM  GEDICHT 

„DER  SOZIALIST44 

Du  schiire  uns ! Dein  Haupt  kann  nicht  versinken ! 

Kadavertiirmen  wehend  aufgehifit. 

Wir  treffen  uns.  Signale  winken. 

Mein  Sozialist . . .! 

CEI  unbarmherzig,  ich  rate  es  dir  sehr,  gegen  dich  selbst, 
^iiberbiete ! (. . . notiere  es  dir,  hatte  ich  beinahe  in  meinem 
fiirsorglichen  Ubereifer  dir  ernsthaft  vorgeschlagen,  jeden  Tag 
am  Rande  deines  Kalenders. . . gestatt  es,  bitte,  dafi  ich  mich 
miitterlichst  schier  deiner  annehme,  dafi  ich,  der  Dichter,  dich 
riiste,  aus  dir  dein  Werkzeug  bereite,  knete  deinen  Geist,  dein 
Wort  zuspitze,  nicht  wahr,  du  mein  wirklicher  Mensch- 
Bruder  . . .)  — iiberbiete  in  betreff  deiner  eigenen  Person 
den  PeitscHer  an  Holle  und  Grausamkeit!  Nichts  wird  man 
dir  dann  anhaben  konnen.  Darin  und  dariiber  wirst  du  zugleich 
stehen.  Wahrhaft  Gekronter  du ! Mein  Sozialist! 

Striemen  zu  Strahlbriicken  verflochten.  Fiirchte  dich  nicht, 
sei  sicher  dessen  1 mein  Lieber,  mein  Bruder : der  Henker  wirkt 
am  Ende  doch  auch  nur  als  das  Werkzeug,  ein  bitterstes  aller- 
dings,  jener  himmlischen  Idee,  jener  harmonischen  Verfiigimg, 
die  auch  du  mit  deinem  Leben  anbetest,  besiegelst.  Sozialist! 
Bruder!  Fur  die  du  dich  restlos  hingibst,  der  du  dich  jubelnd 
opferst : dem  von  Menschen  erbauten  gottlichen  Staat : singend 
und  glorios.  Ruhmstreifen  nur  schlagt  dir  dieser  Henker.  ja, 
so  befreunde  dich  mit  ihm,  wenn  du  auf  dem  Schafott  stehest, 
der  letzten  und  der  erhabensten  der  irdischen  Tribiinen . . . 
und  nicht  gram  den  prasselnden  Trommlern:  denn  siehe. 


252  Joh.  R.  Becker  • Bruchstiickc  aus  dem  Gedicht  «Der  Socialist * 


binnen  kurzem : nur  um  eine  kleine  Distanz  weggeriickt,  ver- 
mogen  jener  Schlage  nur  mehr  wie  eine  Begleitung  in  Moll 
deinem  erwachsenen  englischen  Posaunenwort  zu  klingen:  fern, 
dumpf,  paukend.  Ah,  und  du  triumphierst,  wie  seid  ihr  zer- 
staubt,  ihr  grimmen  Gewitter,  ihr  hollischen  Schlachter,  ihr 
schlimmen  Hallunken,  ihr  Larmteufel  (dabei  lachelst  du  gut) 

— o aber,  getrost,  nur  in  der  Nahe  konntet  ihr  die  Gestirne 
meiner  Satze  mit  eueren  kataraktischen  Klopflauten  liber- 
schwemmen  . . . (feme,  kleine,  schiichteme  Gewitter  jetzt . . .) 

— befreunde  dich  also  mit  deinem  Henker,  diesem  wahr- 
scheinlich  rotbartigen,  robustesten  Athletenklotz  da;  driick 
ihm,  wie  man  sie  seinem  besten  Bruder  driickt,  fest  beide 
Hande,  Auge  in  Auge  geheftet,  tauch  ein  in  ihn  bis  auf  den 
Grund  azurener  Kindheit . . . letzte  Hande  ihr  vorm  Abschied, 
Vasen  der  Beile,  GefaBe  von  Palmen  dereinst, 

Und  wiB  es,  bedenk  es  heftig,  daB  aller  Welt  Blick  jetzt  starr 
auf  dich  gerichtet  ist  (spiirst  du  es  nicht  wie  Nadelsticbe  iiber 
den  ganzen  Korper  hin ! ?),  in  diesem  deinem  schonsten  Moment, 
deiner  Freunde  und  deiner  Feinde  Blick,  wie  halten  sie 
sich  fest  an  dich,  teils  beobachtend,  teils  unbesorgt  verankert 
als  1m  Treuesten  in  dir  . . . von  hier  aus  ist  es  dir  noch  einmal 
vergonnt,  zu  werben,  Bekehrer,  wahrhaftiger  Held  zu  sein. 
Sonne  an  dich  zu  reiBen,  den  Mond  als  Silbertrikolore  xiber 
dich  zu  setzen,  Taler  mit  Fliissen  um  deine  Knochel  zu  fabel- 
haftesten  Opanken  zu  binden,  demiitigst  gekniet  vor  dich  die 
gelbe  Magd  der  Komfelder  . . . ambrosischer  Olwaldungen 
du  dichtest  umschirmt.  * 

Ob  alien  Landern  muBt  enorm  du  schreiten. 

Du  saugest  sie  aus  fernsten  Kellern  her. 

Wachst,  Bruder,  auf  zu  euerem  letzten  Hiigel! 

Setzt  ein,  Attacken!  Schmelzt,  Phalangen,  jah! 

Mein  Sozialist!  Voll  muB  die  Welt  dir  tonen! 

Tal  hell  dich  feiern,  tiefster  Stadt  vereint. 

Wirr  schwemmt  dahin  verrosteter  Staaten  Brei. 

Es  schleiert  auf  von  neuem  Horizont. 


Joh.  R.  Becher  » Bruehstiicke  a us  dem  Gedickt  * Der  Sozialist » 253 


Terrassen  Brudervolker  steigen  psalmend. 
Posaunenchore  ob  verworfener  Zeit. 

Mai  schwillt.  Der  Armsten  Viertel  ziingelnd  brennend. 
Mein  Sozialist,  von  Feuem  rings  girlandet. 

Du  schiire  sie.  Dein  Haupt  kann  nicht  versinken ! 
Kadavertiirmen  wehend  aufgehiBt. 

Wir  treffen  uns.  Signale  winken. 

Mein  Sozialist! 

* 


Zum  SchluB,  zum  SchluB,  mein  Sozialist!  SchluB  muB  ich 
machen  mit  meiner  Hymne  an  dich,  Sozialist:  aufsingen  will 
ich,  ja  die  Welt,  die  Landschaft  begeistern  fur  dich.  Tausend 
Briider  will  ich  dir  heute  noch  werben. 

Mein  Sozialist,  steck  auf  die  Arme  weit  als  Fanal! 

Saule  du,  unumkehrbare,  umgerissene  nicht  im  Chaosschutt. 
Bleibgestirn,  erzeugend  Myriaden  Glanzer. 

Vertriebene  Herden  weidend  in  solcher  Achseln  Bucht. 

Oase  dein  Nabel,  drin  versammelt  der  Evakuierten  zerknitterter 

Hauf. 

Honigwmd  entstromt  deinen  Poren. 

Manna  schneit  aus  Wolkenhiiften  . . . 

Heiliger  Mann,  und  auffliigeln  mochtest  die  Krummen  du. 
Schielaugen  sie,  mit  Wiihltatzen  und  Speimund. 

Hangender  Kleider  die,  Schlotterstrolche  — 

Bajonetthalunken.Kanonenrohrkanaillen:  jetztsiiBestklingend- 
Und  den  leichten  Schaum  bunt  verastelter  Frauen  . . . 

So  dich  zerklafften,  einstampften,  bewiirgten  dich  . . . 

(—  Mitten  als  triebst  du  Turminsel  im  Volksgeroll 
GroB  sich  Hereingestiilpter  — 

Miinder  Sieb  Flammen  schleudert  nach  der  Residenz  — ) 

Heiliger  Mann,  uniibersehbar  bricht  auf  dein  Volk, 

Leicht  in  Spiralen  um  die  Getiirme  der  alten  Stadte  sich 

windend. 


254  Joh.  R.  Bechet  * Bruchstiicke  aus  dem Gedichi  *Der  Socialists 


Zinnoberen  Kiisten  der  Ather  entlangschweifend  . . . 

Aller  Haare  flattern  wie  FaKnen. 

Der  du  einst  zogest  voraus,  Einziger  . . . und  keiner  mu6  arm 

scin! 

Fischgriinde  in  die  Wangen  gedriickt  — 

Korn  liber  Haupter  gescheitelt  — 

Weinernte  im  Lippental  — 

Weizenacker  betraufelnd  der  Stirne  Hang  — 

— Spiegelnd  Oliven  im  Augsee  — . 


(GeschlifTener  Morgen.  Anscheinen  der  Utopialandschaft. 
Marschgestampf.  Ein  unendliches  Blenden.  SchluBvers,  deut- 
lich  herausquillend  aus  heilverschlungenen,  illuminierten 

Choren)  — : — : 

. . . du  schiire  uns ! Dein  Haupt  kann  nicht  versinken ! 
Kadavertiirmen  wehend  aufgehiBt. 

Wir  treffen  uns.  Signale  winken. 

Mein  Sozialist  . .1 


Giossen 


255 


GLOSSEN 


C Vipfomatie  und  (Ooffcsideafe. 

Der  Verlauf  der  Debatten  liber  die 
auswartige  Politik  im  Reichstage  hat 
jedem  Vaterlandsfreunde  eine  schwere 
Enttauschung  bereitet.  Anstatt  mit 
Verstandnis  den  berechtigten  Wiin- 
schen  der  Volksvertretung,  mehr  Ein- 
fluB  auf  die  Fiihrung  der  auswartigen 
Geschafte  zu  erlangen,  entgegenzu- 
kommen,  hat  die  Regierung  sich  an 
„verfassungsrechtliche  Bedenken"  ge- 
klammert.  Als  ob  wir  in  den  Schlender- 
tagen  tiefsten  Friedens  lebten  undnicht 
hochemste  Zeiten  auch  auBerordent- 
liche  Mittel  erheischten.  Ein  kurzes 
Gesetz  geniigte,  um  alle  Wiinsche  des 
Reichstages  zu  befriedigen,  ein  Gesetz, 
das  einfach  bestimmte,  daB  der  die 
Kontrolle  der  auswartigen  Politik  aus~ 
iibende  ReichstagsausschuB  wahrend 
der  ganzen  Legislaturperiode  tagen  und 
auch  liber  diese  Periode  hinaus  provi- 
so risch  so  lange  die  Geschafte  fort- 
fiihren  solle,  bis  ein  neuer  Reichstag 
einen  neuen  AusschuB  gewahlt  habe. 

Denn  nur  auf  dauerndes  Mitarbeiten 
kommt  es  an.  Zu  jeder  Zeit,  an  jedem 
Tage  mufi  die  Volksvertretung  die 
Mdglichkeit  haben,  mit  den  Leitem 
unserer  auswartigen  Geschafte  sich  zu 
beraten . Alles  andere  ist  Stiickwerk 
und  Selbsttauschung.  Die  Behandlung 
des  Reichstages  anlaBlich  der  Selb- 
stindigkeitserldarung  Russisch-Polens 
sollte  doch  dem  Blindesten  die  Augen 


geoffnet  haben.  In  dem  Augen blicke, 
wo  der  Reichstag  nach  erregten  Ver- 
handlungen  endlich  den  Zutritt  zur 
diplomatischen  Geheimkammer,  we- 
nigstens  wahrend  des  Krieges,  durch- 
gesetzt  zu  haben  wahnte,  wurde  ihm 
bei  einem  Ereignis  allerersten  Ranges, 
bestimmt,  die  innere  und  auswartige 
Politik  Deutschlands  von  Grund  auf 
umzustiirzen,  von  der  Regierung  die 
Tiire  vor  der  Nase  zugeschlagen. 

Vielleicht  wird  dieser  Vorfall  dem 
Reichstage  ein  fiir  allemal  als  Lehre 
dienen.  Warum  hat  er  sich  auch  so 
leichten  Sinnes  gerade  in  einem  Augen- 
blicke  nach  Hause  schicken  lassen,  wo, 
wie  er  wuBte,  ein  so  bedeutendes  poli- 
tisches  Problem  vor  der  Losung  stand? 
Diese  energielose  Haltung  steht  aller- 
dings  im  volligen  Einklang  mit  der  Art 
und  Weise,  wie  bisher  im  Reichstage 
auswartige  Fragen  behandelt  worden 
sind.  Die  Teilnahmlosigkeit  und  Ober- 
flachlichkeit,  mit  der  der  Reichstag 
auswartige  Probleme  zu  besprechen 
pflegte,  haben  ja  gerade  unserer  Diplo- 
matic das  Spiel  so  leicht  gemacht.  Sie 
hatte  das  Feld  f rei  zu  schalten  und  zu 
walten,  wie  ihr  einseitiger  Sinn  es  ihr 
eingab. 

Wenn  ein  wirklicher  Wandel  hier 
eintreten  soil,  ist  es  heiligste  Pflicht  des 
Reichstages,  *ich  selbst  und  das  deut- 
sche  Volk  zum  Verstandnis  der  aus- 
wartigen  Politik  zu  erziehen.  Dazu 
muB  er  sich  aber  ein  Organ  schatfen, 


256 


Glossen 


vertretern  durchdringen  und 
konnte. 


daB 


Gerade  der  Umstand, 
diese  Manner  aus  dem  vollen  Leben 


das  geeignet  ist,  einen  dauernden  nin- 
fluB  auf  die  Fiihrung  unserer  auswarti- 
gen  Geschafte  auszuiiben.  Denn  nur 
in  bestandiger  Mitbetatigung  wird  es  kommen  und  nicht  nur  zur  „Karriere“ 
den  deutschen  Volks  vertretern  ge-  gehoren,  wlirde  die  bisher  iiblicfie 
lingen,  sich  diejenigen  Kenntnisse  liber  diplomatische  Denkweise  nur  aufs 


auswartige  Dmge  und  Menschen  zu 
verschaffen,  ohne  welche  eine  wirk- 
same  Volkskontrolle  der  Diplomatic 
einfach  ausgeschlossen  ist. 

Daher  diirfte  auch  der  groBe  Haus- 
haltsausschuB  kein  geeignetes  Kon- 
trollinstrument  sein.  Er  ist  viel  zu  sehr 
uberlastet.  Die  auswartigen  Fragen 
wurden  hier  wieder  viel  zu  kurz  kom- 


gliicklichste  erganzen  konnen.  Voraus- 
gesetzt  natiirlich,  daB  man  ihnen  ihrr: 
Aufgabe  nicht  kiinstlich  erschwert, 
sondem,  im  Gegenteil,  ihnen  beim  Er- 
werb  von  Kenntnissen  iiber  diplo- 
matische Vorgange  in  weithenriger 
Weise  entgegenkommt. 

SchlieBlich  hatte  die  Regierung  von 


einem  solchen  si dn digen  Zusammen- 
men.  Sonst  gilt  im  Reichstag  das  Prin-  arbeiten  von  Diplomatenbureaukratie 
zip  strenger  Arbeitsteilung  bei  der  Bil-  und  Volks vertretung  den  gTdBten 
dung  von  Kommissionen.  Warum  soli  Nutzen.  Vielen  Storungen  und  Rei- 


gerade  bei  einer  so  wichtigen  Aufgabe 
wie  der  Beaufsichtigung  der  auswarti- 
gen Politik  dieser  Grundsatz  umge- 
stoBen  werden? 

Fiir  die  auswartigen  Angelegenheiten 
ist  ein  besonderer  Ausschufi  erforder- 
lich,  der  sich  dauernd  nur  mit  aus- 
landischen  Problemen  befaBt  und  der 
nur  solche  Manner  als  Beisitzer  zahlt, 
welche  die  auswartige  Politik  nicht  nur 
als  Steckenpferd  reiten,  sondem  die 
von  der  Natur  zur  Losung  derartiger 
Probleme  gestempelt  sind,  indem  sie 
das  dazu  unumganglich  notwendige 
Kunstvermogen  besitzen. 

Gegen  die  Mitwirkung  eines  derart 
ausgestatteten  Ausschusses  diirfte  un- 
sere Diplomatic  auch  nicht  einwenden 
konnen,  daB  er  die  Fruchtbarkeit  ihrer 
Gedankenarbeit  store.  Im  Gegenteil. 

Eine  verniinftige,  gewissenhafte  Diplo-  auch  ein  Faktor  in  die  Diplomatic  ein- 


bungen  mit  dem  Reichstage  wurden  da- 
durch  die  Wurzeln  abgeschnitten . Das 
ganze  diplomatische  Handwerk  be- 
kame  einen  volkstiimlicheren  Zug. 

Was  wissen  die  meisten  unserer  heu- 
tigen  Diplomaten  vom  Volk  und  seinen 
Idealen  (wenn  sie  auch  gem,  in  kriti- 
tischen  Augenblicken,  davon  reden)? 
Werden  doch  die  Kopfe  dieser,  im 
Elfenbeinturm  hofischer  Denkungsart 
eingeschlossenen  Herren  fast  nur  wie- 
der aus  diplomatischen  Quellen  ge- 
speist.  Die  Berichte  unserer  auswarti- 
gen Vertreter  spiegeln  in  Auffassung 
und  Stimmung  genau  das  Bild  der 
Zentrale.  Der  Eimer  schopft  so  immer 
aus  gleichem  Brunnen. 

Durch  aktive  Teilnahme  von  Volk 
und  Volks  vertretern  an  den  auswarti- 
gen Geschehnissen  wlirde  allmahlich 


inatie  miifite  es  als  segensreich  emp- 
finden,  wenn  sie  die  schwiengen  aus- 
wartigen Probleme  in  vert rauens vollen 


dringen,  der  bisher  eine  vollig  unter- 
geordnete,  wenn  iiberhaupt  eine  Rolle 
gespielt  hat:  das  Volksideal. 
Erorterungen  mit  urteilsfahigen  Volks-  Das  Volk  ist  seit  langem  iiberdriissig. 


Glossen 


257 


nur  als  Objckt  militarise  her  oder  wirt- 
schaftlicher  Machtplane  angesehen  zu 
werden.  Oberall  diirstet  die  Volks- 
seele  nach  dem  Ideal  der  Volkerver- 
standigung,  nach  Freiheit  und  Ge- 
rechtigkeit.  Das  Volk  ist  in  seiner 
groBen  Mehrheit  in  alien  Landern 
friedliebend.  Es  weiB,  daB  es  bei  einem 
Kriege  nichts  zu  gewinnen,  aber  sehr 
viel  zu  verlieren  hat,  und  daB  der  Ein- 
satz  stets  sein  Blut  und  Gut  ist. 

Im  Gegensatz  hierzu  sind  die  Kopfe 
der  Diplomaten  noch  vollgepfropft  von 
den  aus  einer  absolutistischen  Zeit 
stammenden  Gewalt-  und  Prestige- 
ideen.  Wie  konnte  dies  auch  anders 
sein?  Rekrutieren  sich  doch  unsere 
Diplomaten  nur  aus  Standen,  denen 
das  Kriegshandwerk  eine  zweite  Natur 
geworden  ist,  oder  die  in  engem  Zu- 
sammenhang  stehen  mit  den  modernen 
Industriebaronen.  Fur  den  Geist,  der 
bei  der  Auswahl  unserer  Diplomaten 
vorherrscht,  nur  ein  Beispiel  von  vielen. 
Keiner,  der  gedient  hat,  kann  zuge- 
lassen  werden,  wenn  er  nicht  in  der 
Reserve  mindestens  die  Leutnants- 
staffel  erklommen  hat.  Der  Fall,  daB 
ein  untauglicher  Militar  ein  vortreff- 
licher  Diplomat  sein  konnte,  scheint 
undenkbar.  Kein  Wunder,  daB  der- 
artig  gewahlte  Elemente  mit  Vorliebe 
auf  die  Macht  des  Deutschen  Reiches 
pochen,  statt  ihren  Geist  anzustrengen, 
um  mit  friedlicheren  Argumenten  zu 
iiberzeugen.  Wenn  man  wiiBte,  wie  oft 
unsere  Diplomatic  Augenblickserfolge 
nur  erzielte,  weil  sie  mit  der  Faust  auf 
den  Tisch  schlug  und  hierdurch  ner- 
vosen  Staatsmannern  imponierte!  DaB 
eine  solche  Methode  die  politische 
Atmosphare  Europas  mit  Ziindstoff 
schwangere  und  das  Herein brechen  des 


Unwetters  beschleunige,  kam  ihr  nicht 
in  den  Sinn. 

Aber  noch  eine  andere  Gefahr  ergibt 
sich  aus  einem  solchen  in  Friedens- 
zeiten  geiibten  Kriegsspiele.  Die  bei 
der  Behandlung  auswartiger  Probleme 
mit  Vorliebe  auf  die  Mach*  sich  stiit- 
zende  Diplomatic  ist  in  Krisenzeiten 
zu  friihzeitig  bereit,  sich  vor  dem  Mili- 
tar von  der  politischen  Schaubiihne  zu- 
riickzuziehen  und  dem  Soldaten  zuzu- 
rufen : Ich  habe  das  meinige  getan,  tun 
Sie  das  Ihrige.  Der  Militar,  an  den 
Gedanken  gewohnt,  daB  der  Nachbar 
nur  auf  der  Lauer  liegt,  um  uber  ihn 
herzufallen,  wird  in  der  Sorge,  seinem 
Lande  feindliche  Einfalle  zu  ersparen, 
alles  daran  setzen,  um  dem  Gegner 
schleunigst  zuvorzukommen.  Wer 
wollte  ihn  deswegen  tadeln  ? Bei  dieser 
militarischen  Auffassung  der  Dinge 
ware  es  selbst  erklarlich,  wenn  der 
Soldat  manchmal  einen  Praventivkrieg 
fur  das  kleinere  Obel  ansahe. 

Els  ist  daher  von  kapitaler  Bedeutung, 
daB  die  Diplomatic  nicht  eher  das 
Steuerruder  des  Staatsschiffes  aus  der 
Hand  gibt,  bis  nicht  alle,  wirklich  alle 
anderen  Mittel  erschopft  sind,  um  den 
Frieden  zu  erhalten.  Der  idealste 
Diplomat  ware  der,  welcher  mit  frem- 
den  Regierungen  so  verhandelte,  als  ob 
keine  Militarmacht  hinter  ihm  stande. 
Zum  Oberzeugen  mit  Worten  gehort 
allerdings  ein  nicht  gerade  gewohn- 
liches  MaB  von  Menschenkenntnis, 
Takt  und  Verstand. 

Eine  vielversprechende  Tatigkeit 
konnte  ein  Volks  vert  reterausschuB 

schon  allein  dadurch  ausiiben,  daB  er 
versuchte,  auch  auf  die  militarischen 
Be  rater  und  deren  Denkweise  EinfluB 
zu  gewinnen,  daB  er  besonders  die 


Glossen 


Chefs  des  General-  und  Marinestabes 
iiber  die  wahren  Absichten  und  Stim- 
mungen  fremder  Volker  auf  dem  Lau- 
fenden  hielte,  damit  diese  Herren  nicht, 
wie  bisher,  ihre  auswartigen  Kennt- 
nisse  nur  aus  diplomatischen  Quellen 
beziehen.  In  den  militarischen  Bureaus 
wlirde  allmahlich  ein  ganz  anderer 
Geist  plat zgrei fen.  Die  verstandigen 
und  wahrhaft  patriotischen  Elemente, 
welche  das  Kriegshandwerk  nicht  nur 
ergriffen  haben,  um  kriegerische  Lor- 
beeren  zu  emten,  sondem  um  ihr  Land 
zu  schutzen,  wurden  die  Oberhand  ge- 
winnen  und  zur  allgemeinen  Beruhi- 
gung  beitragen. 

Wann  werden  unsere  Machthaber 
endlich  einsehen,  da8  die  „Einkrei- 
sung“  ihren  Anfang  nahm,  als  unsere 
Diplomatic  in  Verkennung  des  neuen 
europaischen  Zeitgeistes  den  im  Haag 
aufkommenden  Bestrebungen  inter- 
nationaler  Verstandigung  mit  harter 
Ironie  den  Weg  verlegte  ? Es  wird  jetzt 
sehr  schwer  sein,  der  Menschheit  den 
Glauben  beizubringen,  daG  wir  in  Auf- 
richtigkeit  eine  europaische  Rechts- 
ordnung  anstreben,  welche  wir  im 
Frieden  so  hartnackig  bekampft  ha  ben. 
Wird  man  nicht  sagen,  daG  eine  solche 
Meinungsanderung  nur  eine  augen- 
blickliche  Kriegsmiidigkeit  zur  Ur- 
sache  hat?  Um  dem  Auslande  Ver- 
trauen  einzufloGen,  miiGte  sich  in 
Deutschland  erst  manches  andem. 
Neue  Manner  muGten  hervortreten, 
deren  Vergangenheit  fur  die  Wahr- 
haftigkeit  der  Umkehr  Burge  ware,  das 
deutsche  Volk  vor  allem  muQte  bei  den 
auswartigen  Geschehnissen  ein  aus- 
schlaggebender  Faktor  werden. 

Bei  einem  innigen  Zusammenarbeiten 
von  Diplomatic  und  Volksvertretung 


hatte  die  Diplomatic  wohl  auch  ge- 
merkt,  daG  die  AuGenwelt  sich  anderte 
und  daG  ein  neues  demokratisches 
Zeitalter  mit  neuen  volkervereinigen- 
den  Idealen  am  politischen  Horizont 
erschienen  war,  die  sich  auf  Frieden, 
Freiheit  und  Gluck  aller  Volker  rich- 
teten.  Aber  die  Diplomaten,  die  nur 
von  ,,Realpolitik“  traumten,  iibersahen 
diese  ttyirklichkeH.  Sie  ahnten  nicht, 
daG  in  unserer  Zeit  nur  eine  Realpolitik 
der  0 deale  der  Welt  dauemden  Frieden 
bringen  kann. 

Und  welches  Land  ware  geeigneter 
zu  einer  Volkerverstandigung  gewesen 
als  gerade  Deutschland,  das  durch  seine 
im  Herzen  Europas  gelegene  Stellung 
zu  einem  universalen  Berufe  vorher- 
bestimmt  zu  sein  scheint  und  diesen 
Beruf  auch  Jahrhunderte  hindurch 
zum  Besten  der  zivilisierten  Welt,  der 
damaligen  Christenheit,  ausgelibt  hat. 
Das  Kaisertum  des  Mittelalters  war  ein 
universales  Institut.  Auf  deutschem 
Boden  sind  alle  groGen  Volkerver- 
sammlungen  abgehalten  worden,  wie 
die  beriihmten  Konzilien  der  Kirche 
und  die  Kongresse,  die  Weltkriege  be- 
endigten.  In  Deutschland  stand  die 
Wiege  des  Volkerrechtes.  Kein  anderes 
Land  hat  eine  so  mannigfaltige  Nach- 
barschaft  und  ist  durch  seine  Grenz- 
lander  und  deren  Bevolkerung  mit  so- 
viel  fremden  Staaten  verwachsen.  Jede 
politische  Handlung  Deutschlands  be- 
riihrt  daher  unmittelbar  fast  ganz 

Europa.  Wenn  in  Deutschland  das 
Militar  die  Oberhand  hat,  wird  in  alien 
anderen  europaischen  Staaten  geriistet 
werden;  erst,  wenn  dort  die  Demo- 
kratie  herrscht,  wird  das  iibrige  Europa 
es  wagen,  sich  friedlicheren  Beschafti- 
gungen  hinzugeben. 


Gtossen 


25V 


In  Zeiten  politischer  Zerrissenheit 
and  Schwache  stand  es  allerdings  dem 
deutschen  Reiche  nicht  an,  eine  euro- 
paische  Ordnung  herbeizufiihren.  Ein 
solches  Begin nen  hatte  das  Reich 
schwerer  Fahmis  ausgesetzt.  Nach- 
dem  Deutschland  aber  zur  starksten 
Macht  Europas  sich  emporgearbeitet 
hatte,  w&re  es  die  Pflicht  seiner  Staats- 
manner  gewesen,  sich  auf  den  alten 
universalen  Charakter  Deutschlands  zu 
besinnen  und  die  Fiihrung  zu  iiber- 
nehmen,  um  Europa  ein  Internationales 
Rechtssystem  zu  schenken,  aufgebaut 
auf  dem  Grundsatze,  daB  eignes  Recht 
vor  fremdem  Recht  Halt  zu  machen 
ha  be.  Eine  solche  auswartige  Politik 
hatte  dem  deutschen  Volke  wieder  zu 
einem  Ideal  verholfen,  ohne  welches 
schlechterdings  ein  hochstehendesVolk 
auf  die  Dauer  nicht  leben  kann.  Statt 
dessen  gab  man  dem  deutschen  Volke 
ein  Scheinideal,  die  Weltmachtpolitik, 
ein  Ideal,  das  im  Lichte  der  politischen 
Vemunft  zerflieBen  muss  wie  der 
Schnee  in  der  Friihlingssonne.  Denn 
es  war  aufgebaut  nicht  auf  dem  gegen- 
seitigen  Gewahren,  sondern  auf  dem 
Ausspielen  der  Macht  Schwacheren 
gegeniiber. 

Diese  Gedankenrichtung  konnte  nur 
aufkommen  aus  der  einseitigen  preufii- 
schen  Auffassung  der  Staatsidee,  wie 
sie  Hegel  und  Treitschke  lehrten.  Weit 
entfemt  steht  diese  politische  Idee  von 
der  vdlkerbegliickenden  Idee  des  alten 
deutschen  Kaiserreiches,  in  dessen 
Schatten  Vdlkerschaften  verschieden- 

i TRorgenrote  ? 

Neues  Rededuell  zwischen  den  ver- 
antwortlichen  Staatsmannem  Deutsch- 


ster  Nationalitaten  Ruhe  und  Frieden 
fanden.  In  dieser  Beziehung  hat  viel- 
leicht  der  preuBische  Historiker  und 
Politiker  Constantin  Frantz  richtig  in 
die  Zukunft  geschaut,  der  schon  1871 
in  seinen  Briefen  an  einen  preuBischen 
Staatsmann  es  bedauerte,  wenn  die 
tausendjahrige  Entwickelung  des  heili- 
gen  romischen  Reiches  deutscher  Na- 
tion ihren  AbschluB  finden  sollte  in 
dem  einfachen  Ausbreiten  des  preuBi- 
schen Militarsystems  iiber  den  deut- 
schen Zollverein,  wie  es  bei  der  Neu- 
aufrichtung  des  Deutschen  Reiches  ge- 
schah.  Mogen  zum  Schlusse  hier  seine 
eigenen  Worte  folgen: 

„Es  mochte  ja  die  unbestreitbarste 
Tatsache  sein,  daB  die  deutsche  Mili- 
tarmacht  dadurch  gewonnen  hatte,  wie 
desgleichen  Posten.T elegraphen,  Eisen- 
bahnen  und  dgl.,  die  Frage  ist  nur:  ob 
diese  Angelegenheiten  jemals  den  ent- 
scheidenden  MaBstab  der  National - 
entwicklung  bilden  diirfen,  und  zwar 
fiir  eine  Nation  von  so  universaler  An- 
lage  und  so  idealer  Richtung,  als  woftir 
bisher  die  deutsche  gegolten  hat.  Jetzt 
steht  diese  Nation  in  alle  dem  gerade, 
was  sonst  ihre  eigentiimliche  Ehre  und 
GroBe  ausmachte,  auf  einem  niedri- 
geren  Standpunkt  als  andere.  Denn  wo 
ware  es  sonst  noch  erlebt,  daB  ein 
nationales  Gemeinwesen  kurzweg  auf 
militarische  und  kommerzielle  Ein- 
richtungen  begriindet  wurde,  wie  wenn 
das  9 deale  im  Volkerleben  fur  nichts 
geltef* 

Chis  dfplomaficus . 

lands  und  Englands.  Hauptthema: 
Schuldfrage.  Die  Neuheit  besteht 
in  der  Erklarung  Bethmann-Hollwegs, 
daB  Deutschland  keine  Abneigung 


260 


Glosscn 


gegen  Internationale  Tribunale  habe. 
Damit  scfieint  der  bis  in  die  diistem 
Tage  des  Kriegsausbruchs  eingenom- 
mene  Standpunkt  endlicb  verlassen, 
da6  man  keiner  GroBmacht  zumuten 
diirfe,  M Fragen  ihrer  Ehre  und  ihrer  Exi- 
stenz“  einem  intemationalen  Schieds- 
gericht  zur  Entscheidung  vorzulegen. 
Der  Krieg  wird  vielleicht  doch  damit 
aufhoren,  wodurch  er  hatte  vermieden 
werden  konnen. 

Am  Morgen  des  Tages,  an  dem  der 
Reichskanzler  im  HauptausschuB  des 
Reichstags  sein  Einverstandnis  mit 
dem  Greyschen  Vorschlag  der  inter- 
nationalen  Schiedsgerichtsbarkeit  zu 
erkennen  gab,  veroffentlichte  der 
Staatssekretar  a.  D.  0 emburg  im 
Berliner  Tageblatt  einen  Artikel  „Di- 
plomatie**,  worin  es  hieB:  „....  das 
spreche  ich  mit  voller  Oberzeugung 
aus,  auch  das  deutsche  Volk  will,  daB 
in  Zukunft  solche  furchtbaren  Ge- 
schehnisse  wie  der  gegenwartige  Welt- 
krieg  nach  Kraften  vermieden  werden, 
und  es  will  alle  Mittel  angewendet 
haben,  die  dazu  dienen  konnen.  Ja, 
selbst  wenn  man  glaubt,  dafl  manche, 
besonders  die,  die  man  die  ,,pazi~ 
fistischen**  nennt,  doch  schlieBIich 
keinen  Erfolg  haben,  so  darf  man  sich 
schon  aus  Achtung  vor  den  anderen, 
die  daran  glauben,  diesen  Mitteln 
nicht  hochmiitig  und  ablehnend  ver- 
schlieBen.  Wir  haben  auf  den  Haager 
Konferenzen  nicht  gut  abgeschnitten, 
nicht  vielleicht,  weil  wir  letzten  Endes 
nicht  recht  hatten,  sondern  weil 
wir  unsere  Ansicht  iiber  die  dor- 
tigen  Vorschlage  mit  einer  so  brutalen 
Sachlichkeit  herausgeprustet  haben, 
daB  die  andere  Seite,  die  doch  aus 
fuhrenden  Mannem  des  Restes  der 


Welt  bestand,  tief  verletzt  war.  Das 
war  sicher  keine  Kunst,  und  es  war 
sicher  keine  Diplomatic/* 

Ahnlich  driickte  sich  Professor 
Qelbriicfz  in  den  PreuBischen  Jahr- 
biichern  aus.  Wir  haben,  sagte  er  etwa, 
keinen  rechten  Glauben  an  die  Wirk- 
samkeit  zwischenstaatlicher  Organisa- 
tionen ; wahrscheinlich  mit  Recht ; aber 
es  hat  den  Anschein,  als  ob  wir  neuer- 
dings  um  das  Experiment  nicht  herum- 
kamen;  versuchen  wir’s  also  damit; 
es  hatte  namlich  seine  Bedenken,  wenn 
wir  uns  von  dem  allseitig  gewiinschten 
Untemehmen  ausschlossen. 

* 

Der  deutsche  Reichskanzler  hat  des 
weiteren  erklart,  daB  er  nie  die  Ab- 
sicht  bekundet  habe,  Belgien  zu  annek- 
tieren.  Nun  schreibt  C/raffJfcensbrcech 
im  ,, Berliner  Kurier“: 

„Am  24.  Juli  d.  J.  hatte  ich  eine 
zweistiindige  Unterredung  mit  Herm 
Wahnschaffe  (Unterstaatssekretar  in 
der  Reichskanzlei)  im  Reichskanzler- 
haus.  Aus  der  Niederschrift,  die  ich 
unmittelbar  nachher  machte,  ist  fob 
gender  Teil  fiir  die  belgische  Frage 
von  Belang. 

Ich ; Das  im  Jahre  1815  gesprochene 
Wort  Bluchers  scheint  auch  heute 
wieder  lautere  Wahrheit  werden  zu 
wollen : Die  Diplomatic  verdirbt,  was 
das  Schwert  und  das  Blut  der  Soldaten 
errungen  haben.  Das  zeigte  sich  ins- 
besondere  in  bezug  auf  Belgien.  Der 
Reichskanzler  habe  in  seiner  Reichs- 
tagsrede  die  Einverleibung  Belgiens 
abgelehnt.  Ohne  den  Besitz  von  Bel- 
gien (Antwerpen  und  Flandern)  sei  es 
uns  aber  weder  mdglich,  England  in 
Schranken  zu  halten  noch  diejenigen 


Glossen 


261 


, weltwirtschaftlichen  Vorteile  zu  erlan-  Der  Reichskanzler  habe  die  Einver- 

l gen,  auf  die  wir  nach  so  furchtbaren  leibung  Belgiens  nicht  abgelehnt,  son- 

Opfern  an  Gut  und  Blut  ein  Recht  dem  seine  Ausdrucksweise  sei  so,  daB 
batten.  die  Einverleibung  noch  moglich  sei. 

Wahnschaffe  machte  in  bezug  auf  Ich:  Diese  Erlauterung  der  Kanzler- 
Belgien  die  interessante  Eroffnung:  rede  sei  sehr  wertvoll/4 
Das  sei  eine  miBverstandene  Auffas-  GewiB.  Aber  sie  ist  durch  die 

! sung  der  Rede  des  Reichskanzlers.  Ereignisse  iiberholt. 

}■ 


,tOto(£  ijt  GZofen  . 

Was  man  die  Verleihung  der  Auto- 
nomie  an  ^Pofen  nennt  oder  gar  die 
Neuschopfung  Polens,  hat  niemand 
ehrliche  Freude  bereitet.  Die  Fran- 
zosen  erklaren  den  Coup  fiir  einen 
Bluff,  dessen  einzig  realer  Hintergrund 
der  Wunsch  sei,  eine  Million  polnischer 
Soldaten  an  die  deutsche  Front  zu 
bringen.  Ober  die  Ansicht  der  deut- 
schen  Presse  mogen  einige  Ausziige 
aus  den  verschiedenen  Parteiorganen 
AufschluB  geben.  Alle  protestieren 
gegen  die  Verhinderung  einer  freien 
Aussprache  iiber  die  wichtigsten  An- 
gelegenheiten  der  Nation  und  finden, 
das  Versprechen,  daB  das  Verbot 
der  Aussprache  iiber  die  Kriegsziele 
rechtzeitig  aufgehoben  werden  solle, 
sei  nicht  gehalten  worden.  Fiir  die 
JConservathen  sagt  die  ..Kreuzzei- 
tung“:  ..Anderen  Mogiichkeiten  der 
Losung  vorgreifend,  nimmt  sie  einen 
wesentlichen  Teil  der  Kriegsergeb- 
nisse  vorweg  und  schiebt  unsere  auBere 
und  innere  Politik  in  Fragen  ersten 
Ranges  dauemd  auf  feste  Gleise/4 

Die , , Deutsche  Tageszeitung" : „Wir 

stehen  der  Errichtung  eines  selbstan- 
digen  polnischen  Staatswesens  nach 
den  Umwalzungen,  die  dieser  Welt- 
krieg  gebracht  hat,  nicht  grundsatzlich 


ablehnend  gegeniiber.  Aber  ein  sol- 
cher  Schritt  rollt  nicht  nur  polnische, 
sondem  auch  deutsche  Lebensfragen 
auf,  ob  und  wie  dem  Rechnung  ge- 
tragen  wird,  IaBt  sich  erst  ubersehen, 
wenn  die  Gesamtwirkungen  des  Krie- 
ges  auf  die  europaische  Landkarte  und 
die  deutsche  Macht,  und  wenn  die 
Sicherheiten  bekannt  sein  werden,  die 
hier  im  deutschen  Interesse  notwendig 
sind/4 

Die  „Post“  nennt  die  Losung  der 
Polenfrage  ,,ein  Produkt  autokratischer 
Regierungsweise*4  und  ist  sehr  unzu- 
frieden:  „Die  ganze  Frage  ist  noch 
nicht  geniigend  in  der  Offentlichkeit 
geklart,  ja,  sie  war  zu  sehr  unter  offen- 
barer  MiSachtung  des  Rechts  der 
Offentlichkeit  betrieben  worden,  als 
daB  sich  breite  Schichten  des  Volkes 
ohne  weiteres  bereit  erklaren  konnten, 
freudig  und  unbedenklich  mit  Hand 
ans  Werk  zu  legen.  Wo  es  kein  Mit- 
raten  und  Mitsorgen  gab,  da  gibt  es 
auch  kein  Mithaften/4 

Aus  denselben  Grilnden,  warum 
das  Zentrum  Belgien  — in  irgend  einer 
Form  — annektieren  mochte,  freut  es 
sich  iiber  das  Gluck,  das  dem  katho- 
lischen  Polen  widerfiihrt,  besser  gesagt : 
dem  russischen  Teil  Polens.  Die 
..Germania*'  schreibt:  „Es  lag  und 
liegt  in  dem  Interesse  des  polnischen 


262 


Glosscn 


Volkes  so  sehr  wie  in  unserem  eigen en, 
daB  schon  jetzt  die  Entwicklung  ein- 
setzen  kann,  die  nach  dem  Friedens- 
schluB  die  notwendigen  Garantien 
filr  ein  heilsames  Zusammenwirken 
der  gesamten  Mittelmachte  einschlieB- 
lich  Polens  in  sich  birgt.“ 

Von  den  Qiberaien  driickt  sich  am 
staatsmannischsten  die  „Vossische  Zei- 
tung“  Georg  Bernhards  aus.  Auch  er 
findet  nicht  in  der  Ordnung,  daB  das 
deutsche  Volk  nicht  gefragt  worden 
sei,  und  fahrt  fort:  „Die  Tatsachen 
selbst  stehen  fertig  geformt  vor  uns. 
Wir  miissen  sie  als  unabanderlich  hin- 
nehmen,  und  wir  konnen  jetzt  nicht 
einmal  mehr  in  Erorterungen  eintreten, 
die  in  diesem  Augenblick  mehr  Ver- 
stimmung  hervorrufen  als  niitzen  wiir- 
den.  Wir  konnen  nur  annehmen,  daB 
die  vollige  Tragweite  der  augenblick- 
lich  gewahlten  Losung  von  der  verant- 
wortlichen  Stelle  uberlegt  ist,  und  wir 
miissen  an  diese  Annahme  die  Hoff- 
nung  anschlieBen,  daB  die  Verwicke- 
Iungen  und  Verschiebungen,  die  theo- 
retisch  durch  die  gewahlte  Losung  der 
Polenfrage  moglich  sind,  praktisch 
nicht  cintreten  werden.  Wir  gonnen 
dem  Polenvolke  die  Erfiillung  seiner 
Wiinsche.  Und  wir  hoffen,  daB  wir  es 
nie  bereuen  werden,  seine  Wiinsche 
erfiillt  zu  haben.“ 

Das  „BerL  Tageblatt“  schreibt: 
„Sowenig  wir  die  Politik  der  All- 
deutschen  und  der  von  ihnen  geistig 
befruchteten  Kreise  mitmachen,  die 
auch  fur  die  Zeit  nach  dem  Kriege  die 
Feindschaft  zwischen  Deutschland  und 
England  unter  alien  Umstanden  auf- 
rechterhalten  wollen,  ebenso  wenig 
konnen  wir  wiinschen,  eine  dauemde, 
uniiberbruckbare  Kluft  zwischen 


Deutschland  und  Rufiland  entstehen 
zu  sehen.  Die  Wiederherstellung  des 
polnischen  Staates  wird  uns  unter  der 
Voraussetzung  willkommen  sein,  daB 
es  beim  Friedensschlusse  und  in  den 
Verhandlungen  gelingen  wird,  die 
dauemde  Gefahr  russischer  Revanche- 
stimmungen  zu  vermeiden.  Auch  nach 
der  Neugriindung  des  K5nigreichs 
Polen  sind  verschiedene  Moglichkeiten 
denkbar,  die  zu  einer  spatem  Ver- 
standigung  fiihren  konnen/* 

Dasselbe  Blatt  veroffentlicht  eine 
Reihe  von  Unterredungen  mit  be- 
kannten  Politikem,  wo  von  die  in- 
teressanteste  die  des  Elsassers  %)r. 
*Ridcfin  ist,  des  Prasidenten  des  elsaB- 
lothringischen  Landtags,  der  mit  Neid 
auf  das  entstehende  selbstandige  Polen 
blickt.  Interessante  Parallelen,  die  ihm 
gelaufig  sein  sollten,  beriihrt  er  aller- 
dings  nicht.  Er  zieht  es,  realpolitisch 
wie  er  sein  mochte,  vor,  den  Wunsch 
auszusprechen,  daB  ElsaB-Lothringen 
im  Rahmen  des  Reiches  dieselbe  Selb- 
standigkeit  zugestanden  werden  moge. 

Von  den  tJozialdemofcraien  auBert 
sich  Scheidemann:  „Ich  wiinsche  ein 
vollkommen  freies  Polen,  und  ich 
wunsche,  daB  dieses  Polen  Deutsch- 
lands  Freund  sei.  Aber  zu  Liebe  kann 
man  keinen  zwingen.  Brauchen  wir 
Polens  Freundschaft,  so  miissen  wir 
eine  entsprechende  Politik  treiben- 
Bindungen,  die  nicht  aus  beiderseiti- 
gem  freien  Willen  erfolgen,  sind  schad- 
lich.  Wir  wollen  keine  Revanche- 
stimmung  des  Ostens.  Das  ideale  Zid 
ist  die  Errichtung  eines  freien  Polens 
nach  den  Wiinschen  des  polnischen 
Volkes  selbst  und  mit  Zusti miming 
aller  an  den  Friedensverhandlungen 
beteiligten  Machte.  Ob  dieses  Zid 


Glossen 


263 


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erreicht  wird,  hangt  nicht  von  uns 
allein  ab.  Wir  wollen  nach  dem  Kriege 
mit  alien  Volkem  in  Frieden  und 
Freundschaft  leben,  ganz  besonders 
auch  mit  einemfreienpolnischenVolk.“ 

Eduard  Bernstein  laCt  mehr  erraten, 
als  er  ausspricht:  „Die  Herstellung 
Polens,  das  heifit,  die  Sicherung  der 
Selbstbestimmung  und  Selbstregierung 
des  polnischen  Volkes,  ist  eine  alte 
Forderung  der  Demokratie,  fur  die  die 
deutsche  Sozialdemokratie  niemals  un~ 
terlassen  hat,  ihre  Stimme  zu  erheben. 

Sie  ist  das  Erbe  unserer  groBen  Vor- 
kampfer  Marx  und  Engels,  Lassalle  Unklarheit,  eine  Halbheit,  und  der- 


Westens  und  des  Ostens  kann  Polen 
in  unserer  Epoche  wahrhaft  frei  sein 
und  gedeihen." 

Die  soz.  Parteikorrespondenz  Stamp- 
fer  laBt  drucken:  „Ein  Tanzen  auf 
der  „mittleren  Linie"  zwischen  der 
konservativen  Machtpolitik  und  der 
sozialdemokratischen  Freiheitspolitik 
ist  unmoglich.  Der  Konservative  sagt : 
ihr  miiBt  tun,  was  ich  will ! Der  Sozial- 
demokrat:  Ihr  seid  frei!  — Die  Re- 
gierung  aber,  ganz  gescheit  wie  sie 
nun  einmal  ist,  sagt:  Ihr  seid  frei,  wenn 
Ihr  tut,  was  ich  will!  — Das  ist  eine 


und  Liebknecht,  das  wir  hochgehalten 
haben,  als  alles  um  uns  herum  den  Ge- 
danken  als  unmoglich  und  Schlim- 
meres  verspottete.  Wir  haben  stets  in 
der  Herstellung  eines  freien,  iiber  sein 
eigenes  Geschick  bestimmenden  Polens 
eine  der  unerlaBlichen  Bedingungen 
eines  wahrhaft  freien  Europas  erblickt, 
und  was  dieser  Krieg  offenbart  hat, 
konnte  nach  meiner  uberzeugung  die 
Sozialdemokratie  nur  in  dieser  Auf- 


gleichen  racht  sich  immer.  Die  miB- 
lichen  Folgen  treten  zunachst  nur  in 
der  Haltung  der  Presse  hervor,  die  sich, 
bei  aller  Meinungsverschiedenheit,  ihre 
Pflicht  doch  von  niemand  anderem 
vorschreiben  lassen  will,  als  von  ihrem 
Gewissen.  Wir  fiirchten,  daB  es  bei 
diesen  miBlichen  Folgen  nicht  bleiben 
wird.  Die  Polenpolitik  der  Regierung 
hatte,  wenn  sie  wirklich  Gafin  und grofi 
gewesen  ware,  wie  die  „Nordd.  Allgem. 


fassung  bestarken.  Wir  wiirden  es  Zeitung“  ihrattestiert  hat,  leidenschaft- 
daher  freudig  begriiBen,  wenn  aus  liche  Gegner,  aber  auch  begeisterte  An- 


diesem  Krieg  ein  solches  freies  Polen 


hervorginge,  und  werden  es  als  unsere 
Aufgabe  zu  betrachten  haben,  nach 
unseren  Moglichkeiten  dafiir  einzu- 
treten,  daB  der  Gedanke  in  der  vollen  Seiten." 
Tragweite  der  Grundsatze  der  Demo- 
kratie zur  Verwirklichune  kommt. 


hanger  gefunden.  Weil  sie  in  Wirklich- 
keit  zaudemd  und  vieldeutig  ist,  findet 
sie  nur  laues  Lob  in  der  Mitte,  ent- 
schiedenen  Tadel  aber  auf  beiden 


zur  Verwirklichung 
Jedes  Abweichen  von  diesen  Grund- 
satzen,  jeder  Versuch,  Polen  eine 
andere  Gestalt  zu  geben,  als  sie  diesen 
Grundsatzen  entspricht,  wiirde  sich, 
das  hat  die  Geschichte  gezeigt,  in  den 
Wirkungen  als  ein  Ungliick  fiir  Europa 
und  fiir  Polen  erweisen.  Nur  als  ein 
Bindeglied  zwischen  den  Nationen  des 


Unter  dem  Titel  BeGeGrie  *Revofa* 

ttontire  erinnert  der  „Vorwarts*‘  an 
die  ,,Augusttage  1914,  als  die  Kosaken 
iiber  die  Grenze  ritten  und  viele  ost- 
preuBische  Gutsbesitzer  Hals  iiber 
Kopf  nach  Berlin  fliichteten.  Damals, 
als  die  Gefahr  blutrot  am  Himmel 
stand,  erinnerte  man  sich  auch  in  jenen 
Kreisen  der  rettenden  Kraft  freiheit- 


37  voi.  m/2 


264 


Glossen 


iicher  Gedanken.  Und  die  hilfe- 
suchenden  Blicke  wandten  sich  dort 
hiniiber,  wo  ein  freiheitliebendes 
Volk  unter  den  Hieben  der  ZarengeiBel 
ein  Jahrhundert  lang  gestohnt  hatte. 
AJle  Hoffnungen  ricbteten  sich  auf  die 
erwartete  polnische  Insurrektion. 

Noch  war  Polen  in  russischer  Hand. 
Noch  drohte  jedem  Polen,  jedem  Ju- 
den,  der  in  das  Getriebe  der  grofien 
Dampfwalze  storend  eingriff,  der  Wiir- 
getod  in  der  eingeseiften  Schlinge. 
Revolution  machen  ist  immer  ein 
lebensgefahrliches  Untemehmen,  am 
lebensgefahrlichsten  dann,  wenn  ein 
Staat  um  seine  Existenz  kampft  und 
die  militarische  Gewalt  schrankenlos 
regiert.  Da  wird  nicht  viel  Federlesens 
gemacht,  am  allerwenigsten  in  RuB- 
land. 

In  den  Kreisen,  in  denen  man  jetzt 
von  Polens  Freiheit  nichts  wissen  will, 
hoffte  man  damals,  daB  Polen  Ost- 
preuBen  retten  wiirde.  Hindenburg 
safi  noch  in  Hannover,  Tannenberg 
war  noch  nicht  geschlagen.  Aber  in  der 
Erinnerung  lebte  der  Heldenmut  der 
polnischen  Revolutionise,  die,  das 
„Lied  von  der  roten  Fahne“  singend, 
aufrecht  zum  Galgen  schritten.  — Das 
,,Lied  von  der  roten  Fahne"  war  da- 
mals in  deutsch-konservativen  Kreisen 
sehr  popular. 

Indes  bei  bloBen  Sympathien  und 
Sympathieerklarungen  blieb  es  nicht. 
Die  Zeit  forderte  Taten,  rasches 
Handeln  war  notwendig.  Man  konnte 
aus  jenen  Tagen  manches  erzahlen, 
was  recht  merkwiirdig  klingt  und  doch 
Tatsacheist.  Das  Merkwlirdigste  daran 
ist,  daB  die  Herren  das  alies  heute  so 
gut  wie  ganz  vergessen  haben.  Viel- 
leicht  geniigt  eine  kleine  Andeutung, 


um  ihr  Gedachtnis  wieder  etwas  auf- 
zufrischen.  Vielleicht  — das  ist  aber 
freilich  ein  kuhner  Gedanke  — geniigt 
diese  vorlaufige  Erinnerung,  um  sie  zu 
einer  gewissen  Zuriickhaltung  zu  ver- 
anlassen.  Man  wiirde  sonst  zu  dem 
politischen  Erfahrungssatze  kommen, 
daB  sich  die  Begeisterung  mancher 
Leute  fiir  die  Freiheit  Polens  ver- 
ringert  im  quadratischen  Verhaltnii 
zum  Zwischenraum,  der  zwischen  der 
russischen  Front  und  der  deutschen 
Grenze  liegt.  Und  die  Haltung  der 
Konservativen  in  der  Polenfrage  wiirde 
dann  nur  beweisen,  wie  giinstig  man 
in  konservativen  Kreisen  — im  Gegen- 
satz  zu  einer  friiheren  Zeit,  in  der  man 
noch  die  Polen  zu  brauchen  glaubte  — 
die  tKriegslage  beurteilt.“ 

* 

Das  war  die  Zeit  — mochten  die 
WeiBen  Blatter  hinzufugen  — als  einer 
lhrer  Redakteure,  der  einem  bekannten 
polnischen  Abgeordneten  auf  dem 
Konigsplatz  begegnete,  auf  die  Frage, 
was  der  da  zu  suchen  habe,  die  Ant- 
wort  erhielt:  „Wir  machen  Revolu- 
tion 

* 

Da  Cfemenceaus  „Homme  libre 
nicht  in  den  Chor  der  franzosischen 
Presse  einzustimmen  pflegt,  sei  seine 
Stimme  hier  hervorgehoben.  Er 
schreibt : „In  Wahrheit  ist  eine  Wieder- 
herstellung  des  Konigreichs  Polen  nur 
unter  der  Agide  RuBlands  moglich. 
Russen  und  Polen  sind  allzulang 
feindliche  Briider  gewesen.  Dennoch 
aber  Blutsbriider.  Und  die  Ahnlich- 
keit  der  ethnischen  Impulse,  die  *ie 
oft  miteinander  in  Konflikt  brachte, 
muB  sie  vereinigen,  um  sie  gemeinsam 


Glossen 


265 


der  Umschlingung  des  deutschen  Ein- 
dringlings  zu  entziehen.  Stets,  wenn 
man  in  den  letzten  zwei  Jahren  die 
Erorterung  der  polnischen  Frage  von 
mir  verlangte,  mufite  ich  erwidem, 
daB  ich  jederzeit  bereit  sei  und  bereit 
bleibe,  meine  Feder  der  polnischen 
Sache  zu  widmen,  daB  es  aber  fiir 
Frankreich  nicht  weniger  als  fiir  jedes 
andere  Land  sich  in  fruchtlosen  Dis~ 
kussionen  verlieren  hieBe,  wenn  man 
achon  jetzt,  vor  dem  Sieg,  die  Frie- 
densbedingungen  erortem  wollte/* 

t&aily  (Celegrapfi** : „Die  Her- 
at ell  ung  der  polnischen  Souveranitat 
durch  Deutschland  bringt  eine  wirk- 
liche  Oberraschung,  obwohl  seit  lan- 
gem  das  Geriicht  ging,  daB  eine  der- 
artige  MaBnahme  von  der  kaiserlichen 
Regierung  ins  Auge  gefaBt  sei.  Es 
ist  ldar,  daB  kein  verniinftiger  Mensch 
in  einem  der  alliierten  Lander  die 
deutsche  ,Geste‘  den  Polen  gegeniiber 
emst  nimmt/4 

Die  tfCimetf* : „Die  Zukunft  Polens 
ist  eine  europaische  Frage  von  auBer- 
ster  Wichtigkeit.  Mit  ihrer  Losung 
sind  tiefe  Interessen  aller  Alliierten 
verknupft/* 

Der,,  Corn  ere  delta  cferct':  „DerMi- 
nister  des  Auswartigen  Burian  selbst 
hielt  es  fur  angebracht,  einem  pol- 
nischen AusschuB  zu  erklaren,  daB 
die  angekiindigten  MaBnahmen  erst 
n*ch  dem  Kriege  verwirklicht  werden 
sollen.  Was  Deutschland  wahrend  des 
Krieges  allein  interessiert,  ist  die  Auf- 
stellung  einer  polnischen  Armee,  um 
sich  mit  Blut  bezahlt  zu  machen  fur 
sein  falsches  Spiel/* 

Das  Qiornale  Otalia {*:  „Der  pol- 
nische  Staat,  den  Deutschland  ge- 
schaffen  hat,  ist  eine  Absurditat,  die 


im  Widerspruch  steht  mit  den  Tradi- 
tionen  der  deutschen  Politik  und  den 
Gefuhlen  der  polnischen  Nation.  Was 
man  da  geschaffen  hat,  tragt  den 
Todeskeiminsich.  Man  glaubt  wohl  in 
Deutschland  selbst  nicht  dran/* 

Der  H&vanti1*:  „Die  Proklamation 
der  Unabhangigkeit  Polens  ist  weder 
eine  Generositat  noch  ein  Akt  der 
Gerechtigkeit:  vielmehr  ein  diplo- 
matischer,  politischer  und  militarischer 
Notbehelf.44 

Yyiei/BaslerVlationalzeHung":  „Ein 
Beweis  dafiir,  dafi  zwischen  Deutsch- 
land und  Osterreich-Ungam  bezliglich 
Polens  noch  Meinungsverschiedenhei- 
ten  bestehen,  liegt  darin,  daB  Osterreich 
Galizien  die  Autonomie  zugesteht,  wah- 
rend Deutschland  es  nicht  ebenso  mit 
PreuBisch-Polen  halt.  Man  wird  klug 
daran  tun,  aus  der  Proklamation  nicht 
allzuviel  Konsequenzen  zu  ziehen, 
denn  Deutschland  selbst  zeigt  diese 
Zuriickhaltung,  indem  es  sich  iiber  die 
Frage  der  Dynastic  nicht  naher  er- 
klarte/* 

♦ 

Die  russisc/ie  *Presse  variiert  allge- 
mein  die  Worte  der  „Rjetsch/4  daB 
der  tatsachliche  Zweck  dieses  hastigen 
deutsch-osterreichischen  Aktes  in  der 
Erklarung  iiber  die  Rekrutierung  ent- 
halten  sei.  Jedermann  wisse  indessen, 
dafi  allein  die  wenig  einfluBreichen  und 
wenig  zahlreichen  Parteien  wie  die 
„Vereinigung  der  Anhanger  eines  pol- 
nischen Staatswesens44  dem  hatten  zu- 
stimmen  konnen.  Die  von  den  Oster- 
reichem  und  Deutschen  proklamierte 
Rekrutierung  stelle  einen  Akt  der  Ver- 
gewaltigung  und  die  Erklarung  der  Un- 
abhangigkeit  Polens  eine  Heuchelei  dar. 

Was  schliefilich  die  preuBischen 


S7aVol.  LH/2 


266 


Glossen 


Polen  denken,  laBt  sich  leicht  vermu- 
ten,  wenn  man  best,  was  der  in  Po- 
sen erscheinende  ,,Kuryer  Posnanski“ 
schreibt.  Das  Manifest  der  Zentral- 
machte,  heifit  es  da,  sei  unzweifelhaft 
einer  der  wichtigsten  politischen  Akte 
wahrend  des  Krieges.  Die  Politik  in 
Europa,  die  seit  Teilung  Polens  be- 
trieben  wurde,  werde  dadurch  fiir 
bankrott  erklart.  Die  deutsch-russische 
Freundscbaft  sei  das  Fundament  der 
europaischen  Lage  gewesen,  die  sich 
auf  die  Streichung  Polens  aus  dem 
Reiche  der  selbstandigen  Staaten  ge- 
stiltzt  habe.  Es  habe  des  Zusammen- 
bruchs  dieser  Freundschaft  bedurft, 
urn  das  Verstandnis  fiir  die  Notwendig- 
keit  einer  Wiedererrichtung  Polens 
aufkommen  zu  lassen.  Eine  uner- 
freuliche  Seite  des  Vorgehens  der 
Zentralmachte  bilde  die  Tatsache, 
dafi  hierbei  nur  die  Halfte  der  pol- 
nischen  Nation  beriicksichtigt  werde. 
Durch  das  Manifest  werde  demnach 
die  polnische  Frage  endgiiltig  noch 
nicht  gelost.  Es  sei  damit  jedoch  der 
erste  Schritt  zu  diesem  Zwecke  getan 
worden,  und  dieser  Schritt  diirfe  nicht 
mehr  riickgangig  gemacht  werden, 
ohne  Riicksicht  darauf,  welche  Wen- 
dung  die  kiinftigen  Ereignisse  nehmen 
wiirden. 

Dem  entsprechend  haben  die  *Po[en» 
frahtionen  des  Reichstags  und  des 
preufiischen  Abgeordnetenhauses  be- 
schlossen,  eine  abwartende  Haltung 
angenommen. 

ImmerhJn  gab  im  preufiischen  fflb* 
geordneienhaus  der  Pole  Styczinski 
am  20.  November  im  Namen  seiner 
Fraktion  folgende  Erklarung  ab: 

t,Wir  sind  uns  der  geschichtlichen 
Bedeutung  der  Zeit  voll  bewufit  und 


empfinden  die  Verantwortung  in  volletn 
Umfange.  Wir  hatten  gewiinscht,  da 
BewuBtsein  dieser  Verantwortung  auf 
alien  Sei  ten  zu  finden.  Es  ware  dann 
wohl  ein  Antrag  wie  der  vorliegende 
nicht  eingebracht  worden.  Wir  lehnen 
jedenfalls  die  Verantwortung  fiir  die 
Folgen  der  Erorterung  des  Antrags 
ab.  Das  polnische  Volk  hat  das  Gc- 

fiihl  der  nationalenZusammengehorig' 
keit  niemals  verloren.  Die  fortgesetzte 
Verletzung  dieses  seines  Rechtes  auf 
nationale  Einigupg  war  nach  unserer 
Oberzeugung  eine  der  Grundursachen 
des  jetzigen  Weltkrieges.  Wir  geben 
uns  aber  der  Hoffnung  hin,  daB  das 
viele  Blut  in  diesem  Kriege  nicht  urn* 
sonst  geflossen  sein  wird,  wenn  die 
Nationen  Europas  sich  allseitig  zu 
der  Oberzeugung  durchringen  werden, 
daB  die  Freiheit  anderer  Volker  den 
Lebensinteressen  des  ejgenen  Volkes 
nicht  widerspricht.  Die  Anerkennung 
der  nationalen  Bedeutung  der  pol- 
nischen  Frage  ist  ein  Schritt  vorwarts 
auf  dem  Wege  zu  ihrer  endgiiltigen 
Losung.  Das  Kaiser-Manifest  erfiillt 
uns  mit  Genugtuung,  weil  es  aus 
dem  BewuBtsein  dieser  Notwendigkeit 
entstanden  ist  und  das  Recht  des  pol- 
nischen  Volkes  auf  Griindung  eines 
selbstandigen  Staates  im  Prinzip  an- 
erkennt.  Indes  sind  die  vielfach  ge- 
auBerten  Befiirchtungen,  daB  noch 
ein  Teil  des  polnischen  Volkes  in  der 
Zugehorigkeit  zu  anderen  Staaten 
bleibt  und  das  bei  diesem  Teil  die 
Freiheit  nur  eine  nominelle  sein  wurde, 
durch  den  vorliegenden  Antrag  vollauf 
bestatigt.  Nach  dem  Willen  der  An- 
tragsteller,  also  der  Mehrheit  dieses 
Hauses,  sollen  dem  in  Bildung  be- 
findlichen  Staat  solche  Fesseln  au/ 


Glossen 


267 


politischem,  militarischem  und  wirt- 
schaftlichem  Gebiet  auferlegt  werden, 
dafi  seine  Freiheit  und  Selbstandigkeit 
nur  noch  eine  scheinbare  sein  wiirde. 
Der  Antrag  beweist  auch,  dafi  die  An- 

tragsteller  eineVerstandigung  zwischen 
dem  deutscben  und  polnischen  Volk 
direkt  ablehnen.  Wenn  die  Antrag- 
steller  von  t,polnisch  sprechenden 
PreuBen"  statt  von  den  polnischen 
PreuBen  reden,  so  sprechen  sie  uns 
die  Nationalist  ab,  und  das  muB  von 
uns  als  Provokation  aufgefaBt  werden. 
Mit  der  Notwendigkeit,  den  angeblich 
deutschen  Charakter  unserer  Heimat 
zu  wahren,  wurde  die  ganze  Polen- 
politik,  die  Verbannung  der  polnischen 
Sprache  aus  Amt,  Schule  und  dem 
oflfentlichen  Leben  begriindet,  wurden 
mehr  als  eine  Million  Mark  aus  Staats- 
mitteln  zur  dauernden  Verdrangung 
der  Polen  verwandt.  Angesichts  dieser 
Tendenz  legen  wir  gegen  den  Antrag 
feierlichen  Protest  ein.  Im  ubrigen 
beantragen  wir  namentliche  Ab- 
stimmung  und  bitten,  diesen  unseren 
Antrag  zu  unterstiitzen." 

NachdemAntragderKonservativen, 
Freikonservativen  und  Nationallibe- 
ralen,  der  dem  Abgeordnetenhaus  vor- 
lag,  „sprach  das  Haus  die  Erwartung 
aus,  daB  bei  der  endgiiltigen  Ausge- 
staltung  der  Verhaltnisse  des  seine 
kulturellen  und  nationalen  Verhalt- 
nisse frei  regelnden  neuen  Staats- 
wesens  dauernd  wirksame  militarische, 
wirtschaftliche  undallgemein  politische 


Sicherungen  Deutschlands  im  Konig- 
reich  Polen  geschaffen  werden. 

Das  Haus  der  Abgeordneten  behalt 
sich  seine  Stellungnahme  zu  etwaigen 
politischen  Schritten,  welche  die  In- 
teressen  der  polnisch  sprechenden 
Deutschen  beriihren,  nach  MaBgabe 
der  weiteren  Entwicklung  der  Ver- 
haltnisse vollig  vor.  Es  erklart  aber 
schon  heute  keine  Regelung  der  inner- 
politischen  Verhaltnisse  in  der  deut- 
schen Ostmark  fur  moglich,  die  geeignet 
ware,  den  deutschen  Charakter  der  mit 
dem  preuBischen  St8at  unlosbar  ver- 
bundenen  und  fiir  das  Dasein  sowie  die 
Machtstellung  PreuBens  und  Deutsch- 
lands unentbehrlichen  ostlichen  Pro- 
vinzen  irgendwie  zu  gefahrden.“ 

Dieser  Antrag  wurde  mit  1 80  gegen 
104  Stimmen  (bei  3 Stimmenthal- 

tungen)  angenommen. 

* 

{Jfenryfc  Sienfaewics  ist  in  der 
welschen  Schweiz  geflorben.  An  der 
Trauerfeier  in  Vevey  nahmen  teil:  als 
Vertreter  der  deutschen  Botschaft  in 
Bern  Dr.  von  Schubert,  der  oster- 
reichisch  - ungarischen  Botschaft  in 
Bern  die  Legationsrate  de  Vaux  und 
Skrzynsky,  von  der  russischen  Bot- 
schaft Makrejew,  femer  waren  die 
Konsuln  Frankreichs  und  Englands 
anwesend.  Die  franzosische,  englische, 
deutsche,  osterreichisch  - ungarische 
und  russische  Botschaft  lieBen  an  dem 
Sarge  Blumenkranze  niederlegen  . . . 


Gntwurf  e/ner  neuen  Sfstfietifc  aufs  neue  fesselnde  Tonmeister  ‘Ter- 

ruccio  \ Busoni  (dem  auch  als  Kompo- 
Der  gegenwartig  wiederum  durch  nisten,  Dichter  und  Dirigenten  ver- 
seine  grofizugige  und  geistige  Kunst  diente  Ehre  gebiihrt)  hat  soeben  in  der 


der  ^Con/cunsf. 


268 


Glossen 


schon  aufierlich  durch  die  entziicken- 
den  altitalienischen  Buntpapierein- 
bande  rasch  beliebt  gewordenen  reich- 
haltigen  „Insel-Bucherei“  ein  Band- 
chen  erscheinen  lassen,  das  in  zwang- 
Ioser  Folge  des  Autors  Gedanken  iiber 
kiinstlerische  Gesetze  und  Irrtiimer 
enthalt  und  in  seinem  letzten  Ab- 
ac hnitteAusbli  eke  gewahrt  in  eine  „Zu- 
kunftsmusik“,  nach  deren  Landfindung 
ja  mancher  Musiker  von  heute  sich 
unterwegs  befindet.  — Nun  wissen  wir 
aus  der  geistigen  Anschauung  und 
ihrem  Erlebnis,  daB  alle  Kiinste  in 
einer  hoheren  Einheit  miteinander  ver- 
bunden  sind,  einen  unzertrennbaren 
geistigen  Korper  bilden,  so  wie  Fleisch, 
Blut  und  Bein  den  Leib  des  Menschen 
formen,  der  zum  Gefafl  des  Geistes  und 
der  Seele  dient.  Ein  gottgesegneter 
Tempel  sollte  dieser  Leib  werden,  — 
und  ist  zur  wiitenden  Kampfmaschine 
geworden  rings  um  uns  her,  wo  Leib 
gegen  Leib,  Geist  gegen  Geist  rast  und 
ringt.  Aber  einmal  muB  wieder  Friede 
sein  und  muB  sich  C.  F.  Meyers 
Dichterwort  erfiillen: 

Doch  das  Gespann  erlahmt,  die  Pfade 
dunkeln, 

Die  ew’gen  Lichter  fangen  an  zu  fun- 
keln, 

Die  heiligen  Gesetze  werden  sichtbar. 
Das  Kampfgeschrei  verstummt.  Der 
Tag  ist  richtbar. 

Die  heiligen  Gesetze  werden  sichtbar, 
die  ewigen,  die  sich  in  steter  Wandlung 
ewig  jung  und  schon  im  Menschen 
offenbaren.  Dieses  ^Werdende,  „das 
ewig  wirkt  und  lebt“,  das  entsteht, 
besteht  und  vergeht,  es  findet  hier  — 
wie  in  Werk  und  Lehre  Richard  Wag- 
ners — unmittelbaren  Ausdruck.  — 
Hans  Sachs,  der  auf  Walther  Stolzings 


Frage:  „Wie  fang  ich  nach  der  Regel 
an?“  zur  Antwort  gibt:  „Ihr  stellt  sie 
selbst  und  folgt  ihr  dannf\  diese 
Meister gestalt  scheint  in  busonischero 
Gewande  neu  hervorzutreten,  wenn 
wir  den  folgenden  Passus  Jesen: 

„Der  Schaffende  sollte  kein  iiber- 
liefertes  Gesetz  auf  Treu  und  Glauben 
hinnehmen  und  sein  eigenes  Schaffen 
jenem  gegen  iiber  von  vomeherein  als 
Ausnahme  betrachten.  Er  miiBte  far 
seinen  eigenen  Fall  ein  entsprechendes 
eigenes  Gesetz  suchen,  formen  und  es 
nach  der  ersten  vollkommenen  An- 
wendung  wieder  zerstoren,  um  nicht 
selbst  bei  einem  nachsten  Werke  in 
Wiederholungen  zu  verfallen. 

Die  Aufgabe  des  Schaffenden  be- 
steht darin,  Gesetze  aufzustellen  und 
nicht,  Gesetzen  zu  folgen.  Wer  ge- 
gebenen  Gesetzen  folgt,  hort  auf,  ein 
Schaffender  zu  sein. 

Die  Schaffenskraft  ist  um  so  erkenn- 
barer,  je  unabhangiger  sie  von  Ober- 
lieferungen  sich  zu  machen  vermag. 
Aber  die  Absichtlichkeit  im  Umgehen 
der  Gesetze  kann  nicht  Schaffenskraft 
vortauschen,  noch  weniger  erzeugen. 

Der  echte  Schaffende  erstrebt  im 
Grunde  nur  die  Vollendung.  Und  in- 
dem  er  diese  mit  seiner  Individualitai 
in  Einklang  bringt,  entsteht  absichtslos 
ein  neues  Gesetz/* 

Und  weiter: 

„Routine  wird  sehr  geschatzt  und  oft 
verlangt ; im  Musik„amte“  wird  sie  be- 
ansprucht.  DaB  Routine  in  der  Musik 
iiberhaupt  existieren  und  daB  sie  iiber- 
dies  zu  einer  vom  Musiker  geforderteo 
Bedingung  gemacht  werden  kann,  be- 
weist  aber  wiederum  die  engen  Gren- 
zen  unserer  Tonkunst.  Routine  be- 
deutet : Erlangung  und  An wendung 


Gloss  en 


wcniger  Erfahrungen  und  Kunstgriffe 
auf  alle  vorkommenden  Falle.  — Die 
Routine  wandelt  den  Tempel  der 
Kunst  um  in  eine  Fabrik.  Sie  zerstort 
das  Schaffen.  Denn  Schaffen  heifit: 
aus  Nichts  erzeugen.  Die  Routine  aber 
gedeiht  im  Nachbilden.  Sie  ist  die 
„Poesie,  die  sich  kommandieren  laBt“. 
Weil  sie  der  Allgemeinheit  entspricht, 
herrscht  sie.  Im  Theater,  im  Orchester, 
im  Virtuosen,  im  Unterricht.  Man 
mochte  rufen : meidet  die  Routine,  be- 
ginnt  jedesmal,  als  ob  ihr  nie  begonnen 
hattet,  wisset  nichts,  sondem  denkt 
und  fiihlet! 

Nehmen  wir  es  uns  doch  vor,  die 
Musik  ihrem  Urwesen  zuruckzufiihren ; 
befreien  wir  sie  von  architektonischen, 
akustischen  und  asthetischen  Dogmen ; 
lassen  wir  sie  reine  Er  fin  dung  und 
Empfindung  sein,  in  Harmonien,  in 
Formen  und  Klangfarben  (denn  Er- 
findung  und  Empfindung  sind  nicht 
allein  ein  Vorrecht  der  Melodie);  lassen 
wir  sie  der  Linie  des  Regenbogens 
folgen  und  mit  den  Wolken  um  die 
Wette  Sonnenstrahlen  brechen;  sie  sei 
nichts  anderes  als  die  Natur  in  der 
menschlichen  Seele  abgespiegelt  und 
von  ihr  zuriickgestrahlt ; ist  sie  doch 
tdnende  Luft  und  iiber  die  Luft  hin- 
ausreichend ; im  Menschen  selbst  eben- 
so  universell  und  vollstandig  wie  im 
Weltenraum.  Denn  seht,  die  Millionen 
Weisen,  die  einst  ertonen  werden,  sie 
sind  seit  Anfang  vorhanden,  bereit, 
schweben  im  Ather  und  mit  ihnen 
andere  Millionen,  die  niemals  gehort 
werden.  Ihr  braucht  nur  zu  greifen 
und  ihr  haltet  eine  Bliite,  einen  Hauch 
des  Meeratems,  einen  Sonnenstrahl  in 
der  Hand.  Meidet  die  Routine,  denn 
sie  greift  nur  nach  dem,  das  eure  Stube 


erfullt  und  immer  wieder  nach  dem 
namlichen : so  bequem  werdet  ihr,  daB 
ihr  euch  kaum  mehr  vom  Lehnstuhl  er- 
hebt  und  nur  mehr  nach  dem  Aller- 
nachsten  greift.  Und  Millionen  Weisen 
sind  seit  Anfang  vorhanden  und  warten 
darauf,  sich  zu  offenbarenf4 

So  bietet  uns  Busonis  „Entwurf  einer 
neuen  Asthetik"  mancherlei  Anregung 
und  mag  — nach  dem  Ermessen  der 
Heutigen  — des  Kiinstlers  Geisteshand 
auch  manchmal  etwas  reichlich  hoch 
und  femhin  greifen,  das  Meer  der  Tone 
neu  zu  teilen  und  zu  gliedem  suchen, 
so  wird  man  sich  dieser  Personlichkeit, 
deren  Wert  doch  weit  iiber  den  des 
bloBen  Blenders  und  Virtuosen  hinaus- 
geht,  nicht  leicht  entziehen,  dem 
,,machtigen  Zauberer4'  nicht  entfliehen 
konnen,  der  zu  Beginn  der  Schrift  — 
im  Motto  — diese  Worte  spricht: 
„Was  sucht  Ihr?  Sagt!  Und  was  er- 
wartet  Ihr?44 

„Ich  weiB  es  nicht;  ich  will  das  Un- 
bekannte  I 

Was  mir  bekannt,  ist  unbegrenzt.  Ich 
will 

dariiber  noch.  Mir  fehlt  das  letzte 

Wort.'4 

Ins  Unbekannte  will  uns  Busoni  fiihren, 
ins  Reich  „Jenseits  von  Gut  und  Bose*4, 
wo  Nietzsche  zu  uns  redet : „Ich  konnte 
mir  eine  Musik  denken,  deren  selten- 
ster  Zauber  darin  bestande,  daB  sie  von 
Gut  und  Bose  nichts  mehr  wiiBte,  nur 
daB  vielleicht  irgend  ein  Schifferheim- 
weh,  irgend  welche  goldene  Schatten 
und  zartliche  Schwachen  hier  und  da 
iiber  sie  hinwegliefen : eine  Kunst, 
welche  von  groBer  Feme  her  die  Farben 
einer  untergehenden , fast  unverstand- 
lich  gewordenen  moralischen  Welt  zu 
sich  fliichten  sahe  und  die  gastfreund- 


Gloss  en 


lich  und  tief  genug  zum  Empfang  sol- 
cher  spaten  Fliichtlinge  ware  . . . 

„Wird  diese  Musik  je  erreicht?“  so 
tont  des  Fiihrers  Frage,  dumpf  und 
last  end  — wie  das  star  re  C der  Basse 
am  SchluB  der  Zarathustra-Symphonie 
von  Richard  StrauB.  Vielleicht.  Im 
Reich  „Jenseits  von  Gut  und  Bose  *. 

„Ist  Nirwana  das  Reich  Jenseits  von 
Gut  und  Bose*  — schlieBt  Busoni  seine 
Abhandlung  — „so  ist  hier  ein  Weg 


dahin  gewiesen.  Bis  an  die  Pforte.  Bis 
an  das  Gitter,  das  Menschen  und  Ewig- 
keit  trennt  — oder  das  sich  auftut,  das 
zeitlich  Gewesene  einzulassen.  Jen- 
seits  der  Pforte  ertont  Musik.  Keine 
Tonkunst.  — Vielleicht  daB  wir  erst 
selbst  die  Erde  verlassen  miissen,  um 
sie  zu  vemehmen.  Doch  nur  dem  Wan- 
derer, der  der  irdischen  Fesseln  unter- 
wegs  sich  zu  entkleiden  gewufit,  offnet 
sich  das  Gitter/4  tff.  *R. 


Onieffektueffe  tfpofogeten. 

Aus  einem  Aufsatz  *Rene  5 i Mourns 
im  ,,Mercure  de  France44  (erstes  No- 
vemberheft)  seien  folgende  Seiten 
iibersetzt,  die  besonders  interessieren 
in  einem  Augenblick,  wo  Max  Scheler 
ein  neues  „katholisches44  Kriegsbuch 
herausgibt  und  andere  ahnliche  „radikal- 
konservative44  Versuche  angestellt 
werden . 

I. 

Ich  will  auf  den  folgenden  Seiten 
einfach,  biindig  und  klar  untersuchen, 
wie  drei  der  ausgezeichnetsten  Ver- 
treter  des  Katholizismus,  Charles 
Maurras,  Jules  Lemaitre  und  Maurice 
Barres,  in  Wirklichkeit  zum  Katholizis- 
mus stehen.  Wenn  ich  drei  Namen 
gruppiere,  die  so  verschieden  in  ihrer 
intellektuellen  Haltung  sind,  bestimmt 
mich  dazu  zunachst,  daB  diese  drei 
Apologeten  von  auBen  gesehen  be- 
trachtlichen  EinfluB  haben  oder  hatten, 
und  zwar  alle  drei  zusammen  in  dem- 
selben  Sinne  EinfluB  auf  gerade  jenen 
nicht  zu  unterschatzenden  Teil  der 
franzosischen  Jugend,  der,  ohne  katho- 
lisch  zu  sein,  ja  sogar  bestreitend,  dafi 
er  es  sei,  sich  doch,  wenn  man  mir  die 
Neologie  erlaubt,  gerne  als  ,,prokatho- 


lisch44  bekennt ; drei  Namen  also,  hinter 
denen  man  wohl  gewichtige  Reprasen- 
tanten  vermuten  darf.  Sodann  aber, 
daB  mir  das  Apologetentum  aller  drei 
an  demselben  intimen  Widerspruch, 
derselben  heimlichen  Schwache  zu 
leiden  scheint. 

2. 

Vom  historischen  und  kritischenGe- 
sichtspunkt  aus  betrachtet,  ist  das  ka- 
tholische  System  ein  halb  pragmati- 
scher,  halb  poetischer  oder  mythologi- 
scher  Synkretismus,  dessen  Elemente 
zum  Teil  der  christlichen,  zum  Teil  der 
griechisch-lateinischen  Tradition  ent- 
nommen  sind.  Nachdem  das  Ur- 
christentum  seine  anfangliche  Er- 
habenheit  kurze  Zeit  inmitten  einer 
ihm  feindlich  gesinnten  Zivilisation  be- 
hauptet  hatte,  nahm  eine  Politik  der 
Kompromisse  iiberhand,  und  das  Chri- 
stentum,  das  in  der  zeithchen  Ordnung 
den  Purpurmantel  des  Casars  anlegte, 
griff  in  der  spirituellen  Ordnung  zu  der 
Sprache  des  romischen  Rechts  und  der 
griechischen  Metaphysik. 

Das  katholische  System,  soweit  es 
System  ist,  war  bestimmt,  sich  nach 
und  nach  wieder  aufzulosen.  Zwischen 
Elementen,  die  nach  Herkunft  und 


Glossen 


271 


Tendenz  so  verschieden  waren  wie  das 
Christentum  und  die  griechisch-latei- 
nische  Kultur,  war  eine  Synthese  nicht 
moglich  und  eine  Einheit  nur  aufrecht 
zu  erhalten  durch  gegenseitige  Kon- 
zessionen.  Der  Vereinheitlichung  des 
Systems  zuliebe  wurde  es  notig,  die 
hohen  Begriffe  von  Glaube,  Vernunft 
und  Poesie  auf  den  niedersten  Wert 
herabzudriicken.  In  dem  MaBe,  in  dem 
diese  drei  ,,Ordnungen“,  um  einen 
Ausdruck  Pascals  zu  gebrauchen,  einen 
ihrem  Wesen,  ihrer  Entwicklungs- 
fahigkeit  gemaBeren  BewuBtseinsinhalt 
annahmen,  verlangten  sie  auch  eine 
nach  der  andern  Unabhangigkeit,  und 
das  schone  Gesicht  der  Einheit  ent- 
schwand,  ohne  etwas  von  seiner  An- 
ziehungskraft  zu  verlieren,  in  einen 
entlegeneren  Himmel. 

3. 

Die  Reformation  bezeichnet  die  erste 
Etappe  in  der  Auflosung  des  katholi- 
schen  Systems.  Ober  den  Sinn  und  die 
Tragweite  dieser  groBen  Bewegung 
sind  die  seltsamsten  und  bisweilen 
albernsten  Ideen  in  der  Polemik  ge- 
laufig.  Real  gesehen  stehen  wir,  wenn 
wir  uns  mit  der  Seele  der  Reformation 
selbst  befassen  und  vom  Zeithinter- 
grund  und  von  Irrtiimern  absehen,  vor 
einem  heftigen  Protest  gegen  alle  die 
Dinge,  in  denen  der  Katholizismus  des 
XVI.  Jahrhunderts  zu  menschlich,  zu 
heidnisch  dachte  und  zu  wenig  christ- 
lich.  I hr  gebt  zuviel  auf  den  Menschen, 
auf  die  Natur,  ihr  vemachlassigt  Gott, 
so  konnte  man  den  Vorwurf  formu- 
lieren,  den  Luther  und  Calvin  in  Rom 
erheben.  Der  Mensch  ist  nur  Schmutz 
und  Kot,  die  Natur  nur  Gelegenheit 
zur  Siinde  oder  Versuchung.  Ohne 


Gott  kein  Heil:  von  ihm  kommt  der 
Glaube  und  sogar  die  Sehnsucht  da- 
nach.  Aber,  hat  man  genugsam  be- 
achtet,  daB  die  Folgen  der  Reformation 
sehr  verschieden  gewesen  sind,  je  nach- 
dem  man  sie  in  zeitlicher  oder  spiri- 
tueller  Hinsicht  betrachtet?  GewiB 
fiihrt  die  Reformation  das  christliche 
Leben  zu  seinem  Quell  zuriick,  reinigt 
es  von  Alfanzerei,  starkt  es  und  macht 
es  intensiver;  aber  andrerseits,  und  das 
ist  eine  Folge,  die  die  Reformatoren 
weder  voraussehen  noch  sich  wiinschen 
konnten,  trennte  die  Reformation  den 
Geist  von  der  Zeit.  Der  katholischen 
Konzeption  einer  sichtbaren  Kirche, 
die  gleicherweise  Glaubige  und  Un- 
glaubige  in  ihrem  SchoBe  vereinigt, 
setzt  die  Reformation  die  Konzeption 
einer  unsichtbaren  Kirche  entgegen, 
die  allein  den  Auserwahlten  vorbe- 
halten  ist ; sie  gesteht  dem  natiirlichen 
Menschen  mit  einer  Art  stillschweigen- 
den  Einverstandnisses  die  negative 
Freiheit  zu,  die  ihm  gestattet,  sich  als 
Privatperson  nach  Lust  und  Neigung 
zu  entfalten. 

4. 

Die  Revolution  bezeichnet  die  zweite 
Etappe  der  Auflosung  des  Katholizis- 
mus. Nichts  ist  verkehrter,  als  aus  der 
Revolution  eine  Tochter  der  Reforma- 
tion zu  machen.  Reformation  und  Re- 
volution sind  zwei  einander  vollig  ent- 
gegengesetzte  Bewegungen ; beide  sind, 
das  ist  richtig,  wesentlich  antikatho- 
lisch,  aber  ihr  Antikatholizismus  ist  im 
Sinn  entgegengesetzt.  Die  Reforma- 
tion tadelt  am  Katholizismus,  daB  er 
Gott,  die  Revolution,  daB  er  den  Men- 
schen iibersieht.  Wenn  die  Reforma- 
tion die  Autoritat  der  Kirche  bricht, 


272 


Glosscn 


stellt  sic  dafiir  nicht  die  Willensfreiheit 
oder  die  individueile  Phantasie  auf, 
sondem  die  Autoritat  des  „Wort  Got- 
tes“,  und  die  Freiheit,  die  sie  ver- 
kiindet,  ist  nur  eine  vollstandigere 
Knechtung.  Wahrend  die  Revolution 
auf  den  Triimmem  der  Konigsautori- 
tat  die  burgerliche  und  politische  Frei- 
heit aufrichtet,  das  individueile  und 
soziale  Menschenrecht,  die  Selbstver- 
waltung,  die  Souveranitat  der  natiir- 
lichen  Vemunft.  In  Wahrheit  ist  dies 
Programm  konfus  und  voll  Wider- 
spriichen.  Die  Vemunft  zielt  auf  Ord- 
nung,  die  Freiheit  als  absolutes  Prinzip 
aufgestellt,  zielt  auf  Unordnung  ab. 
Aber  der  Liberalismus  der  Revolution 
ist  meiner  Ansicht  nach  durch  die  Urn- 
stande  bedingt  und  bedeutet  nur  eine 
legitime  Reaktion  gegen  den  MiB- 
brauch  der  Autoritat.  Die  Seele  der 
Revolution  ist  die  Verkiindung  der 
Souveranitat  der  natiirlichen  Vemunft 
in  der  Philosophic,  den  Wissenschaften, 
der  Kunst,  in  der  Organisation  der 
biirgerlichen  und  politischen  Gesell- 
schaft:  ebensoviele  Thesen,  zu  denen 
Charles  Maurras  sich  gemeinsam  mit 
der  Revolution  und  im  Gegen  satz  zur 
Kirche  bekennt.  Als  Sohn  der  Revo- 
lution will  Charles  Maurras  alle  diese 
Dinge  einsetzen,  nicht  wie  Pius  X.  es 
wollte,  im  Christen,  sondem  o6ne 
den  Christen.  Und  wenn  die  Resultate, 
zu  denen  ihn  identische  Prinzipien 
fiihren,  von  denen  der  Revolution  bis 
zum  vollendeten  Widerspruch  ver- 
schieden  sind,  so  kommt  das  daher,  daB 
seine  Konzeption  direkt  und  rein  vom 
Hellenismus  ausgeht,  und  damit  gerat 
Charles  Maurras,  zu  seinem  eigenen 
VerdruB,  nur  noch  tiefer  in  wirkliche 
Feindschaft  mit  der  Kirche. 


5. 

Man  hat  Charles  Maurras  oft  und 
bitter  zum  Vorwurf  gemacht,  er  sei  ein 
Heide.  Ich  mochte  mich  diesem  Tadei 
nicht  anschlieBen.  Es  ist  eine  Tatsache, 
daB  das  Heidentum,  soweit  es  Starke 
und  ewige  Werte  hat,  heute  allgemeia 
wieder  auflebt,  und  Charles  Maurras, 
der  sich  ohne  Umschweife,  ohne 
Furcht  vor  Worten  und  Dingen  einen 
Heiden  nannte,  trat  damit  nur  unmiB- 
verstandlich  fiir  die  vielleicht  tiefste 
Bewegung  unserer  Epoche  ein.  Heide 
sein,  heifit  in  die  Metaphysik  iiber- 
setzt,  die  Welt  akzeptieren  wie  sie  ist, 
mit  Dunkel  und  Licht,  ihrer  unent- 
wirrbaren  Mischung  von  Gut  und 
Bose,  von  Krieg  und  Frieden,  von  HaB 
und  Liebe;  heiBt  in  der  Moral,  den 
Menschen  nehmen  wie  er  ist,  nicht  von 
Grund  aus  gut,  wie  Jean -Jacques  ihn 
will,  nicht  von  Grund  aus  bose,  wie 
Calvin  ihn  sieht,  sondem  fahig  zu 
Tugend  und  GroBe,  wenn  die  Ver- 
nunft  ihn  leitet,  fahig  zur  Niedrigkeit, 
wenn  die  Vemunft  ihn  verlaBt;  heiBt 
in  der  Gesellschaft,  von  der  Sozietat 
zum  Individuum  gehen  und  nicht,  wie 
das  Christentum  und  die  Revolution 
es  wollen  (die  Revolution  ist  in  dieser 
Hinsicht  eine  Tochter,  aber  ein  Bastard 
des  Christentums),  vom  Individuum 
zur  Gesellschaft;  heiBt  endlich  in  der 
Religion,  die  Natur  vergottem  und 
zwar  gesiebt,  gereinigt,  sublimiert 
durch  das  menschliche  Genie,  und  so 
kommt  man,  indem  man  es  intuitiv  im 
Innersten  packt,  zum  griechischen 
Heidentum  und  zum  Geheimnis  seiner 
schopferischen  Kraft,  und  so  kommt 
man  zum  kcltischen  oder  german ischen 
Heidentum. 


Glosscn 


273 


6. 

Der  gestalt  haben  wir  alle  am  Heiden- 
turn  teil,  mehr  oder  weniger,  aber  die 
meisten  von  unst  und  insonderheit 
unsere  Geselischaft,  verbinden  ihr 
Heidentum  recht  und  schlecht,  und 
fitters  schlecht  als  recht,  mit  dem,  was 
vom  Christentum  iibrig  blieb.  Mit 
anderen  Worten : wir  haben  die  beiden 
Wertsysteme  aufgelost,  die  beiden 
Gottesbegriffe,  die  die  Kirche  ver- 
einigte,  mit  deren  Vereinigung  sie  ihre 
Dogmen  verdunlcelte,  aufgelost,  und 
da  wir  weder  den  Gott  der  Natur,  noch 
den  Gott  des  Geistes,  noch  den  Gott 
der  Metaphysik,  noch  den  Gott  der 
Moral  abschworen  wollen  und  konnen, 
schleppen  wir  alle  diese  Gotter  mit  uns 
und  fiberlassen  es  ihnen,  gegenseitig, 
wenn  ich  es  auszusprechen  wage,  in 
Ordnung  zu  kommen.  „Ich  weiB  sehr 
wohl",  schrieb  vor  einigen  Jahren  ein 
deutscher  Pastor  der  nationalliberalen 
Fraktion  des  Reichstages,  „wenn  ich 
fiir  die  Flottenvermehrung  stimme, 
handle  ich  nicht  im  Sinne  des  Evange- 
liums.  Aber  was  soil  man  machen? 
Ich  bin  Christ  und  bin  deutscher 
Burger  " 

Die  Originalitat  des  Charles  Maurras 
besteht  darin,  daB  er  mit  vielleicht  ein- 
zigartiger  Entschiedenheit  das  alte 
Ideal  wiederaufleben  lafit,  indem  er  den 
christlichen  Gott  aus  seinem  System 
ausmerzt,  um  ausschlieBlich  dem  heid- 
nischen  Gott,  der  Natur,  oder  richtiger 
der  Vemunft,  die,  wie  ich  bereits  sagte, 
nichts  anderes  ist  als  die  sublimierte 
Natur,  die  Ehre  zu  geben.  Es  ist  blu- 
tiger  Ernst,  wenn  er  anrat,  Frankreich 
als  Gottin  zu  ehren,  oder  von  den 
Saulen  der  Propylaen  schreibt,  sie  seien 


buchstablich  das,  was  man  heute  unter 
Gott  verstehe.  Auf  die  einfachste  For- 
mel  gebracht,  bedeutet  das  ein  Front- 
machen  gegen  den  hebraischen  Chri- 
stus,  den  er  beschuldigt,  den  Sklaven 
losgelassen  und  fiber  die  Welt  die 
Landpiage  der  Chariti  entfesselt  zu 
haben . 

So  haBt  und  verachtet  Maurras  als 
wirklicher  Grieche,  der  er  ist,  das 
Christentum.  In  den  namlichen  HaB, 
in  die  namliche  Verachtung  schliefit  er 
die  jfidischen  Propheten  ein,  die  die 
Ankunft  Christi  vorbereiteten  und  die 
, ,Auserwahlte  Gottes  waren  ohne  Prie- 
ster  zu  sein",  ,,Anstifterder  Unordnung 
und  der  Agitation";  Christus  selbst, 
der  „den  Triumph  des  Absurden" 
brachte;  die  Reformatoren  des  XVI. 
Jahrhunderts  und  ihre  Nachfolger, 
„entsetzliche  Menschen",  „eine  Partei 
der  schlimmsten  Feinde  des  schonen 
Scheins".  Was  lobt  Charles  Maurras 
am  Katholizismus?  Das  Christentum 
arrangicrt  zu  haben,  die  Idee  Gottes 
organisiert  und  so  dem  Christentum 
sein  Gift  genommen  zu  haben.  An 
Hand  der  protestantischen  Exegeten 
und  Renans  konstatiert  er,  daB  der 
Katholizismus  die  Lehre  des  Evange- 
liums  tief  verunstaltet  hat,  and  er  be* 
g itidcwQn&cfit  ihn  daza . 

Hatte  ich  unrecht,  wenn  ich  be- 
hauptete,  dieser  Verfechter  des  unver- 
kfirzten  Katholizismus  arbeite  heftig 
mit  an  der  Auflosung  des  Katholizis- 
mus? 

7. 

Ich  habe  mich  so  lange  beim  Fall 
Charles  Maurras  aufgehalten,  weil  er 
der  unzweideutigste  und  frappanteste 
ist.  Aber  man  lese  jetzt  im  Licht  dieser 


274 


Glosscn 


Analyse  die  Worte,  die  Jules  Lemaitre 
in  der  „Enquete  sur  la  Monarchic* * 
diesem  seinem  ausgezeichneten  Freund 
verleiht,  der  ihm  wie  ein  Bruder  er- 
scheint : 

„Ich  habe  groBe  Achtung  vor  den 
Protestanten,  aber  siehst  du,  der  Ka- 
tholizismus  ware  heute  eine  kostliche 
Sache  ohne  diese  triibselige  Reforma- 
tion. Cherbuliez,  zwar  ein  Protestant, 
aber  ein  wahrhaft  freier  Geist,  hat  es 
ausgesprochen  in  einem  seiner  Bucher. 
Die  Kirche  war  fur  die  Volker  eine 
gastliche  und  bequeme  Zufluchtstatte 
geworden.  Die  Weisen  und  Philo- 
sophen  begannen  sich  einzurichten 
darin.  Das  Dogma  selbst  verlor  an 
Starrheit,  wenigstens  dachte  man  sich 
nicht  mehr  viel  dabei.  Die  Versohn- 
lichkeit  und  der  Ausgleich  hatten  noch 
Fortschritte  gemacht.  Ohne  Zweifel 
gab  es  MiBbrauche  in  der  Kirche:  die 
Simonie,  den  AblaBverkauf  (das  gibt  es 
aber  in  der  Laienregierung  auch: 
Panamaskandale,  Ordensschacher.  Ein 
tiichtiger  Papst  hatte  geniigt,  diese 
bedauerlichen  Inkorrektheiten  abzu- 
schaffen.  Luther  und  Calvin,  ein 
Monch  und  ein  Pfarrer,  entsetzliche 
Menschen,  haben  mit  ihrem  Protest 
nicht  gegen  die  MiBbrauche,  sondem 
gegen  die  Kirche  selbst,  die  Refor- 
mation gebracht,  und  das  bedeutete: 
die  Jesuiten,  eine  Verscharfung  des 
Dogmas  und  fiir  lange  Zeit  eine  katho- 
lische  Intoleranz,  die  derjenigen  der 
Reformierten  nichts  nachgab.  Sehr 
bedauerlich.  Es  gabe  heute  noch  eine 
,,Christenheit“ ; ganz  Europa  hatte 
heute  eine  und  dieselbe  Religion,  ein- 
fach  in  Tradition  und  Ritus,  die  deli- 
zios  sein  konnte-** 


8. 

Der  Traum  Jules  Lemaitres,  eine 
Religion,  einfach  in  Tradition  und 
Ritus,  dieser  Traum  wurde  von  der 
Geschichte  dreimal  verworfen : erst- 
mals,  als  das  Urchristentum  das 
Heidentum  zerstorte,  das  jenes  Ideal 
der  Einfachheit  in  Tradition  und  Ritus 
erreicht  hatte;  ein  zweites  Mai,  als  die 
Reformation  in  Zeiten  des  drohenden 
Verfalls  das  Neuheidentum,  zu  dem 
der  Katholizismus  der  Renaissance  tat- 
sachlich  gekommen  war,  zwang,  sein 
Profil  wieder  herzustellen,  das  heifit 
sich  auf  sein  Christentum  zu  besinnen; 
und  ein  drittes  Mai,  als  die  Revolution 
den  hofischen  Abbes  und  den  Liber- 
tinage-Bischofen  bedeutete,  daB  die 
Vemunft,  von  nun  an  erstes  Prinzip, 
sich  nicht  mehr  geniigen  las se  mit  einer 
tatsachlichen  Toleranz,  noch  mit  einem 
Autoritatsregime,  wie  nachsichtig  und 
umganglich  es  sich  immer  erwies,  und 
als  ihr  gutes  Recht  die  Freiheit  ver- 
langte. 

Der  neue  Geist,  herzhaft  plebejisch 
wie  er  ist,  findet  die  aristokratische 
Libertmage  und  Frivolitat  der  italiem- 
schen  Renaissance  und  des  franzosi- 
schen  XVIII.  Jahrhunderts,  nach  denen 
Jules  Lemaitre  seufzt,  verachtlich  und 
lehnt  sie  ab.  Fiir  Lemaitre  sind  Ver- 
nunft,  Glaube,  Wissen,  Menschen- 
rechte  und  gottliche  Rechte  Dinge,  fiir 
die  er  gleicherweise  den  letzten  Ernst 
verlangt.  Rationalist,  denkt  er  doch 
niemals  antichristlich,  im  Gegenteil, 
das  Christentum  ist  ihm  gleichzeitig 
Quell  aller  privaten  Tugenden  und  ein, 
wenn  nicht  unentbehrliches,  so  doch 
sehr  wertvolles  Element  im  Leben 
eines  Staates.  Aber  Leklagen  mit  Jules 


Gloss  en 


275 


Lemaitre,  daB  die  Kirche  durch  die 
Institution  der  Jesuiten  und  die  Schar- 
fung  des  Dogmas  aufgehort  hat,  fiir  die 
Volker  eine  „gastliche  und  bequeme 
Zufluchtsstatte",  eine  exquisite,  ver- 
gniigliche  Religion  zu  sein,  heiBt  sich 
sowohl  dem  Katholizismus  wie  der 
modemen  Vernunft  gegeniiber  in  eine 
Position  begeben,  die  exzentrisch  und 
inaktuell,  in  der  Formel  reaktionar  ist, 
heiBt  ganz  und  gar  sich  ,,prokathoIisch“ 
bekennen,  dem  Katholizismus  jegliche 
Spitze  nehmen,  ihn  verkennen  und 
schmahen. 

9. 

Hat  Charles  Maurras  seine  Vater  in 
der  griechischen  Antike,  Jules  Lemaitre 
die  seinen  in  der  Renaissance  und  im 
XVIII.  Jahrhundert,  so  ist  Maurice 
Barres  in  vielerlei  Hinsicht  ein  authen- 
tischer  Sohn  der  Revolution.  Und  zu- 
nachst  war  er  in  seiner  Jugend  ein  aus- 
gemachter  Individualist  und  blieb  es 
trotz  seines  Traditionalismus.  Notieren 
wir  im  Voriibergehen : das  katholische 
System  schlieBt  weit  eher  das  System 
des  Charles  Maurras  als  den  Individual 
lismus  aus.  Denn  schlieBlich  und  end- 
giiltig  ist  allein  das  Individuum  und 
nicht  die  Familie  oder  die  Gesellschaft 
gnadenfahig  und  geeignet,  Heilsobjekt 
zu  werden,  und  also  ist  das  Individuum 
in  einem  gewissen  Sinne  und  auf  einem 
bestimmten  Hintergrund  fiir  die  Kirche 
eine  Art  Absolutum,  wahrend  fiir 
Charles  Maurras,  der  ganz  sozial  denkt, 
der  Individualismus  in  keinam  Sinne 
und  in  keinerlei  Bedeutung  in  Betracht 
kommt.  In  dieser  Frage  des  Individua- 
lismus aber  befindet  sich  Maurice 
Barres  ebenso  entschieden  zur  Linken 
des  Syllabus,  wie  Charles  Maurras  sich 
auf  der  Rechten  befindet.  Im  allge- 


meinen  ware  Maurice  Barres,  der  heute 
die  Kirche  verteidigt,  weil  sie  unter- 
driickt  ist,  sofort  dabei,  sie  zu  bekamp- 
fen,  wenn  sich  das  Blatt  drehen  wiirde, 
wenn  die  Qfmstdnde  idr  erlaubten, 
idr  System  anzuwenden . Er  ver- 
teidigt von  der  Kirche,  was  sie  an 
reiner  und  kostbarer  Spiritualitat  re- 
prasentiert,  ihre  Ideologic  aber  lehnt  er 
ausdriicklich  ab,  sowohl  die  politische 
wie  die  metaphysische.  Und  so  be- 
findet auch  er  sich  in  der  schiefen 
Position,  den  Triumph  einer  Sache  be- 
fiirchten  zu  miissen,  die  er  begunstigt. 

Das  ist  aber  nicht  alles,  und  das  MiB- 
verhaltnis  zwischen  Maurice  Barres 
und  der  Kirche  beschrankt  sich  nicht 
auf  das  politische  oder  philosophische, 
es  erstreckt  sich  auch  auf  das  religiose 
Gebiet  selbst.  Maurice  Barres  ist  mit 
Charles  Maurras  einer  der  Wortfiihrer 
dieser  fiir  unsere  Zeit  charakteristischen 
Wiedergeburt  des  Heidentums;  wah- 
rend indessen  Charles  Maurras  das 
hellenische  Heidentum  meint,  findet 
Maurice  Barres  das  keltische.  Man 
lese  daraufhin  das  wundervolle  Kapitel 
der  „Grande  Pitie  des  Eglises  de 
France**,  das  ein  wenig  fatal  „La  Mo- 
bilisation du  Divin*4  betitelt  ist. 

„Les  pensees  de  nos  lointains  exer- 
cent  toujours  de  mysterieuses  et  fortes 
poussees  dans  notre  vie*4  etc. 

Aber  schlieBlich  ist  dieses  Heiden- 
tum, in  dem  der  barresianische  Kult 
der  Erde  und  der  Toten,  wenn  man 
ihn  seiner  positivistischen  Tiraden  ent- 
kleidet,  besteht  und  beschlossen  ist,  der 
kirchlichen  Lehre  nicht  nur  fremd,  er 
ist  ihr  ausdriicklich  zuwider.  Ich  ver- 
stehe  wohl,  daB  Maurice  Barres  sich 
darauf  beschrankt,  eine  „Verbindung 
des  katholischen  Religionsgefiihls  mit 


276 


Glossen 


dem  Sinn  der  Erde"  zu  verlangen. 
Abcr  wclchen  emstlichen  Bestand, 
welche  wirkliche  Kraft  kann  ein  Biind- 
nis  haben,  dessen  Kontrahenten  sich 
untcreinander  ebenso  wenig  oder  sogar 
noch  weniger  verstehen,  als  mit  der 
Mehrzahl  ihrer  Gegner? 

10. 

Denn  will  man,  um  den  Gegenbe- 
weis  anzutreten,  ohne  in  der  Haupt- 
sache  viel  zu  andem,  von  irgendeiner 
der  drei  analysierten  ,fprokatholischen*‘ 


Positionen  iibergehen  zumkategorisch- 
sten  Antikatholizismus  ? So  nehme 
man  nur  zum  Beispiel  das  Heidentum 
des  Charles  Maurras,  lege  einen  leich- 
ten  Akzent  dabei  auf  die  Worte  Ver- 
nunft  und  Ordnung,  statt  auf  ftSchon- 
heit<4  und  ..Lust*4,  halte  dazu  etwai 
Charitat,  dunkel  im  Ton  und  auf  ver- 
andertem  Hintergrund,  etwas  Mitleid 
basiert  auf  Sinnlichkeit,  kurz  Humani- 
tatsphilosophie,  und  wen  findet  man? 
Anatole  France. 

(Obers.  fflugo  i TSafL ) 


<Der  DCnabe  fflerbsi. 

Alle  blassen  Wiesen  stehen  im  Ge- 
sang  und  durch  den  Abend  reiten 
schnelle  dunkle  Dinge. 

Ein  feierlicher  Knabe  ist  der  Herbst, 
wie  er  metallisch,  braunlich,  herrisch 
so  im  Abend  steht.  — 

Und  die  Natur  feiert  Schwermut; 
denn  reif  ist  alles  und  erfiillt  ist  alles. 

Sie  traumt  von  einem  weiGen  Tod 
und  leer  von  Emten  sind  nun  ihre 
Hande.  Ihr  Lieblingsknabe  aber  ist 
der  Herbst.  Fiir  ihn  hat  tiefer  sie  ge- 
gliiht  als  jeden  andem.  Und  Sturm 
und  Sonne  hat  er  wie  ein  Rasender  ge- 
trunken.  Er  ganz  allein  weiC  Rausch 
und  Torheit  aller  Friihlinge  und  Som- 
mer und  tragt  den  Tod  in  sich  wie 
eine  Freude. 

Und  seltne  Feste  weiG  er,  die  kein 
Mensch  ersinnt.  Man  ist  ein  Kind  bei 
ihm  im  Raschelgold,  ein  Tor,  auch  ein 

CZJ/e  71a  <£t 

des  Sflngescfiossenen. 

Rauschdunkles  Geschehen  flackert 

griinlich  im  Abend  aus  dem  Kamin. 


Vagant  bei  seinem  losen  Abendmahl. 
Er  kennt  die  Tanze,  die  das  Feuer 
lehrte  und  hat  Gebarden,  die  von 
Schonheit  weinend  sind.  Ein  sehr  ver- 
wegner  Geist  ist  er,  er  flicht  die  unbe- 
denklich  bunten  Kranze,  ist  ein  Ver- 
schwender,  dem  sein  Gold  im  Sand 
verrinnt. 

Er  ist  das  Fest,  das  die  Natur  in  ihrer 
Schwermut  feiert. 

Er  ist  ihr  Lieblingsknabe,  der  gol- 
dene  Zelte  um  die  weinende  Mutter 
spannt . 

Die  Eichen  bluten. 

Der  Wald  empfangt  ihn  stumm  wie 
seinen  Konig.  E$  geht  ein  schauer- 
licher  Takt  durch  diese  Nachte,  da  er 
Abschied  nimmt. 

Der  groGe  Tod  erregt  nun  langsam 
Klage  und  ihr  Geschmeide  werfen  alle 
Baume  ab  und  hin. 

Der  Herbst  ist  tot. 

Bu  ffll&rten. 

Halt!  — nein  — nur  das  eigene  Auge, 
das  durch  den  Rauch  aus  dem 
Spiegel  schien. 

Immer  den  Kopf  so  halten  . . . Arm 
auf  den  Diwan  gereckt. 


Glossen 


277 


Germaine  kommt  bald  ....  Kein 
Opium! . . . Alles  ist  grau  verdeckt. 

Gleich  holland’schen  Ewem  (o  Tage 
von  Nebel  und  Kiihen,  denen  ich 
mich  verrauschend  gab. 

Delft,  Vermeer,  die  Glocken  . . .), 
gleich  Ewern  stampfen  die  Hauser 
zur  Seine  hinab  des  Boulevard,  der 
aufbricht  von  Lichtern,  von  blitzen- 
den  Tramways  zerschniirt. 

Das  Wundfieber  mufi  nun  bald  enden, 
das  die  Knochen  mit  Fiebern  schiirt. 

Famos  wie  den  Alphonse  sie  warfen 
ins  Auto,  von  Stichen  und  Schreien 
bunt. 

Schaum  umdampfte  den  schmalen,  wie 
mit  einem  Dolchschnitt  aufgehaue- 
nen  Mund  . . . 

Gott,  nun  die  Seine  durchschneiden 
Dampfer,  gellend  die  Ventile,  Herz- 
pochen  im  dunklen  Rohr. 

Fressendes  Schwarz  der  Briicken  wirft 
sich  ihnen  entgegen,  drohnt  iiber  sie 
empor. 

Lichter  nun  drunten  . . . Ein  Auto 
zittert  im  Hof  wie  ein  Mann  vor 
erstem  Weib. 

Ah  . . . Frau  des  kleinen  Capitaine!  — 
Wie  wird  sie  fahren,  blumenhaft  und 
ohne  Neid  wie  ein  lachelnder  Stern 
durch  StraBen  vom  Leuchten  der 
Laden  beschneit,  in  den  Riicksitz 
des  Wagens  gelagert,  die  Pleureuse 
wie  Schaumstreif  vom  Wind  liber 
ihr  Lacheln  gekrauselt  . . . Ver- 
dammt,  daB  die  Abende  so  zehrend 
und  endlos  langsam  sind. 

Nun  rasen  wie  Ziindschniire  flammend 
die  StraBen  zum  Etoile. 

Mahlich  nur  rauscht  aus  dem  Garten 
der  groBen  Fontane  Fall. 


Die  Faculty  de  droit  demonstriert  um 
acht  Uhr  prazis  am  Procope. 

Wie  aus  dem  Schrei  des  Royalisten 
neulich  ein  Ziinden  stob,  alle  Pu- 
pillen  und  Glaserkanten  im  Saal  er- 
blitzten  wie  Degengeglanz. 

Germaine  wird  wieder  nicht  kom- 
men  . . . Sacr6  ...  im  Builler 
brennt’s! 

Flammende8  Aufgehn  von  Wellen,  das 
das  Graue  vom  Himmel  abfrifit. 

Gut  nur,  daB  Germaine  richer  in  der 
Olympia  ist. 

Heute  gleich  einem  briinstigen  Strudel 
saugt  die  Revue  tausend  Manner  in 
ihr  Licht. 

Der  ganze  Saal  ist  ein  brennender 
Strom,  der  aufgliihend  in  dies  helle 
Gelachter  bricht. 

Germaine  wird  mit  einem  Hirtenstab 
tanzelnd  durch  die  einzelnen  Bilder 
hingehn. 

Wiinsche  aufdampfen  im  Parkett,  wenn 
ihre  Knie  leicht  wie  Kusse  angstlich 
an  das  Enge  der  Robe  angelehnt 
stehn. 

Germaines  Knie  sind  zart  wie  junge 
Feigen  und  von  seeligem  Arom. 

Ihre  silbemen  Briiste  stehn  zartlich  iiber 
des  Leibes  schmalhiiftigem  Dom. 

Nun  steigt  zur  letzten  Ekstase  in  alien 
Bars  der  Zigeuner  und  Weiber  Ge- 
kreisch. 

In  der  Source  und  dem  d’Harcourt 
verrasen  dieTanzerinnen  unter  dem 
Puder  ihr  blendendes  Fleisch. 

Nun  speien  alle  Lokale  in  einem  bei- 
spiellos  auffunkelndem  Zug  auf- 
zuckendes  Leben,  Strome,  Lieder 
und  Madchen  auf  des  Boulmichs 
nachtlichen  Geruch. 


278 


Gloss  cn 


Schliefien  die  Laden  wie  Lider  . . . 
Zwei  Uhr  . . . Dunkel  . . . Ger- 
maine kam  nicht.  Diese  Nacht  ist 
nicht  Ieicht. 

O bald  aus  seinem  Cabaret  steigt 


Dunajec  herauf  (Maestro  hongrois) 
der  mich  schweigend  in  den  neuen 
prunkvollen  Genesungsmorgen  urv 
endlich  hinlibergeigt. 

i 7(asimrr  Gds  cfimid. 


nXpiizen . 

In  Rouen  ist  Gmife  fyerfiaeren  unter 
die  Rader  eines  Eisenbahnzuges  ge- 
kommen  und  getotet  worden.  Seit 
Strindbergs  Tod  war  er  der  grofite 
von  denen,  in  deren  Licht  unsere 
Generation  aufgewachsen  ist.  Und  er 
war  einer  der  vollkommensten  Men- 
schen,  die  gelebt  haben,  so  sehr 
Mensch,  dafi  das  unermediche  Un- 
gliick  seines  Vaterlandes  ihm  zwar 
allerhand  Zeitungsartikel  abnotigte, 
dafi  aber  der  Hafi  ihn  nicht  den  groBen, 
hohen,  den  weitgespannten  Tonfall 
seiner  Dichtung  wiederfinden  lieB. 
Er,  der  so  stark  war  im  Leid  und  in 
der  Liebe,  wurde  schwach  im  HaB. 
Nach  den  verstreuten  Proben  seiner 
Kriegsstrophen  scheint  es,  als  ob  er 
darin  nicht  einmal  an  Victor  Hugo 
herangereicht  hatte.  Seine  letzten  Ge- 
dichte  sind  wenige  Tage  vor  seinem  Tod 
gesammelt  erschienen ; ich  habe  sie  mir 
hier  noch  nicht  verschaffen  konnen. 
Sicher  hatte  Verhaeren  eines  Tages 
dennoch  die  versohnenden  Worte 
gesprochen,  wie  sie  nur  jemand  findet, 
der  furchtbar  geliebt  und  gehaBt,  will 
sagen,  der  in  aktiver  Weise  mitgelitten 
hat.  Wenn  ein  Heil  aus  diesem  Kriege 
kommt,  dann  aus  dem  namenlosen 
Leid,  das  die  matenellen  und  seeh- 
lischen  Konventionen  vieler  Jahr- 
hunderte  gesprengt  hat.  — 


Annette  OCofbs  fir/efe  an  einen 
*Coten,  die  zum  groBten  Teil  in  den 
,,Weissen  Blattem“  erschienen  sind, 
hat  jetzt  der  Verlag  Erich  ReiB  in 
Berlin  unter  dem  Titel  ,,Briefe  einer 
Deutsch-Franzosin4'  herausgegeben. 
Leider  hat  die  Zensur  viele  Stellen 
gestrichen,  die  geradezeitgemaB  waren. 

tyaultyiealer  lafit  im  Verlag  der 
WeiBen  Bucher,  Leipzig,  einen  Band 
,,Figuren“  erscheinen.  Inhalt:  Cha- 
teaubriand in  Prag  — Walpole  — Der 
Jesuit  — Die  Jungfrauen  — Lorenzac- 
cio  — Koche  — Die  Spotter  — Cassa- 
neus  — Benjowski  — Der  Grofikophta 

— Bader  — Dichter  — Die  Umstiirz- 
ler  — Der  Opiumesser  — Sankt  He- 
lena — Die  Somnambule  — Die  Ra- 
chel — Disraeli  — Der  Witz  — Frau 
von  Kalergis  — Propheten  — Eugenie 

— Renan  — Der  Herzog  von  Portland 

— Taine  — Der  Deutsche  — Reklamc 

— Die  Hollenmaschine  — Der  Blaubart 

— Rimbaud  — Die  Beredsamkeit  — 
Lutetia  — Die  Nabobs  — Gide  — 
Claudel  — Novotny  . . . 

Ein  groBer  Pompadour  voll  Belesen- 
heit.  Blague  und  ernsthafteren  Spiele- 
reien  . . . 

Der  Autor,  schreibt  Paul  Wiegler  im 
Vorwort,  „denkt  jetzt  an  den  Jugend- 
drang  und  die  Jugendabstraktion  eines 
Fiinfundzwanzigjahrigen  mit  dem  Ge- 
fiihl  der  Fremdheit.  Der  erbebende 
Mensch  nur,  die  Landschaft,  das  un- 


Glossen 


279 


bewuBte  Leben,  nicht  ein  hoffartiger 
Wahn  des  Intellekts  hat  ihm  seitdem 
Freude  gebracht  oder  hat  ihn  zur 
Trauer  gestimmt : eines  Kindes  Atmen, 
ein  Morgen  in  Opcina,  am  Lido,  auf 
dem  Laurenziberg.  Von  der  Ideologic 
mochte  er  ganz  der  Erzahlung  sich  zu- 
wenden,  dem  dichterischen  Gleichnis, 
und  einen  Roman  .Schandera*  hatte  er 
in  den  letzten  Monaten  fertig  geschrie- 
ben,  wenn  nicht  bei  uns  alien  ein  ge- 
waltigeres  Schicksal  anklopfte. 

So  bittet  das  Ruch,  das  in  den  Tagen 
des  Weltkriegs  erscheint,  als  ein  Ober- 
gang  aufgefafit  zu  werden.  Es  gibt  Be- 
trachtungen,  Portrats,  Novellen  und 
wiederum  Portrats ; und  es  hofft,  dafi  in 
ihm  mancherlei  Bilder  und  Worte  sich 
finden,  die  durch  Klarheit  und  Heiter- 
keit  ihres  Gegenstandes  beruhigen 
konnen.  Denn  was  auch  jedem  von  uns 
zuteil  wird,  das  Beste  unsrer  Ober- 
lieferungen  diirfen  wir  nicht  vergessen. 
,LaBt,‘  so  mahnt  in  der  Erschiitterung 
der  grofien  Revolution  Goethes  weise 
Baronesse  von  C.,  ,alle  diese  Unter- 
haltungen,  die  sich  sonst  freiwillig  dar- 
boten,  durch  eine  Verabredung,  durch 
Vorsatz,  durch  ein  Gesetz  wieder  bei 
uns  eintreten,  bietet  alle  eure  Krafte 
auf,  lehrreich,  niitzlich  und  besonders 
gesellig  zu  sein;  und  das  alles  werden 
wir  — und  noch  weit  mehr  als  jetzt  — 
benotigt  sein,  wenn  auch  alles  vollig 
drunter  oder  driiber  gehen  sollte.  Kin- 
der, versprecht  mir  das!*  ** 

Wir,  die  die  meisten  Kapitel  dieses 
Buches  seit  Jahren  kennen,  freuen  uns, 
all  die  lustigen  und  klug  erinnernden 
losen  Blatter  in  einem  Band  beisammen 
zu  haben.  Bisher  war  es  Wieglers 
Starke,  wie  seine  Unzulanglichkeit,  daB 
er  glossierte,  was  andere  geschaffen 


hatten,  ja  daB  er  selbst  ihrem  Lacheln 
liber  ihr  Tun  nachzulacheln  liebte.  Wie 
alle,  die  an  der  Begeisterungam  meisten 
den  Aufschrei,  am  Geist  die  Blague 
lieben,  das  Extrem  nicht  der  Sache, 
sondern  der  Geste,  schien  er  haltlos; 
welchen  Eindruck  sein  groBes  Talent 
eher  verscharfte,  als  milderte.  Man  sah 
die  Emporungen,  an  denen  er  teilhatte, 
man  sah  die  Ausschweifungen,  die  er 
streichelte,  man  sah  vor  allem : er 
peitschte  seinen  Stil  und  seine  Ge- 
stalten,  bis  sie  ihr  Grellstes  hergaben; 
und  mehr  sah  man  nicht  von  ihm.  Ich 
glaube  nicht,  daB  es  gerade  der  „hof- 
fartige  Wahn  des  Intellekts**  war,  der 
ihm  blendend  im  Wege  gestanden 
hatte.  Er  war  von  fremden  Giften 
durchsetzt.  Es  brauchte  Zeit,  bis  die 
nur  scheinbar  erhitzenden,  um  so  mehr 
ermattenden  Fremdkorper  aus  seinem 
Blut  schieden.  Wenn  er  sich  zu  sich 
befreit,  dann  sicher  nur  im  ,jlic6te" 
riscfien  Gleichnis**. 

Darum  sind  die  vielen  Jugend- 
slinden,  die  „Figuren‘\  doch  schon, 
zumal  flir  uns,  die  wir  entziickt  mitge- 
siindigt  haben,  damals.  Ich  schriebe 
anders  dariiber,  wenn  ich  mich  nicht 
nach  dem  Vorwort  richtete,  das  den 
Vorhang  einer  Biihne  zuzieht  und  die 
Fenster  im  Saal  weit  offnet. 

♦ 

Fiir  die  ffllysiiker  des  (Kriegs  fand 
ich  an  einem  Abend,  wo  ich  gegen 
Trauer  und  Zorn  ihn  zu  Hilfe  rief,  in 
„Yoricks  empfindsamer  Reise“  vor- 
treffliche  Satze: 

„Mir  zwar  wenigstens  wlirde  es  in 
manchen  Fallen  viel  angenehmer  sein, 
wenn  die  Welt  sagte,  ,ich  hatte  einen 
Handel  mit  dem  Monde  gehabt,  wobci 


Glossen 


weder  Siinde  noch  Schande  statt- 
findet/  als  daB  sie  etwas,  worin  so 
vieles  von  beidem  war,  ganz  allein  auf 
meine  Rechnung  stellte.“ 

„Wenn  der  Mensch  mit  den  Men- 
schen  Frieden  hat,  wieviel  leichter  als 
cine  Feder  ist  alsdann  das  schwerste 
von  alien  Metallen  in  seiner  Hand/* 

„Ich  hatte,  ich  weiB  nicht  was,  fiir 
einen  Advokaten  gegeben/* 

„Wir  leben  in  einem  Jahrhundert  so 
voller  Licht,  daB  schwerlich  ein  Land 
oder  Winkel  in  Europa  sein  wird, 
dessen  Strahien  nicht  mit  andem  ver- 
mischt  sind."  — 

Ich  rufe  es  seit  zwei  Jahren : halten 
wir  zusammen,  um  Gottes  willen  halten 
wir  zusammen.  Alle  Teufel  sind  iiber 
uns,  auch  die  Philosophen. 

* 

Demzuriickgetretenen  cftaatsse/cre- 
idr  des  ffluswdriigen,  v.  Jagow,  sagt 
man  in  Deutschland  nach,  daB  er  ein 
„Diplomat  der  alten  Schule41  gewesen 
sei  und  daB  er  wenig  Verstandnis  fiir  die 
Forderungen  einer  demokratischeren 
Zeit  gehabt  habe.  Dafilr  liebte  er  den 
lapidaren  Stil  — eine  Eigentiimlichkeit 
der  Jagows.  Es  ist  ungefahr  ein  Jahr 
her,  da  erwiderte  er  im  Reichstag  auf 
eine  An f rage,  ob  die  Regierung  gewillt 
sei,  die  Geheimdiplomatie  durch  eine 
unter  der  Kontrolle  der  Offentlichkeit 
stehende  Politik  des  Auswartigen  zu 
ersetzen  und  die  Entscheidung  iiber 
Krieg  und  Frieden  einer  Volks ver- 
tretung  zu  iibertragen:  „Die  Regierung 
ist  nicht  bereit,  die  hierfiirerforderliche 
Verfassungsanderung  vorzuschlagen." 
Er  antwortete  auf  eine  zweite  Anfrage, 
ob  die  Regierung  gewillt  sei,  das  amt- 
liche  Material  iiber  die  Entstehung  des 


Weltkrieges  vorzulegen  und  eine  par- 
lamentarische  Untersuchungskommis- 
sion  einzusetzen:  „Die  Regierung  ist 
nicht  gewillt,  fiir  eine  Einsetzung  einer 
parlamentarischen  Untersuchungskom- 
mission  einzutreten.  Die  Verantwor*- 
tung  und  Siihne  treffen  nur  unsere 
Gegner.4*  — Kurz  bevor  Jagow  zuriick- 
trat,  starb  in  Wien  der  deutsche  Bot- 
schafter  Tschirschky. 

* 

Es  gibt  in  Berlin  (N.  24,  Monbijou- 
platz  3 I)  eine  tflu&kun fts”  und  Qilfs* 
steffe  ftir  Deutsche  im  flusfand  und 
Sflus/dnder  in  cDeutsc6iand,  der  die 
Leser  der  WeiBen  Blatter  werktatige 
Aufmerksamkeit  schenken  sollten.  Auf 
einem  kleinen  Blatt,  das  Dr.  Elisabeth 
Rotten  unterzeichnet  hat,  liest  man 
iiber  Ursprung  und  21iel  der  Hilfs- 
stelle: 

„Seit  weit  iiber  einem  Jahr  steht  die 
hiesige  Auskunft-  und  Hilfsstelle  fiir 
Deutsche  im  Ausland  und  Auslan- 
der  in  Deutschland  in  standiger  A r- 
beitsgemeinschaft  mit  dem  gleich 
nach  Kriegsausbnich  gegriindeten  eng- 
lischen  Hilfskomitee  fiir  Deutsche, 
Osterreicher  und  Ungam.  Neutrale 
Stellen  vermitteln  den  Verkehr,  und 
von  beiden  Seiten  haben  alle  Bitten  um 
Rat  und  Hilfe  immer  williges  Gehor 
gefunden.  Das  Londoner  Komitee 
nimmt  sich  aller  Ratsuchenden  an, 
unterstiitzt  die  Bediirftigen  der  in  Elng- 
land  verbliebenen  deutschen  Familien 
mit  Leben  s mitt  ein,  Kleidem,  Kohlen 
und  Geld.  Im  ersten  Kriegsjahr  sind 
iiber  2000  solche  Familien  auf  Bitten 
ihrer  intemierten  Emahrer  besucht 
und  in  Fiirsorge  genommen  worden. 
Zwei  Heimstatten  auf  dem  Lande  ge- 


Glossen 


wahren  kranklichen  Kindern  Unter- 
kunft  und  Pflege.  Ein  besondercr  Aus- 
schuB  besucht  die  Gefangenenl&ger, 
verschafft  den  Intemierten  Unterhal- 
tung  und  Beschaftigung,  verkauft  ihre 
Erzeugnisse  zu  ihrem  Besten  und  ver- 
mittelt  Nachrichten,.so  oft  Klagen  liber 
den  Postverkehr  zwischen  den  Ge- 
fangenen  und  ihren  Angehorigen  zu 
ihnen  gelangen  oder  die  Getrennten 
sich  besondere  Sorge  um  einander 
machen.  Im  Sommer  sind  in  fast  alle 
Lager  wochentlich  Schnittblumen  fur 
verwundete  oder  kranke  Gefangene  ge- 
sandt  worden.  Zu  Weihnachten  wur- 
den  durch  das  Komitee  in  etwa  zwolf 
verschiedenen  Gegenden  von  London 
und  in  andem  Teilen  des  Landes  Weih~ 
nachtsfeiem  fur  ungefahr  tausend 
deutsche  Familien  veranstaltet  und 
denen,  die  man  nicht  einladen  konnte, 

etwa  800  Pakete  mit  Lebensmitteln, 

Schokolade,  Spielsachen  und  einer 
kleinen  Geldsumme  fiir  das  Weih- 
nachtsessen  gebracht  oder  geschickt. 
Zur  Aufrechterhaltung  dieser  Arbeit 
werden  aus  englischen  Mitteln  fortge- 
setzt  ca.  20  000  Mark  monatlich  auf- 

gebracht,  und  es  wird  immer  wieder 
versichert,  eines  der  besten  Werbe- 
mittel  fiir  diese  Gebefreudigkeit  sei  die 
Berufung  auf  die  ahnlich  gerichtete 
Liebestatigkeit,  die  die  Berliner  Aus- 
kunft-  und  Hilfsstelle  an  den  „feind- 
lichen  Auslandem"  in  Deutschland 
auslibt.  Die  Leistungen  der  Hilfsstelle 
sind  kleiner,  insofem  die  Zahl  der  in 
Deutschland  verbliebenen  Auslander 
viel  geringer  ist,  als  die  der  Deutschen 
in  England;  aber  ihre  Aufgaben  sind 
mannigfaltiger,  weil  zu  ihren  Schiitz- 


lingen  Angehorige  aller  mit  uns  krieg- 
flihrenden  Lander  gehoren,  die  hier  ge- 
blieben  sind,  weil  sie  sich  bei  uns  ein- 
gewurzelter  fiihlen  als  in  der  einstigen 
Heimat,  und  denen  liber  die  Note  des 
Krieges  hinwegzuhelfen  uns  eine 
Ehrenpflicht  erscheint.  Wir  wenden 
uns  mit  unserm  Aufruf  zu  tatkraftiger 
Mitwirkung  an  alle,  die  schon  jetzt  er- 
kennen,  daB  der  innigere  Zusammen- 
schluB  der  Eignen  aneinander  und  ein 
heiBerer,  tiefer  als  zuvor  verpflichten- 
der  Glaube  an  die  Bruderschaft  der 
Menschheit  wie  Ein-  und  Ausatmen 
zusammengehoren . 

Mit  Freude  konnen  wir  feststellen, 
daB  in  immer  weiteren  Kreiaen  das 
Verstandnis  fiir  unsere  Arbeit  im 
Wachsen  ist.  Wahrend  sie  zu  Beginn 
des  Krieges  manchen  Angriffen  ausge- 
aetzt  war,  gilt  sie  jetzt  vielfach  als  eine 
Erscheinung,  die  daheim  und  vom 
Felde  mit  Zustimmung  begriiBt  wird 
als  ein  Vorbote  besserer  Zeiten.  Doch 
fehlt  noch  viel  daran,  daB  diese  Sym- 
pathie  sich  geniigend  in  tatkraftige 
Forderung  umsetzt.  Mochten  sich  uns, 
damit  unser  Wollen  und  Tun  sich  sinn- 
gemaB  erfiille,  von  vielen  neuen  Seiten 
Herzen  und  Hande  offnen! 

Wer  uns  mit  einmaligen  Gaben  oder 
nach  dem  Vorgang  einiger  unter  unsem 
Freunden  mit  Monatsbeitragen  unter- 
stiitzen  will,  wird  gebeten,  sie  an  die 
obengenannte  Geschaftsstelle  oder  an 
die  Depositenkasse  B der  Commerz- 
und  Diskontobank,  Berlin  C 54,  Rosen- 
thaler  StraBe  40/41  zu  richten,  in  bei- 
den  Fallen  zu  Handen  von  Dr.  Elisa- 
beth Rotten/* 


282 


Glossen 


Cj(eue  ^Bucher. 

Im  Verlag  Georg  Muller,  Miinchen: 

‘Walt der  {Hermann : Das  Tempel- 
wunder  und  andere  Novellen. 

FUndreas  clcdreiber : Das  ewige 
Bankett.  Novellen. 

Im  Verlag  Rascher  &Cie.,  Zurich: 

QZrof.  Or.  F.  Zschokke : Aus  gol- 
denenTagen.  Wanderungen  in  Oster- 
reich. 

SConrad  Falke:  San  Salvatore. 
Erzahlung. 

Robert  c Walter : Prosastiicke. 

Soitfried  FCeller:  Der  Landvogt 
von  Greifensee. 

3 a (cob  Oo ft  dart:  Ein  Erbteil. 

Chariot  Sir  after:  In  Volker  zer- 
rissen. 

(Diese  vier  i.  d.  Sammlung  „Schrif- 
ten  fur  Schweizer  Art  und  Kunst.) 

Flans  San*:  Der  Morgen.  Eine 
Tragodie. 

Im  Verlag  Kurt  Wolff,  Leipzig: 

‘JKax  Fulver : Selbstbegegnung. 
Gedichte. 

Qustav  ‘ffleyrmk : Fledermause. 
Novellen. 


C/u stave  ‘Flaubert;  November. 
Roman . 

Seibert  Gdrenstem : Nicht  da,  nicht 
dort.  (Sammlung  „Der  Jungte  Tag41.) 

i TJlgnona : Schwarz  - Weifi  - Rot. 
(Sammlung  „Der  Jungste  Tag44.) 

QoitfrjedOenn:de\\\xnt.  Novellen. 
(Sammlung  „Der  Jungste  Tag41.) 

‘Flax  Orod:  Die  erste  Stunde  nach 
dem  Tode.  (Sammlung  „Der  Jungste 
Tag44.) 

Fran*  Fiafka:  Das  Urteil.  (Samm- 
lung  „Der  Jungste  Tag44.) 

Im  Verlag  Der  Sturm,  Berlin: 

CEeter  Baum : Schiitzengraben- 

versc.  Aus  dem  Nachlafi. 

CEeter  ‘Baum : Kyland  (Sturm- 
biicher  XIII).  Aus  dem  NachlaO. 

* 

Flans  Franck:  Mein  Kriegsbuch 
(Verl.  Oesterheld  & Co.,  Berlin). 

fffans  Franck:  Glockenfranzl  I u. 
II.  (Verlag:  Reufi  & Itta,  Konstanz. 

Zeitbucher  52,  53.) 

Qlaul  Ziegler : Figuren  (Verb  der 
WeiBen  Bucher,  Leipzig.) 

C/eorg  Raiser : Von  Morgens  bis 
Mittemacht.  Stuck  in  2 Teilen.  (Ver- 
lag S.  Fischer,  Berlin.) 

Oas  dreiftigste  a dr 1916.  (Ver- 
lagskatalog  S.  Fischer,  Berlin.)